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Leseprobe Hesse, Hermann Die Märchen Herausgegeben und mit einem Nachwort von Volker Michels © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch 3812 978-3-518-45812-9 Suhrkamp Verlag

Suhrkamp Verlag · Der Zwerg So begann der alte Geschichtenerzähler Cecco eines Abends am Kai: Wenn es euch recht ist, meine Herrschaften, will ich heute einmal eine ganz alte Geschichte

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Page 1: Suhrkamp Verlag · Der Zwerg So begann der alte Geschichtenerzähler Cecco eines Abends am Kai: Wenn es euch recht ist, meine Herrschaften, will ich heute einmal eine ganz alte Geschichte

Leseprobe

Hesse, Hermann

Die Märchen

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Volker Michels

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch 3812

978-3-518-45812-9

Suhrkamp Verlag

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suhrkamp taschenbuch 3812

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Hermann Hesse, Erzähler, Lyriker, Maler und zeitkritischerEssayist, am 2.7.1877 in Calw/Württemberg als Sohn einesbaltischen Missionars und der Tochter eines schwäbischen In-dologen geboren, 1946 ausgezeichnet mit dem Nobelpreis fürLiteratur, starb am 9.8.1962 inMontagnola bei Lugano. SeineBücher sind mittlerweile in einer Auflage von mehr als 120Millionen Exemplaren in aller Welt verbreitet und haben ihnzummeistgelesenen deutschsprachigen Autor u.a. in den USA,Japan, Korea und den arabischen Ländern gemacht.

Die Kunstmärchen gehören zu den beliebtesten Erzählfor-men der Weltliteratur. Kaum ein deutschsprachiger Autor des20. Jahrhunderts hat diese Tradition auf vergleichbare Weisefortgesetzt wie Hermann Hesse. Das Spektrum reicht von denErzähltraditionen Boccaccios und den Geschichten aus Tau-sendundeiner Nacht bis zu phantastischen Satiren und psy-choanalytisch inspirierten Traumdichtungen. Sie modernisie-ren die klassischen Märchenthemen: Glück und Unglück derLiebe, Eitelkeit der Wünsche, Vergänglichkeit und Sehnsuchtnach Geborgenheit. Diese Märchen sind stets lebensbezogen.Das Magische darin zielt auf die Entwicklungsfähigkeit desMenschen, die für Hesse mit der Pubertät durchaus nicht er-schöpft ist. Die Taschenbuchausgabe folgt der 20bändigenGesamtausgabe.

Schon über die erste, 1920 veröffentlichte Märchensamm-lung Hesses notierte Oskar Loerke: »Hesse zeigt uns die tö-richten und weisen Wünsche der Menschen verwirklicht, erbesinnt sich auf das versunkene Kindheitsparadies, folgt denZaubern des uns nächsten Sonderbaren, des Traumes. DenWundern vertrauend, zeigt sich derDichtermit ihnen vertraut;sie stellen das Ziel langsamer Wandlungen rasch und deutlichvor uns und ordnen sich dann dem allgemeinen Leben alsbaldwieder ein, im Weltenlauf nichts störend und nichts vergewal-tigend.«

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Hermann HesseDie Märchen

Herausgegebenund mit einem Nachwort von

Volker Michels

Suhrkamp

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Der Text der Märchen folgt der AusgabeHermann Hesse, »Sämtliche Werke«

Band 1 »Jugendschriften« undBand 9 »Die Märchen. Legenden. Übertragungen. Dramati-

sches. Idyllen«Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001/2002

Umschlagmotivnach einem Aquarell von Hermann Hesse

suhrkamp taschenbuch 3812Erste Auflage

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2006Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasder Übersetzung, des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: pagina GmbH, TübingenDruck: Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyUmschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

ISBN 3-518-45812-4ISBN 978-3-518-45812-9

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Die Märchen

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Der Zwerg

So begann der alte Geschichtenerzähler Cecco einesAbends am Kai:

Wenn es euch recht ist, meine Herrschaften, will ichheute einmal eine ganz alte Geschichte erzählen, von ei-ner schönen Dame, einem Zwerg und einem Liebestrank,von Treue und Untreue, Liebe und Tod, wovon ja allealten und neuen Abenteuer und Geschichten handeln.

