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Leseprobe Weiß, Martin G. Bios und Zoë Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit Herausgegeben von Martin G. Weiß © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1899 978-3-518-29499-4 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Weiß, Martin G.

Bios und Zoë

Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit

Herausgegeben von Martin G. Weiß

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1899

978-3-518-29499-4

Suhrkamp Verlag

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Mit dem Aufkommen der Biotechnologien ist die Natur des Menschen verfügbar geworden und die Frage nach dem Verhältnis von biologischem Leben und spezifisch menschlicher Lebensform ins Zentrum der Aufmerk-samkeit gerückt.An der Diskussion über das Leben im Zeitalter der Life Sciences beteiligen sich heute nicht mehr nur Philosophen und Theologen, sondern auch Wis-senschaftshistoriker und Politikwissenschaftler.Der vorliegende interdisziplinäre Sammelband stellt den Überlegungen bekannter europäischer Autoren die Positionen namhafter Vertreter der angelsächsischen Science and Technology Studies gegenüber und bietet so einen aufschlussreichen Überblick über die aktuelle Auseinandersetzung der Geistes- und Sozialwissenschaften mit dem Phänomen der Lebenswis-senschaften und ihren biotechnologischen Anwendungen.

Martin G. Weiß, geboren 1973, ist Mitglied der Forschungsplattform Life Science Governance der Universität Wien und Universitätsassistent am Philosophischen Institut der Universität Klagenfurt.

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Bios und ZoëDie menschliche Natur

im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit

Herausgegeben von Martin G. Weiß

Suhrkamp

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1899© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in Germany

Umschlag nach Entwürfen vonWilly Fleckhaus und Rolf Staudt

ISBN 978-3-518-29499-4

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Hans-Jörg Rheinberger/Staffan Müller-WilleTechnische Reproduzierbarkeit organischer Natur – aus der Perspektive einer Geschichte der Molekularbiologie . . . . . . . . . . . . . . . 11

Martin G. WeißDie Auflösung der menschlichen Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

Karin Knorr CetinaJenseits der Aufklärung. Die Entstehung der Kultur des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

Thomas Lemke/Peter WehlingBürgerrechte durch Biologie? Kritische Anmerkungen zur Konjunktur des Begriffs »biologische Bürgerschaft« . . . . 72

Rosi BraidottiZur Transposition des Lebens im Zeitalter des genetischen Biokapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

Stefan HelmreichMenschliche Natur auf See . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

Nikolas RoseWas ist Leben? – Versuch einer Wiederbelebung . . . . . . . . . 152

Gianni VattimoVom »naturalistischen Fehlschluss« zur Ethik der Endlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Kurt BayertzHat der Mensch eine »Natur«? Und ist sie wertvoll? . . . . . . . 191

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Dieter BirnbacherWieweit lassen sich moralische Normen mit der »Natur des Menschen« begründen? . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Ulrich H. J. KörtnerPersonen werden geboren. Zur Kritik der Vorstellung von der Person als causa sui und ihren Konsequenzen für die Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

Anna Durnová/Herbert GottweisPolitik zwischen Tod und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

Charis ThompsonDie Farbe der Haut. Zur Persistenz des biologischen Rassebegriffs in der Reproduktionsmedizin . . . 304

Paul Rabinow/Gaymon BennettAuf dem Weg zum synthetischen Anthropos:Re-Mediatisierende Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330

Bruno LatourFaktur/Fraktur. Vom Netzwerk zur Bindung . . . . . . . . . . . . . 359

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . 386

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Einleitung

Die hier veröffentlichten Beiträge kreisen alle um die zuletzt bei Giorgio Agamben, einschlägig aber bereits bei Hannah Arendt thematisierten Begriffe der Zoë und des Bios. Aufgrund der neuen Erkenntnisse der Lebenswissenschaften und der mit diesen einher- gehenden beunruhigenden Manipulationsmöglichkeiten der Bio-technologien ist das Leben in seiner doppelten Bedeutung von »bloßem biologischen Leben« und »spezifisch menschlichem Le-ben« sowie die Beziehung dieser beiden Konzepte zueinander zunehmend ins Zentrum geistes- und gesellschaftswissenschaft-lichen Interesses gerückt. In diesem Zusammenhang versteht sich vorliegender Band als Sammlung von Werkstattberichten zum gegenwärtigen Stand philosophisch-soziologischer Überlegungen zu den neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Life Sciences. Ausgehend vom Untertitel des Sammelbandes wurden namhafte Vertreter der Science and Technology Studies in Europa und den USA ebenso wie Philosophen und Bioethiker gebeten, Einblick in ihre aktuellen Forschungsergebnisse zu gewähren.

Den Auftakt der Bandes bildet der Beitrag »Technische Reprodu-zierbarkeit organischer Natur – aus der Perspektive einer Geschich-te der Molekularbiologie« von Hans-Jörg Rheinberger und Staffan Müller-Wille, der einen ersten Einblick in die Möglichkeiten und (postgenomischen) Grenzen zeitgenössischer Molekularbiologie bietet.

