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Mit Dolchen sprechen Der literarische Hass-Effekt Karl Heinz Bohrer Suhrkamp

Suhrkamp Verlag...ihm bekannt hat: Sein Prosastück Mes Haines beginnt mit die-sen Sätzen: »Der Haß ist heilig. Er ist die Indignation der star- Karl Heinz Bohrer, Stil ist frappierend

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  • Mit Dolchen sprechen

    Der literarische Hass-Effekt

    Karl Heinz Bohrer

    Suhrkamp� 8

    ,95

    www.suhrkamp.de

    ISBN 978-3-518-42881-8

    9 783518 428818

    € 28,00 [D

    ]€ 28,8

    0 [A]

    Karl Heinz Bohrers Auseinandersetzung mit dem

    Hass als zentralem Ausdrucksmedium der Literatur.

    Zwölf Analysen zu großen Charakteren der Welt-

    literatur: von der Renaissance bis in die Gegenwart

    Gerade in letzter Zeit hat der »Hass«-

    Begriff eine steile Karriere von öffent-

    licher Bedeutung hingelegt. In der

    publizistischen und sozialhistorischen

    Kritik an der in Deutschland und Euro-

    pa verbreiteten Reaktion auf die Flücht-

    lingskrise rückte er gemeinsam mit Be-

    griffen wie »Identität« und »Rassismus«

    in die vorderste Linie des Diskurses.

    Doch Karl Heinz Bohrers Studie in zwölf

    Kapiteln sucht im literarischen Hass-

    Effekt etwas ganz anderes. Nicht um

    den Hass als die begleitende Emotion

    eines politisch-weltanschaulichen

    Programms geht es ihm, sondern einzig

    um den literarischen Ausdruckswert,

    um die Rolle des Hasses als eines

    Mediums exzessiv gesteigerter Poesie.

    Dabei zeigt sich eine privilegierte Rolle

    von Charakteren des Hasses und ihres

    Ausdrucksvermögens in der Literatur,

    an deren Vorbild sich die Expressivität

    literarischer Sprache selbst entwickelt.

    Bohrers Studien führen vom Beginn

    der Neuzeit, von Shakespeare, Kyd und

    Marlowe, über Milton, Swift, Kleist,

    Baudelaire, Strindberg und Céline bis

    in die Gegenwart: zu Sartre, Bernhard,

    Handke, Jelinek sowie Brinkmann und

    Goetz. Und zu Houellebecq, in dem die

    bösartige Affirmation des Hassens-

    werten, eine Zeitgenossenschaft ohne

    Hoffnung, kulminiert.

    Karl Heinz Bohrer, geboren 1932 in

    Köln, Literatur- und Zeitkritiker, Heraus-

    geber, Hochschullehrer in Deutschland,

    Frankreich und den USA. Verfasser

    von Werken um die zentrale Idee des

    Momentanismus, der »Plötzlichkeit«.

    Sein neues Werk setzt die Linie seiner

    Forschungen fort und untersucht am

    Phänomen des literarischen Hass-

    Effektes eine der wichtigsten Emotio-

    nen, aus der heraus große Dichtung

    entsteht.

    Zuletzt im Suhrkamp Verlag erschienen:

    Das Erscheinen des Dionysos. Antike Mythologie

    und moderne Metapher, 2015

    Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der

    Phantasie, 2017

    Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

    Umschlagabbildung: Bildpostkarte (Kriegsfurie),

    um 1914, Foto: akg-images

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  • SV

  • Karl Heinz Bohrer

    Mit Dolchen sprechenDer literarische Hass-Effekt

    Suhrkamp

  • Erste Auflage © Suhrkamp Verlag Berlin

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

    durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

    (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

    oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbHDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