Das Fräulein Margherita Cadorin, die Tochter des Ed-len Battista Cadorin, war zu ihrer Zeit unter den schönenDamen von Venedig die schönste, und die auf sie gedich-teten Strophen und Lieder waren zahlreicher als die Bo-genfenster der Paläste amGroßen Kanal und als die Gon-deln, die an einem Frühlingsabend zwischen dem Pontedel Vin und der Dogana schwimmen. Hundert junge undalte Edelleute, von Venedig wie von Murano, und auchsolche aus Padua, konnten in keiner Nacht die Augenschließen, ohne von ihr zu träumen, noch am Morgenerwachen, ohne sich nach ihrem Anblick zu sehnen, undin der ganzen Stadt gab es wenige unter den jungen Gen-tildonnen, die noch nie auf Margherita Cadorin eifer-süchtig gewesenwären. Sie zu beschreiben stehtmir nichtzu, ich begnüge mich damit, zu sagen, daß sie blond undgroß und schlank wie eine junge Zypresse gewachsenwar, daß ihren Haaren die Luft und ihren Sohlen derBoden schmeichelte und daß Tizian, als er sie sah, denWunsch geäußert haben soll, er möchte ein ganzes Jahrlang nichts und niemand malen als nur diese Frau.

An Kleidern, an Spitzen, an byzantinischem Goldbro-kat, an Steinen und Schmuck litt die Schöne keinenMan-gel, vielmehr ging es in ihrem Palast reich und prächtigher: der Fuß trat auf farbige dicke Teppiche aus Klein-asien, die Schränke verbargen silbernes Gerät genug, die

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Tische erglänzten von feinem Damast und herrlichemPorzellan, die Fußböden der Wohnzimmer waren schöneMosaikarbeit, und die Decken und Wände bedecktenteils Gobelins auf Brokat und Seide, teils hübsche, heitereMalereien. An Dienerschaft war ebenfalls kein Mangel,noch an Gondeln und Ruderern.

Alle diese köstlichen und erfreulichen Dinge gab esaber freilich auch in anderenHäusern; es gab größere undreichere Paläste als den ihren, vollere Schränke, köstli-chere Geräte, Tapeten und Schmucksachen. Venedig wardamals sehr reich. Das Kleinod jedoch, welches die jungeMargherita ganz allein besaß und das den Neid vielerReicheren erregte, war ein Zwerg, Filippo genannt, nichtdrei Ellen hoch und mit zwei Höckerchen versehen, einphantastischer kleiner Kerl. Filippo war aus Zypern ge-bürtig und hatte, als ihnHerrVittoria Battista vonReisenheimbrachte, nur Griechisch und Syrisch gekonnt, jetztaber sprach er ein so reines Venezianisch, als wäre er ander Riva oder im Kirchspiel von San Giobbe zur Weltgekommen. So schön und schlank seine Herrin war, sohäßlich war der Zwerg; neben seinem verkrüppeltenWuchse erschien sie doppelt hoch und königlich, wie derTurm einer Inselkirche neben einer Fischerhütte. DieHände des Zwerges waren faltig, braun und in den Ge-lenken gekrümmt, sein Gang unsäglich lächerlich, seineNase viel zu groß, seine Füße breit und einwärts gestellt.Gekleidet aber ging er wie ein Fürst, in lauter Seide undGoldstoff.

Schon dies Äußere machte den Zwerg zu einem Klein-od; vielleicht gab es nicht bloß in Venedig, sondern inganz Italien, Mailand nicht ausgenommen, keine seltsa-mere und possierlichere Figur; und manche Majestät,Hoheit oder Exzellenz hätte gewiß den kleinen Manngern mit Gold aufgewogen, wenn er dafür feil gewesenwäre.

Aber wenn es auch vielleicht an Höfen oder in reichen

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Städten einige Zwerge gebenmochte, welche demFilippoan Kleinheit und Häßlichkeit gleichkamen, so bliebendoch an Geist und Begabung alle weit hinter ihm zurück.Wäre es allein auf die Klugheit angekommen, so hättedieser Zwerg ruhig im Rat der Zehn sitzen oder eine Ge-sandtschaft verwalten können.Nicht allein sprach er dreiSprachen, sondern er war auch in Historien, Ratschlägenund Erfindungen wohlerfahren, konnte ebensowohl alteGeschichten erzählenwie neue erfinden und verstand sichnicht weniger auf guten Rat als auf böse Streiche undvermochte jeden, wenn er nur wollte, so leicht zum La-chen wie zum Verzweifeln zu bringen.