Während der Aufsatz des Herausgebers »Die Auflösung der menschlichen Natur« die biotechnologischen Träume der Selbst-herstellung des Menschen in ihre philosophische Vorgeschichte einbettet und den Zusammenhang zwischen der »Auflösung der Natur des Menschen« in den Biotechnologien mit neuerdings ver-stärkt diskutierten kommunitaristischen Ansätze in der Bioethik behandelt, vertritt Karin Knorr Cetina in ihrem Text »Jenseits der Aufklärung. Die Entstehung der Kultur des Lebens« die The-se, dass wir uns aufgrund der neuesten Entwicklungen innerhalb der Lebenswissenschaften heute auf dem Weg in eine »postsozi-ale«, individualisierte Gesellschaft befinden, die vom Leitbegriff des individuellen Lebens bestimmt sei, der den »Menschen« und

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»Bürger« früherer Zeiten zunehmend in den Hintergrund dränge. Dagegen versuchen Thomas Lemke und Peter Wehling in ihrem Beitrag »Bürgerrechte durch Biologie? Kritische Anmerkungen zur Konjunktur des Begriffs ›biologische Bürgerschaft‹« aufzuzeigen, dass die Praktiken genetischer Selbstregierung oft nur Manifesta-tion biopolitischer Machtphänomene sind, die die althergebrachte Dichotomie von Individuum und Gesellschaft überhaupt unter-laufen. Anders bewertet Rosi Braidotti den durch die Biotechnolo-gien induzierten Wandel im (ethischen) Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. In ihrem Beitrag »Zur Transposition des Lebens im Zeitalter des genetischen Biokapitalismus« unternimmt sie eine posthumanistische Verteidigung der Zoë als vitalistisches Prinzip und möglichem Ausgangspunkt einer Ethik des Werdens. Aus kul-turwissenschaftlicher Sicht greift dann Stefan Helmreich in seinem Text »Menschliche Natur auf See« das Motiv der Auflösung auf, in-dem er gegenwärtige Entwicklungen der Meeresmikrobiologie mit aus der Romantik stammenden Meeresmetaphern in Verbindung bringt.

Der Beitrag von Nikolas Rose »Was ist Leben? – Versuch einer Wiederbelebung« untersucht im Gefolge Georges Canguilhems, wie sich die Frage nach dem Leben, die zunächst eine wissenschaft-lich-philosophische Frage nach dem »Was« des Lebens gewesen sei, im Zuge der zunehmenden Verunsicherung darüber, was (noch) lebendig und was (schon) tot ist, in eine Frage nach dem Wert des Lebens und damit in eine ethische Frage verwandelt habe. Aus-drücklich ethischen Aspekten der Life Sciences widmen sich dann auch die folgenden drei Aufsätze. Gianni Vattimos programma-tischer Beitrag »Vom ›naturalistischen Fehlschluss‹ zur Ethik der Endlichkeit« zeigt dabei zunächst die aitiologischen Probleme ei-ner objektivistischen Naturauffassung auf und unternimmt dann den Versuch, die Grundlinien einer nachmetaphysischen Ethik zu skizzieren. Einem normativen Naturbegriff stehen auch Kurt Bay-ertz und Dieter Birnbacher kritisch gegenüber, die in ihren Texten, »Hat der Mensch eine ›Natur‹? Und ist sie wertvoll?« und »Wieweit lassen sich moralische Normen mit der ›Natur des Menschen‹ be-gründen?«, die prinzipiellen Probleme beleuchten, die eine norma-tive Ausrichtung am Begriff der »menschlichen Natur« aufwirft. Aus philosophisch-theologischer Sicht widmet sich Ulrich Körtner in seinem Aufsatz »Personen werden geboren. Zur Kritik der Vor-

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stellung von der Person als causa sui und ihren Konsequenzen für die Ethik« schließlich der Relevanz der Bestimmung des Anfangs personalen Lebens. Dass der Begriff des menschlichen Lebens auf-grund der ungeahnten Möglichkeiten moderner Biotechnologie und Medizin an seinen (zeitlichen) Rändern gleichsam ausfranst und eine Zone theoretischer wie praktischer Unbestimmtheit er-öffnet, zeigen Herbert Gottweis und Anna Durnova am Beispiel der politischen Auseinandersetzung um Embryonenforschung und Sterbehilfe in ihrem Text »Politik zwischen Tod und Leben«. Um einen Grenzbereich zwischen Bios und Zoë geht es auch im Beitrag »Die Farbe der Haut« von Charis Thompson, die anhand der Pra-xis der Eizellenspende in den USA die wichtige Rolle hervorhebt, die der traditionelle Rassebegriff im Kontext reproduktionsmedizi-nischer Praktiken spielt.