    Printed in GermanyISBN ----

  • Inhalt

    Vorwort

    I

    Kyds und Marlowes Hass-EffekteAnstatt einer Einleitung

    »I will speak daggers to her«Hass-Reden in Shakespeares Dramen

    Erhabener HassSatans Tragödie in Miltons Verlorenem Paradies

    Satire oder Subversion?Swift auf Gullivers Reisen

    II

    Hass bis in die HölleKleists grausame Helden

    »La Haine«Ein poetologisches Schlüsselwort Baudelaires

    Metaphysik des Hasses und der LiebeWagners Ring des Nibelungen

    Strindbergs TotentänzeOder: Hass im Wohnzimmer

  • III

    Der Exzess ist unvermeidlichCélines Reise ans Ende der Nacht

    Hass – ein existentialistischer CodeSartres Der Ekel und Die Fliegen

    Hassen nur Österreicher auf deutsch?Bernhard, Handke und Jelinek versus Goetz und

    Brinkmann

    Hassen, um gehasst zu werdenHouellebecqs Version des Phantastischen

  • Vorwort

    »The tigers of wrath are wiser than the horses of instruction.«So der große englischeDichterWilliamBlake, Advokat der Fran-zösischen Revolution. Aber der Satz kündigt nicht bloß einenaggressiven aufständischenWillen an. Er ist in seiner Aggressi-vität auch schön. Und so geht es im folgenden nicht um denHass als politisch-weltanschauliches Gebräu, sondern um sei-nen literarischen Ausdruck als ein Mittel intensiver Poesie.

    Seit dem ersten Satz der europäischen Literatur, seit HomerseineGöttin anrief, denZorn desAchill zu beschwören, der zumHass wird, seit diesem Anruf, »mēnin aeíde theá«, ist das Wortzu einer zentralen Ausdrucksform der Literatur geworden. Undseit Archilochos’ Hass-Lyrik wusste die griechisch-römischeKlassik, warum sie diesem Gefühl den Vorrang vor allen an-deren Emotionen gab. Und so Blake. Und so die Großen dereuropäischen Literatur in ihren Epochen: Christopher Mar-lowe,William Shakespeare, John Milton, Jonathan Swift, Hein-rich von Kleist, Charles Baudelaire, Richard Wagner, AugustStrindberg, Louis-Ferdinand Céline, Jean-Paul Sartre. Schließ-lich: Thomas Bernhard, Peter Handke, Elfriede Jelinek, MichelHouellebecq.

    Das Wort »Hass« hat kürzlich eine Karriere an öffentlicherBedeutung hinter sich gebracht. In der publizistischen und so-zialhistorischen Kritik an der in Deutschland und Europa ver-breiteten Reaktion auf die Flüchtlingskrise rückte es in die Rei-he vonBegriffen wie »Identität«, »Rassismus«, »Nationalismus«.Um dieses ideologiekritische Verständnis des Wortes oder desBegriffs »Hass« geht es im folgenden also nachdrücklich nicht.

  • Auch nicht um eine psychologische Identifikation. Vielmehrwird die poetologische Signifikanz des Hasses imWerk bedeu-tender europäischerDichter zwischenRenaissance, klassischerModerne und Postmoderne dargestellt, wobei seine imaginativ-poetische Aura zu entdecken sein wird, nämlich wie der Affektder Person zum Effekt der Sprache transzendiert.

    Insofern ähnelt die Frage nach demHass in der Literatur derFrage nach dem Interesse für die Gewaltdarstellung seit dem. Jahrhundert in Literatur undMalerei.Nicht nur die privile-gierte Rolle vonCharakteren desHasses, ihr Ausdrucksvermö-gen, ist zu befragen, sondern dasmit ihrerHilfe gewonneneAus-drucksvermögen der literarischen Sprache selbst. Daraus folgt,dass literarischeWerke, die dem politisch-kulturellen Hass nuranlässlich eines kriegerischenKonflikts dienen, nicht zumThe-ma gehören.