An heiteren Tagen, wenn die Donna auf ihrem Söllersaß, um ihr wundervolles Haar, wie es damals allgemeindieModewar, an der Sonne zu bleichen, war sie stets vonihren beiden Kammerdienerinnen, von ihrem afrikani-schen Papagei und von dem Zwerg Filippo begleitet. DieDienerinnen befeuchteten und kämmten ihr langes Haarund breiteten es über dem großen Schattenhut zum Blei-chen aus, bespritzten es mit Rosentau und mit griechi-schen Wassern, und dazu erzählten sie alles, was in derStadt vorging und vorzugehen imBegriff war: Sterbefälle,Feierlichkeiten, Hochzeiten und Geburten, Diebstähleund komische Ereignisse. Der Papagei schlug mit seinenschönfarbigen Flügeln und machte seine drei Kunst-stücke: ein Lied pfeifen, wie eine Zicke meckern und»gute Nacht« rufen. Der Zwerg saß daneben, still in derSonne gekauert, und las in alten Büchern und Rollen, aufdas Mädchengeschwätz so wenig achtend wie auf dieschwärmenden Mücken. Alsdann geschah es jedesmal,daß nach einiger Zeit der bunte Vogel nickte, gähnte undentschlief, daß dieMägde langsamer plauderten und end-lich verstummten und ihren Dienst lautlos mit müdenGebärden versahen; denn gibt es einen Ort, wo die Mit-tagssonne heißer und schläfernder brennen kann als aufdem Söller eines venezianischen Palastdaches? Dann

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wurde die Herrin mißmutig und schalt heftig, sobald dieMädchen ihre Haare zu trocken werden ließen oder garungeschickt anfaßten. Und dann kam der Augenblick,wo sie rief: »Nehmt ihm das Buch weg!«

Die Mägde nahmen das Buch von Filippos Knien, undderZwerg schaute zornig auf, bezwang sich aber sogleichund fragte höflich, was die Herrin beliebe.

Und sie befahl: »Erzähl mir eine Geschichte!«Darauf antwortete der Zwerg: »Ich will nachdenken«,

und dachte nach.Hierbei geschah es zuweilen, daß er ihr allzulange zö-

gerte, so daß sie ihn scheltend anrief. Er schüttelte abergelassen den schweren Kopf, der für seine Gestalt viel zugroß war, und antwortete mit Gleichmut: »Ihr müßtnoch einwenigGeduld haben.GuteGeschichten sindwieein edles Wild. Sie hausen verborgen, und man muß oftlange am Eingang der Schluchten undWälder stehen undauf sie lauern. Laßt mich nachdenken!«

Wenn er aber genug gesonnen hatte und zu erzählenanfing, dann hielt er nicht mehr inne, bis er zu Ende war,ununterbrochen lief seine Erzählung dahin, wie ein vomGebirge kommender Fluß, in welchem alle Dinge sichspiegeln, von den kleinen Gräsern bis zum blauen Ge-wölbe des Himmels. Der Papagei schlief, im Traume zu-weilenmit dem krummen Schnabel knarrend; die kleinenKanäle lagen unbeweglich, so daß die Spiegelbilder derHäuser feststanden wie wirkliche Mauern; die Sonnebrannte auf das flache Dach herab, und die Mägdekämpften verzweifelt gegen die Schläfrigkeit. Der Zwergaber war nicht schläfrig und wurde zum Zauberer undKönig, sobald er seineKunst begann. Er löschte die Sonneaus und führte seine still zuhörende Herrin bald durchschwarze, schauerlicheWälder, bald auf den blauen küh-len Grund des Meeres, bald durch die Straßen fremderund fabelhafter Städte, denn er hatte die Kunst des Er-zählens imMorgenlande gelernt, wo die Erzähler viel gel-

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ten undMagier sind undmit den Seelen der Zuhörer spie-len, wie ein Kind mit seinem Ball spielt.

Beinahe niemals begannen seine Geschichten in frem-den Ländern, wohin die Seele des Zuhörenden nichtleicht aus eigenen Kräften zu fliegen vermag. Sondern erbegann stetsmit dem,wasmanmit Augen sehen kann, seies mit einer goldenen Spange, sei es mit einem seidenenTuche, immer begann er mit etwas Nahem und Gegen-wärtigen und leitete die Einbildung seiner Herrin un-merklich, wohin er wollte, indem er von früheren Besit-zern solcher Kleinode oder von ihren Meistern und Ver-käufern zu berichten anhob, so daß die Geschichte, na-türlich und langsam rinnend, vom Söller des Palastes indie Barke des Händlers, von der Barke in den Hafen undauf das Schiff und an jeden entferntestenOrt derWelt sichhinüberwiegte. Wer ihm zuhörte, der glaubte selbst dieFahrt zu machen, und während er noch ruhig in Venedigsaß, irrte sein Geist schon fröhlich oder ängstlich auf fer-nen Meeren und in fabelhaften Gegenden umher. Aufeine solche Art erzählte Filippo.

