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Susanne Strätling Die Hand am Werk...Buchstaben als Bauklötze (Petr Miturič und Velimir Chlebnikov) (170) – 4.2. Buchstaben als Dinge (Sergej Tret’jakov) (184) – 4.3. Buchstaben

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  • Susanne Strätling

    Die Hand am Werk

  • Susanne Strätling

    Die Hand am WerkPoetik der Poiesis in der russischen Avantgarde

    Wilhelm Fink

  • Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

    Umschlagabbildung:El Lissitzky, Hand mit Zirkel (1924)

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

    http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen

    Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig.

    © 2017 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;

    Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland)

    Internet: www.fink.de

    Das Register erstellte Christiane Schäfer, die Einrichtung des satzfertigen Manuskripts übernahm Lena Thurn.

    Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenHerstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn

    E-Book ISBN 978-3-8467-6092-5ISBN der Printausgabe 978-3-7705-6092-9

  • Inhalt

    I. EINFÜHRUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

    1. Ausgangspunkt: Bilder der Hand (9) – 2. Leitfaden: Bewegungen derHand (15) – 3. Diskurse: Operativität, Rhetorik, Phänomenologie (19) –4. Schritte: Gang der Argumentation (24)

    II. SPRECHEN. VON DER HAND IN DEN MUND . . . . . . . . . . . . 31

    1. Das rhetorische Paradigma: manus loquens oder Rhetorik als Chirologie(32) – 2. Das performative Paradigma: Der Gestus des Dichtens (Anna Ach-matova vs. Vasilisk Gnedov) (45) – 3. Das linguistische Paradigma (57) –3.1. Kinetologie: Die Geste als philosophische Sprache (Jakov Lincbach)(57) – 3.2. Glossogenese: Die Handwurzel als Sprachursprung (NikolajMarr) (69) – 4. Das poetologische Paradigma (84) – 4.1. res gestae: Ge-schichte schreiben am Leitfaden der Geste (Aleksej Tolstoj) (84) –4.2. Glossolalie: Gestentanz der Zunge (Andrej Belyj) (104) – 4.3. Artikula-tionsbewegungen: Erzählen als groteske Gebärde (Boris Ėjchenbaum) (123) –5. Die Geste des Sprechens (135)

    III. SCHREIBEN. SCHRIFT ALS SPIEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

    1. Das Handwerk des Schreibens (141) – 1.1 Mediologisch (141) – 1.2 An- thropologisch (146) – 1.3 Praxeologisch (151) – 2. Sprachspiel und Schriftspiel(158) – 3. Spiel und Infantilismus im Künstlerbuch (165) – 4. Schriftspiele(170) – 4.1. Buchstaben als Bauklötze (Petr Miturič und Velimir Chlebnikov)(170) – 4.2. Buchstaben als Dinge (Sergej Tret’jakov) (184) – 4.3. Buchstabenals Bilder (Aleksandr Rodčenko und Varvara Stepanova) (200)

    IV. ZEIGEN. THEATER ZWISCHEN DARSTELLENUND DURCHLEBEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

    1. Das Zeichen des Zeigens (221) – 2. Die Szene des Zeigens (226) – 3. DasTheater der Geste (230) – 4. Darstellen/Durchleben: Die Geste als Gestaltund Gefühl (237) – 4.1. Psychologie der Geste (Sergej Volkonskij) (245) –4.2. Phänomenologie der Geste (Ljubov’ Gurevič und Gustav Špet) (256) –4.3. Physiologie der Geste (Ippolit Sokolov) (265)

  • 6 INHALT

    V. WERKEN. DAS WORT ALS WERKZEUG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

    1. Poetik des Werkzeugs (283) – 2. Literatur im Instrumentalis (Aleksej Gas-tev) (289) – 2.1. Sprachwerkzeuge: Das Organon-Modell des Textes (296) – 2.2. Zeigwerkzeuge: Das Evidenz-Modell des Textes (306) – 2.3. Schreib-werkzeuge: Das Medien-Modell des Textes (312)

    VI. HANDELN. POETIK DER OPERATIVITÄT (SERGEJ TRET’JAKOV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

    1. Das Performativ des Handelns (321) – 2. Wort und Tat (327) – 2.1. Lite-ratur- und Rechtsgeschichte der Operativität (327) – 2.2. Literaturhaft-pflicht (331) – 2.3. Zeugung und Zeugenschaft: Operative Prokreation (339) – 2.4. Straftat und Sprachtat (359) – 3. Wort und Bild – 3.1. Opera-tive Optik I: Fotografie (364) – 3.2. Operative Optik II: Diagrammatik (370) – 4. Wort und Ding (378) – 4.1. Operativität als Faktizität (378)

    VII. GEBEN. POETIK DES LEBENS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

    1. Die Gabe der Sprache (391) – 2. Leben geben: Vitale Begabung des Wor-tes (400) – 3. Belebung als Bebilderung: Poetologische Verschränkungen von Vitalität und Visualität (405) – 4. Die Gabe des Gedichts: Apostrophe und Präsenz (Osip Mandel’štam) (409) – 5. Die Geste des Lebens (John Keats) (421) – 6. Grabgaben (427)

    VIII. BERÜHREN. TASTEXPERIMENTE AM TEXT . . . . . . . . . . . . . . 431

    1. Ästhetische Erfahrung zwischen Optik und Haptik (434) – 2. Hapto-Poetik: Poetische Bildkritik im Zeichen der Berührung (446) – 3. Taktile Texte (Obėriu) (451) – 4. Phänomenologie des Textkörpers (Daniil Charms) (454) – 5. noli me tangere: Berührungsgebot und Berührungsverbot (Jakov Druskin) (464)

    IX. SCHLUSSPLÄDOYER FÜR EINE PHILOLOGIE DER HAND . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479

    X. BIBLIOGRAPHIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487

    XI. REGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529

  • Ich kenne ihn so wenig wie meine fünf Finger.So sollte man über einen Unbekannten sprechen.

    Он незнаком мне как мои пять пальцев.Так нужно говорить о незнакомом.

    Viktor Šklovskij, „Čaplin-policejskij“, 1923

  • I. Einführung

    1. Ausgangspunkt: Bilder der Hand

    Hinweisen, Modellieren, Greifen, Reichen, Halten, Werfen, Fangen, Geben, Strei-cheln, Schreiben, Schlagen, Fassen, Formen, Halten, Loslassen, Drücken, Pressen, Nehmen, Ziehen, Zeichnen … In der Vielfalt ihrer Bewegungen gestaltet die Hand die Beziehung von Mensch und Welt, durch ihre Handlungen realisieren sich schöpferische Impulse, über ihre Sinnesempfindung eröffnen sich Nahzonen des Erfahrens und Begreifens, in ihrer Gestik liegt das Fundament sozialer Interak-tion – verbaler wie non-verbaler. Als Werkzeug des Bauens und Bildens, als Orga-non der Erkenntnis wie auch als Medium des Kontakts und der Kommunikation fließen in der Hand Körperbeherrschung mit Mediengebrauch und Wahrneh-mungskontrolle zusammen. Im präzisen Zusammenspiel von Fingern und Hand-fläche werden Muskeln und Sinnesreize koordiniert, grob- und feinmotorische Be-wegungen vollzogen, Instrumente gehandhabt und Tastwelten aufgebaut.

