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Suhrkamp PUER ROBUSTUS Eine Philosophie des Störenfrieds DIETER THOMä

Suhrkamp VerlagDie Author-actor-audience-Theorie: Der exzentrische Stö-renfried im Bauch des Leviathan – . ... Rameaus Neffe als puer robustus: Denis Diderot . . . . . ... fried

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Dieter Thomä

Puer robustusEine Philosophie des Störenfrieds

Suhrkamp

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage © Suhrkamp Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk

und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm

oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlagesreproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany

ISBN ----

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FürPetra und Christophin Freundschaft

The man is […] a misfit from the start.Ralph Waldo Emerson

Man möcht halt über sich hinausund muß pochen an fremder Tür.

Marieluise Fleißer

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I. Der puer robustus als böser Mensch: Thomas Hobbes . . . .

. Das Schwellenwesen im Spannungsfeld von Macht, Moral und Ge-schichte – . Eigeninteresse und Vernunft – . Die egozentrischenStörenfriede nach Hobbes: Narren, Epileptiker, Tollwütige, Arme undReiche – . Die Author-actor-audience-Theorie: Der exzentrische Stö-renfried im Bauch des Leviathan – . Der puer robustus bei Horaz –ein Vorbild für Hobbes?

II. Der puer robustus als guter Mensch: Jean-Jacques Rousseau

. Macht undMoral des Wilden – . Die Verwandlung des puer robus-tus in den Staatsbürger – . Was macht Rousseaus puer robustus nachseinem Sieg? Demokratie und Ruhestörung

III. Rameaus Neffe als puer robustus: Denis Diderot . . . . .

. Hobbes’ erhabene Definition – . Der puer robustus als sozialesProblem oder als ambivalente Figur: Diderot jenseits von Helvétius,Hobbes und Rousseau – . Leben auf der Schwelle: Rameaus Nef-fe – . Hegels und Foucaults Neffe

IV. Unzärtliches Kind, böser Sohn, starker Retter: FriedrichSchiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. Der puer robustus als »Freigelassener der Schöpfung« – . Franzund Karl Moor: Alle Macht für mich – oder eine andere Macht für al-le? – . Wilhelm Tells Weg vom Einzelgänger zum Stifter des Bun-des

V. Der puer robustus als Opfer und Held: Victor Hugo . . .

. Quasimodo als verpfuschter Affe – . Die Geburt der Bosheit aus

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der Demütigung – . Moralische Emanzipation – . Der Stra-ßenjunge als puer robustus – . Die Verwandten des Straßenjungen:Der ganze Kerl Balzacs und der kleine Wilde Baudelaires

VI. Siegfried, dummes Kind: Richard Wagner . . . . . . . . .

. Der Vertrag als Verbrechen gegen die Natur – . Rettung vonaußen – . Der Held als Kind und Dummkopf: Siegfrieds Erfolgsre-zept

VII. Der puer robustus zwischen Europa und Amerika: Alexis deTocqueville . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. Die Geburt des puer robustus unter dem Joch des Despotismus:Tocquevilles erste Einsicht – . Lob für Amerika, Warnung vordemWilden Westen – . Die Geburt des puer robustus aus dem Geistdes Kapitalismus: Tocquevilles zweite Einsicht – . Leben als Revo-lution und Experiment: Tocqueville, Mill, Nietzsche

VIII. Der puer robustus als Revolutionär: Karl Marx und FriedrichEngels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. Das Volk ist das Allergefährlichste – . Der Kampf gegen Abhän-gigkeit und Absonderung – . Das Lumpenproletariat als Spielver-derber der Revolution – . Das revolutionäre Subjekt als Gattungs-wesen oder als Gemeinwesen

IX. Der puer robustus als Ödipus: Sigmund Freud . . . . . .

. Der kleine Wilde – . Demokratie und Diktatur – . Ödipusund seine Brüder: Die Theorien des puer robustus im Spiegel der Psycho-analyse – . Politik nach Freud: Ein Streit zwischen Walter Lipp-mann, Paul Federn, Hans Blüher, Thomas Mann und Hans Kelsen