Ganz konkret berichten Paul Rabinow und Gaymon Benett dann in ihrem Text, »Auf dem Weg zum synthetischen Anthropos. Re-Mediatisierende Aspekte«, über einen (gescheiterten) Versuch ein Post-ELSI-Projekt zu realisieren, also die Analyse der ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Aspekte biologischer Forschung nicht mehr nur wie bisher als nachgeordnete Begleitforschung zu betreiben, sondern als integrales und gleichberechtigtes Moment eines umfassenden Forschungsprojektes.

Den Abschluss des Bandes bildet Bruno Latours Essay, »Fak-tur/Fraktur. Vom Netzwerk zur Bindung«, in dem der Autor das überkommene dichotomische Verständnis von Subjektivität und Objektivität, das nicht zuletzt durch die Ergebnisse der modernen Biologie ins Wanken geraten ist, durch das Konzept des »Faitiche« zu überwinden sucht.

Die hier versammelten Texte bieten zwar keine einheitliche Deutung der Life Sciences und ihrer Möglichkeiten, weisen aber durchaus konvergierende Fragestellungen auf: Aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung wird wiederholt die Frage nach einer Krise der Biologie gestellt, die sich einer verbreiteten Lesart zufol-ge im Übergang vom klassischen Paradigma der Genetik (das das Genom informationstheoretisch als ablesbares statisches Programm begriff) zum organizistischen Modell der »Postgenomics« äußert. Die Frage danach, was dieser Paradigmenwechsel innerhalb der Leitwissenschaft der Spätmoderne für das ethische Selbstverständ-nis des Menschen bedeutet, hängt dann ebenso mit der normativen

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Krise der menschlichen Natur als auch mit der wiederkehrenden Diskussion des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft im Zeitalter der genetischen Präventivmedizin zusammen. Dabei wird deutlich, dass auch das Verhältnis der Life Sciences zur »Kultur« das einer wechselseitigen Beeinflussung ist, also von sich gegenseitig produzierenden Wahrheitdiskursen.

Zuletzt ein kurzes Wort des Dankes. Die Idee zu diesem Buch geht auf Gespräche zurück, die ich im Rahmen eines vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanzier-ten Projektes während eines Forschungsaufenthaltes an der UC Berkeley mit Charis Thompson und Paul Rabinow führte, denen daher mein besonderer Dank gilt. Danken möchte ich sodann allen Autoren, meinem Mitarbeiter Michael Blamauer, dem Wis-senschaftslektorat des Suhrkamp Verlages, den Freunden Barbara Prainsack, Matthias Wieser und Wolfgang Fasching sowie meiner Frau Constanze Drumm für die wertvolle Hilfe und die anregenden Gespräche während der Redaktionsarbeit. Danken möchte ich auch dem FWF, der Forschungsplattform Life Science Governance sowie den Universitäten Wien, Berkeley und Klagenfurt, die meine Arbeit stets unterstützend begleitet haben. Martin G. Weiß Klagenfurt, im März 2009

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Hans-Jörg Rheinberger/Staffan Müller-Wille Technische Reproduzierbarkeit organischer Natur

– aus der Perspektive einer Geschichte der Molekularbiologie

In den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat sich die um die Jahrhundertmitte entstandene Molekularbiologie und mit ihr die Art und Weise, wie man molekulare Genetik betreiben und in die Reproduktion der Organismen, einschließlich der Repro-duktion des Menschen, eingreifen konnte, grundlegend verändert. Damit einhergegangen sind Rekonfigurationen im Verhältnis von akademischer Forschung, industrieller Biotechnologie und öffent-licher Partizipation, die inzwischen zum Gegenstand soziologischer und anthropologischer Begleitforschung geworden sind. Die Ver-änderungen sind allerdings durchaus ambivalent und vor allem nach wie vor im Fluss. Hier soll versucht werden, einige Facetten dieses Wandels nachzuzeichnen, ohne die sich daraus ergebenden Änderungen in der Wahrnehmung der Natur des Menschen gleich wieder zu reifizieren. Ein solcher Versuch kann heute nur aus dem Fluss der Dinge heraus unternommen werden, die sich unter un-seren Augen abspielen und deren weitere Wendungen vorerst nicht abzusehen sind.

Ein technologischer Gestaltwandel

Mit Gaston Bachelard könnte man den beobachtbaren Gestalt-wandel auch als einen »phänomenotechnischen« bezeichnen.� In dessen Verlauf wurde vor allem das Vererbungsgeschehen, bis dahin ein stochastisch prognostizierbarer, aber doch im Grunde komplex-organischer Prozess, zu einem technisch manipulierbaren Kopiervorgang. Die Basis für diesen epistemischen Wandel wurde im Jahrzehnt zwischen 1970 und 1980 gelegt. Vorbereitet wurde er durch die Reindarstellung jener Enzyme, die in der Zelle die 1 Hans-Jörg Rheinberger, Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der mo-

dernen Biologie, Frankfurt/M. 2006, Kapitel 2, »Gaston Bachelard und der Begriff der ›Phänomenotechnik‹«.