    Mit dieser Charakteristik ist der Horizont der menschlichen Hand-Habungen nur ansatzweise umrissen. Sie wäre zu ergänzen um die zahlreichen manipulativen Schritte und Verfahren, in denen die Hand im produktiven wie rezeptiven Prozess Gestalt und Gehalt von Kunstwerken bestimmt. Und sie wäre zu vertiefen um den Aspekt der Zweihändigkeit, erweitert sich doch das singuläre Spektrum manueller Handlungsfähigkeit im Zusammenspiel der Hände bedeutend. Ungeachtet dessen kennzeichnet die Kunst- und Kulturgeschichtsschreibung eine eigentümliche Hand-vergessenheit. Die Hand scheint als Organ der Praxis nicht – oder nur sehr be-schränkt – theorie-, geschweige denn ästhetikfähig zu sein. In steter Konkurrenz zum Auge als Primärorgan philosophischer und ästhetischer Reflexion führt die Hand bis in die Gegenwart ein Schattendasein. Daran hat auch eine Reformulie-rung der Ästhetik zur Aisthesis und die damit einhergehende wachsende Aufmerk-samkeit für handgreifliche Werkkonzepte, für die sinnlichen Dimensionen künst-lerischen Handelns und Erfahrens, kaum etwas geändert. Die im Zuge dieser Umakzentuierung neu diskutierten Texte, wie Condillacs Traité des sensations, Baum-gartens Aesthetica, Herders Schrift über die Plastik, Rilkes Rodin-Studien oder Fo-cillons Éloge de la main, sind prominente Versuche, die Hand und damit den Tast-sinn gegenüber dem Auge zu rehabilitieren. Und zweifellos arbeitet die Figur des Blinden, welche die philosophische Spekulation des 18. Jahrhunderts in die De-batte einführt, ebenso an einer Erosion des Optozentrismus mit, wie Herders For-mel, „das Gesicht [sei] nur eine verkürzte Formel des Gefühls“, den entscheiden-den Impuls für eine Revision des optischen Dispositivs der Ästhetik setzt. Doch treffen sie trotz virulenter Skepsis gegenüber optischen Täuschungen und Trugbil-

  • 10 EINFÜHRUNG

    dern auf ein fest etabliertes retinales Regime. Langfristig scheint sich die hier initi-ierte „Umkehr der Sinneshierarchie“1 ebenso wenig gegen den „Adel des Sehens“ (Hans Jonas) durchsetzen zu können, wie die von Nicolas Pethes diagnostizierte „Verschiebung des Wahrnehmungsparadigmas zur Taktilität um 1900“2 oder die taktilen Subversionen des visuellen Primats, die Martin Jay in der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts3 aufspürt. Im Gefolge dieser Prämisse sprechen Kulturanthro-pologie und Medienwissenschaft weiterhin von einem stetigen Regress der Hand, der mit der Auslagerung manueller Tätigkeiten aus dem Körper in Maschinen und Prothesen technischer Apparaturen einher geht und lediglich in den Touch-Tech-nologien des 21. Jahrhunderts eine gewisse Revision erfährt. Unter diesen Rah-menbedingungen ist und bleibt die Hand die große Unbekannte, als die Viktor Šklovskij sie 1923 im voranstehenden Motto adressiert.4

    Angesichts dieses Befundes wird hier der Versuch unternommen, die schon sprichwörtlich gewordene unbekannte Hand genauer zu betrachten. Geleitet wird dieser Versuch durch die Vermutung, dass die Handvergessenheit in den Kunst- und Kulturwissenschaften den Blick auf ihre Gegenstände wie auch auf ihre eige-nen konzeptionellen Grundlagen wesentlich verstellt. Wenn die folgenden Kapitel sich auf die Suche nach dem diskursiven Ort der Hand in den Prozessen der Werk-genese und Werkdeutung begeben, so werden sie die eingangs skizzierte Spannung zwischen massiver praktischer Präsenz der Hand und gleichzeitig noch kaum er-schlossener theoretischer Begriffsbildung oder ggf. auch Begriffsschwäche stets als konstitutiven Faktor der ästhetischen Konzeptualisierungen im Auge behalten müs-sen. Erst die Sensibilisierung für diesen Hiatus erlaubt eine Öffnung des Blicks auf die Möglichkeit, das ästhetische Handeln, das Werken der Hand am ästhetischen Objekt, als Praxis zu begreifen, ohne diese praxeologische Perspektive zugleich als defizitär zu klassifizieren. Diese gespaltene Position der Hand gewinnt in verschie-denen diskursiven Formationen jeweils spezifische Brisanz. Sie artikuliert sich im antiken Streit um die Kultbildfähigkeit der von Menschenhand gemachten Bilder des Göttlichen anders als in der modernen Suche nach dem Ort der Künstlerhand in technisch reproduzierten Bildmedien wie der Fotografie oder in digital prozes-sierter Computergrafik.

    Die Fallanalysen dieses Buches widmen sich unter komparatistischer Perspekti-vierung der russischen Avantgarde. Sie zielen auf eine Kritik am etablierten Kon-sens der Avantgarde als Bilderbuchepoche einer medientechnisch und kunstagita-torisch angeheizten Augenlust. Was die historische Konfiguration der Avantgarde im Kontext der ‚Hand am Werk‘ so herausfordernd macht, ist nicht nur die Inten-sität, mit der hier das Bild der Hand beschworen und auch wieder verworfen wird.

    1 Ulrike Zeuch: Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit. Tübingen 2000.

    2 Nicolas Pethes: Die Ferne der Berührung. Taktilität und mediale Repräsentation nach 1900. David Katz, Walter Benjamin. In: LiLi 30. Jg. Heft 111, März 2000, 33-57, hier 35.