Außer solchen wunderbaren, zumeist morgenländi-schen Märchen berichtete er auch wirkliche Abenteuerund Begebenheiten aus alter und neuer Zeit, von des Kö-nigs Äneas Fahrten undLeiden, vomReicheZypern, vomKönig Johannes, vom Zauberer Virgilius und von dengewaltigen Reisen des Amerigo Vespucci. Obendrein ver-stand er selbst die merkwürdigsten Geschichten zu erfin-den und vorzutragen. Als ihn eines Tages seine Herrinbeim Anblick des schlummernden Papageien fragte: »DuAlleswisser, wovon träumt jetzt mein Vogel?«, da besanner sich nur eine kleine Weile und begann sogleich einenlangen Traum zu erzählen, so, als wäre er selbst der Pa-pagei, und als er zu Ende war, da erwachte gerade derVogel, meckerte wie eine Ziege und schlug mit den Flü-geln.Oder nahmdieDame ein Steinchen,warf es über dieBrüstung der Terrasse ins Wasser des Kanals hinab, daß

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man es klatschen hörte, und fragte: »Nun Filippo, wohinkommt jetzt mein Steinchen?« Und sogleich hob derZwerg zu berichten an, wie das Steinchen im Wasser zuQuallen, Fischen, Krabben und Austern kam, zu ertrun-kenen Schiffern und Wassergeistern, Kobolden undMeerfrauen, deren Leben und Begebenheiten er wohlkannte und die er genau und umständlich zu schildernwußte.

Obwohl nun das Fräulein Margherita, gleich so vielenreichen und schönen Damen, hochmütig und hartenHer-zens war, hatte sie doch zu ihrem Zwerg viele Zuneigungund achtete darauf, daß jedermann ihn gut und ehrenhaftbehandle. Nur sie selber machte sich zuweilen einen Spaßdaraus, ihn ein wenig zu quälen, war er doch ihr Eigen-tum. Bald nahm sie ihm alle seine Bücher weg, baldsperrte sie ihn in den Käfig ihres Papageien, bald brachtesie ihn auf dem Parkettboden eines Saales zum Strau-cheln. Sie tat dies jedoch alles nicht in böser Absicht, auchbeklagte sich Filippo niemals, aber er vergaß nichts undbrachte zuweilen in seinen Fabeln und Märchen kleineAnspielungen undWinke und Stiche an, welche das Fräu-lein sich denn auch ruhig gefallen ließ. Sie hütete sichwohl, ihn allzusehr zu reizen, denn jedermann glaubteden Zwerg im Besitz geheimer Wissenschaften und ver-botener Mittel. Mit Sicherheit wußte man, daß er dieKunst verstand, mit mancherlei Tieren zu reden, und daßer im Vorhersagen vonWitterungen und Stürmen unfehl-bar war. Doch schwieg er zumeist still, wenn jemand mitsolchen Fragen in ihn drang, und wenn er dann die schie-fen Achseln zuckte und den schweren steifen Kopf zuschütteln versuchte, vergaßen die Fragenden ihr Anliegenvor lauter Lachen.

Wie ein jeder Mensch das Bedürfnis hat, irgendeinerlebendigen Seele zugetan zu sein und Liebe zu erweisen,so hatte auch Filippo außer seinen Büchern noch eineabsonderliche Freundschaft, nämlich mit einem schwar-

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zen kleinen Hündlein, das ihm gehörte und sogar bei ihmschlief. Es war das Geschenk eines unerhört gebliebenenBewerbers an das Fräulein Margherita und war demZwerge von seiner Dame überlassen worden, allerdingsunter besonderen Umständen. Gleich am ersten Tagenämlich war das Hündchen verunglückt und von einerzugeschlagenen Falltüre getroffen worden. Es sollte ge-tötetwerden, da ihm ein Bein gebrochenwar; da hatte derZwerg das Tier für sich erbeten und zum Geschenk er-halten. Unter seiner Pflege war es genesen und hing mitgroßer Dankbarkeit an seinem Retter. Doch war ihm dasgeheilte Bein krumm geblieben, so daß es hinkte und da-durch noch besser zu seinem verwachsenen Herrn paßte,worüber Filippo manchen Scherz zu hören bekam.