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molekulargenetischen Vorgänge der Verdoppelung des Erbmateri-als sowie seiner Transkription und Translation steuern und die in der Lage sind, Nukleinsäuren zu manipulieren. Durch sie wird die genetische Information getrimmt und in Zellstrukturen und -funk-tionen umgesetzt. Zu diesen Enzymen und Enzymkomplexen ge-hören die Nukleinsäure-Polymerasen. Die DNA-Polymerasen die-nen der Verdopplung des genetischen Materials. Ihre Darstellung geht auf Arthur Kornberg zurück. Die RNA-Polymerasen benutzen DNA-Matrizen, um die für die Zelle wichtigen Ribonukleinsäure-moleküle herzustellen. Einige dieser Enzyme wurden bereits in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren identifiziert. Ihre Reini-gung in aktiver Form erwies sich jedoch als ein über viele Jahre sich hinziehendes enzymologisches Unterfangen. 1970 überraschten Howard Temin und David Baltimore mit der Beschreibung einer Virus-Polymerase, die RNA in DNA umschreibt und die unter dem Namen »reverse Transkriptase« bekannt wurde. Die Charakterisie-rung der ersten sogenannten Restriktionsenzyme, einer Klasse von bakteriellen Enzymen, die definierte DNA-Doppelstrangsequenzen erkennen und spezifisch schneiden, gelang Ende der 60er Jahre Da-niel Nathans sowie Werner Arber. Parallel dazu fanden sich Enzyme in Bakterienzellen, die Bruchstücke von Nukleinsäuren miteinan-der verbanden, die sogenannten DNA-Ligasen.

Mit diesen Molekülen als Werkzeugen eröffnete sich grund-sätzlich die Möglichkeit, DNA-Stücke unterschiedlicher Herkunft miteinander zu verbinden, d. h., hybride oder, wie man sie auch nannte, rekombinante Nukleinsäuremoleküle herzustellen. Als Transportvehikel oder »Vektoren« erwiesen sich Plasmide beson-ders geeignet; kleine, ringförmige DNA-Moleküle, manchmal auch Nebenchromosomen genannt, die man aus Bakterienzellen isolie-ren konnte.� Die genannten Enzyme bildeten die Grundlage für die Möglichkeit einer Manipulation des Erbmaterials im Reagenzglas. Das manipulierte Erbmaterial konnte anschließend mit Hilfe der Vektoren in die Zelle, zunächst in Bakterienzellen, dann auch in Zellen von höheren Organismen eingebracht werden. So wurde eine Gentechnologie im engeren Sinne möglich. Das Charakteristikum dieser Technologie besteht darin, dass ihre zentralen Instrumente – Polymerasen, Restriktionsenzyme, Ligasen, Plasmide – alle selbst 2 Mathias Grote, An Experimental and a Conceptual Quest: The Transition from Epi-

somes to Plasmids (1961-1969), Manuscript 2008.

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Einheiten von molekularer Ordnung sind. Aus der Perspektive der Geschichte der Molekularbiologie stellen sie eine Technologie der zweiten Generation dar. Diese Technologie beruht nicht mehr auf schwerem analytischen Gerät, das nach physikalischen Prinzipien aufgebaut ist. Die Matrizen, mit denen Gene kopiert werden, die Scheren und die Nadeln, mit denen man sie schneidet und spleißt, und die Vektoren, in die sie eingebaut werden und mit denen man sie transportiert, sind selbst von der Größenordnung von Makro-molekülen. Sie sind eine Art ›weicher‹ oder ›nasser‹ Technologie, ein molekularer Werkzeugkasten, mit dem man einerseits Makro-moleküle maschinell herstellen, mit dessen Produkten man aber andererseits auch Organismen transformieren kann.

In beide Richtungen – molekulare Verfahren in Maschinen zu implementieren und in-vitro-rekombinierte Nukleinsäuren in Organismen zu verpflanzen – ist die Gentechnologie der 1970er Jahre aufgebrochen. 1972 gelang es Paul Berg erstmals, ein hybrides DNA-Molekül aus zwei Viren – dem Phagen lambda und dem infektiösen Affenvirus SV40 – herzustellen. Ein Jahr später fanden Stanley Cohen und Herbert Boyer einen Weg, ihre Arbeit an Plas-miden und Restriktionsenzymen zu verbinden und im Reagenzglas ein Stück Virus-DNA in ein kleines, ringförmiges Plasmid eines Bakteriums einzubauen, es in Bakterienzellen zurückzuschleusen und es sozusagen auf natürlichem Wege von den Bakterien ver-mehren zu lassen. Diese Experimente bildeten die Grundlage für das Klonieren von ganzen Genen und den eigentlichen Startpunkt der Gentechnologie. Sie lösten eine heftige Debatte über mögliche Risiken und die Regulierung der Gentechnologie aus und bil-deten zugleich den Auftakt für deren Industrialisierung. Mit der Möglichkeit, die genetische Reproduktionsmaschinerie der Zelle für die Vermehrung eigens konstruierter Nukleinsäure-Matrizen zu verwenden, verlässt der Molekularbiologe – als Gentechnologe bzw. Geningenieur – das Arbeitsparadigma des klassischen Bio-physikers, Biochemikers und Genetikers. Er konstruiert nicht län-ger Reagenzglasbedingungen, unter denen die Moleküle des Or-ganismus und ihre Reaktionsfolgen den Status wissenschaftlicher Untersuchungsobjekte annehmen. Er hat den Spieß umgedreht: Der Molekulartechnologe konstruiert informationtragende Mole-küle, die nicht länger bereits im Organismus existieren müssen, um der Untersuchung zugeführt werden zu können. Er benutzt