    Der poetische Hass-Ausdruck, so wird sich zeigen, bedarfeines doppelten Grundes: des Antriebs zum Pathos des Unge-wöhnlichen und der existentiellen Hass-Empfindung im Dich-ter selbst. Letztere deutet sich im . und . Jahrhundert an(Marlowe/Milton),gewinnt im. Jahrhundert an Stärke (Kleist/Baudelaire) und wird im . Jahrhundert zu einem radikal-sub-jektiven Code (Céline/Sartre).

    Émile Zola, der dem Hass in seinemWerk ebenso wie Mau-passant keine poetische, sondern eine politische Stimme gege-ben hat, fand gleichwohl für den existentiellenHass des Schrift-stellers und Künstlers auf das Banale die diagnostisch schärfsteCharakterisierung.Er war es, der den imaginativenHass als exi-stentiellen Selbstausdruck zwar nicht literarisch dargestellt, sichwohl aber in einer Adresse an die Zeitgenossen provokativ zuihm bekannt hat: Sein ProsastückMes Haines beginnt mit die-sen Sätzen: »Der Haß ist heilig. Er ist die Indignation der star-

    Karl Heinz Bohrer, Stil ist frappierend. Über Gewalt als ästhetisches Ver-fahren. In: ders., Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhe-tischen Kategorie. München und Wien , S.-.

  • ken undmächtigenHerzen, die militante Verachtung derer, diedieMittelmäßigkeit undDummheit nicht ertragen. Hassen heißtlieben, seine heiße und großmütige Seele spüren, mit Verachtunggegenüber den schändlichen und dummen Dingen leben.«Einesolche erst im. Jahrhundert in dieserFormausgedrückte Iden-tifikation lässt sich allerdings auf alle literarischenHass-Redenseit dem . Jahrhundert beziehen: Shakespeares Richard, Mil-tons Satan undBaudelaires poètemaudit ragen aus dieser Tradi-tion heraus.

    Nicht zufällig ist Zolas Stimme eine französische. Seit derGroßen Revolution war im öffentlichen Pariser Diskurs dasHass-Wort geläufig. Aber es nahm neben dem politischen baldeinen existentiellen Klang an, dem Baudelaire den bedeutend-sten literarischen Ausdruck verliehen hat.

    Auch in der theologisch-religiösen Tradition spielt die Hass-Rede eine hervorragende Rolle: so in den Psalmen und vor al-lem in Dantes Darstellung des Infernos und darin der entsetz-lichen Strafen für berühmte Sünder. Diese Darstellung ist zwarausgesucht poetisch, aber das Motiv ist kein ästhetisches, son-dern ein moralisches und gehört daher nicht im spezifischenSinn zur Thematik dieses Buches.

    Schließlich die Frage danach, was aus dem literarischenHassnach demZweitenWeltkrieg wurde. Die Antwort darauf ist ge-eignet, unser Gegenwartsbewusstsein zu perspektivieren.

    DerHass-Imagination eignete seit jeher eine fast sakrale Ab-grenzung der eigenen Existenz gegenüber derWelt. So –mit na-tional bedingten Unterschieden – bei Marlowe, Milton, Swiftund gewagter noch bei Baudelaire. Hier sind die Vorzeichenvon Célines und Sartres Hass-Metaphorik zu erkennen: Derendeutschsprachige Versionen, einerseits bei Bernhard, Handkeund Jelinek, andererseits bei Brinkmann und Goetz, werden

    Émile Zola, Mes Haines (). In: ders., Le bon combat. Anthologied’ecrits sur l’art. Édition critique par Jean-Paul Bouillon. Paris ,S. (Übersetzung des Verfassers).

  • durch kulturkritische und ideologiekritische Motive der Nach-kriegsmentalität noch verschärft. Und Houellebecq? Existen-tieller Hass verschmilzt hier mit bösartiger Affirmation des Has-senswerten. Er ist unser Zeitgenosse.