X. Anarchisten, Abenteurer, Halbstarke und kleine Wilde:Carl Schmitt, Leo Strauss, Helmut Schelsky und Max Hork-heimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. Blütezeit in finsterer Zeit: Hobbes da capo – . Carl Schmitt überden totalen Staat und seine Feinde – . Leo Strauss über die geschlos-sene Gesellschaft und die Abenteurer – . Helmut Schelsky über die

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Macht und die Halbstarken – . Max Horkheimer über den autori-tären Staat und die kleinen Wilden

XI. Guter Geist und giftiges Unkraut: Der puer robustus in Italien und in China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. Togliattis Neujahrsbotschaft an die Genossen – . Mao Zedongund Tan Tianrong über duftende Blumen und giftiges Unkraut –

. Von China zurück nach Europa: Alain Badiou kann man verges-sen

XII. Der puer robustus heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. Kein Ende der Geschichte – . Der egozentrische Störenfried unddie Finanzkrise – . Exzentrischer und nomozentrischer Stören-fried – und das demokratische Paradox – . Der massive Störenfriedund der Fundamentalismus – . Die Wahrheit liegt an der Schwel-le

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Der puer robustus schlägt zu, eckt an, begehrt auf. Er spielt nichtmit, gibt nicht klein bei, handelt auf eigene Faust, verstößt gegenRegeln. Er ist unartig, unverschämt, unbequem, unbehaust, unbe-kümmert. Er wird gefürchtet, ausgegrenzt, abgestraft, aber auch be-wundert und gefeiert. Der puer robustus – der kräftige Knabe, derstarke Kerl – ist ein Störenfried.

Der Störenfried stört den Frieden. Er ist also nicht gerne gese-hen – es sei denn, er wendete sich gegen einen faulen, falschen Frie-den. Dann dankt man ihm für den Bruch mit der bleiernen Zeit.Mit seinem abstoßend-anziehenden Gesicht passt er auf eines je-ner ›Wackelbilder‹, mit denen ich als Kind gespielt habe: Wennman sie nur ein bisschen zur Seite kippte, verwandelte sich die grim-mige in eine freundliche Miene – oder umgekehrt. So kennt manden puer robustus als Unhold oder Held, Schreck- oder Wunsch-bild, Angstgegner oder Leitfigur.

Besser gesagt: Man kannte ihn. Heute ist er vergessen, dochüber drei Jahrhunderte hinweg hat er die Gemüter erhitzt. ThomasHobbes, Jean-Jacques Rousseau, Denis Diderot, Victor Hugo, Ale-xis de Tocqueville, Karl Marx und viele andere haben ihm ihreAufmerksamkeit geschenkt und sich über der Frage entzweit, wasvon ihm zu halten sei. Dem puer robustus ist ein neuer Auftrittauf der Bühne der politischen Philosophie zu gönnen. Er hat dasZeug dazu, eingespielte Denk- und Handlungsmuster zu verschie-ben und die ganze Szene zu verwandeln. Käme er nicht so burschi-kos daher, könnte man ihn zu den grauen Eminenzen der Ideenge-schichte zählen.

Der Streit, der sich am puer robustus entzündet hat, betrifft nichtirgendein, sondern das Problem der politischen Philosophie: dieFrage, wie sich eine Ordnung etabliert und legitimiert, wie sie kri-

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tisiert, transformiert oder attackiert wird, wie Menschen von die-ser Ordnung einbezogen oder ausgeschlossen werden, sich anpas-sen oder quertreiben. Zum Thema der Ordnung gehört notwendi-gerweise das der Störung, also auch die Rolle von Außenseiternund Randfiguren, Querulanten und Quertreibern. Die politischenAufbrüche und Umbrüche der Moderne stehen, so meine ich, fürKrisen, die nicht vom Zentrum der Macht, sondern vom Rand herzu verstehen sind. Entsprechend kann auch nur dort der Umgangmit diesen Krisen gelernt und ihre Lösung gesucht werden.