    3 Martin Jay: Downcast Eyes. The Denigration of Vision in Twentieth Century French Thought. Berke-ley 1993.

    4 Viktor Šklovskij: Čaplin-policejskij. In: ders.: 60 let. Raboty o kino. Moskva 1985, 22-29, hier 22.

  • 11AUSGANGSPUNKT: BILDER DER HAND

    Vielmehr kommt es im Zuge der kontinuierlichen kritischen Bezugnahme auf die Hand als ästhetisches Leitbild zu einer Verschiebung im ästhetischen System selbst, welche durch die vielfach konstatierte Synästhesie dieser Epoche mehr verdeckt als erhellt wird. Mit präzedenzloser Beharrlichkeit nimmt die russische Avantgarde manuelle Praktiken und haptische Erfahrungsformen in den Blick und beutet die Hand in ihrer Funktion als poetisches Primärorgan des Menschen aus, um ästheti-sche und poetische Verfahren als Poiesis, d.h. als operatives Geschehen eines Ge-brauchens von Materialien, Techniken und Instrumenten, aus und mit denen Texte entstehen, fassbar zu machen. Die Hand ist hier Modell ästhetischer Reflexion und künstlerischer Praxis zugleich.

    In geradezu demonstrativer Zurschaustellung wird dabei die werkende, gestal-tende, schöpferische Hand zum Zentralorgan der Kunst erhoben. Sie steht emble-matisch für Schaffenskraft und Formungswillen, Produktivität und Manipulierbar-keit. Bereits ein flüchtiger Blick auf die Ikonografie der Zeit vermittelt einen Eindruck von der Dominanz dieses Leitmotivs, dessen komplexeste visuelle Aus-formulierung wohl El Lissitzkys Selbstportrait als Konstrukteur (1924) in seinem Palimpsest von Gesicht, Handfläche, Kurvendiagramm und Zirkel zur Ikone des modernen Künstlerbilds vorgenommen hat. Nahezu alle Künste stilisieren die Hand zum Modell künstlerischer Selbstreflexion. Besonders augenfällig zeigt sich dies in der bildenden Kunst, in der das Motiv der tätigen, aber auch der ruhenden, der bittend sich hervorstreckenden oder ablehnend zurückziehenden, der geben-den oder nehmenden, der verkrampften oder entspannten, der zusammengeballten oder der geöffneten Hand eine Schlüsselposition einnimmt. Jenseits einer motivi-schen Rekurrenz der Hand als Bildobjekt geht es dabei um eine ästhetische Diffe-renzerfahrung des Haptischen, welche plastische Artefakte im Gegensatz zu ande-ren Künsten ermöglichen. Vladimir Tatlins programmatische Forderung von 1914, man solle künftig „das Auge der Kontrolle des Tastsinns unterstellen“5, will diese taktile Erfahrungssphäre auch in die anderen Künste hineintragen. Experimentell unterfüttert werden solche Grenzüberschreitungen beispielsweise durch Untersu-chungen, die der Maler Michail Matjušin 1923-24 als Leiter der Abteilung für Organische Kultur am Leningrader Institut für künstlerische Kultur (InChuK) durchführt. Um die Wahrnehmungsfähigkeit der Kunst zu erforschen und zu schu-len, unterzieht Matjušin den Tastsinn einem „Intensivtraining“. Er bezieht ihn in das Studium von Farbe und Umrisszeichnung ein und erforscht die Haut- und Handlinien als papillare Perzeptoren wie auch die Wahrnehmung der Muskelent-spannung in der Handbewegung.6

    5 Vladimir Tatlin: Naša predstojaščaja rabota [1920]. In: Mastera sovetskoj architektury ob architek-ture. Bd. 2. Moskva 1975, 76-77, hier 77. („Выразив недоверие глазу, мы ставим глаз под контроль осязания.“) Tatlin spricht hier retrospektiv von seinen frühen Konterreliefs.

    6 Michail Matjušin: Arbeitsbericht vom Leiter der Abteilung für Organische Kultur am Leningra-der INChUK, 1.10.1923-1.10.1924. In: Hubertus Gaßner und Eckhard Gillen (Hgg.): Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Sowjetunion von 1917 bis 1934. Köln 1979, 95-96, hier 96.

  • 12 EINFÜHRUNG

    Derartige Trainingsprogramme reichen weit über den Rahmen der ästhetischen Erfahrungserweiterungen hinaus; sie sind ausgerichtet auf eine neue anthropologi-sche Ausrüstung des Menschen. Der gesamte psychotechnische Diskurs der 1920er Jahre arbeitet daran, in Leistungsprüfungen und Eignungstests das Feingefühl der Hand, ihre stereognostischen Leistungen und ihre Geschicklichkeit durch ausge-feilte Versuchsreihen zu optimieren.7 So wird Sandpapier unterschiedlicher Kör-nung verglichen, die Oberflächenstruktur von Metallflächen unterschieden, es werden Federn nach Elastizität geordnet, Kartons nach Dicke sortiert oder mini-male Höhenunterschiede tastend erkannt. Einer der umtriebigsten Akteure dieses Projekts, Aleksej Gastev, Leiter des ersten Zentralen Instituts für Arbeit (CIT) in Moskau und Propagandist des durch Ford und Taylor inspirierten Programms einer Wissenschaftlichen Organisation der Arbeit (NOT) in der jungen Sowjet-union, unterwirft die Hand einem ausgeklügelten Schulungsprogramm und schlägt 1923 vor, für sämtliche Sowjetbürger ein „Examen der Arbeitsbewegungen“ einzu-führen. Darin werden zwei Bewegungstypen abgeprüft: kraftvoller Schlag und maßvoller Druck, denn „man muss richtig schlagen und richtig drücken können.“8 Und das gilt auch für die Künste, zumal die Augenkünste, soll doch der Kinemato-graph oder das „Kino-Auge“ (kino-glaz), wie es Dziga Vertov anvisiert, sich behut-sam „tastend durch das Dickicht des Lebens“ bewegen, aber auch, wie Sergej Ėjzenštejn in polemischer Abgrenzung von Vertov fordert, als „Filmfaust“ (kinoku-lak) schmerzhaft zuschlagen können.9

    Kontrastiert aber wird diese kraft- und machtvolle Position der Hand von einer hymnischen Feier des Auges. Als Epoche, in der das Bild mit der Möglichkeit zur Selbstbewegtheit auch einen neuen Status als Leitmedium erhält, in der von einer neuen Soziologie der Berührungsangst gesprochen wird und in der die Entfrem-dung des Subjekts nicht zuletzt auf drastisch geschrumpfte manuelle und taktile Erfahrungsdimensionen zurückgeführt wird, scheint die klassische Moderne para-digmatisch für den Verlust der Hand zu stehen. Sie markiert den Übergang zur ‚push button culture‘, in der, wie Hans Blumenberg konstatiert hat, der manuelle Funktionsanteil sich „homogenisiert und reduziert auf das ideale Minimum des Druckes auf einen Knopf“ und die „menschlichen Handlungen zunehmend un-

    7 Vgl. dazu Margarete Vöhringer: Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion. Göttingen 2007.

    8 Aleksej Gastev: Trenaž [1923]. In: ders.: Kak nado rabotat’. Praktičeskoe vvedenie v nauku organi-zacii truda. Moskva 1966, 51-54, 51f. („Надо уметь правильно ударять, надо уметь пра-вильно нажимать.“)

    9 Dziga Vertov: Naše tečenie nazyvaetsja ‚kino-glaz‘ [1924]. In: ders.: Iz nasledija. Bd. 2: Stat’i i vystuplenija. Moskva 2008, 400-401, hier 401. [Dt. Übers.: ‚Kinoglaz‘. In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. Franz-Josef Albersmeier. Stuttgart 1998, 50-51, hier 51]; Sergej Ėjzenštejn: K vop-rosu o materialističeskom podchode k forme [1925]. In: ders.: Izbrannye proizvedenija v 6 tt. Bd. 1. Moskva 1964, 110-117, hier 117.