Mochte nun diese Liebe zwischen Zwerg und Hundden Leuten lächerlich erscheinen, so war sie doch nichtminder aufrichtig und herzlich, und ich glaube, daß man-cher reiche Edelmann von seinen besten Freunden nichtso innig geliebt wurde wie der krummbeinige Bologneservon Filippo. Dieser nannte ihn Filippino, woraus der ab-gekürzte Kosename Fino entstand, und behandelte ihn sozärtlich wie ein Kind, sprach mit ihm, trug ihm leckereBissen zu, ließ ihn in seinem kleinen Zwergbett schlafenund spielte oft lange mit ihm, kurz, er übertrug alle Liebeseines armen und heimatlosen Lebens auf das kluge Tierund nahm seinetwegen vielen Spott der Dienerschaft undder Herrin auf sich. Und ihr werdet in Bälde sehen, wiewenig lächerlich diese Zuneigung war, denn sie hat nichtallein demHunde und demZwerge, sondern dem ganzenHause das größte Unheil gebracht. Es möge euch darumnicht verdrießen, daß ich so viele Worte über einen klei-nen lahmen Schoßhund verlor, sind doch die Beispielenicht selten, daß durch viel geringere Ursachen große undschwere Schicksale hervorgerufen wurden.

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Während so viele vornehme, reiche und hübscheMännerihreAugen aufMargherita richteten und ihr Bild in ihremHerzen trugen, blieb sie selbst so stolz und kalt, als gäbees keine Männer auf der Welt. Sie war nämlich nicht nurbis zum Tod ihrer Mutter, einer gewissen Donna Mariaaus dem Hause der Giustiniani, sehr streng erzogen wor-den, sondern hatte auch von Natur ein hochmütiges, derLiebe widerstrebendes Wesen und galt mit Recht für diegrausamste Schöne von Venedig. Ihretwegen fiel ein jun-ger Edler aus Padua im Duell mit einem Mailänder Of-fizier, und als sie es vernahm und man ihr die an sie ge-richteten letzten Worte des Gefallenen berichtete, sahman auch nicht den leisesten Schatten über ihre weißeStirn laufen.Mit den auf sie gedichteten Sonetten trieb sieewig ihren Spott, und als fast zu gleicher Zeit zwei Freieraus den angesehensten Familien der Stadt sich feierlichum ihre Hand bewarben, zwang sie trotz seines eifrigenWiderstrebens und Zuredens ihren Vater, beide abzu-weisen, woraus eine langwierige Familienzwistigkeit ent-stand.

Allein der kleine geflügelte Gott ist ein Schelm und läßtsich ungern eine Beute entgehen, am wenigsten eine soschöne. Man hat es oft genug erlebt, daß gerade die un-zugänglichen und stolzen Frauen sich am raschesten undheftigsten verlieben, so wie auf den härtesten Winter ge-wöhnlich auch der wärmste und holdeste Frühling folgt.Es geschah bei Gelegenheit eines Festes in denMuraneserGärten, daß Margherita ihr Herz an einen jungen Ritterund Seefahrer verlor, der eben erst aus der Levante zu-rückgekehrt war. Er hieß Baldassare Morosini und gabder Dame, deren Blick auf ihn gerichtet war, weder anAdel noch an Stattlichkeit der Figur etwas nach. An ihrwar alles licht und leicht, an ihm aber dunkel und stark,und man konnte ihm ansehen, daß er lange Zeit auf derSee und in fremden Ländern gewesen und ein Freund derAbenteuer war; über seine gebräunte Stirn zuckten die

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Gedankenwie Blitze, und über seiner kühnen, gebogenenNase brannten dunkle Augen heiß und scharf.

