21
Leseprobe Peeters, Benoît Jacques Derrida Eine Biographie Aus dem Französischen von Horst Brühmann © Suhrkamp Verlag 978-3-518-42340-0 Suhrkamp Verlag

Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

Leseprobe

Peeters, Benoît

Jacques Derrida

Eine Biographie

Aus dem Französischen von Horst Brühmann

© Suhrkamp Verlag

978-3-518-42340-0

Suhrkamp Verlag

Page 2: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

SV

Page 3: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit
Page 4: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

BENOIT PEETERS

DERRIDAEINE

BIOGRAPHIEAus dem Französischen

von Horst Brühmann

SUHRKAMP VERLAG

Page 5: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem TitelDerrida bei Flammarion, Paris.

Ouvrage publie avec le soutien du Centre national du livre.Dieses Buch wird mit Unterstützung des

Centre national du livre veröffentlicht.Die Arbeit des Übersetzers wurde gefördert vom

Deutschen Übersetzerfonds, Berlin.

Erste Auflage 2013© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Flammarion, Paris 2010Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durchRundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages

reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: TypoForum GmbH, SeelbachDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyISBN 978-3-518-42340-0

Page 6: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

Niemand wird je wissen, von welchemGeheimnis aus ich schreibe, und daß ich esausspreche, ändert nichts daran.

Jacques Derrida, »Circonfession«

Page 7: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit
Page 8: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

Inhalt

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Erster TeilJackie

1930-1962

1. Der Negus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212. Unter der Sonne Algiers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353. Die Mauern des Louis-le-Grand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584. Die Ecole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 925. Ein Jahr in Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1226. Der Soldat von Kolea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1387. Die Melancholie von Le Mans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1618. Auf dem Weg zur Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Zweiter TeilDerrida

1963-1983

1. Von Husserl zu Artaud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1852. Im Schatten Althussers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2103. Die Schrift selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2264. Ein gutes Jahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2485. Ein Schritt zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2716. Unbequeme Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3037. Brüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

7

Page 9: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

8. Glas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3719. Für die Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386

10. Ein anderes Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41611. Von den »neuen Philosophen« zu den

Generalständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43012. Sendungen und Prüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44413. Die Nacht von Prag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47714. Eine neue Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492

Dritter TeilJacques Derrida

1984-2004

1. Die Gebiete der Dekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5092. Von der Heidegger-Affäre zur De-Man-Affäre . . . . . . 5423. Lebendige Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5744. Porträt des Philosophen mit sechzig Jahren . . . . . . . . . 5945. An den Grenzen der Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6286. Über die Dekonstruktion in Amerika . . . . . . . . . . . . . . 6437. Marx’ Gespenster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6588. Die Derrida-Internationale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6819. Die Zeit des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704

10. Auf Leben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738

Anhang

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 775Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 880Bibliographie der Schriften Derridas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 883Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 912Bildlegenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 918

8 Inhalt

Page 10: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

Einführung

Hat ein Philosoph ein Leben? Kann man seine Biographie schrei-ben? So lautete die Leitfrage eines Kolloquiums, das im Oktober1996 von der New York University veranstaltet wurde. In einemimprovisierten Redebeitrag erinnerte Jacques Derrida zunächstdaran, daß

die traditionelle Philosophie die Biographie aus[schließt]. Siebetrachtet die Biographie als etwas, das der Philosophie äußer-lich ist. Sicher erinnern Sie sich an die Bemerkung Heideggersüber Aristoteles: Wie sah das Leben des Aristoteles aus? Nun,die Antwort beschränkt sich auf einen Satz: »Aristoteles wur-de geboren, arbeitete und starb.« Alles andere ist bloße Anek-dote.1

Derrida teilt diese Position freilich nicht. Schon 1976 schrieb erin einem Vortrag über Nietzsche:

Wir betrachten die Biographie eines »Philosophen« nicht mehrals ein Korpus empirischer Zwischenfälle, die einen Namenund eine Unterschrift außerhalb eines Systems ließen, das sichseinerseits einer immanenten philosophischen Lektüre dar-böte, der philosophisch einzig legitimen […].2

Derrida forderte dazu auf, »eine neue Problematik des Bio-graphischen im allgemeinen, der Philosophenbiographie im be-sonderen« zu erfinden, um die Grenze neu zu denken, die »dasKorpus und den Körper« durchquert. Dieses Interesse wird ihnniemals verlassen. Noch in einem späten Gespräch wird er be-tonen, daß ihn »die Frage der ›Biographie‹« keineswegs in Ver-legenheit bringe. Sie beschäftige ihn sogar sehr:

Ich gehöre zu jenen – wenigen –, die sie beständig in Erinne-rung gerufen haben: Man muß (und man muß es gut machen)

9

Page 11: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

die Biographie der Philosophen und das mit ihrem Namen ge-zeichnete Engagement, insbesondere das politische Engage-ment, wieder in Szene setzen, ob es sich nun um Heideggerhandelt oder um Hegel, um Freud oder um Nietzsche, um Sar-tre oder um Blanchot …3

In seinen eigenen Werken scheute Derrida sich übrigens nicht, zuWalter Benjamin, Paul de Man und einigen anderen auf biogra-phisches Material zurückzugreifen. In Glas beispielsweise zitierter ausgiebig aus Hegels Briefen, die dessen Familienverhältnisseund finanzielle Sorgen vor Augen führen, ohne diese Texte alsgeringerwertig oder seiner philosophischen Arbeit äußerlich zubetrachten.

In einer der letzten Sequenzen des Films, den ihm Kirby Dickund Amy Ziering Kofman gewidmet haben, geht Derrida nochweiter und antwortet provokant auf die Frage, was er in einemDokumentarfilm über Kant, Hegel oder Heidegger gern sehenmöchte:

Ich würde sie gern über ihr Sexualleben sprechen hören. Wiesah das Geschlechtsleben Hegels oder Heideggers aus? […]Weil das etwas ist, worüber sie nie reden. Ich möchte sie überetwas sprechen hören, worüber sie sonst nie sprechen. Warumstellen sich die Philosophen in ihrem Werk als geschlechtsloseWesen dar? Warum haben sie ihr Sexualleben aus ihrem Werkherausgehalten? Warum sprechen sie nie über persönliche Din-ge? Ich sage nicht, daß man einen Porno über Hegel oder Hei-degger drehen sollte. Ich will sie darüber reden hören, welcheRolle die Liebe in ihrem Leben spielt.

Auf noch bedeutsamere Weise war die Autobiographie – die deranderen, Rousseaus und Nietzsches in erster Linie, aber auch dieeigene – für Derrida ein philosophischer Gegenstand von eigenerDignität, der Betrachtung im Prinzip und noch mehr im Detailwürdig. In seinen Augen war das autobiographische Schreibensogar das Genre schlechthin, dasjenige, das bei ihm als erstes dieLust zu schreiben geweckt hatte und das ihn niemals losließ. Seit

10 Einführung

Page 12: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

seiner Jugend träumte er von einem ungeheuren Tagebuch desLebens und Denkens, von einem ununterbrochenen, polymor-phen und sozusagen absoluten Text:

Im Grunde sind die Memoiren – in einer Form, die nicht mehrdas wäre, was man gewöhnlich Memoiren nennt – die allge-meine Form dessen, was mich interessiert, der verrückteWunsch, alles aufzubewahren, alles in seinem Idiom zu sam-meln. Und die Philosophie, jedenfalls die akademische Philo-sophie, stand für mich immer im Dienst dieser autobiographi-schen Absicht des Erinnerns.4

Diese Memoiren, die keine sind, hat uns Derrida über viele sei-ner Bücher verstreut überliefert. »Circonfession« [»Zirkumfes-sion«], La Carte postale [Die Postkarte], Le monolinguisme del’autre [Einsprachigkeit], Voiles [Schleier und Segel], Memoiresd’aveugle [Aufzeichnungen eines Blinden], La contre-allee5 undviele andere Texte, darunter viele späte Interviews, sowie diebeiden Filme, die sich mit ihm beschäftigen, zeichnen eine frag-mentarische, doch an konkreten Einzelheiten sehr reiche undmanchmal sehr intime Autobiographie, die er gelegentlich als»autobiothanatoheterographisches Opus«6 bezeichnet hat. Ichhabe mich weitgehend auf diese sehr gehaltvollen Aufzeichnun-gen gestützt, sie jedoch mit anderen Quellen konfrontiert, wannimmer es möglich war.