  • 13AUSGANGSPUNKT: BILDER DER HAND

    spezifisch“ werden.10 In ihr spitzt sich die Erfahrung zu, dass„ der Regreß der Hand der Preis [ist], den wir für den Progreß der Technik zu entrichten haben.“11

    Unter allen ästhetischen Strömungen der Moderne hat wohl der Konstruktivis-mus diese Logik am konsequentesten vorangetrieben. Seine aggressive Agitation für das Artefakt als Technofakt treibt eine historisch weit zurückreichende Polemik gegen die fehleranfällige Hand weiter. So proklamiert Aleksandr Rodčenko in sei-ner Studie über „Die Linie“ (Linija, 1921) unmissverständlich: „Der Pinsel/Die Hand [russ. kist’ bezeichnet in signifikanter Doppeldeutigkeit sowohl ‚Pinsel‘ wie auch ‚Hand‘] ist durch neuere Verfahren ersetzt worden, die eine bequemere, ein-fachere und adäquatere Bearbeitung der Oberfläche erlauben. Der Pinsel/die Hand, der/die in der Malerei so notwendig war für die Wiedergabe des Gegenstan-des und seiner Feinheiten, wurde in der neuen ungegenständlichen Malerei zu einem mangelhaften und unpräzisen Werkzeug. Deshalb ersetzen Presse und Druckerrolle den Pinsel/die Hand.“12 Verdrängt in die Nischen kunsthandwerkli-cher Retro-Bewegungen fristet die defiziente Hand ein schöpferisches Schattenda-sein, bis eine scharfe Invektive gegen den romantischen Passéismus handwerkeln-den Kunstgewerbetums sie auch hier diskreditiert.13

    Auch wenn sich ein kunst- und kulturgeschichtlicher Antagonismus von Hand und Auge diskursiv verfestigt hat, erweist sich jedoch eine bloße Gegenüberstel-lung haptischer vs. optischer Künste im Zeichen des klassischen Paragone als stark schematisch. Dies zeigt sich nicht nur in der bildenden Kunst selbst, sondern fast noch deutlicher in der Literatur. Auch die avantgardistische Poetik arbeitet mit ihrer Orientierung am Auge zunächst offensiv dem Okulozentrismus der Moderne zu. Šklovskijs kanonische Formulierung, das literarische Kunstwerk ziele durch seine Verfremdungsverfahren auf ein „neues Sehen“ (novoe zrenie), bringt das un-

    10 Hans Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung. In: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 1996, 7-54, hier 36. Blumenbergs Beispiel ist die Türklingel: „Da gibt es die alten me-chanischen Modelle von Zugklingeln und Drehklingeln: Betätigt man sie, so hat man noch das unmittelbare Gefühl, den beabsichtigenden Effekt in seiner Spezifizität zu erzeugen, denn zwi-schen der tätigen Hand und dem erklingenden Ton besteht ein adäquater Nexus, d.h. wenn ich vor einer solchen Einrichtung stehe, weiß ich nicht nur, was ich tun muß. Sondern auch, weshalb ich es tun muß. Anders bei der elektrischen Klingel, die durch einen Druckknopf betätigt wird: die Verrichtung der Hand ist dem Effekt ganz unspezifisch und heteromorph zugeordnet – wir erzeugen den Effekt nicht mehr, sondern lösen ihn nur noch aus.“

    11 Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie der Wahrnehmung 3. Frank- furt/M. 1999, 100.

    12 Aleksandr Rodčenko: Linija. In: ders.: Opyty dlja buduščego. Dnevniki, stat’i, pis’ma, zapiski. Moskva 1996, 95-98, hier 97. [Dt. Übers.: Die Linie. In: Hubertus Gaßner und Eckhard Gillen (Hgg.): Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Sowjetunion von 1917 bis 1934. Köln 1979, 114-116, hier 115.] („Кисть уступила место новым инструментам, которыми удобно, просто и более целесообразно обрабатывать плоскость. Кисть, такая необходимая в живописи передачи предмета и тонкостей его, стала недостаточным и неточным инструментом в новой беспредметной живописи, и ее вытеснил пресс, валик, рейсфедер, циркуль и т.д.“)

    13 Vgl. exemplarisch Dmitrij Arkin: Iskusstvo bytovoj vešči. Moskva 1932.

  • 14 EINFÜHRUNG

    missverständlich zum Ausdruck.14 Zugleich aber fordert sie in vielfältiger Weise den Gebrauch der Hände: sie fokussiert die operative Handhabung von Texten, sie zieht Literatur in manuelle Schriftspiele hinein und sie stimuliert eine taktile Di-mension der Texterfahrung. Das materialitätssensible Paradigma innerhalb der Li-teraturwissenschaft hat mit seiner Aufmerksamkeit für die schrifttechnische Evolu-tion und ihre Auswirkungen auf die variable Leibgebundenheit des Schreibens und Lesens diese Dimension vor allem im Hinblick auf die Handschrift erforscht, gilt diese doch als einzige Form der Notation, welche nach Heidegger das Wort im „Wesensbereich der Hand“ belässt, bevor es unter dem mechanischen Anschlag der Schreibmaschine als getipptes zertrümmert wird.15 Von monastischen Schreibexer-zitien über sentimentalistische Intimisierungen der Schrift als Körper- und Tränen-spur bis hin zu graphologischen Charakterstudien trägt die Handschrift die Bürde und das Versprechen von Präsenz und Authentizität. Von diesem Kapital zehren noch die avantgardistischen Revitalisierungen der Handschrift im Skripturalismus ihrer Künstlerbücher und in fakturintensiv gestalteten Autographen nach dem Muster des samopis’mo (wörtl. Selbstschrift). Sie inszenieren mit allem Nachdruck Schreib- wie auch Lektürevorgänge als „material event“ (Elisabeth Strowick), als ein ereignishaftes Geschehen, in dem semiotische Prozesse des Dechiffrierens von Anfang an in einen Akt des physischen Ergreifens eingebettet sind.16 Wenn jedoch etwa der Imaginist Anatolij Mariengof in jedem Vers einen Splitter spürt, der sich in Leserhänden festsetzen soll17, oder wenn die Dichter der spätavantgardistischen Vereinigung Obėriu ihre optisch distanzierten Leser auffordern, „näherzukommen“ und den Gegenstand des Textes „mit den Fingern zu berühren“, so ist damit über materialitätsfetischisierende Lektüren als sensorische Stimulation durch Buchob-jekte eine Phänomenologie des Textkörpers angelegt, die den Text als corpus und als opus betrifft.18