Es war nicht anders möglich, als daß auch er Mar-gherita sehr bald bemerkte, und sobald er ihrenNamen inErfahrung gebracht hatte, trug er sogleich Sorge, ihremVater und ihr selber vorgestellt zu werden, was unter vie-len Höflichkeiten und schmeichelhaftenWorten geschah.Bis zum Ende der Festlichkeit, welche nahezu bis Mitter-nacht dauerte, hielt er sich, soweit der Anstand es nurerlaubte, beständig in ihrer Nähe auf, und sie hörte aufseine Worte, auch wenn sie an andere als an sie selbstgerichtetwaren, eifriger als auf das Evangelium.Wiemansich denken kann, war Herr Baldassare des öftern genö-tigt, von seinen Reisen und Taten und bestandenen Ge-fahren zu erzählen, und er tat diesmit so viel Anstand undHeiterkeit, daß jeder ihn gern anhörte. In Wirklichkeitwaren seine Worte alle nur einer einzigen Zuhörerin zu-gedacht, und diese ließ sich nicht einen Hauch davon ent-gehen. Er berichtete von den seltensten Abenteuern soleichthin, als müßte ein jeder sie selber schon erlebt ha-ben, und stellte seine Person nicht allzusehr in den Vor-dergrund,wie es sonst die Seefahrer und zumal die jungenzu machen pflegen. Nur einmal, da er von einem Gefechtmit afrikanischen Piraten erzählte, erwähnte er eineschwere Verwundung, deren Narbe quer über seine linkeSchulter laufe, und Margherita hörte atemlos zu, ent-zückt und entsetzt zugleich.

Zum Schluß begleitete er sie und ihren Vater zu ihrerGondel, verabschiedete sich und blieb noch lange stehen,um dem Fackelzug der über die dunkle Lagune entglei-tenden Gondel nachzublicken. Erst als er diesen ganz ausdenAugen verloren hatte, kehrte er zu seinen Freunden inein Gartenhaus zurück, wo die jungen Edelleute, undauch einige hübsche Dirnen dabei, noch einen Teil derwarmen Nacht beim gelben Griechenwein und beim ro-ten süßen Alkermes verbrachten. Unter ihnen war ein

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Giambattista Gentarini, einer der reichsten und lebens-lustigsten jungen Männer von Venedig. Dieser trat Bal-dassare entgegen, berührte seinenArmund sagte lachend:

»Wie sehr hoffte ich, du würdest uns heute nacht dieLiebesabenteuer deiner Reisen erzählen! Nun ist es wohlnichts damit, da die schöne Cadorin dein Herz mitge-nommen hat. Aber weißt du auch, daß dieses schöneMädchen von Stein ist und keine Seele hat? Sie ist wie einBild des Giorgione, an dessen Frauen wahrhaftig nichtszu tadeln ist, als daß sie kein Fleisch und Blut haben undnur für unsere Augen existieren. Im Ernst, ich rate dir,halte dich ihr fern – oder hast du Lust, als dritter abge-wiesen und zum Gespött der Cadorinschen Dienerschaftzu werden?«

Baldassare aber lachte nur und hielt es nicht für not-wendig, sich zu rechtfertigen. Er leerte ein paar Bechervon dem süßen, ölfarbigen Zypernwein und begab sichfrüher als die andern nach Hause.

Schon am nächsten Tage suchte er zu guter Stunde denalten Herrn Cadorin in seinem hübschen kleinen Palasteauf und bestrebte sich auf jedeWeise, sich ihm angenehmzu machen und seine Zuneigung zu gewinnen. AmAbend brachte er mit mehreren Sängern und Spielleutender schönen jungen Dame eine Serenata, mit gutem Er-folg: sie stand zuhörend am Fenster und zeigte sich sogareine kleine Weile auf dem Balkon. Natürlich sprach so-fort die ganze Stadt davon, und die Bummler undKlatschbasen wußten schon von der Verlobung und vommutmaßlichen Tag der Hochzeit zu schwatzen, noch eheMorosini sein Prachtkleid angelegt hatte, um dem VaterMargheritas seineWerbung vorzutragen; er verschmähtees nämlich, der damaligen Sitte gemäß nicht in eigenerPerson, sondern durch einen oder zwei seiner Freundeanzuhalten. Doch bald genug hatten jene gesprächigenAlleswisser die Freude, ihre Prophezeiungen bestätigt zusehen.

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Als Herr Baldassare dem Vater Cadorin seinenWunsch aussprach, sein Schwiegersohn zu werden, kamdieser in nicht geringe Verlegenheit.