Ich werde nicht versuchen, in diesem Buch eine Einführung indie Philosophie Jacques Derridas zu liefern, und noch wenigerdie Neuinterpretation eines Œuvres, dessen Umfang und Viel-schichtigkeit die Kommentatoren noch lange herausfordernwerden. Statt dessen möchte ich die Biographie eines Denkensmindestens ebensosehr wie die Geschichte eines Individuumsvorlegen. Ich werde mich also vorwiegend mit Lektüren undEinflüssen befassen, mit der Entstehung der Hauptwerke, denTurbulenzen ihrer Rezeption, den Kämpfen, die Derrida geführthat, und den Institutionen, die er gegründet hat. Es wird sich

11Einführung

Page 13: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

insofern nicht um eine intellektuelle Biographie handeln. Die Be-zeichnung ärgert mich in mehrfacher Hinsicht wegen der Aus-schließungen, die sie zu implizieren scheint: Kindheit, Familie,Liebe, das materielle Leben. Für Derrida selbst, er wird es in sei-nen Gesprächen mit Maurizio Ferraris erläutern, war »der Aus-druck ›intellektuelle Biographie‹« im übrigen höchst proble-matisch – und problematischer noch, hundert Jahre nach derGeburt der Psychoanalyse, der des »bewußten intellektuellenLebens«. So wie ihm auch die Grenze zwischen öffentlichemund privatem Leben porös und unbestimmt schien:

Ab einem bestimmten Punkt des Lebens und des Lebenswegseiner öffentlichen Person, eines Menschen, den man nach sehrunklaren Kriterien eine Person des öffentlichen Lebens nennt,ist jedes private Archiv, sofern das nicht bereits ein Wider-spruch in sich ist, dazu bestimmt, zu einem öffentlichenArchiv zu werden, sofern es nicht augenblicklich verbranntwird (und sofern es nicht – auch als verbranntes noch – diesprechende und brennende Asche einiger Symptome hinter-läßt, die durch Interpretation oder umlaufendes Gerücht ar-chivierbar sind).7

Die vorliegende Biographie hat sich keine Verbote auferlegenwollen. Das Leben Jacques Derridas beschreiben heißt, die Ge-schichte eines kleinen Juden aus Algier zu erzählen, der, mitzwölf Jahren der Schule verwiesen, zum weltweit meistübersetz-ten französischen Philosophen wird; die Geschichte eines emp-findlichen und rastlosen Menschen, der sich bis zum Schluß als»Ungeliebter« der französischen Universität wahrnimmt. Esheißt, so unterschiedliche Welten wie das Algerien vor der Unab-hängigkeit, den Mikrokosmos der Ecole normale superieure, denstrukturalistischen Dunstkreis, die Wirren nach 1968 wiederzum Leben zu erwecken. Es heißt, eine außergewöhnliche Reihevon Freundschaften mit Schriftstellern und Philosophen erstenRanges in Erinnerung zu rufen, von Louis Althusser bis hin zuMaurice Blanchot, von Jean Genet über Emmanuel Levinas und

12 Einführung

Page 14: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

Jean-Luc Nancy bis hin zu Helene Cixous. Es heißt, eine nichtweniger lange Reihe von Polemiken zu rekonstruieren, beidenen Hochbedeutsames auf dem Spiel stand, die jedoch oft bru-tal verliefen: die Auseinandersetzungen mit Claude Levi-Strauss,Michel Foucault, Jacques Lacan, John R. Searle oder JürgenHabermas sowie mehrere Affären, die weit über die akademi-schen Zirkel hinaus für Wirbel sorgten, namentlich die um Hei-degger und Paul de Man. Es heißt, eine Reihe mutiger politischerEngagements zu verfolgen: für Nelson Mandela, für die Immi-granten »ohne Papiere« oder für die Schwulenehe. Es heißt, vomSchicksal eines Begriffs – der Dekonstruktion – und seinem au-ßerordentlichen Einfluß zu berichten, der über die philosophi-sche Welt hinaus auf die Literaturwissenschaften, die Architek-tur, das Recht, die Theologie, den Feminismus, die queer studiesund die postcolonial studies ausstrahlte.

Damit dieses Vorhaben gelingen konnte, habe ich natürlich einemöglichst vollständige Lektüre oder Neulektüre eines Werkesunternommen, dessen Umfang bekannt ist: achtzig veröffent-lichte Bücher und darüber hinaus unzählige Texte und Gesprä-che, die nicht in einen Sammelband eingegangen sind. Soweit esmir möglich war, habe ich die Sekundärliteratur durchgesehen.Doch vor allem habe ich mich auf das umfangreiche Archivgestützt, das Derrida uns hinterlassen hat, sowie auf Begegnun-gen mit etwa hundert Zeugen.

