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Suhrkamp Verlag Leseprobe Mitchell, W. J. T. Bildtheorie Aus dem Amerikanischen von Heinz Jatho, Jürgen Blasius, Christian Höller u. a. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Gustav Frank. Mit zahlreichen Abbildungen © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2261 978-3-518-29861-9

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Suhrkamp VerlagLeseprobe

Mitchell, W. J. T.Bildtheorie

Aus dem Amerikanischen von Heinz Jatho, Jürgen Blasius, Christian Höller u. a. Herausgegebenund mit einem Nachwort von Gustav Frank. Mit zahlreichen Abbildungen

© Suhrkamp Verlagsuhrkamp taschenbuch wissenschaft 2261

978-3-518-29861-9

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Was sind Bilder? Wie unterscheiden sie sich von Worten? Was genau sind Bilder heute, also in einer Zeit, in der die Macht des Sichtbaren größer scheint als je zuvor und in der der pictorial turn den linguistic turn abgelöst hat? W. J. T. Mitchell, einer der Pioniere der Visual Culture Studies, beantwortet diese Fragen, indem er das Zusammenspiel des Sichtbaren und des Sagbaren in allen kulturellen Bereichen untersucht, von der Literatur über die bildende Kunst bis zu den Massenmedien. Der Band versammelt seine wichtigsten Aufsätze, die längst als Klassiker der bildwissenschaftlichen Forschung gelten.

W. J. T. Mitchell ist Professor für Englisch und Kunstgeschichte an der Universität Chicago und Herausgeber von Critical Inquiry. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt: Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9/11 (2011).

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W. J. T. MitchellBildtheorieHerausgegeben und mit einem Nachwort von Gustav Frank

Suhrkamp

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Kapitel 1, 5-7 und 10-14 übersetzt von Heinz JathoKapitel 2 und 3 übersetzt von Jürgen BlasiusKapitel 4 übersetzt von Christian HöllerKapitel 8 übersetzt von Wilfried PrantnerKapitel 9 übersetzt von Gabriele Schabacher

Sämtliche Übersetzungen wurden von Heinz Jatho und Gustav Frank durchgesehen und revidiert.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage 2018suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2261© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf StaudtDruck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in GermanyISBN 978-3-518-29861-9

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Inhalt

I. Ikonologie

1. Für einen blinden Leser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92. Was ist ein Bild? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153. Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

II. Bildtheorie/Theoriebilder

4. Pictorial Turn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015. Über den Vergleich hinaus:

Bild, Text und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1366. Metabilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

III. Visuelle Kultur

7. Was ist Visuelle Kultur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2378. Interdisziplinarität und Visuelle Kultur . . . . . . 2629. Der Mehrwert von Bildern . . . . . . . . . . . . . . . . . 278

10. Das Sehen zeigen:Eine Kritik der Visuellen Kultur . . . . . . . . . . . . 312

IV. Bilder der Öffentlichkeit

11. Was wollen Bilder wirklich? . . . . . . . . . . . . . . . . 34712. Bilder verletzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37113. Wandernde Bilder:

Totemismus, Fetischismus, Idolatrie . . . . . . . . . 39614. Der Schrecken der Bilder:

Ein Gespräch mit Edward W. Said . . . . . . . . . . . 412

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Nachwort von Gustav Frank: Pictorial und IconicTurn. Ein Bild von zwei Kontroversen . . . . . . . . . . . . . . 445

Nachweise der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . 488

Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492

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I. Ikonologie

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1. Für einen blinden Leser

Dieses Buch1

1 Bei diesem Text handelt es sich um die Einleitung zum Band Iconology.Image, Text, Ideology, Chicago/London 1986, die W. J.T. Mitchells ersteSondierung auf dem Terrain der Bildtheorie dokumentiert (d. Hg.).

handelt davon, was die Leute über Bilder sagen.Es beschäftigt sich nicht in erster Linie mit spezifischen Bil-dern und dem, was die Leute über sie sagen, sondern mit derWeise, wie wir über die Idee der Bildlichkeit sowie über alledie damit verwandten Begriffe von Abbilden, bildlichemVorstellen, Wahrnehmen, Vergleichen und Nachahmen spre-chen. Darum ist es ein Buch über Bilder, das, bis auf ein paarschematische Darstellungen, keine Illustrationen hat – als obein blinder Autor für einen blinden Leser ein Buch über dasSehen geschrieben hätte. Wenn es irgendeine Einsicht bietet,die wirkliche, materielle Bilder betrifft, dann gleicht sie dereines Blinden, der aus einem Gespräch, das Sehende über Bil-der führen, etwas aufschnappt. Meine Hypothese ist die, daßein solcher Zuhörer in diesem Gespräch Dinge sieht, die demsehenden Gesprächsteilnehmer unsichtbar bleiben.