  • I

  • Kyds und Marlowes Hass-EffekteAnstatt einer Einleitung

    Die Darstellung des Hasses ist ein Effekt des literarischen Stils.Das ist zu erkennen bei der Unterscheidung von imaginativerund diskursiverHass-Rede. Erstere ist auf dieGefangennahmeunserer Phantasie aus, letztere auf die Besetzung unseres Den-kens durch politisch-ideologische Stereotype. Was es mit derimaginativen Hass-Rede in der großen Literatur auf sich hat, wasim Inneren ihresHelden psychisch vorgeht, ist ein leicht zu ver-fehlender Vorgang, abhängig vom historischen Status des Hel-den. So ist der Hass, der das erste Literaturstück der Europäer,Homers Ilias, auszeichnet, nicht intern psychologisch, son-dern extern götterentsprungen begründet. Homer spricht nichtvom»Hass«, sondern vom»Zorn«.Aber der »Zorn« desAchillzeigt, wie zwei fundamentale emotionelle Zustände eine einan-der integrierende Bewusstseinszone ausmachen.Agamemnonnennt imerstenGesangAchill den»Verhassten«,weil dieserdenHass immer suche.Der Zorn führt auf seinem jeweiligenHöhe-punkt zumHass-Affekt: ZuBeginn,wenn er beinahe denZwei-kampf zwischen Achill und Agamemnon auslöst; am Ende,wenn ernachPatroklos’TodbeiAchill dieRage desTötens pro-voziert. Entweder erscheint der Hass als das vom Dichter cha-rakterisierte Gefühl oder als eine von ihm beschriebene Hand-lung, deren Intensität und Zielgerichtetheit den Leser durchihren sprachlichen Ausdruck in Beschlag nehmen. Dann näm-lich, wenn der Affekt zum Effekt wird. Nicht bloß als Span-

    Vgl. Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch.Frankfurt am Main , S. f.

  • nungsfaktor einerHandlung, sondern als Auslöser vonVorstel-lungsketten.

    Am stärksten wird die Intensität der Hass-Rede spürbar inAchills letzten Worten an Hektor, wie Homer sie ihm in denMund legt, wenn Achill Hektors Bitte verwirft, ein jeder vonihnen möge im Falle des Sieges den toten Körper des anderender Familie zur rituellen Bestattung übergeben. Statt dessen dieausgesuchteste, die bösartig-grausamste Ablehnung, gipfelndin der Erklärung, die Achill dem von ihm tödlichmit der Lanzedurchbohrten Sterbenden mitgibt: dass er nicht begraben wer-de, wie es sich gezieme, sondern die Hunde und Vögel ihn inStücke reißen würden.Bevor Achill dem toten Hektor die Fü-ße durchbohrt, um ihn am Streitwagen festzubinden, und denvon griechischen Kriegern noch einmal durchbohrten Körpervon den Toren Trojas zu den griechischen Schiffen schleift, istdie hasserfüllte Handlung in der Hass-Rede schon vollzogen.DieRede gibt – vor denDarstellungsformenderCharakteristikund des Handlungsberichts – dem Effekt des Affekts die stärk-steWirkung.Diehistorischbedingte, vondenGöttern geleiteteSubjektivität ist dem Effekt des Hasses nicht abträglich. SeineästhetischeWirkung ist nicht zu unterscheiden von derBegrün-dung der Emotion Achills. Die Wirkung kommt vornehmlichvom Ausdruck seiner Rede.

    Doch was für eine Wirkung hat sie? Shakespeares Hass-Re-den sind zu Beginn derModerne das sprechendste Beispiel, ausdem sich die offensichtliche Faszination des Lesers bzw. Zu-schauers durch eine hasserfüllte Sprache erklärt. Denn Gesche-hen und Rede auf der Bühne bleiben eine grandiose Erschei-nung, die unsere Vorstellungskraft als ein »Wunder«, nicht bloßals eineHandlungsfolge besetzt, eine Unterscheidung, dieNietz-sche bezüglich des dionysischen Effekts der griechischen Tra-

    Homer, Ilias. Neue Übertragung von Wolfgang Schadewaldt mit zwölfantiken Vasenbildern. Frankfurt am Main (insel taschenbuch ),S. .