Die Initialzündung für das intellektuelle Feuerwerk, das mit dempuer robustus entfacht worden ist, erfolgte im . Jahrhundert. Tho-mas Hobbes verhalf ihm zum ersten Auftritt auf der Bühne derNeuzeit. erschien die zweite Auflage von De cive (Vom Bür-ger), Hobbes ergänzte sie durch ein Vorwort, in dem es hieß, der»vir malus« sei fast dasselbe wie ein »puer robustus, vel vir animopuerili«. Die zu Hobbes’ Lebzeiten angefertigte englische Versionlautete: »A wicked man is almost the same thing with a childegrowne strong and sturdy, or a man of a childish disposition.« Oderauf Deutsch: »Ein böser Mann [gleicht] so ziemlich einem kräfti-gen Knaben oder einemManne mit kindischem Sinn.« Dieser puerrobustus stand für die ultimative Bedrohung der staatlichen Ord-nung, Hobbes hielt ihn für den bösen Störenfried schlechthin.

Den vorerst letzten auffälligen Auftritt hatte der puer robustus inChina, während einer kurzen Phase politischer Liberalisierung imFrühjahr . »Lasst hundert Blumen blühen« – dazu hatte Maozuvor aufgerufen. Die Studenten der Universität Peking nahmenihn beim Wort, gründeten eine »Hundert-Blumen-Gesellschaft«und taten auf Wandzeitungen ihre Meinung kund. Tan Tianrong,einer der studentischenWortführer, ließ seine Botschaft vom .Mai mit einem Heraklit-Zitat beginnen, wonach die »Regierungder Stadt an bartlose junge Männer übergeben werden« solle, undunterschrieb sie mit der lateinischen Formel »Puer robustus sedmalitiosus«. Dieser puer trat – ganz anders als bei Hobbes – als de-mokratischer Aktivist auf: als guter Störenfried.

Hierhin und dorthin hat es den puer robustus verschlagen, er ge-langt vom London des . ins Peking des . Jahrhunderts – und

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überdies an zahlreiche andere Orte. Niemand hat der verwickel-ten, verblüffenden Geschichte dieses enfant terrible bislang Beach-tung geschenkt und ihren Ertrag für die Theorie von Ordnungund Störung geerntet. Mein Buch ist der Wiederentdeckung, Ver-gegenwärtigung und Beurteilung des puer robustus gewidmet.1

Man kann das Bauprinzip dieses Buches mit einer Drehbühnevergleichen. Mit jedem Akt zeigen sich ein neues Bühnenbild undein anderer puer robustus. Er ändert sich im Sauseschritt, er ist Dick-schädel oder Leichtfuß, Barbar oder Narr, Trittbrettfahrer oderKünstler, Räuber oder Retter, Siegfried oder Ödipus. Trauergesän-ge und Jubelstürme brausen um ihn herum auf. Natürlich geht esin diesem Buch um eine Geschichte nach Hobbes, also um dielangwierige, ergiebige Auseinandersetzung mit ihm, die von Rous-seau bis Leo Strauss reicht – und darüber hinaus. Aber es ist nichtnur schmückendes Beiwerk, dass zwei der ungewöhnlichsten Hel-den der französischen Literatur, Rameaus Neffe und der Glöcknervon Notre Dame, als Verkörperungen des puer robustus ins Spielkommen. Neben sie treten die Pariser Straßenjungen, die europä-ischen Proletarier, die kalifornischen Pioniere des . Jahrhunderts,die Jugendbewegung des frühen . Jahrhunderts, die deutschenHalbstarken, die italienischen Kommunisten, die bereits erwähn-ten chinesischen Studenten der er Jahre und viele andere mehr.Die Denker, die dem puer robustus die Ehre erweisen, setzen ihneinem wilden Spiel von Konflikten aus. Es ist ein Tanz ums Sub-jekt oder um mehrere Subjekte der Geschichte, der von ihnen auf-geführt wird.

Zu diesem Tanz passt es nicht, einfach einen Lobgesang oderAbgesang auf den Störenfried anzustimmen. Vielleicht wünschtman sich, nur den Siegeszug von Freiheitshelden zu schildern oderumgekehrt ein für alle Mal mit Schmarotzern, Querulanten undProvokateuren aufzuräumen. Solche sauberen Lösungen undTrennungen verbieten sich angesichts des widersprüchlichen, wider-spenstigen puer robustus. Er lässt sich nicht in einen Bildungsro-man hineinzwingen, in dem sich »das Subjekt« langsam, aber si-cher »die Hörner abläuft« (Hegel, WA , ).