    Dass es in dieser Handgreiflichkeit oder Handhabung der Literatur als Interakti-onsgeschehen von Schreiberinnen, Schriften und Lesern nicht nur um – sei es zarte,

    14 Viktor Šklovskij: Kunst als Verfahren [Iskusstvo kak priem, 1916]. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hg. v. Jurij Striedter. München 1969, 5-35.

    15 Martin Heidegger: Parmenides. In: ders.: Gesamtausgabe. II. Abt. Bd. 54, Frankfurt/M. 1982, 118f. Vgl. auch die im Gefolge Friedrich Kittlers angeregte Medienarchäologie der Schrift im Hinblick auf die Schwellenphasen der schrifttechnischen Evolution, v.a. die Bände Davide Giuri-ato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti (Hgg.): „Mich ekelt vor diesem tintenklecksenden Säku-lum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München 2004; dies. (Hgg.): „Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen.“ Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. München 2005; Martin Stingelin, Matthias Thiele und Claas Morgenroth (Hgg.): Portable Media. Schreibszenen in Bewe-gung zwischen Peripatetik und Mobiltelefon. München 2010.

    16 Vgl. nach wie vor systematisch grundlegend dazu Sabine Groß: Lesezeichen. Kognition, Medium und Materialität im Leseprozeß. Darmstadt 1994.

    17 Anatolij Mariengof: Imažinizm [1920]. In: Literaturnye manifesty ot simvolizma do našich dnej. Sost. i pred. S.B. Džimbinova. Moskva 2000, 221-236, hier 224.

    18 Manifest Obėriu. In: Literaturnye manifesty ot simvolizma do našich dnej. Sost. i pred. S.B. Džimbinova. Moskva 2000, 474-483, hier 476. [Dt. Übers. v. Peter Urban in: Schreibheft. Zeit-schrift für Literatur 39 (1992), 12-16.]

  • 15LEITFADEN: BEWEGUNGEN DER HAND

    sei es verletzende – haptische Stimulationen, sondern um manifest praxeologische Fragen geht, welche die Literaturgeschichte als Gebrauchsgeschichte von Texten ge-genliest, zeigt sich mit einem Blick auf die utilitaristisch argumentierende Poetik. Sie verlangt einen ganz anderen Einsatz der Hand. Akribisch vermisst sie die Para-meter psychophysischer Benutzbarkeit von Büchern, optimiert Lese- und Schreib-techniken und bildet so ein Bewusstsein für den operativen Einsatz der Literatur aus. Sie macht die Hand zu einem Werkzeug, das die Kluft zwischen Literatur und Leben, Poetik und Produktion zu schließen vermag. In einem sprachfabrizistischen Feld operierend lotet die Hand des Schriftstellers hier die Handlungsmacht der Spra-che, d.h. die Potenzen der Performativität des Wortes als realitätsstiftende Tat aus, indem organon des Wortes und instrumentum der Hand zusammengeführt werden.

    In ihrer Vielfalt zielen all diese Ansätze darauf, den Zugriff der Hand über die Schwellen des Textes hinaus auch in dessen Zentrum aufzuspüren. Nicht nur wird mit der Hand geschrieben – die Hand ist hier Figur der Literatur. Entsprechend gehört die Begegnung mit der Hand zu den Schlüsselszenen schriftstellerischer Selbstbefragung. „Was wird hier nicht alles betrachtet und geschildert“, beschwert sich noch 1858 Hebbel in seiner Rezension über Stifters Nachsommer, „es fehlt nur noch die Betrachtung der Wörter, womit man schildert, und die Schilderung der Hand, womit man diese Betrachtung niederschreibt.“19 Ein halbes Jahrhundert später wird diese Schreiberhand immer mehr zum Medium poetologischer (Selbst-)Reflexion. Rilkes Malte sieht sich auf der Suche nach einem heruntergefallenen Bleistift auf unheimliche Weise mit seiner eigenen Hand konfrontiert, Velimir Chlebnikovs Sprachschöpfer lehrt im Gedicht „Ka“ (1915), es gebe „Wörter-Hände“, mit denen man etwas tue, und Konstantin Vaginovs unbekannter Poet küsst dankbar seine verkrüppelte Hand, das organische Instrument der Schöpfung des Romans Bocksgesang (Kozlinnaja pesn’, 1927). In diesen und anderen Szenen wird die Hand vom Werkzeug des Schreibens zum unheimlichen oder erhabenen Medium literarischer Inspiration. Sie nehmen die Hand als einen terminus medius (Cassirer) in den Blick, um die Sphäre des literarischen Kunstwerks als eine Zone des Kontakts, der Berührung, des Handelns und des Erzeugens verstehen zu kön-nen. Diese manuelle Medialität der Texte ist mit einer „Philologie des Auges“ (Stiegler) nicht erfassbar, sie verlangt nach einer Philologie der Hand.

    2. Leitfaden: Bewegungen der Hand

    Das Projekt einer Philologie der Hand betreibt keine Suche nach dem Organ ‚Hand‘ in Texten, es verzeichnet keine Belegstellen des korporalen Partialobjekts ‚Hand‘ und es schreibt keine Motivgeschichte der ‚Hand‘. Indem es die Spur der Hand am Werk nachzeichnet, geht es ihm vor allem um die Konzeptualisierungen

    19 Friedrich Hebbel: 8. Literaturbrief. Der Nachsommer. Eine Erzählung von Adalbert Stifter. In: Illustrierte Zeitung. Leipzig, 4. September 1858.