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das Milieu der Zelle als angemessene technische Einbettung, um seine Moleküle zu reproduzieren, sie zu exprimieren und die Wir-kungen ihrer Produkte zu testen. Der Organismus selbst wird da-mit in ein Labor, einen locus technicus verwandelt. Nun geht es nicht länger um die extrazelluläre Repräsentation intrazellulärer Strukturen und Prozesse, sondern umgekehrt um die intrazelluläre Repräsentation eines extrazellulären Projekts. Wie Waclaw Szybal-ski, ein zeitgenössischer Beobachter der im Entstehen begriffenen Gentechnik und Krebsforscher, bereits 1978 anlässlich der Verlei-hung des Nobelpreises an Werner Arber, Hamilton Smith und Daniel Nathans konstatierte: »Die Arbeit mit Restriktions-Nukle-asen erlaubt es uns nicht nur, auf einfachem Wege rekombinante DNA-Moleküle zu konstruieren und einzelne Gene zu analysieren; sie hat uns auch in die neue Ära einer ›synthetischen Biologie‹ geführt, die nicht mehr nur existierende Gene beschreibt und analysiert, sondern neue Gen-Anordnungen konstruiert und eva-luiert.«� Sheila Jasanoff hat dies kürzlich wie folgt formuliert: Die Biotechnologie »setzt neue Entitäten in die Welt und verändert dadurch unseren Sinn dafür, was recht ist und was nicht in Natur und Gesellschaft«.�

Insbesondere für die gentechnologische Herstellung von Protei-nen höherer Organismen einschließlich des Menschen erwies sich die erwähnte reverse Transkriptase als Schlüsselenzym. Im Zuge der Versuche zur Expression von Genen höherer Organismen fanden Philip Allen Sharp und Richard Roberts in den späten 1970er Jah-ren zur größten Überraschung der ganzen Gemeinschaft der Mo-lekularbiologen, dass die DNA von Eukaryonten in der Regel aus codierenden (Exons) und nicht-codierenden (Introns) Elementen zusammengesetzt ist und im Zuge der Überführung in eine über-setzbare Boten-RNA zerstückelt und gespleißt wird. Da den Bakte-rien dieses Vermögen fehlte, bot die reverse Transkriptase die Mög-lichkeit, nicht von der Gesamtsequenz auszugehen, sondern die gespleißte Boten-RNA zu isolieren und sie in eine bakterienkom-patible doppelsträngige DNA (cDNA) umzusetzen, um sie dann in Plasmide einzubauen und in Bakterien als den Reaktoren der mo-

3 Waclaw Szybalski, Ann Skalka, »Editorial: Nobel Prizes and Restriction Enzymes«, in: Gene 4 (1978), S. 181-182, hier: S. 181.

4 Sheila Jasanoff, »Biotechnology and Empire: The Global Power of Seeds and Sci-ence«, in: Osiris 21 (2006), S. 273-292, hier: S. 284.

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lekularen Biotechnologie zu vermehren. Auf diese Weise ließen sich ganze cDNA-Banken mit Eukaryonten-Genen anlegen.

Nur einige wenige enzymatisch getriebene molekulare Verfah-renstechniken der späten 1970er und frühen 1980er Jahre seien hier zusätzlich exemplarisch genannt. 1977 berichtete Fred Sanger über ein Verfahren zur Sequenzierung von DNA, das auf der Verwen-dung von DNA-Polymerase beruhte. Nun war das rasche Sequen-zieren von Genfragmenten, von Genen und von Genkomplexen in den Bereich des Möglichen gerückt und gehörte bald zur Routine molekulargenetischer Laboratorien. Ebenso war die Möglichkeit eröffnet, durch eine Kombination von Restriktionsfragmentierung, Einbau von DNA-Fragmenten in Plasmide oder andere DNA-Vek-toren und Sequenzanalyse physikalische Karten von Chromo-somen anzulegen. 1978 führte David Botstein Restriktionsenzyme zur Charakterisierung menschlicher DNA mittels des sogenann-ten Restriktionsfragment-Längenpolymorphismus (RFLP) ein. Schließlich entwickelte in den frühen 1980er Jahren Kary Mullis, ein Wissenschaftler der Cetus Corporation, die Polymerase-Ketten-reaktionstechnologie (PCR).� Mit ihr ließen sich kleinste Mengen von DNA in vitro mittels einer wärmebeständigen DNA-Polymerase zyklisch in beliebigen Mengen vermehren. Cetus, die 1971 in Ber-keley gegründete Biotechfirma avant la lettre, patentierte das als Emblem der molekularbiologischen Technologisierung der 1980er Jahre empfundene PCR-Verfahren – und verkaufte das Patent 1991 für 300 Millionen Dollar an Hoffmann-La Roche.