Wenn dieses Buch lebendig wäre, dann schlügen wohl zwei Her-

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zen in seiner Brust. Es ist eine philosophische Abhandlung – undauch so etwas wie eine Abenteuergeschichte. Zugegeben: Ich kon-kurriere nicht mit den Reportern, die sich in der Hip-Hop-Szene,bei den Testamentsverwaltern vonOccupy Wall Street, bei Revoluz-zern oder Randalierern herumtreiben. Aber ich wiege mich in demGlauben, dass es auch geistige Abenteuer gibt, und stürze mich insie. Man könnte dieses Buch probeweise so charakterisieren, dassdarin ein Bogen von Hobbes bis zur Gegenwart geschlagen wird,doch das wäre schon schief. Ein Bogen ist eine ununterbrochene,ungebrochene Linie. Wer sie durchläuft, kennt seinen Kurs. Werdagegen in einen »Abenteuerroman« hineingerät, verfügt über die-se Sicherheit nicht. Als literarische Gattung handelt er von einemHelden, der keinen festen »Platz […] im Leben einnimmt«, undzeigt, »wie aus einemMenschen ein anderer wird« (Michail Bachtin).2

Mein Held – der puer robustus – ist unterwegs. Er weiß nicht, woer morgen sein wird und wer er morgen sein wird. Statt seine Er-fahrungen wie Perlen auf eine Schnur aufzufädeln, bis alles festsitzt und passt, schlägt er sich durch und hofft, dass alles am Endegut ausgeht. Er kann nur zugeben: »Ich kenne mich nicht aus.«Der Abenteuerroman wird zu Unrecht als eine Gattung angese-hen, die anachronistische Züge hat. Er ist dieGattung einer Welt –unserer Welt –, in der man aufgerufen ist, »ins Chaos hinab[zu]-steigen, und sich dort wohl[zu]fühlen« (Ludwig Wittgenstein).3

Dazu gehört eine Auffassung von Geschichte, wonach einzelne Si-tuationen einen Überschuss, ein Überraschungsmoment behaltenund sich der Einordnung widersetzen. »Das Abenteuer ist die Ex-klave des Lebenszusammenhanges« (Georg Simmel).4 Das Unvoll-endete wird Ereignis. Deshalb gehört derjenige, der eine Abenteuer-geschichte erzählt, auch zu den Verehrern des Aphorismus. »Wir,die wir nicht aphoristisch denken und sprechen, sondern aphoris-tisch leben, wir, die wir aphorismenoi und segregati (ausgesondertund abgetrennt) im Leben stehen« (Søren Kierkegaard),5 lernenmit dem puer robustus einen neuen Nachbarn kennen.

Hinter der Neigung zum Abenteuerroman steckt ein Misstrau-en gegen Theorie. Ich glaube nicht, dass man in der politischenPhilosophie gut daran tut, die Frage nach Ordnung und Störung

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am Reißbrett zu bearbeiten. Es genügt nicht, Argumente zu prüfenund Regeln aufzustellen, es genügt auch nicht, Fälle zu simulierenoder Gedankenexperimente durchzuführen, mit denen sich solcheRegeln anwenden und erproben lassen. In der Annahme, dass mansein Thema auf diese Weise in den Griff bekommen könnte, steckteine »lächerliche Unbescheidenheit« (Nietzsche, KSA , ). Ihrwirkt die Unbeherrschtheit entgegen, durch die sich die Figur despuer robustus auszeichnet. Schließlich ist sie eben dies: eine Figur,die mal hier, mal dort, mal so, mal anders auftritt, nicht eine Argu-mentation, eine These, die klar zu formulieren und zu diskutierenwäre. Die Denker, die den puer robustus einsetzen, mögen glauben,er sei ihr willfähriges Werkzeug. Doch er spottet ihrer Selbstgewiss-heit, hat sein Eigenleben und avanciert zu einem Hauptdarstellerder Moderne. Auf die inneren Verwandlungen und äußeren Strei-tigkeiten, von denen er gebeutelt wird, würde ich nicht im Traumkommen (und erst recht nicht, während ich wach bin).