  • 16 EINFÜHRUNG

    dessen, wie die Hand im Feld der Literatur und der Künste agiert und wie sie in diesem Feld als anthropologische Brückenfigur auftritt, über die immer wieder der Bezug zum Leben, zum Körper, zur Erfahrung der Sinne verhandelt wird. D.h. es geht um die Hand als Figur und als medial-diskursive Schnittstelle, über die sich Inkorporation ebenso wie Emanzipation vollzieht. Um sich dabei systematisch von einer biologizistisch verengten Fokussierung auf ‚die Hand‘ abzulösen, ohne sie gleichwohl abstrahierend aus dem Blick zu verlieren, lassen sich die folgenden Ana-lysen von einem Begriff leiten, der in metonymischer und metaphorischer Verbin-dung zur Hand steht: der Geste. Am Leitfaden ausgewählter Gesten nehmen die folgenden Kapitel Schlüsselszenen des Formens und Gestaltens, des Handelns und Werkens, des Kommunizierens und Bezeichnens mit der Hand in den Blick. Jurij Civ’jan hat unlängst die Möglichkeit eines ästhetischen Zugangs zur und über die Geste auf den Namen einer neuen Disziplin, der Karpalistik, getauft.20 Ein gesto-logischer (oder auch: karpalistischer) Ansatz lokalisiert die Wechselwirkung von Hand und Werk auf der Schwelle von körperlicher Handgreiflichkeit und symbo-lischer Handlung und eröffnet damit die Möglichkeit, zeichenhafte Techniken und manuell-materielle Praktiken der performativen Handhabung in ihrer wechselsei-tigen Bezugnahme aufeinander zu verstehen.21 Indem die Geste dieses Wechselver-hältnis in den Szenen einer Bewegung, zumeist der Hand, erfasst, akzentuiert sie den stets dynamischen, prozessualen Charakter ihrer Gestaltungen. Sie kann aber auch, das lehrt die Dramaturgie der Geste, die Kontinuität eines Geschehens durch „‚gestische‘ Rahmung isolieren“ und sie „symbolisch in der Weise unterbrechen, daß ihre Ausstellung statt ihrer Deutung erfolgt“.22 Situiert in Raum und Zeit bil-den Gesten flexible Figuren, denen die Attribute deiktischer Anschaulichkeit und somatischer Evidenz ebenso zugeschrieben werden wie die Krisen ephemerer Flüch-tigkeit und eines Verschwindens im Vollzug.

    Etablierte Begriffe der Geste bewegen sich zwischen instinktiven Muskelkon-traktionen und symbolisch hochgradig kodifizierten Ausdrucksformen und damit zwischen einer organizistischen und einer semiotischen Perspektive, die sich nicht vollständig ineinander blenden lassen. Im Zwischenraum beider speist sich das Nachdenken über die Geste in Biologie, Ethologie, Ethnologie, Psychologie, Lin-guistik, Kunst- und Theaterwissenschaften aus der Beobachtung, dass die Geste als gestaltete Form über ein hohes Maß an Artifizialität und Transformierbarkeit ver-fügt, zugleich aber die Erinnerung an eine natürliche oder authentische, von der Physis nicht ablösbare Gestalt in sich trägt. Sie ist stilisiertes, soziokulturell vielfach überformtes und genormtes Körperzeichen – und geht doch nicht restlos in ent-schlüsselbaren Symbolhandlungen auf. In ihrem spezifischen Charakter zwischen

    20 Jurij Civ’jan: Na podstupach k karpalistike. Dviženie i žest v literature, iskusstve i kino. Moskva 2010.

    21 Horst Wenzel: Von der Gotteshand zum Datenhandschuh. In: Bild, Schrift, Zahl. Hg. v. Sibylle Krämer und Horst Bredekamp. München 2009, 25-56.

    22 Hans-Thies Lehmann: Eine unterbrochene Darstellung. Walter Benjamins Idee des Kinderthea-ters. In: Szenarien von Theater (und) Wissenschaft. Festschrift für Erika Fischer-Lichte. Hg. v. Chris-tel Weiler und Hans-Thies Lehmann. Berlin 2003, 181-203, hier 198.

  • 17LEITFADEN: BEWEGUNGEN DER HAND

    Leiblichkeit und Symbolizität, kultureller Intentionalität und individueller Impul-sivität „fallen Innen und Außen zusammen“.23

    Die multidisziplinäre Debatte der Geste in der Moderne hat nicht zuletzt zu einer schleichenden (teils auch offensiven) Metaphorisierung des Begriffs geführt. Von Darwins Studien zur Expression über Sittls Gebärdenlehre der Antike und Klages Ausdrucksbewegung bis hin zu Warburgs Pathosformel, Ėjzenštejns filmi-scher Geste, Ėjchenbaums Wortgeste und Mukařovskýs semantische Geste lässt sich eine Vielzahl gestischer Konzepte nennen, die sich gegen eine strenge Typolo-gisierung sperren. Versuche dazu sind dennoch gemacht worden. So entwickelt der Kunsthistoriker Michail Fabrikant an der Staatlichen Akademie für Kunstwissen-schaften (GAChN), die 1923-29 in Moskau bestand, eine Systematik der gestolo-gischen Forschung, die sich entlang dreier Stränge bewegt. Deren erster gilt der ikonografischen Untersuchung der Geste als eines „ständigen Attributs“. Der zweite Strang verfolgt die Geste als emotionalen Ausdruck, d.h. die Affektgeste, und der dritte die Geste als Formproblem, wobei zwischen einer raumbezogenen (die Geste als Erfüllung des Raumes), einer linienbezogenen (die Geste als Kontur) und einer dimensional-stilisierten Geste in Fläche und Raum unterschieden wird. Ein vierter, eher soziologisch ausgerichteter Strang widmet sich der Geste als ideologischem Symbol.24 Eine solche Systematik ist sichtlich am Material der bildenden Künste gewonnen, sie kann gleichwohl über diese hinaus für andere Kunstformen produk-tiv sein. Dies gilt für die dimensionale Dynamik der Geste wie auch insbesondere für die Profilierung der Geste als Problem der Form.

    Die Formproblematik spitzt sich in der Geste insofern zu, als sie Formgebung stets dynamisch, stets prozessual, stets in Bewegung denkt: sie vollzieht – moto-risch – eine Körperbewegung und sie initiiert – semiotisch – eine Zeichenbewe-gung. Die Lokalisierung der Geste in einem genuin transitorischen Raum lässt sie als eine „Figur des Übergangs“ erscheinen.25 Und es ist eben diese Transitorik und Transfigurativität der Geste, die ihre oft beobachtete Offenheit bedingt. Giorgio Agamben hat die Offenheit der Geste als Oszillation zwischen Akt und Potenz, zwischen Mittel und Zweck verortet. In diesem Zwischenzustand lässt sich die Me-dialität der Geste präziser fassen: In der und durch die Geste werde nichts zweck-dienlich mitgeteilt oder ausgeführt, sie sei vielmehr „die Darbietung einer Mittel-barkeit, das Sichtbar-Werden des Mittels als eines solchen“26. In dieser Position des Dazwischen, aber auch außerhalb eines stringent regulierten Übermittlungsgesche-

    23 Christoph Wulf: Geste. In: ders. (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Wein-heim; Basel 1997, 516-524, hier 519. Vgl. auch den von Erika Fischer-Lichte und Christoph Wulf herausgegebenen Band Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis. München 2010.