Zu diesen dergestalt selbst in Techniken verwandelten Enzymen und Genvektoren gesellten sich den späten 1970er und den 1980er Jahren zudem Verfahren zur gezielten Genmutation, zur Her-stellung großer molekularer Vektoren sowie zusätzlich neue und elegante analytische Verfahren zur Synthese von Nukleinsäuren. Zusammengenommen begannen diese Techniken gewissermaßen die Informations-, Schrift- und Textmetaphern zu verkörpern, die den Aufstieg der Molekularbiologie begleitet hatten: Lesen als DNA-Analyse; Schreiben als DNA-Synthese; Kopieren als Polyme-rase-Kettenreaktion; Editieren als Veränderung von Gensequenzen durch Schneiden, Spleißen und punktgenaue Mutationen. Kaushik Sunder Rajan hat dazu treffend bemerkt: »Der Unterschied ist nun, dass die Genomik es der Metapher des Lebens-als-Information er-5 Paul Rabinow, Making PCR. A Story of Biotechnology, Chicago 1996.

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laubt, eine materielle Wirklichkeit zu werden, die geeignet ist, die Form von Waren anzunehmen.«�

Es dauerte kein halbes Jahrzehnt, bis Mitte der 1980er Jahre alle diese Verfahren in automatisierte Maschinen mündeten. Im Juni 1986 berichteten Leroy Hood und Lloyd Smith vom California Ins-titute of Technology über eine erste automatisierte DNA-Sequenzier-maschine. Solche Maschinen, in deren Kern nun Enzyme am Werk waren, bevölkerten bald die molekularbiologischen und biomedi-zinischen Laboratorien, zusammen mit den handlichen Packungen von gentechnologisch relevanten Enzymen und dazugehörigen Re-agenzien, deren Produktion rasch von der biochemischen Industrie aufgegriffen wurde und die bald in standardisierter Form als »Kits« auf dem Markt waren. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wurde in den späten 1980er Jahren das Projekt der Sequenzierung des gesamten Humangenoms auf den Weg – und innerhalb eines guten Jahrzehnts zum Abschluss gebracht.

David Jackson, einer aus der neuen Generation von Industrie-Gentechnologen bei DuPont Merck, brachte anlässlich des 40. Jah-restages der Strukturaufklärung der DNA-Doppelhelix die Situa-tion Mitte der 1990er Jahre wie folgt auf den Punkt: »Ich möchte behaupten, dass die Fähigkeit, die DNA zu lesen, zu schreiben und zu redigieren, etwas in der bisherigen Geschichte der Menschheit nicht Dagewesenes darstellt. Alles, was wir vorher zu tun in der Lage waren, ist, zwischen verschiedenen Genkombinationen zu wählen, welche uns die Mechanismen der Genetik zuspielten. Und obwohl wir [in der Vergangenheit] leistungsfähige und ausgeklü-gelte Selektionsverfahren entwickelt haben, ist doch die Auswahl zwischen einer Gruppe von Alternativen, über die man so gut wie keine Kontrolle hat, ganz und gar nicht zu vergleichen mit der Fä-higkeit, seinen eigenen Text zu schreiben und zu bearbeiten« – und zu vervielfältigen, möchte man hinzufügen. Und er fuhr fort: »Die Fähigkeit, DNA zu schreiben und zu editieren, ist die Grundlage für synthetische und kreative Möglichkeiten in der Biologie, die bisher nicht existiert haben.«� Ein langes Jahrhundert einer In-vit-

6 Kaushik Sunder Rajan, Biocapitalism. The Consitution of Postgenomic Life, Dur-ham/London 2006, S. 16.

7 David A. Jackson, »DNA: Template for an Economic Revolution«, in: Donald A. Chambers (Hg.), DNA: The Double Helix, Perspective and Prospective at Forty Years, New York 1995, S. 356-365, hier: S. 364.

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ro-Forschungskultur schuf somit die Voraussetzungen dafür, dass die Biologie nunmehr den Weg zurück in die Zelle und den Or-ganismus antreten konnte. Unter dem neuen Regime stülpt sie das Innere nicht mehr nach außen; jetzt wird umgekehrt das Außen, synthetisch und konstruktiv, der Zelle einverleibt und dort ver-mehrt. Der Vererbungsmechanismus wird einerseits umgemünzt in einen biotechnologischen Kopiervorgang, mit dessen Hilfe sich ökonomisch und medizinisch relevante Produkte herstellen lassen; andererseits können gezielte Eingriffe in den Genbestand eines Or-ganismus nun dazu verwendet werden, nicht nur diesen selbst um-zuprogrammieren, sondern ihn auch dauerhaft für die kommenden Generationen zu verändern.