Das Archiv war für den Autor von Papier Machine [Maschi-nen Papier] eine wahre Leidenschaft und ein beständiges Refle-xionsthema. Aber es war auch eine sehr konkrete Realität. Soerklärte er in einer seiner letzten öffentlichen Äußerungen: »Ichhabe nie etwas verloren oder vernichtet. Bis hin zu den Zettel-chen […], die Bourdieu oder Balibar mir an die Tür geheftethaben […], habe ich alles. Die wichtigsten Dinge und die schein-bar unbedeutendsten.«8 Diese Dokumente sollten nach DerridasWunsch zugänglich und einsehbar sein; er erklärte sogar:

13Einführung

Page 15: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

Das große Phantasma […] ist, daß all diese Papiere, Bücheroder Texte, oder Disketten mich schon jetzt überleben. Es sindschon jetzt Zeugen. Ich denke die ganze Zeit daran, an den, dernach meinem Tod kommen wird, der vielleicht kommen wird,um dieses Buch zu betrachten, das ich 1953 gelesen habe, undsich dann fragt: »Warum hat er das angestrichen, dorthin einenPfeil gesetzt?« Ich bin besessen von der Überlebensstrukturjedes dieser Papierstückchen, dieser Spuren.9

Das Wesentliche dieses privaten Archivs findet sich gesammelt inzwei Beständen, die ich systematisch durchgesehen habe: dieSpecial Collection der Langson Library der University of Cali-fornia at Irvine, USA, und den Derrida-Fundus des IMEC –Institut Memoires de l’edition contemporaine – in der Abtei vonArdenne, in der Nähe von Caen. Nachdem ich allmählich miteiner Handschrift vertraut geworden war, die – wie alle zugeben,die ihn gut kannten – schwer leserlich ist, hatte ich das Glück, dieunglaubliche Summe von Dokumenten, die Jacques Derrida seinLeben lang angehäuft hat, als erster zur Kenntnis nehmen zukönnen: Schul- und Seminararbeiten, private Notizhefte, dieManuskripte der Bücher, der unveröffentlichten Vorlesungenund Seminare, die Transkriptionen von Gesprächen und Podi-umsdiskussionen, Zeitungsartikel und natürlich die Korrespon-denz.

Während er noch den belanglosesten Brief, den man ihmsandte, sorgfältig aufhob – und noch wenige Monate vor seinemTod der einzigen Korrespondenz nachtrauerte, die er vernichtethatte10 –, fertigte Jacques Derrida nur sehr selten Entwürfe oderAbschriften seiner eigenen Briefe an. Daher waren erheblicheRecherchen notwendig, um die wichtigsten dieser Korrespon-denzen wiederzufinden oder einsehen zu können, zum Beispieldie mit Louis Althusser, Paul Ricœur, Maurice Blanchot, MichelFoucault, Emmanuel Levinas, Gabriel Bounoure, Philippe Sol-lers, Paul de Man, Roger Laporte, Jean-Luc Nancy, PhilippeLacoue-Labarthe und Sarah Kofman. Wertvoller noch sind

14 Einführung

Page 16: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

bestimmte Briefe an Jugendfreunde, etwa die an Michel Monoryund Lucien Bianco, während der Ausbildungsjahre. Viele anderesind unauffindbar geblieben oder verlorengegangen, etwa diesehr zahlreichen Briefe Derridas an seine Eltern.

Nicht zu vernachlässigen ist der Umstand, daß ich diese Bio-graphie unmittelbar nach seinem Tod in Angriff genommenhabe, als wir, um eine Formulierung von Bernard Stiegler zuzitieren, noch nicht in die Zeit der »Wiederkehr Jacques Der-ridas« eingetreten waren. 2007 begonnen, erschien dieses Buch[in Frankreich] 2010, in dem Jahr, in dem er seinen achtzigstenGeburtstag gefeiert hätte. Es wäre also töricht gewesen, wenn ichmich einzig auf schriftliche Materialien gestützt hätte, währenddie meisten der Verwandten und Vertrauten des Philosophennoch befragt werden konnten.