    24 M.I. Fabrikant: Žest. In: Slovar’ chudožestvennych terminov. G.A.Ch.N. 1923-1929. Pod red. I. Čubarova. Moskva 2005, 156-157.

    25 Das schlägt Caroline Torra-Mattenklott vor in dies.: Le geste créateur: Gestik und Kritik bei Georges Poulet und Jean Starobinski. In: Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild. Hg. v. Mar-greth Egidi et al.. Tübingen 2000, 269-282, hier 269.

    26 Giorgio Agamben: Noten zur Geste. In: Postmoderne und Politik. Hg. von Jutta Georg-Lauer. Tübingen 1992, 97-107, hier 103.

  • 18 EINFÜHRUNG

    hens, nicht mehr verlustfrei eingebettet in das kinästhetische Kontinuum des Kom-munizierens bleibt die Geste in der Schwebe, weder signifikativ noch agonal restlos vereinnehmbar. Brian Rotman hat für diesen Schwebezustand des alphabetischen Körpers den Begriff „gesturo-haptic“ eingeführt. Der Begriff markiert „a mediating technology that escapes the bounds of coded signification by operating within in-teractive, participatory, and immersive regimes. In other words, the gesturo-haptic doesn’t communicate in the accepted sense – source A sends signifying item B to a recipient C – it doesn’t convey messages, send information, transmit meanings, or bear significations which exist and are determined in advance of it’s action“.27 Ges-ten markieren hier eine Bewegung, eine Handlung, ein Ereignis, einen Zeitpunkt, ein Stadium oder eine Betrachtungsebene, die an einer Grenze steht. Und das nicht nur zur Sprache, welche zur Geste in einem besonders komplexen Verhältnis der Supplementierungen steht. Flusser hat das in seinem Versuch zu einer Phänomeno-logie der Gesten dazu bewogen, unter Berufung auf die Geste als Ausdruck von Freiheit auch solche Akte und Artefakte in seinen Katalog einzureihen, die sich auf den ersten Blick nicht notwendig mit der oder mit einer Geste verbinden – etwa das Maskenwenden, das Musikhören, das Pflanzen oder das mit einer kaum einzu-grenzenden Vielzahl von Gesten assoziierte Lieben.28

    Auch die in der vorliegenden Studie getroffene Auswahl aus dem mannigfaltigen Gebiet gestischer Gestaltungen sprengt das enge Definitionskorsett ‚Geste = aus-drucksvolle Handbewegung‘. Neben den der Literatur eng verbundenen Gesten des Sprechens, Schreibens und Zeigens stehen hier die Gesten des Werkens, Han-delns, Gebens und Berührens, die zu einem Teil den Begriff dessen, was man unter poetischer Perspektive als Geste oder Gebärde adressiert, deutlich erweitern. Sie alle akzentuieren überaus unterschiedliche Handlungen, sie alle verfügen über ihre eigenen Scripts oder Szenerien und sie alle konzipieren den Einsatz von Gesten in sehr heterogener Weise. Was sie eint, ist ihr Fokus auf die transformative Praxis und Symbolik von Bewegungsformen, an denen sich zeigt, wie die Hand und ihre Hand-habung in den poetischen Schaffensprozess eingreifen. Sie zentrieren sich um Akte, in denen Bilden und Bedeuten sich miteinander verschränken oder auch auseinan-dertreten. Und sie insistieren auf der anthropologischen Fundierung des poetischen Tuns. In ihrer Zusammenstellung konstituieren sie jedoch weniger eine (histori-sche) Grammatik der Geste als dass sie Bausteine zum übergreifenden poetologi-schen Projekt einer Gestologie bilden. Damit eröffnen sie eine vielgestaltige Ansicht auf die avantgardistische Poetik als Poiesis.

    27 Brian Rotman: Becoming Beside Ourselves. The Alphabet, Ghosts, and the Distributed Human Being. London 2008, 51.

    28 Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Frankfurt/M. 1994.

  • 19DISKURSE

    3. Diskurse: Operativität, Rhetorik, Phänomenologie

    In ihrer Konzentration auf divergente Teilaspekte verbinden die hier diskutierten Gesten drei argumentative Bögen. Zum einen betrifft das den operativen Diskurs. Im Bild der Hand überschneiden sich die Bilder des Künstlers als homo significans und als homo faber. Bis in die Gegenwart ist die aristotelische Charakterisierung der Hand als „Werkzeug der Werkzeuge“ unwidersprochen geblieben. Die Technikphilosophie des späten 19. Jahrhunderts entwickelt aus dem „angeborenen Werkzeug“ (Kapp) der Hand eine weitreichende Theorie der Organprojektion. Noch das 21. Jahrhun-dert feiert die Hand als „master instrument of the Masters of the Universe“29. Grundiert wird diese technische Erhabenheit der Hand von physiologischen Be-funden, welche die unikale Flexibilität des chiro-digitalen Bewegungsapparats prei-sen30, von paläo-ontologischen und neurobiologischen Studien, welche die Ent-wicklung von Handgeschicklichkeit und Wachstum der Hirnmasse in Abhängigkeit voneinander setzen31, oder von anthropologischen Abhandlungen, welche manu-elle Manipulation als „dominanten Aspekt unserer biologischen und kulturellen Anpassung“32 einschätzen und damit die Hand als Kulturwerkzeug Nummer 1 klassifizieren. Freigeworden durch die aufrechte Haltung, die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet, kommt der Hand leitmotivische Funktion in der Modellierung des Menschen als animal laborans und animal symbolicum zu. Der homo erectus ist der Mensch, der sich gegen die Schwerkraft auflehnt, der sich vom Tier abhebt, der sich über die Natur erhebt. Die Metaphoriken der Aufrich-tigkeit, des Mannshohen und des Rückgrats ziehen beträchtliches symbolisches Kapital aus dieser physischen Überlegenheitspose. Der aufrechte Gang ist nicht nur „leitmotif in the formation of the human organism“33, das die anatomische Gestalt des Menschen von Kopf bis Fuß determiniert. In der Position des aufrech-ten Körpers, im Bewegungsmodus des aufrechten Gangs ist eine spezifische Bezie-hung zur Welt, ein Modus der Seinserfahrung angelegt: „Upright we are, and we experience ourselves in this specific relation to the world. […] Upright posture pre-establishes a definite attitude toward the world; it is a specific mode of being-in-the-world.“34

    29 So Raymond Tallis, der den Verweis auf Aristoteles seinen Untersuchungen voranstellt. Raymond Tallis: The Hand. A Philosophical Inquiry into Human Being. Edinburgh 2003, 22.