Gefragt ist jedoch nicht nur Misstrauen gegen die Theorie, son-dern in genau dem gleichen Maße Zutrauen zu ihr. Im Glücksfallwird die Theorie von der Einsicht in ihre Grenzen, vom Chaos desAbenteuers, dem sie sich aussetzt, eher beflügelt als geschwächt.Mit Hilfe der Theorie gelangt man über die einzelne Situation hin-aus. Man ist nicht mitgefangen und mitgehangen, sondern schautauf sich und auf alle. So gesellt sich zur Abenteuergeschichte,6 diedieses Buch auch ist, eine Theorie des Störenfrieds. Sie will bestim-men, durch welchen Dreh sich seine Gestalt ändert und was vonseinen Auftritten jeweils zu halten ist.

Um die Balance zwischen Abenteuergeschichte und Theorie zuwahren, werde ich die meisten systematischen Überlegungen erstim Laufe der Reise entwickeln, die ich antrete. Dann wird zum Bei-spiel zu fragen sein, warum der puer robustus so verdammt männlichist oder was mit ihm passiert, wenn er seine weibliche oder einfachmenschliche Seite entdeckt. Nicht nur seine Männlichkeit, sondernauch sein Individualismus ist auffällig – und vielleicht auch anfäl-lig. An ihm klebt die Idee, soziale Kooperation anhand des Sche-mas von Vertragsschluss und Vertragsbruch abzuhandeln. Sie wirdmich ebenso umtreiben wie die Frage, ob der puer robustus dazu

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verurteilt ist, Einzelgänger zu bleiben, oder ob er zu Gemeinschaf-ten, zu Kollektiven Zugang findet. (Hier wird sich der Unterschiedzwischen sympathetischer und synergetischer Vergesellschaftung alsfruchtbar erweisen.) Bevor die Drehbühne in Gang kommt, aufder der puer robustus auftritt, bevor seine Spielzüge und Kampf-formen im Detail erkundet werden, möchte ich immerhin einenGrundbegriff der Theorie des Störenfrieds einführen und eine kleineTypologie seiner verschiedenen Formen skizzieren. Der Grundbe-griff heißt: Schwelle.

Es geht in diesem Buch, wie eingangs gesagt, um das Verhältniszwischen Ordnung und Störung. Aus Gründen, die ganz unter-schiedlicher Art sein können, rutscht der puer robustus an denRand, schießt quer, grätscht dazwischen. Wie auch immer der Stö-renfried sich verhält, er befindet sich am Rand, an einer Grenzeoder eben, wie es besser heißen sollte, an einer Schwelle. DieseSchwelle ist eines der unauffälligsten und zugleich wichtigsten bau-lichen Details im Gebäude der politischen Philosophie.

Das Wort Schwelle ziehe ich der Grenze vor, weil es zwei Beson-derheiten aufweist. Zum Ersten gilt: Eine Schwelle ist typischer-weise niedrig. Man kann sie überschreiten, über sie stolpern oderan ihr innehalten. Die Durchlässigkeit der Schwelle ist in weit hö-herem Maß als die der Grenze variabel und verhandelbar. ZumZweiten kann mittels der Schwelle eine Aufteilung vorgenommenwerden, mit der sich zwei Räume als Drinnen und Draußen defi-nieren lassen. Eine solche Unterscheidung kennt zwar auch derje-nige, der Grenzen zieht, aber hier hängt die Definition von Drin-nen und Draußen allein am Standort des Betrachters: Das Auslanddes Einen ist das Inland des Anderen – und umgekehrt. Dagegengehört die prominenteste Version der Schwelle zu einem Eingang,mit dem die Zuordnung von Drinnen und Draußen ein für alleMal gesetzt ist. Jemand, der vor der Tür steht, kann sich nichtweismachen, drinnen zu sein. Besser als die Grenze mit ihren va-riablen Zuordnungen passt die Schwelle zum politischen Problemvon Ordnung und Störung: Sie bezieht sich auf einen Innenraum,der von einem Rand umrissen ist, an dem es zur Konfrontationzwischen den Mitgliedern der Ordnung und den Außenseitern

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kommt. Genau dabei wird die Durchlässigkeit der Schwelle zurSchlüsselfrage.