»Mein teuerster junger Herr«, sagte er beschwörend,»ich unterschätze beiGott die Ehre nicht, die EuerAntragfür mein Haus bedeutet. Dennoch möchte ich Euch in-ständig bitten, von Eurem Vorhaben zurückzutreten, eswürde Euch und mir viel Kummer und Beschwernis er-sparen. Da Ihr so lange auf Reisen und fern von Venediggewesen seid, wißt Ihr nicht, in welche Nöte das unglück-selige Mädchen mich schon gebracht hat, indem sie be-reits zwei ehrenvolle Anträge ohne alle Ursache abgewie-sen. Sie will von Liebe und Männern nichts wissen. Undich gestehe, ich habe sie etwas verwöhnt und bin zuschwach, um ihre Hartnäckigkeit durch Strenge zu bre-chen.«

Baldassare hörte höflich zu, nahm aber seineWerbungnicht zurück, sondern gab sich alle Mühe, den ängstli-chen alten Herrn zu ermutigen und in bessere Laune zubringen. Endlich versprach dann der Herr, mit seinerTochter zu sprechen.

Man kann sich denken, wie die Antwort des Fräuleinsausfiel. Zwar machte sie zur Wahrung ihres Hochmuteseinige geringfügige Einwände und spielte namentlich vorihrem Vater noch ein wenig die Dame, aber in ihremHer-zen hatte sie ja gesagt, noch eh sie gefragt worden war.Gleich nach Empfang ihrer Antwort erschien Baldassaremit einem zierlichen und kostbaren Geschenk, steckteseiner Verlobten einen goldenen Brautring an den Fingerund küßte zum erstenmal ihren schönen stolzen Mund.

Nun hatten die Venezianer etwas zu schauen und zuschwatzen und zu beneiden. Niemand konnte sich erin-nern, jemals ein so prächtiges Paar gesehen zu haben.Beide waren groß und hoch gewachsen und die Damekaum um Haaresbreite kleiner als er. Sie war blond, erwar schwarz, und beide trugen ihre Köpfe hoch und frei,

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denn sie gaben einander, wie an Adel, so an Hochmutnicht das geringste nach.

Nur eines gefiel der prächtigen Braut nicht, daß näm-lich ihr Herr Verlobter erklärte, in Bälde nochmals nachZypern reisen zumüssen, umdaselbst wichtigeGeschäftezum Abschluß zu bringen. Erst nach der Rückkehr vondort sollte dieHochzeit stattfinden, auf die schon jetzt dieganze Stadt sich wie auf eine öffentliche Feier freute.Einstweilen genossen die Brautleute ihr Glück ohne Stö-rung; Herr Baldassare ließ es an Veranstaltungen jederArt, an Geschenken, an Ständchen, an Überraschungennicht fehlen, und so oft es irgend anging, war er mitMargherita zusammen. Auch machten sie, die strengeSitte umgehend, manche verschwiegene gemeinsameFahrt in verdeckter Gondel.

Wenn Margherita hochmütig und ein klein weniggrausamwar, wie bei einer verwöhnten jungen Edeldamenicht zu verwundern, so war ihr Bräutigam, von Hauseaus hochfahrend und wenig an Rücksicht auf andere ge-wöhnt, durch sein Seefahrerleben und seine jungen Er-folge nicht sanfter geworden. Je eifriger er als Freier denAngenehmen und Sittsamen gespielt hatte, desto mehrgab er jetzt, da das Ziel erreicht war, seiner Natur undihren Trieben nach. Von Haus aus ungestüm und her-risch, hatte er als Seemann und reicher Handelsherr sichvollends daran gewöhnt, nach eigenen Gelüsten zu lebenund sich um andere Leute nicht zu kümmern. Es warseltsam, wie ihm von Anfang an in der Umgebung seinerBraut mancherlei zuwider war, am meisten der Papagei,dasHündchen Fino und der Zwerg Filippo. Sooft er diesesah, ärgerte er sich und tat alles, um sie zu quälen oder sieihrer Besitzerin zu entleiden. Und sooft er ins Haus tratund seine starke Stimme auf der gewundenen Treppe er-klang, entfloh das Hündchen heulend und fing der Vogelan zu schreien und mit den Flügeln um sich zu schlagen;der Zwerg begnügte sich damit, die Lippen zu verziehen

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und hartnäckig zu schweigen. Um gerecht zu sein, mußich sagen, daß Margherita, wenn nicht für die Tiere, sodoch für Filippo manches Wort einlegte und den armenZwerg zuweilen zu verteidigen suchte; aber freilichwagtesie ihrenGeliebten nicht zu reizen und konnte oderwolltemanche kleine Quälerei und Grausamkeit nicht verhin-dern.