Das Buch sucht nach Antworten auf zwei Fragen, die insolchen Gesprächen regelmäßig auftauchen: Was ist ein Bild?Was ist der Unterschied zwischen Bildern und Worten? Esversucht, die traditionellen Antworten auf diese Fragen imZusammenhang mit den Interessen zu verstehen, die ihnenin bestimmten Situationen eine gewisse Schärfe verleihen.Warum ist es wichtig, was ein Bild ist? Was steht auf demSpiel, wenn die Unterschiede zwischen Bildern und Wortenignoriert oder getilgt werden? Welche Machtsysteme undWertekanons – d. h. welche Ideologien – sind es, die die Ant-worten auf diese Fragen bestimmen und dafür sorgen, daßsie nicht bloß von theoretischem Interesse, sondern auchGegenstand der Polemik sind?

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Wenn ich diese Essays »Ikonologie« nenne, dann umetwas vom wörtlichen Sinn dieses Begriffs wiederherzustel-len. Dies ist eine Studie über den »Logos« (über die Worte,die Ideen, den Diskurs oder die »Wissenschaft«) des »Ikons«– also von Bildern überhaupt (images) und von Bildern alsmateriellen Entitäten (pictures) oder Abbildern. Es ist somiteine »Bildrhetorik« im doppelten Sinn: erstens als Studie dar-über, »was über Bilder zu sagen ist« – die Tradition der»Kunstschriftstellerei« geht zurück bis auf Philostrats Ima-gines und befaßt sich vor allem mit der Beschreibung undInterpretation von visueller Kunst; und zweitens als Studiedarüber, »was Bilder sagen« – also darüber, wie sie durchÜberredung, Geschichtenerzählen oder Beschreibung fürsich selbst zu sprechen scheinen. Den Terminus »Ikonologie«gebrauche ich auch, um diese Studie mit einer langen Tra-dition theoretischer und historischer Reflexion über denBegriff des Bildes zu verbinden, eine Tradition, die in enge-rem Sinn mit den Renaissance-Handbüchern über symboli-sche Bilder beginnen dürfte (das erste, Cesare Ripas Iconolo-gia von 1592, war nicht illustriert) und in Erwin Panofskysberühmten »Studien« zur Ikonologie kulminiert. In weite-rem Sinn beginnt das kritische Studium des Ikons mit derVorstellung, daß menschliche Wesen als »Ebenbilder« ihresSchöpfers geschaffen wurden, und kulminiert etwas wenigergrandios in der modernen Wissenschaft des »Bildermachens«in Reklame und Propaganda. Ich werde mich hier mit Dingenbefassen, die irgendwo zwischen dem weiteren und demengeren Sinn von Ikonologie liegen, also mit den Weisen, wieBilder im strengen oder wörtlichen Sinn (materielle Bilder,Statuen, Kunstwerke) sich verhalten zu Dingen wie mentaleBildlichkeit, verbale oder literarische Bildlichkeit und derVorstellung vom Menschen als Bild und Macher von Bildern.Wenn Panofsky die Ikonologie von der Ikonographie trennt,indem er die Interpretation des totalen symbolischen Hori-zonts eines Bildes von der Katalogisierung spezieller symbo-

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lischer Motive unterscheidet, dann geht es mir darum, dieinterpretierenden Ambitionen der Ikonologie noch zu erwei-tern, indem ich von ihr verlange, über die Idee des Bildesüberhaupt zu reflektieren.