Eine Grenze trennt Bereiche oder Reiche, in denen hüben wiedrüben Mitglieder zu finden sind. Der puer robustus, der sich ander Schwelle herumtreibt, steht nicht zwischen zwei Ordnungen,er bewegt sich vielmehr am Rand einer einzigen Welt, die durchdie Reichweite ihrer Macht definiert ist. Dieser Rand ist kein an-derer Ort, sondern eigentlich einNichtort. Der puer robustus gehörtnicht irgendwo dazu, sondern ist der Unzugehörige schlechthin.Es fällt ihm schwer, sich an diesem Nichtort niederzulassen. Erkann sich nicht in dem Gefühl sonnen, für die Welt nichts übrigzu haben. Vielmehr bezieht er sich unweigerlich auf die Ordnung,befindet sich in einer Spannung zu ihr. Er führt ein »Leben auf derSchwelle« und bleibt »innerlich unabgeschlossen« (Bachtin).7

Da die Ordnung ohne einen Rand nicht sein kann, der ihrenGeltungsbereich markiert, nimmt sie in Kauf, dass Menschen sichaußerhalb dieses Bereiches, jenseits dieses Randes herumtreiben.Mit Hegel ist darauf hinzuweisen, »daß darin selbst, daß etwas alsSchranke bestimmt ist, darüber bereits hinausgegangen ist« (WA ,). Die Ordnung bringt also eigentlich den Störenfried hervor,den sie beobachtet und bekämpft. Sie will ausgrenzen und mussmit der Unruhe leben, von der sie umgeben ist wie von einem Feuer-kreis. Dieses Schema von Drinnen und Draußen ist gebunden anein zentralistisches Modell von Politik, das als Gegner nur Außen-seiter kennt. Historisch gesehen heißt das: Der puer robustus kannnur ein Kind der frühen Neuzeit sein, also einer Zeit, in der dasKräftespiel zwischen verschiedenen Machtinstanzen (Königtum,Kirche, Adel etc.) durch das Machtmonopol des Staates abgelöstwird. Es ist kein Zufall, dass gerade Hobbes den puer robustus indie politische Philosophie eingeführt hat. Diese Figur bleibt je-doch so lange am Leben, wie solche Machtzentren den Ton ange-ben – ob es nun Nationalstaaten, imperiale Mächte, transnationaleInstitutionen oder andere global players sind –, also bis in die heu-tige Zeit. Damit ist auch klar, dass sich der puer robustus am Endedieses Buches in einen Zeitgenossen verwandelt haben wird.

Wenn von »Schwelle« oder »Liminalität« die Rede ist, kommt

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unweigerlich die ethnologische Theorie des »Schwellenwesens« insSpiel.8 Dabei ist der puer robustus nicht im Sinne der Ethnologieein Wesen, dessen Existenz an eine Aus- oder Zwischenzeit gebun-den ist, also etwa ein Jugendlicher, der kurz über die Stränge schlägtoder eine Woche lang in der Einöde auf das Erwachsensein vorbe-reitet wird. Das Ritual des Übergangs ist beim Störenfried keinePhase oder Episode; bei ihm wird der Übergang zur Lebensaufga-be. Er hält in demMoment inne, in dem sein Leben in der Schwebeist, und verdirbt damit zugleich der Ordnung die Geschlossenheit.Natürlich kann sie Härte demonstrieren, ihn für seine Verweigerungabstrafen oder mit aller Macht dazu zwingen, klein beizugeben.Doch der Störenfried hat nicht nur die Wahl zwischen Ausschlussund Eingliederung. Wenn er die Ordnung herausfordert und ihreElastizität testet, kann sie auch ins Wackeln geraten. Es stellt sich,kurz gesagt, die Frage nach der direction of fit: Wer passt sich weman? Macht die Ordnung mit dem Störenfried kurzen Prozess odertreibt er sie zur Veränderung, erwirkt er einen Umbruch?