Außerordentlich ist das Vertrauen, das Marguerite Derridamir geschenkt hat, indem sie mir nicht nur den Zugang zu sämt-lichen Archiven öffnete, sondern auch zahlreiche Gesprächegewährte. Wesentlich waren die oft langen und manchmal wie-derholten Begegnungen mit Zeugen aus allen Lebensphasen. Ichhatte das Glück, mit dem Bruder, der Schwester und der Lieb-lingscousine Derridas sprechen zu können, ebenso wie mit vie-len Mitschülern und Jugendgefährten, um zu erhellen, was ereinmal »meine zweiunddreißigjährige Adoleszenz« genannt hat.Ich konnte über hundert Personen befragen, die ihm nahestan-den: Freunde, Kollegen, Verleger, Studenten und sogar einigevon seinen Widersachern. Natürlich war es mir nicht möglich,mit allen potentiellen Zeugen in Verbindung zu treten, und ei-nige wünschten auch nicht, mich zu treffen. Eine Biographiemuß bei ihrer Entstehung Hindernisse und Weigerungen oder,wenn man so will, Widerstände in Kauf nehmen.

Mehr als einmal geschah es, daß mich ein Schwindel erfaßteangesichts der Größe und der Schwierigkeit der Aufgabe, in dieich mich gestürzt hatte. Es bedurfte zweifellos einer Art Naivität

15Einführung

Page 17: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

oder zumindest Arglosigkeit, ein solches Projekt zu verfolgen.Hatte nicht einer der besten Kommentatoren des Werkes, Geof-frey Bennington, die Möglichkeit einer Biographie, die diesenNamen verdiente, strikt ausgeschlossen?

Natürlich kann man erwarten, daß Derrida eines Tages zumGegenstand einer Biographie wird, und dann kann nichts ver-hindern, daß diese sich in die traditionelle Linie dieses Genreseinreiht. […] Doch eine solche Schrift auf der Basis von Gefäl-ligkeit und Vereinnahmung wird sich früher oder später derTatsache stellen müssen, daß die Arbeit Derridas zweifellosihre Voraussetzungen erschüttert hätte. Man darf mit gutemGrund darauf wetten, daß eine der letzten Gattungen wissen-schaftlicher oder quasi-wissenschaftlicher Schriften, die vonder Dekonstruktion erfaßt werden, die Gattung der Biogra-phie ist. […] Ist es möglich, eine multiple, eher geschichtete alshierarchisierte, mit anderen Worten fraktale Biographie zukonzipieren, die die totalisierenden und teleologischen Ab-sichten vermiede, die dieses Genre stets beherrscht haben?11

Ohne das Interesse eines solchen Ansatzes zu leugnen, habe ichalles in allem versucht, weniger eine derridasche Biographie alseine Biographie Derridas vorzulegen. Hier wie in vielen anderenDingen scheint mir Mimikry nicht der beste Dienst zu sein, denwir ihm heute leisten können.

Die Treue, auf die es mir ankam, war von anderer Art. JacquesDerrida hat mich unterirdisch seit meiner ersten Lektüre von Dela grammatologie [Grammatologie] im Jahr 1974 begleitet. ZehnJahre später habe ich ihn ein wenig kennengelernt, als er einegeneröse Lektüre von Droit de regards [Recht auf Einsicht] ver-faßte, einer photographischen Erzählung, die ich gemeinsam mitMarie-Francoise Plissart veröffentlicht habe. Wir haben Briefeund Bücher ausgetauscht. Nie habe ich aufgehört, ihn zu lesen.Und nun hat er drei Jahre lang in einer Art der Zusammenarbeitin absentia den größten Teil meiner Zeit eingenommen und sichnoch in meine Träume eingeschlichen.12

16 Einführung

Page 18: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

Wer eine Biographie schreibt, läßt sich auf ein intimes undmanchmal einschüchterndes Abenteuer ein. Was auch geschieht,Jacques Derrida wird von nun an Teil meines eigenen Lebenssein, eine Art postumer Freund. Eine seltsam einseitige Freund-schaft, an die er unfehlbar Fragen gestellt hätte. Ich bin über-zeugt davon: Biographie gibt es nur von Toten. Jeder Biographiefehlt also der vornehmste Leser: der Verstorbene. Wenn es eineEthik des Biographen gibt, wäre sie vielleicht dort zu suchen:Würde er sich mit seinem Buch vor sein Sujet wagen?

17Einführung

Page 19: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit
Page 20: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit

ERSTER TEILJACKIE

1930 -1962

19

Page 21: Suhrkamp Verlag · Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Derrida bei Flammarion, Paris. Ouvrage publi´eaveclesoutienduCentrenationaldulivre. Dieses Buch wird mit