Mit dem Papagei nahm es ein schnelles Ende. EinesTages, daHerrMorosini ihnwieder quälte undmit einemStäbchen nach ihm stieß, hackte der erzürnte Vogel nachseinerHand und riß ihmmit seinem starken und scharfenSchnabel einen Finger blutig, worauf jener ihm den Halsumdrehen ließ. Er wurde in den schmalen finstern Kanalan der Rückseite des Hauses geworfen und von niemandbetrauert.

Nicht besser erging es bald darauf dem HündchenFino. Es hatte sich, als der Bräutigam seiner Herrin einstdas Haus betrat, in einem dunklen Winkel der Treppeverborgen, wie es denn gewohnt war, stets unsichtbar zuwerden, wenn dieser Herr sich nahte. Herr Baldassareaber, vielleichtweil er irgend etwas in seinerGondel hatteliegenlassen, was er keinem Diener anvertrauen mochte,stieg gleich darauf unvermutet wieder die Stufen derTreppe hinab. Der erschrockene Fino bellte in seinerÜberraschung laut auf und sprang so hastig und unge-schickt empor, daß er um ein Haar den Herrn zu Fallgebracht hätte. Stolpernd erreichte dieser, gleichzeitigmit dem Hunde, den Flur, und da das Tierlein in seinerAngst bis zum Portal weiterrannte, wo einige breite Stein-stufen in den Kanal hinabführten, versetzte er ihm untergrimmigem Fluchen einen so heftigen Fußtritt, daß derkleine Hund weit ins Wasser hinausgeschleudert wurde.

In diesem Augenblick erschien der Zwerg, der FinosBellen und Winseln gehört hatte, im Torgang und stelltesich neben Baldassare, der mit Gelächter zuschaute, wiedas halblahme Hündchen angstvoll zu schwimmen ver-

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Page 21: Suhrkamp Verlag · Der Zwerg So begann der alte Geschichtenerzähler Cecco eines Abends am Kai: Wenn es euch recht ist, meine Herrschaften, will ich heute einmal eine ganz alte Geschichte

suchte. Zugleich erschien auf den Lärm hin Margheritaauf dem Balkon des ersten Stockwerks.

»Schickt die Gondel hinüber, bei Gottes Güte«, riefFilippo ihr atemlos zu. »Laßt ihn holen, Herrin, sofort!Er ertrinkt mir! O Fino, Fino!«

AberHerr Baldassare lachte und hielt denRuderer, derschon die Gondel lösen wollte, durch einen Befehl zu-rück. Nochmals wollte sich Filippo an seine Herrin wen-den und sie anflehen, aber Margherita verließ in diesemAugenblick den Balkon, ohne ein Wort zu sagen. Dakniete der Zwerg vor seinem Peiniger nieder und flehteihn an, demHund das Leben zu lassen. Der Herr wandtesich unwillig ab, befahl ihm streng, ins Haus zurückzu-kehren und blieb an derGondeltreppe so lange stehen, bisder kleine keuchende Fino untersank.

Filippo hatte sich auf den obersten Boden untermDachbegeben. Dort saß er in einer Ecke, stützte den großenKopf auf die Hände und starrte vor sich hin. Es kam eineKammerjungfer, um ihn zur Herrin zu rufen, und dannkam und rief ein Diener, aber er rührte sich nicht. Und alser spät am Abend immer noch dort oben saß, stieg seineHerrin selber mit einer Ampel in der Hand zu ihm hinauf.Sie blieb vor ihm stehen und sah ihn eine Weile an.

»Warum stehst du nicht auf?« fragte sie dann. Er gabkeine Antwort. »Warum stehst du nicht auf?« fragte sienochmals. Da blickte der kleine Verwachsene sie an undsagte leise: »Warumhabt IhrmeinenHundumgebracht?«

»Ich war es nicht, die es tat«, rechtfertigte sie sich.»Ihr hättet ihn retten können undhabt ihn umkommen

lassen«, klagte der Zwerg. »O mein Liebling! O Fino, oFino!«

Da wurde Margherita ärgerlich und befahl ihm schel-tend, aufzustehen und zu Bett zu gehen. Er folgte ihr,ohne ein Wort zu sagen, und blieb drei Tage lang stummwie ein Toter, berührte die Speisen kaum und achtete aufnichts, was um ihn her geschah und gesprochen wurde.

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