  • gödie traf.Diese faszinierende Erscheinung erklärte er mit derHass-Sprache des griechischen Lyrikers Archilochos. In einemdoppelten Schlag wider das moralisch-idealistische Kunstver-ständnis beförderte Nietzsche so zum einen den Begriff derschieren Imagination in den Vordergrund der Tragödien-De-batte, zum anderen ließ er die Imagination auf dem Hass-Aus-druck der archaisch-poetischen Rede beruhen.

    Martin Scorsese, Erfinder abgründiger Filmgangster blutig-sten Ausmaßes, überschrieb einen erschienenen AufsatzzumFilmemachen alsKunstformmit demWort »imaginations«:Immer seien es die »images« der großenFilme gewesen, die ihmin Erinnerung blieben. Sei es Peter O’Toole, wenn er in DavidLeans Lawrence of Arabia ein Zündholz ausbläst, sei es dasBlut, das sich in Stanley Kubricks The Shining aus dem Fahr-stuhl ergießt, oder sei es der explodierende Bohrturm in PaulThomasAndersonsThereWill Be Blood. Diese einzelnen »ima-ges« sind inkorporiert in eine Folge anderer Filmbilder, die sievorbereiten oder denen sie einEcho geben.Worauf Scorsese ausist – ohne dies theoretisch zu erläutern: die Struktur jedes gro-ßen »image« als des entscheidendenMoments imzeitlichenAb-lauf, das unsere Phantasie in Bewegung setzt.Dasselbe gilt auchfür das Drama, für die Literatur. Die unsere Phantasie in Bewe-gung setzende Kraft des »phantom image«, die besonders her-

    Friedrich Nietzsche,Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik.In: ders., Kritische Studienausgabe in Bänden. Hrsg. v. G. Colli undM. Montinari. München , Bd., S.f.

    Ebd., S. . Zur poetologischen Funktion von Hass-Ausdruck und Ag-gressivität in der römischenDichtung seit Catull vgl. Jürgen Paul Schwindt,»Autonomes« Dichten in Rom? Die »lex Catulli« und die Sprache derliterarischen Phantasie. In: ders. (Hrsg.), Klassische Philologie »interdisci-plinas«. Aktuelle Konzepte zu Gegenstand und Methode eines Grundla-genfaches. Heidelberg (Bibliothek der klassischen Altertumswissen-schaft, Bd.), S. -.

    Martin Scorsese, Illuminations. On the Power of Film-Making as an ArtForm. In: The Times Literary Supplement, . Juni , S. f.

  • ausragende Bild-Erfindung, ist Scorseses Kriterium, ein Krite-rium also, das nicht selbstverständlich ist, obwohl es sich zu-nächst so anhört. Man könnte auf ein anderes, psychologischesoder politisch-ideologisches Ausdrücklichkeitskriterium ver-fallen.Wenn der Film als Kunstform an Bedeutung verloren ha-be, dann, so Scorsese, weil er der Imagination nichts mehr zutun lasse und nur einen zeitlichen oder vordergründigen Zau-ber über den Zuschauer werfe.

    Nietzsche hat vom »Kunstzauber« gesprochen und diesenschließlich aus der Struktur des »Wunders« erklärt, das überden »ästhetischen Zuschauer« komme imUnterschied zum ge-wöhnlichen Zuschauer, der vor allem am psychologischen undhistorischen Handlungsablauf interessiert sei. Das ist gewissetwas anderes als der vordergründige Kinozauber. Offensicht-lich versteht auch der amerikanische Regisseur ein bedeutendesFilm-Image nicht als ein solches, das den Zuschauer als schiereBildmontage überfällt, sondern als dasjenige, das ihn selbst wie-derum zum Produzenten von Imagination erhebt. Darin liegt –ohne dass wir Nietzsches Begriff des »Wunders« reflektierenmüssten – eine überzeugendeAktualisierungdesBegriffs »Imag-ination«, auf den in der Folge zurückzukommen sein wird,vor allem bezüglich der imaginären Bildlichkeit derHass-Redeeinerseits und deren imaginativer Wahrnehmung durch Leserund Zuschauer andererseits.