Wenn das alles viel zu weit gefaßt scheinen kann, dann seidarauf verwiesen, daß diese Studie sehr bestimmte Grenzenhat, sowohl was die von ihr gestellten Fragen als auch was dieherangezogenen Texte betrifft. Sie besteht vor allem aus einerReihe intensiver Lektüren einiger zentraler Texte über dieTheorie des Bildes, und diese Lektüren kreisen um zwei hi-storische Zentren: das späte achtzehnte Jahrhundert (in etwadas Zeitalter der Französischen Revolution und der aufkom-menden Romantik) und die Epoche der modernen Kritik. Essoll gezeigt werden, wie der Begriff des Bildes als eine ArtRelais fungiert, das Theorien über die Kunst, die Sprache undden Geist mit sozialen, kulturellen und politischen Wertvor-stellungen verbindet.

Diese Verbindungen werden mich zu einer Reihe von Ne-benaspekten führen, die auf den ersten Blick nichts miteinan-der zu tun haben: Zu Wittgensteins Kritik der »Bildtheorie«der Bedeutung und zu modernen Theorien der Poesie unddes mentalen Bildes; zu Nelson Goodmans Kritik der Iko-nizität im Verhältnis zur Semiotik; zu Ernst Gombrichs Ein-treten für die Natürlichkeit des Bildes und zu »Natur« alsideologischer Kategorie; zu Lessings Versuch, die gattungs-spezifischen Grenzen zwischen Dichtkunst und Malerei fest-zulegen, und zur kulturellen Unabhängigkeit Deutschlands;zu Burkes Ästhetik des Erhabenen und des Schönen im Zu-sammenhang mit seiner Kritik an der Französischen Revo-lution; zu Marx’ Verwendung der Camera obscura und desFetischs als Figuren für die psychologischen und materiellen»Idole« des Kapitalismus. Die Verbindung dieser scheinbardisparaten Autoren kann uns helfen, eine Anzahl überra-schender Zusammenhänge zu erkennen, die von den Histori-kern der Geistesgeschichte nicht immer bemerkt werden: Die

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»Rhetorik des Ikonoklasmus«, von der die westliche Kritikerfüllt ist, und die Kontroverse über die mentale Bildwelt inder modernen Psychologie; die moderne semiotische Theorieund das Assoziationsgesetz Humes; die Polemik gegen die»faschistischen« Implikationen der »räumlichen Form« inder modernen Ästhetik und die Autorität von Lessings Lao-koon; die ut pictura poesis-Kontroverse und der Kampf zwi-schen Geschlechtern, Nationen und religiösen Traditionenseit der Aufklärung.

Meine einzige Entschuldigung für diese seltsamen Kon-junktionen von Topoi und Texten besteht darin, daß sie, alsich den theoretischen Fragen nachging, die meine Studie inerster Linie inspirierten, sich wie von selbst zu ergeben schie-nen. Jede theoretische Antwort auf die Fragen: Was ist einBild? Worin unterscheiden sich Bilder von Worten? schienunvermeidlich in frühere Fragen zurückzufallen, die Werteund Interessen betrafen und die nur in historischen Begriffenbeantwortet werden konnten. Am besten trägt man demRechnung, wenn man zugibt, daß aus einem Buch, das mitder Absicht begann, eine handfeste Theorie der Bilder zu lie-fern, ein Buch über die Furcht vor Bildern wurde. Die »Iko-nologie« erwies sich nicht als die Wissenschaft von denIkons, sondern als die politische Psychologie der Ikons,als das Studium der Ikonophobie, der Ikonophilie und desKampfs zwischen Ikonoklasmus und Idolatrie. Die Bewe-gung dieses Buchs verläuft also von den modernen Versu-chen, eine echte Theorie des Bildes zu begründen (Gom-brich, Goodman, der frühe Wittgenstein), hin zu den »klassi-schen« Auffassungen vom Bild, an deren Stelle diese Theorietreten wollte. Allerdings sah ich meine theoretischen Ambi-tionen während der Arbeit unvermeidlich durch meine engenGrenzen als Historiker der Geistesgeschichte in die Schran-ken gewiesen. Ich habe die Hoffnung, daß dieser kritischeSturz in den Raum zwischen Theorie und Geschichte einGebiet erschließt, das andere Gelehrte erkunden werden, und

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daß er etwas von den Grenzen deutlich werden läßt, auf diejeder Versuch, theoretisch von den symbolischen PraktikenRechenschaft zu geben, notwendig stößt.