Kontexte

Bereits 1976 gründete Herbert Boyer zusammen mit dem Risiko-kapitalanleger Robert Swanson mit Genentech Inc. die erste Gen-technologiefirma im engeren Sinne. Damit setzte, zunächst in den USA, eine stürmische Entwicklung ein. Bereits ein Jahr nach ihrer Gründung berichtete Genentech von der erfolgreichen Klonierung des ersten Humanproteins, Somatostatin. 1978 verkündete die Fir-ma, das menschliche Gen für Insulin erstmals in Bakterien expri-miert zu haben, fünf Jahre später war gentechnisch hergestelltes Humaninsulin auf dem Markt. 1980 ging Genentech an die Bör-se. Der Bayh-Dole Act in den USA brachte wesentliche Erleichte-rungen für den Transfer von Technologien zwischen akademischen Forschungsstätten und der Industrie. Im gleichen Jahr erlaubte der U.S. Supreme Court dem Biochemiker Ananda Chakrabarty von der General Electric Company, einen ölvertilgenden Mikroorga-nismus aus der Gruppe der Pseudomonas-Bakterien zu patentieren.� Damit war ein Tabu gebrochen, das bisher in Amerika auf der Pa-tentierung von Lebewesen gelegen hatte. 1983, nach weiteren drei Jahren, beantragte die Stanford University ein Patent für einen sta-bilen und zu multiplen Klonierungszwecken verwendbaren, für das Bakterim E. coli geeigneten Expressionsvektor. Nun stiegen auch 8 Zur Geschichte der Patentierung von Lebewesen in den USA vgl. Daniel J. Kev-

les, A History of Patenting Life in the United States. With Comparative Attention to Europe and Canada. Report to the European Group on Ethics, Brussels 2002.

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die amerikanischen Universitäten, allen voran die kalifornischen, in das gentechnologische Patentgeschäft ein. Noch im gleichen Jahr wurden auch die ersten US-Patente für gentechnisch veränderte Pflanzen ausgegeben. Ein Jahr später, 1984, erhielt Stanford ein ers-tes Produktpatent für prokaryotische DNA. Wieder war ein Schritt über die klassische Patentpraxis hinaus getan, die an der Patentie-rung von Verfahren orientiert war. 1985 kam es zu den ersten Frei-landversuchen mit transgenen Pflanzen, in die man artfremde Gene mit Resistenzen gegen Insekten, Viren und Bakterien eingeschleust hatte. Zehn Jahre nach der Gründung von Genentech war die Zahl der neuen start-up Biotechnologiefirmen in den USA auf die Zahl von etwa 400 Unternehmen gestiegen. 1988 erhielten die Harvard-Wissenschaftler Philip Leder und Timothy Stewart das erste Patent für ein genetisch verändertes Säugetier, eine Krebsmaus. 1990 hat-ten die Stanford University und die University of California in San Francisco bereits hundert rekombinante DNA-Patente deponiert, und mit Beginn des neuen Jahrzehnts begannen sie, ein substanti-elles Einkommen aus ihren Lizenzen zu beziehen.

Bei der Herstellung genetisch modifizierter Organismen wurde ein horizontaler Austausch von Vererbungsmaterial über Artgrenzen hinweg – vom Bakterium bis zum Säugetier – erkundet und zuneh-mend praktisch relevant. Er war der klassischen Genetik verschlos-sen geblieben, die sich in ihrer Experimentalpraxis ausschließlich auf die sexuelle Reproduktion und die damit verbundene Vermi-schung und Selektion von artverwandten Erbmerkmalen stützen konnte. Zwar begann die Vererbung bereits mit Darwin immer weniger als eine vertikale Beziehung von Generationenfolgen und immer mehr als eine horizontale Beziehung zwischen Individuen in einer Population gedacht zu werden.� Die transgenen molekularen Techniken mit ihren Genfähren und Vektoren haben diesen Zug des Vererbungsdenkens ins Horizontale aber noch einmal entschie-den radikalisiert. Sie haben die Zirkulation von Erbmaterial, wenn man so will, von eng umschriebenen, sexuell reproduzierenden Populationen auf die Welt der Lebewesen insgesamt ausgeweitet und globalisiert und dabei nicht nur Artgrenzen, sondern auch die

9 Staffan Müller-Wille, »Konstellation, Serie, Formation. Genealogische Denkfi-guren bei Harvey, Linnaeus und Darwin«, in: Sigrid Weigel/Ohad Parnes u. a. (Hg.), Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie, Mün-chen 2005, S. 215-233.