Der puer robustus tritt als Schwellenwesen gegen den homo saceran, gegen jene Figur also, die Giorgio Agamben der Vergessenheitentrissen hat. Beide stehen für die Ausgeschlossenen, und wie derpuer robustus von Hobbes ein vir malus genannt wird, so wird derhomo sacer im römischen Recht als homo malus bezeichnet.9 Dochin Agambens Analyse sind »Ausschließung«, »Absonderung«, »Ver-lassenheit« definitiv.10 Der homo sacer befindet sich in einem abso-luten Draußen, er ist der ganz Andere, gegen den sich eine Ordnungdefiniert und den sie, jedenfalls in der Antike, straflos töten darf.Die Unterscheidung »zwischen dem Staat und dem Nicht-Staat«11

ist zementiert, die Schwelle, von der bei Agamben übrigens häufigdie Rede ist,12 verwandelt sich in ein unüberwindliches Hindernis.Anders als Agamben und viele andere interessiere ich mich nichtnur für Grenzen, sondern auch für Grenzübergänge. Wenn man dieAusgrenzung absolut setzt, wird der Außenseiter – und mit ihmdie Geschichte – lahmgelegt. Er kommt nicht als Akteur ins Spiel,sondern wird zumOpfer gemacht.13 An dieser Stelle darf man Fou-cault gegen Agamben setzen: »Manmuss der Alternative des Drau-ßen und Drinnen entkommen; man muss an den Grenzen sein.« –

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»Eine Kultur über ihre Grenzerfahrungen zu befragen heißt, sie anden Grenzen der Geschichte über eine Absplitterung, die wie dieGeburt ihrer Geschichte ist, zu befragen.«14 Wenn die Grenzerfah-rungen selbst eine Geschichte haben, dann heißt dies, dass die Gren-zen permanent bestätigt, bestritten, verteidigt, verschoben oderdurchbrochen werden. Und wenn all dies geschehen soll, dann musses unter den Ausgeschlossenen und Eingeschlossenen nicht nurLeidtragende, sondern auch Handelnde geben. Der puer robustusist ein solcher Handelnder. Ihm ist zuzutrauen, den Lauf der Weltzum Guten oder zum Bösen zu beeinflussen.

Mit der Kritik an Agamben verbinde ich einen allgemeinenPunkt: Mein Eindruck ist, dass die politische Philosophie an einerunguten Opposition zwischen Identität und Alterität krankt.

Auf der einen Seite ist der Außenseiter als Gegenstand der Theo-rie inzwischen so beliebt geworden, dass man paradoxerweise den-ken könnte, er sei einer von uns. Stuart Hall bemerkte schon imJahre , es würden viele »elegante Artikel über das ›Andere‹« ge-schrieben, ohne dass deren Autoren unbedingt »erfahren« hätten,»was ›Anderssein‹ für manche bedeutet«.15 Ohne die Rede von Al-terität, Marginalität, Multitude etc. kommt die politische Theorieeines bestimmten Typus nicht aus. Sie tritt, grob gesagt, in einerfröhlichen und in einer melancholischen Variante auf, nämlich alsMobilisierung heterodoxer Energien oder als Verweis auf die prin-zipiell unergründliche Andersheit des Anderen.

Auf der anderen Seite ist ein nicht minder prominenter Typus po-litischer Theorie fixiert auf Modelle kollektiver Identität und sam-melt Material, aus dem der cement of society bestehen könnte. Dieeinschlägigen Stichworte heißen Leitkultur, Sozialkapital, Erinne-rungsgemeinschaft, Solidarität, Gemeinwohl, Weltethik etc. Auchdieser Typus tritt in verschiedenen Varianten auf, nämlich mit demkonstruktivistischen Elan der Etablierung allgemein verbindlicherund verbindender Normen oder aber mit der restaurativen Gesteder Sicherung von Traditionsbeständen.

Wenn – wie zu hoffen ist – die Richtigkeit dieser formalen Ge-genüberstellung Vertretern beider Seiten einleuchtet, dann bleibtin einem nächsten Schritt nur zu klären, ob es ratsam ist, sich auf

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