Der Untertitel dieses Buchs lautet: »Bild, Text, Ideolo-gie«, und darum sollte etwas über diese Begriffe gesagt wer-den. »Bildlichkeit« oder »imagery« ist der Haupttopos desganzen Buchs; darum will ich hier keine Erklärung geben,sondern nur bemerken, daß ich versucht habe, keinen nochso weitgefaßten Sinn dieses Begriffs auszuschließen. Von»Textualität« dagegen spreche ich in einer eher lässigen undsimplen Weise: Ihre Rolle ist hier lediglich die, eine Folie fürdas Bild zu liefern, ein »signifikantes Anderes« oder einenrivalisierenden Repräsentationsmodus. Den Begriff »Ideolo-gie« schließlich habe ich in einem absichtlich zweideutigenSinn verwendet, um zu umgehen, was ich für eine Art Ver-doppelung seines historischen Gebrauchs durch die marxi-stische Kritik halte. Aus orthodoxer Sicht ist Ideologie fal-sches Bewußtsein, ein System von symbolischen Repräsenta-tionen, das die historische Situation der Herrschaft einerbestimmten Klasse widerspiegelt und dazu dient, den histori-schen und klassenbedingten Charakter dieses Systems unterdem Schleier von Natürlichkeit und Universalität zu verber-gen. Die andere Bedeutung von »Ideologie« geht dahin, dasWort einfach mit der Struktur von Werten und Interessenzu identifizieren, die jede Repräsentation von Wirklichkeitbestimmt; die Frage, ob die Repräsentation falsch oder re-pressiv ist, bleibt dabei unberührt. Nach dieser Auffassunggäbe es etwas wie eine Position außerhalb der Ideologie garnicht; selbst die »entmystifizierendste« Ideologiekritik müß-te zugeben, daß sie einen Standpunkt einnimmt, der von Wer-ten und Interessen bestimmt ist, und daß der Sozialismus(zum Beispiel) nicht weniger Ideologie ist als der Kapitalis-mus.

Ich möchte in diesem Buch mit beiden Bedeutungen desWorts Ideologie arbeiten, einfach weil ich an gewissen Wer-

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ten, die mit ihnen verbunden scheinen, festhalten oder viel-leicht mich ihnen stellen will. Einfach mit der neutralen Auf-fassung von Ideologie als einem System von Meinungen undInteressen zu arbeiten hieße, die kritische Kraft des Begriffspreiszugeben, seine Fähigkeit, die Interpretation zu mobili-sieren, die Aufdeckung dessen, was verborgen ist. Der Begriffder Ideologie als falsches Bewußtsein involviert eine heilsameSkepsis gegenüber expliziten Motiven, Rationalisierungenund diversen Ansprüchen auf Natürlichkeit, Reinheit oderNotwendigkeit. Der Nachteil dieses Begriffs besteht jedochdarin, daß er den Ideologiekritiker in der Illusion wiegenkann, er habe keine Ideologie, stehe außerhalb der Ge-schichte oder »an ihrer Stelle« als Agent ihrer unerbittlichenGesetze. Mein Ideologiebegriff wird versuchen, auf beidenSeiten dieser Straße zu agieren – sowohl, um mit Hilfe derinterpretierenden Prozedur der ideologischen Analyse in di-versen Texten die blinden Stellen aufzudecken, als auch, umden Ideologiebegriff selbst zu kritisieren. Es trifft sich, daßder Ideologiebegriff seine Wurzeln im Begriff des Bildes hatund die alten Kämpfe zwischen Ikonoklasmus, Idolatrie undFetischismus neu inszeniert.

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2. Was ist ein Bild?

Eines ist es [. . .] ein Bild direkt als Bild zu erfassen, einanderes, Ideen zu entwickeln, die das Wesen von Bildernim allgemeinen betreffen.