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Reiche von Pflanzen, Tieren und Mikroben durchlässig gemacht. Damit sind aber auch organische Grenzen zur Disposition gestellt, die im 18. Jahrhundert weitgehend als fix und im 19. Jahrhundert als nur in evolutionären Zeiträumen veränderbar angesehen wur-den. Der evolutionär entstandene Genpool des Lebens insgesamt wird so zu einem universalen Werkzeugkasten, und an der Wei-terentwicklung jedes dieser Werkzeuge kann mit molekulargene-tischen Mitteln fortgebastelt werden. Die Konturen der mit den Ausdrücken »rekombinant«, »transgen« und »chimärisch« lediglich angedeuteten Grenzüberschreitungen sind in ihren Auswirkungen für die weitere, vom Menschen induzierte biologische Evolution heute noch schwer abzuschätzen und in ihren Dimensionen zu be-greifen.

Im Verlauf der 1980er Jahre wurde die frühe Auseinandersetzung um die möglichen Risiken einer außer Kontrolle geratenen Proli-feration genetisch modifizierter Organismen dann auch abgelöst durch eine viel weiter gehende Diskussion über die ethischen, juris-tischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Perspektiven und Konsequenzen dieser Umwälzung in den Technologien des Um-gangs mit lebensrelevanten Molekülen und mit Lebewesen selbst einschließlich des Menschen. Nun ging es um die Aussicht auf eine molekularisierte und an der genetischen Ausstattung des Indivi-duums orientierte Humanmedizin; die am Horizont erscheinende Möglichkeit somatischer und zukünftiger Keimbahn-Genthera-pien; die Diagnostik einer rasch wachsenden Zahl genetisch be-dingter oder genetisch beeinflusster Krankheiten; Veränderungen im Reproduktionsverhalten auf der Grundlage neuer reproduktiver Technologien wie dem Klonieren einschließlich der Gewinnung von Stammzellen zu therapeutischen und reproduktiven Zwecken; schließlich die Kontroversen um gentechnisch veränderte Lebens-mittel und nachwachsende Rohstoffe einschließlich der mit deren Anbau und deren Konsum verbundenen ökologischen und gesund-heitlichen Risiken. Diese Auseinandersetzung befindet sich seither in ständigem Fluss und wird in Gang gehalten durch eine komplexe Kombination von ökonomischen und kulturellen, technischen und wissenschaftlichen Faktoren, die ihrerseits keineswegs mit einer ein für alle Mal festgelegten Bedeutung auf den Plan treten, sondern sich in einem permanenten Prozess der Artikulation und Verknüp-fung befinden – einer »Mikropolitik der Grenzziehung«, wie Her-

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bert Gottweis es einmal genannt hat.�0 Mit Sunder Rajan könnte man auch sagen: »Die Anfänge der Biotechnologie-Industrie in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren waren selbst gekennzeich-net durch eine Koproduktion neuer Formen von Wissenschaft und Technologie und damit einhergehender Veränderungen der gesetz-lichen, regulatorischen und Marktstrukturen, welche die Ausrich-tung dieser Technowissenschaft organisierten.«��

Die damit verbundenen Grenzziehungen erfolgten und erfolgen zwischen mehreren Verhandlungsgegenständen gleichzeitig. Zum einen geht es um die Grenzziehung zwischen grundlagenorientierter und anwendungsorientierter Forschung. Ferner geht es um die Ab-wägung von möglichen Gefahren und Risiken, die insbesondere mit der medizinischen und der landwirtschaftlichen Anwendung der Gentechnik verbunden sein können und die mit ihrer Umset-zung überhaupt erst entstehen. Es geht um soziale und politische Grenzziehungen wie den Zugang zu genetischen Informationen und das Eigentum an gentechnischen Produkten. Schließlich geht es aber auch um ethische Grenzziehungen. Sie treten insbesondere dort auf, wo die Möglichkeiten der Manipulation humaner Zel-len die Perspektive eröffnet, die Forschung an Modellorganismen hinter sich zu lassen und sie am ultimativen Objekt des Interesses selbst, dem Menschen, zu erproben. Innerhalb solcher komplexer diskursiver Netzwerke können kleine Ereignisse große Umschich-tungen hervorrufen, zunächst als wichtig empfundene Ereignisse können in ihrer Bedeutung aber auch kollabieren und durch Dis-sipation wieder verschwinden. Ein Beispiel für Letzteres ist die mit der bakteriellen Genmanipulation verbundene Risikodebatte der 1970er Jahre. Im folgenden Abschnitt soll noch ein Blick auf mole-kulare Medizin und Humangenetik geworfen werden.

10 Herbert Gottweis, Governing Molecules. The Discursive Politics of Genetic Engineer-ing in Europe and the United States, Cambridge (MA) 1998, S. 4; zu neueren Ent-wicklungen vgl. auch Sheila Jasanoff, Designs on Nature. Science and Democracy in Europe and the United States, Princeton 2005.

11 Rajan, Biocapitalism. The Consitution of Postgenomic Life, S. 5.