    Wenn die Imagination des Theaterbesuchers vornehmlichvon der grausamenRede inspiriert wird und diese ihren großenAusdruck in Shakespeares Monologen und Dialogen des Has-ses gefunden hat, dann wird man ihrer besonderen Subversivi-tät gewahr, siehtman auf dieHass-Rede undHass-Szene seiner

    Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S.. Zur Geschichte des Imaginationsbegriffs als Vermögen, als Vorstellungs-

    kraft, als radikal Imaginäres vgl.Wolfgang Iser,Das Fiktive und das Ima-ginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt amMain (suhrkamp taschenbuch wissenschaft ), S. -.

  • unmittelbaren Vorläufer und Anreger: Thomas Kyd, Christo-pherMarlowe sowie auch Ovid,Vergil, Seneca, Lucan undMa-chiavelli. Die griechischen Tragiker waren vor Thomas StanleysÜbersetzung vonAischylos’Dramen in England nur vomHörensagen bekannt. Vor allem in Aischylos’ v.Chr. auf-geführterOrestie tritt ausKlytämnestras lustvollerBeschreibungder blutigen Details ihres Mordes an Agamemnon der Hass alsrhetorisch-ästhetisches Stimulans hervor, gefolgt von derRedeihresLiebhabersAigisthos, derdenHass seinesVatersThyestesgegen dessen Bruder Atreus, den Vater des Agamemnon, erin-nernd aufruft. Atreus hatte die Söhne des Thyestes getötet bzw.geschlachtet und sie dem Vater als Fleischgericht vorgesetzt.Das grauenhafte Motiv kannten Marlowe und Kyd sowohlaus der Lektüre von Senecas Drama Thyestes als auch in seinermythologisch variierten Form aus dem sechsten Buch derMe-tamorphosenOvids. Insofern dessen artifiziell gesetztes Grauenein poetischesLeitmotiv der europäischenLiteratur produzierthat, hört es auf den Namen »Itys«:Dessen erschreckende Be-deutung wurde sowohl in Aischylos’ Agamemnon als auch inT. S. Eliots TheWaste Land evoziert und hat gerade die Schrek-ken der elisabethanischen Tragödie um signifikante Phantas-men bereichert. Das Itys-Motiv hat seine archaisch-mythologi-sche Herkunft also nicht bloß überlebt, es kam der modernenLiterarisierung besonders entgegen: Ovids Interesse an Grau-samkeit war ein ausschließlich literarisches, er glaubte nichtmehr an die Götter.

    Der Hass-Rede Klytämnestras war die der Elektra gefolgt,

    »Itys« ist der Name des Sohnes des thrakischen Fürsten Tereus und derathenischen Königstochter Prokne, die ihren eigenen Sohn schlachtetund ihremGatten als Speise vorsetzt – aus Rache, weil dieser ihre Schwe-ster Philomena vergewaltigt und ihr die Zunge abgeschnitten hatte, da-mit sie dieUntat nicht erzählen könne.Vgl.Ovid,Metamorphosen.Über-setzt und hrsg. von Hermann Breitenbach. Mit einer Einleitung vonL.P.Wilkinson, Stuttgart , S. -.

    Hierzu Karl Heinz Bohrer, Ist Kunst Illusion?, München , S. -.