Jean-Paul Sartre, L’imagination (1948)

Jeder Versuch, die »Idee der Bildlichkeit« zu erfassen, istdazu verdammt, mit dem Problem des rekursiven Denkenszu ringen, ganz einfach weil bereits die Idee einer »Idee« anden Begriff der Bildlichkeit gebunden ist. Das Wort »Idee«kommt vom griechischen Verbum idein, »sehen«, und wirdhäufig verbunden mit dem Begriff »eidolon«, dem »sichtba-ren Bild«, das für die antike Optik und Wahrnehmungstheo-rie fundamental ist. Eine vernünftige Möglichkeit, der Versu-chung zu begegnen, über Bilder in Begriffen von Bildern zuhandeln, bestünde darin, in Diskussionen über Bildlichkeitdas Wort »Idee« durch einen anderen Terminus wie »Ge-danke« oder »Begriff« zu ersetzen oder von vornherein zuvereinbaren, daß unter dem Begriff »Idee« etwas ganz ande-res als Bildlichkeit oder Bilder zu verstehen ist. Dies ist dieStrategie der platonischen Tradition, die das eidos vom eido-lon unterscheidet, indem sie ersteres als eine »übersinnlicheWirklichkeit« von »Formen, Typen oder Gestalten« und letz-teres als einen sinnlichen Eindruck auffaßt, der vom eidosnicht mehr als ein »Abbild« (eikon) oder einen »Anschein«(phantasma) liefert.1

1 Siehe F. E. Peters, Greek Philosophical Terms: A Historical Lexicon, NewYork 1967.

Eine weniger vorsichtige, aber, wie ich hoffe, phantasie-vollere und produktivere Weise, mit diesem Problem umzu-gehen, besteht darin, der Versuchung nachzugeben, Ideen alsBilder zu sehen, und dem Problem der Rekursion freies Spiel

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zu lassen. Dies verlangt nach Beachtung der Art und Weise,wie Bilder (und Ideen) sich verdoppeln: der Weise, wie wirden Akt der Verbildlichung verbildlichen, die Tätigkeit derVorstellungskraft vorstellen, die Praxis der Darstellung dar-stellen. Diese verdoppelten Bilder und Darstellungen – mate-rielle (pictures) und immaterielle (images) –, auf die ich mich,wenn auch möglichst selten, mit dem Wort »Hyperikon«beziehe, sind Strategien, der Versuchung nachzugeben, Ideenals Bilder zu sehen, und zugleich ihr zu widerstehen. PlatosHöhle, die Wachstafel des Aristoteles, Lockes Dunkelkam-mer, Wittgensteins Hieroglyphe – sie alle sind Beispiele des»Hyperikon«, die uns, zusammen mit der volkstümlichenTrope vom »Spiegel der Natur«, Modelle für unser Denkenüber alle Arten von Bildern liefern – seien es mentale, verbale,pikturale oder perzeptuelle. Und sie stellen, wie ich zeigenwerde, die Bühne zur Verfügung, auf der sich die Ängste, diewir mit Bildern verbinden, in einer Vielzahl von ikonokla-stischen Diskursen äußern und auf der wir die Behauptungrationalisieren können, daß, was immer Bilder auch sein mö-gen, Ideen etwas anderes sind als Bilder.

I. Die Frage

Es hat Zeiten gegeben, in denen die Beantwortung der Fra-ge »Was ist ein Bild?« eine brisante Angelegenheit war. ImByzanz des achten und neunten Jahrhunderts, das zerrissenwar vom Streit zwischen Kaiser und Patriarch, hätte einen dieAntwort sofort als Anhänger der einen oder der anderen Par-tei ausgewiesen: als radikalen Bilderstürmer, der die Kirchevom Götzendienst der Idolatrie zu reinigen bestrebt ist, oderals konservativen Ikonodulen, dem daran gelegen ist, tradi-tionelle liturgische Bräuche zu bewahren. Der Konflikt umdie Natur und den Zweck von Ikonen, der sich als Disputum subtile Fragen des religiösen Rituals und die Bedeutung

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von Symbolen darstellte, war eigentlich, wie Jaroslav Pelikanzeigt, »eine verkappte soziale Bewegung«, die »ein dogmati-sches Vokabular verwendete, um einen hauptsächlich poli-tischen Konflikt zu rationalisieren«.2

2 Eine Darstellung des Bilderstreits im östlichen Christentum gibt JaroslavPelikan, The Christian Tradition, Chicago/London 1974, Bd.2, The Spirit ofEastern Christendom (600-1700), Kap. 3 (»Images of the Invisible«, S. 91-145). Das Zitat findet sich ebd., S. 92.

Im Unterschied dazulag im England der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts dieBeziehung zwischen sozialen Bewegungen, politischen Fra-gen und der Natur bildlicher Darstellungen ziemlich offenzutage. Man könnte ohne große Übertreibung behaupten,daß es im englischen Bürgerkrieg um die Bilderfrage ging,und zwar nicht etwa um Statuen und andere materielle Sym-bole im religiösen Ritual, sondern um so wenig greifbareDinge wie das »Idol« der Monarchie und die »Idole des Gei-stes« überhaupt, die die Reformatoren in sich selbst und inanderen abzutöten trachteten.3

3 Eine Einführung in dieses Problem gibt Christopher Hills Kapitel über»Eikonoklastes and Idolatry« in seinem Buch Milton and the English Revo-lution, Harmondsworth 1977, S. 171-181.

Wenn heute bei der Frage, was Bilder sind, weniger aufdem Spiel zu stehen scheint, dann nicht, weil sie ihre Machtüber uns verloren hätten, und gewiß auch nicht, weil ihreNatur mittlerweile verstanden worden wäre. Es ist eine Bin-senweisheit der modernen Kulturkritik, daß Bilder in unserermodernen Welt eine Macht besitzen, von der sich die altenBilderverehrer nichts hätten träumen lassen.4

4 Susan Sontag gibt vielen dieser Binsenweisheiten einen beredten Aus-druck in ihrem Buch Über Fotografie, Frankfurt/M. 1980, das eigentlichGegen Fotografie heißen müßte. Sontag beginnt ihre Diskussion der Photo-graphie mit der Feststellung: »Noch nicht zu höherer Erkenntnis gelangt,hält die Menschheit sich noch immer in Platos Höhle auf und ergötzt sich– nach uralten Gewohnheiten – an bloßen Abbildern der Wahrheit« (S. 9).Photographische Bilder, so folgert Sontag, seien sogar noch bedrohlicher alsdie von der Hand eines Künstlers hergestellten Bilder, mit denen Platon zukämpfen hatte, denn sie seien »Mittel, die überaus geeignet sind, den Spießumzudrehen gegenüber der Realität – das heißt diese Realität zum Schatten

Und angesichts

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zu machen« (S. 172). Zu den wichtigen Kritiken der modernen Bildwelt undihrer Ideologie zählen: Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seinertechnischen Reproduzierbarkeit« (unter anderem in: ders., Illuminationen,Frankfurt/M. 1977); Daniel J. Boorstin, The Image, New York 1961; BillNichols, Ideology and the Image, Bloomington 1981; Roland Barthes, Diehelle Kammer, Frankfurt/M. 1985.

der Entwicklung der modernen Kritik scheint es nicht weni-ger evident zu sein, daß die Frage nach der Natur bildlicherDarstellungen nun dem Problem der Sprache nachgeordnetist. Wie die Linguistik ihren Saussure und ihren Chomskyhat, so hat die Ikonologie ihren Panofsky und ihren Gom-brich. Die Existenz dieser großen Synthetiker ist aber keinAnzeichen dafür, daß die Rätsel der Sprache oder der Bild-lichkeit kurz vor ihrer endgültigen Lösung stünden. Tatsäch-lich ist die Situation genau umgekehrt: Sprache und Bild-lichkeit sind nicht mehr das, was sie für die Kritiker undPhilosophen der Aufklärung zu sein versprachen – vollkom-mene, transparente Medien, die die Wirklichkeit repräsentie-ren und so dem Verstand zugänglich machen können. Für diemoderne Kritik sind Sprache und Bildlichkeit zu Rätselngeworden, zu erklärungsbedürftigen Problemen, zu Gefäng-nismauern, die den Verstand von der Welt abschließen. Diemodernen Untersuchungen gehen davon aus, daß Bilder alseine Art Sprache verstanden werden müssen; man hält Bildernicht mehr für transparente Fenster zur Welt, sondern be-greift sie als die Sorte Zeichen, die sich trügerisch im Gewandvon Natürlichkeit und Transparenz präsentiert, hinter dersich aber ein opaker, verzerrender, willkürlicher Mechanis-mus der Repräsentation, ein Prozeß ideologischer Mystifika-tion verbirgt.5

5 Neuere Arbeiten, die auf der Voraussetzung basieren, daß Bilder eine ArtSprache sind, sind zusammengestellt in: W. J.T. Mitchell (Hg.), The Langu-age of Images, Chicago 1980.