  • sowohlderElektra imzweitenTeil derOrestie als auchderElek-tra in Sophokles’ gleichnamigem Drama. Es folgte als theatrali-scher Höhepunkt der Hass-Chor der asiatischen Mänaden ge-gen den König Pentheus in Euripides’ Tragödie Die Bakchen.ObbeiAischylos, Sophokles oderEuripides – immerproduzie-ren diese Tragödien ein obsessives Ausmaß an poetischen Bil-dern, welche die Rolle der Hass-Rede in der modernen Litera-tur schon vorbereiten. Das elisabethanische Theater erreichteseine früheWirkung imHass-Effekt vor demAuftreten Shake-speares auch deshalb bereits, weil sich die Hass-Motive der rö-mischen Literatur – bei Ovid, Seneca, Vergil und Lucan – wieaus Füllhörnern mit ihren bizarren, unerhörten Bildern aufdie englischen Renaissance-Dramatiker ergossen.

    Hierfür steht pars pro totoChristopherMarlowesDramaTam-burlaine theGreat von /. BevorMarlowe das von hasser-füllten Reden strotzende Werk und die beiden anderen ebensoim Hass schwelgenden Dramen Doctor Faustus (um ) undTheJewofMalta (um) schrieb,hatte ernebenOvidsAmoresdas erste Kapitel der epischen Beschreibung des Bürgerkriegszwischen Caesar und Pompeius von Lucan (Marcus AnnaeusLucanus) übersetzt, einemNeffen Senecas. Marlowes Interessean Lucans Epos Pharsalia ist aufschlussreich für seine eigenekünstlerische Affinität zur Grausamkeit, denn dieses Werk be-eindruckt oder überwältigt durch die Schilderung grässlicherSzenenvonSeekampfundLandgemetzel,durcheinenaufdasAb-normeabzielendenStil,derdasHeroischenochinVorgängener-kennt, für welche die semantische Synonymität der deutschenWörter »Schlacht« und »schlachten« vielsagend steht. Deshalbwurde Lucans Werk von John Dryden, dem neben Milton das

  • englische . Jahrhundert beherrschenden Epiker, Lyriker undDramatiker,verworfen,währendderromantischePercyByssheShelley es aus dem gleichenGrund bewunderte.

    Damit ist der Kontext unserer Frage nach den Hass-RedenvonMarlowe angedeutet, der durchMord zu Tode kam, wofürdas Motiv lange umstritten blieb. Es genügt hier, die elisabe-thanischeEpoche, denHof vonLondon, als Zeit undOrt perma-nenter Gewalt und Gefahr, nicht zuletzt extrem sadistischerHinrichtungspraktiken an Hochverrätern oder des AtheismusAngeklagten und (immer) Überführten, herauszustellen, umgleichzeitig Marlowes Stil der aggressiven Darstellung zwi-schen Realismus und Imagination abzuwägen. Hier eröffnetsich auch schon die Perspektive auf Shakespeares Hass-Rede.Seit Stephen Greenblatts Buch Shakespearean Negotiations(), das »Innenansichten der englischen Renaissance« vor-führt, ist das, was Greenblatt »Zirkulation der sozialen Ener-gie« nennt, alsWiderspiegelungstheorie rezipiertworden: Shake-speares Text liefere authentische Spuren des Lebens, die »sozialeEnergie« habe ihre ästhetische Entsprechung gefunden. Diemachiavellistisch beeinflusste Diagnostik von Subversion undUnordnung im Bericht des bedeutenden Mathematikers undKartographen Thomas Hariot über die englische Kolonie Vir-ginia lasse sich auch – so die These Greenblatts – in Shake-speares historischen Dramen wiederfinden.

    Erklärt das, abgesehen von der Thematik, aber ihren einma-ligen Stil der Gewalt? Wie viel davon steckt in Marlowes Tra-gödie, der –wie der des Atheismus angeklagte Thomas Kyd un-

    Vgl. Charles Nicholl,The Reckoning. The Murder of Christopher Mar-lowe. London .

    Stephen Greenblatt, Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichtender englischen Renaissance. Aus dem Amerikanischen von Robin Ca-ckett. Frankfurt am Main .

    Ebd., S. -. ThomasHariot,A Brief and True Report of theNew Found Land of Vir-

    ginia ().