Der folgende Essay beabsichtigt weder zum theoreti-schen Verständnis des Bildes beizutragen noch die ständigwachsende Menge ikonoklastischer Polemiken um eine wei-

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tere Kritik der modernen Idolatrie zu vermehren. Mir geht esvielmehr darum, einige der »Sprachspiele«, wie Wittgensteinsie nennen würde, genauer zu betrachten, die wir mit demBegriff des Bildes spielen, und einige Fragen über die histori-schen Lebensformen aufzuwerfen, die diese Spiele spielen.Ich habe daher nicht vor, eine neue oder bessere Definitionvom Wesen der Bilder zu geben oder auch irgendwelche spe-ziellen Abbildungen oder Kunstwerke zu untersuchen. Stattdessen werde ich mich der Frage widmen, auf welche Wei-se wir das Wort Bild in verschiedenen institutionalisiertenDiskursen verwenden – in der Literaturkritik, der Kunstge-schichte, der Theologie und der Philosophie –, und ich werdedie Art, in der jede dieser Disziplinen von Begriffen der Bild-lichkeit Gebrauch macht, die sie bei ihren Nachbarn geborgthat, einer Kritik unterziehen. Es geht mir darum, die Auf-merksamkeit darauf zu lenken, wie unser »theoretisches«Verständnis der Bildlichkeit in sozialen und kulturellen Prak-tiken verankert ist und wie es in einer für unser Verstehen –nicht nur des Wesens der Bilder, sondern auch der jetzigenoder künftigen Natur des Menschen – grundlegenden Ge-schichte wurzelt. Bilder sind nicht bloß eine spezielle Art vonZeichen, sie sind vielmehr so etwas wie ein Schauspieler aufder Bühne der Geschichte, eine Gestalt oder ein Charaktervon legendärem Status in einem historischen Zusammen-hang, der den Geschichten entspricht und an ihnen beteiligtist, die wir uns über den Gang unserer Entwicklung erzählen:einer Entwicklung von Geschöpfen, die »nach dem Bilde«eines Schöpfers geschaffen sind, zu Wesen, die sich selbst undihre Welt nach ihrem eigenen Bilde schaffen.

192. Was ist ein Bild?

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II. Die Familie der Bilder

Zwei Dinge sind es, die sofort die Aufmerksamkeit einesjeden erwecken, der sich einen generellen Überblick über dieunter den Begriff der Bildlichkeit fallenden Phänomene zuverschaffen sucht. Zunächst einmal ist es einfach die breiteVielfalt der in Frage kommenden Dinge. Wir sprechen vonGemälden, Statuen, optischen Illusionen, Karten, Diagram-men, Träumen, Halluzinationen, Schauspielen, Projektionen,Gedichten, Mustern, Erinnerungen und sogar von Ideen alsBildern, und allein schon die Buntheit dieser Liste läßt jedessystematische, einheitliche Verständnis unmöglich erschei-nen. Zweitens wird man sich darüber wundern, daß die Tat-sache, daß alle diese Dinge den Namen Bild tragen, nochlange nicht heißt, daß ihnen allen etwas gemeinsam ist. Viel-leicht ist es also besser, wenn man sich die Bilder als eine weit-verzweigte Familie vorstellt, die sich zeitlich und räumlichauseinandergelebt und in diesem Prozeß grundlegende Ver-änderungen durchgemacht hat.

Wenn Bilder eine Familie darstellen, dann müßte es je-doch in gewisser Hinsicht möglich sein, so etwas wie ihreGenealogie zu konstruieren. Wenn wir nicht damit beginnen,eine universelle Definition des Begriffs zu suchen, sondernunser Augenmerk auf jene Stellen richten, an denen sich Bil-der auf der Basis institutioneller Diskursabgrenzungen von-einander differenziert haben, dann können wir einen Fami-lienstammbaum wie den folgenden aufstellen:

BILDÄhnlichkeit / Ebenbild

GRAPHISCHGemälde,Zeichnungenetc.StatuenPläne

OPTISCHSpiegelProjektionen

PERZEP-TUELLSinnesdaten»Formen«Erscheinungen

GEISTIGTräumeErinnerungenIdeenVorstellungs-bilder(Phantasmata)

SPRACH-LICHMetaphernBeschreibun-gen

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