    30 Vgl. z.B. Pierre Rabischong: Human Prehension and its Prosthetic Substitution. In: Use of Tools by Human and Non-human Primates. Ed. by A. Berthelet and J. Chavaillon. Oxford 1993, 68-74, oder F.K. Jouffroy: Primate Hands and the Human Hand: The Tool of Tools. In: Ebd., 6-33.

    31 Vgl. Steven Pinker: How the Mind Works. London 1997: „Precision tools and precision intelli-gence co-evolved in the human lineage and the fossil record showed that the hand led the way.“ (194f.). Vgl. auch die Beiträge in: Tools, Language and Cognition in Human Evolution. Ed. by Ka-thleen A. Gibson and Tim Ingold. Cambridge 1993. Grundlegend: André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt/M. 1980.

    32 Erik Trinkaus: Evolution of Human Manipulation. In: Steven Jones, Robert Martin und David Pilbeam (Hgg.): The Cambridge Encyclopedia of Human Evolution. Cambridge 1992, 346-349.

    33 Erwin W. Straus: Phenomenological Psychology. New York 1966, 139. 34 Straus, Phenomenological Psychology, 139.

  • 20 EINFÜHRUNG

    Zentrales Element dieses Seinszustands ist die Distanz. Nicht nur Distanzierung vom Boden, sondern eine Distanzierung, die sich aus der veränderten Aufsicht bzw. Übersicht ergibt. Erwin Straus sieht hier den Übergang von der erdnahen Notwendigkeit, alles zu berühren, wie es noch im Krabbelalter zu beobachten ist, hin zu einem erweiterten Wahrnehmungsfeld, welches das Auge als Fernsinn zum Primärorgan macht. Die Entwicklung vom erdnahen Greifreflex zur menschlichen Vogelperspektive, vom unmittelbaren Greifen zum mediatisierten, indexikalischen Zeigen, markiert die vertikale Bewegung nach oben und die Bezugnahme auf den horizontalen Wahrnehmungsraum.

    Was geschieht mit der Hand in diesem Prozess der Vertikalisierung und Distan-zierung? Freigesetzt von der Aufgabe, den Körper zu tragen, entwickeln sich die vorderen Extremitäten zu Armen und Händen. „In upright posture, the hand be-comes an organ of active gnostic touching – the epicritic, discriminative instru-ment par excellence. As such, the hand now ranks with the eye and the ear.“35 Zwischen Berührung und Erkenntnis liegt in dieser Sichtweise nicht nur eine not-wendige Verschränkung, sondern ein epistemischer Hiatus: Erkenntnis strebt nicht nach Nähe oder Identität mit dem Erfassten, sondern neutralisiert diese.

    Geht man soweit, das Freiwerden der Hand mit der Entstehung der Sprache zu parallelisieren oder nimmt man – vorsichtiger – die Möglichkeit ihres semiotischen Einsatzes an: Immer wird die Spezifik der Hand in der Zusammenführung von Handeln und Bedeuten gesucht. Die Verwurzelung von Symbolwelten im Han-deln, die nach Cassirer den Weltzugang des Menschen prägt, erhält im Handzei-chen ihren sinnfälligen Ausdruck. In den rituellen Praktiken des Segnens, Heilens, Rechtsprechens, Versprechens, Schwörens, Schützens, Zauberns, Begrüßens, Be-kräftigens oder Beweisens sind Körper und Zeichen in Bewegungsabläufen und Formgebungen der Hand zur Identität verschmolzen. Und als symbolisch überde-terminierter Körperteil verfügt die Hand (und ihre Unterscheidung zwischen rechts und links) innerhalb der kulturellen Überlieferung von Mythen, Legenden und Aberglauben über eine reiche Tradition. Däumlinge bevölkern diese Welt, ab-gehackte Hände dienen als Fetisch und Heilmittel, juckende Fingerspitzen bedeu-ten Betrug, verletzte Hände signalisieren Trauer, absterbende Fingerglieder bewei-sen Schuld, fehlgebildete Hände kündigen Unglück an usf.36

    In dieser Schnittmenge von Operativität und Symbolizität, die historisch viel-fach als Ausschlussmenge gedacht wurde, sind die Bereiche zu erschließen, in denen ästhetische Objekte dezidiert als geformte, gemachte Artefakte in Erschei-nung treten und in denen über die Profilierung der Hand als Medium der Mani-pulation das Kunstwerk aus der Sphäre des Ästhetischen hineinragt in Bereiche des Instrumentellen und Technologischen. Der Verweis darauf, dass die griechische Antike nicht zwischen Handwerk und Künsten unterschied, sondern beide im

    35 Straus, Phenomenological Psychology, 150. 36 Eine Zusammenstellung von Belegen aus unterschiedlichen Kulturen und Epochen gibt Lewis

    Dayton Burdick: The Hand. A Survey of Facts, Legends, and Beliefs pertaining to Manual Ceremo-nies, Covenants, and Symbols. Oxford 1905 [Reprint Purdue 2002].

  • 21DISKURSE

    Wort techné zusammendachte, ist häufig genug gegeben (und auch, so bei Heideg-ger, entkräftet), doch selten genug eingehend bedacht worden. Ungeklärt bleibt die Produktivität dieser begrifflichen Koinzidenz für programmatische Umorientie-rungen, welche die Grenzen zwischen ‚freien‘ und ‚angewandten‘ Künsten durchläs-sig werden lassen. In der Grauzone zwischen ästhetischer und technischer Sphäre führt die Hand eine meist skeptisch beäugte Existenz als Partialobjekt, das am Diskurs des Schönen partizipiert und doch zugleich Fremdkörper darin bleibt. Über die Gesten des Werkens und Handelns erhellt die Studie diese Grauzone und unterzieht zugleich den Diskurs der Avantgarde einer Relektüre. Sie widmet sich dabei primär den fabrikationslastigen und produktionsästhetisch ausgerichteten Strömungen, wie v.a. dem Konstruktivismus und dem faktografischen Dokumen-tarismus, in denen Entwürfe von Hand und Wort als Werkzeug rekurrentes Motiv zur Ausarbeitung eines poetologischen Konzepts sind, das man hypothetisch als Organonmodell der Literatur bezeichnen könnte. Dieses Modell beschränkt sich nicht darauf, im Namen einer utilitären Instrumentalität der Sprache Hand und Objekt zum bloßen Mittel zu neutralisieren, Worte dienstbar zu machen oder Sprache der zweckrationalen Verfügungsgewalt des Technischen zu unterstellen. Vielmehr zeigt es, wie das Prinzip der Operativität die Optionen dessen, was sich unter dem Zugriff der Hand verwandelt, verändert.

    Zum zweiten ist hier unmittelbar der rhetorische Diskurs angesprochen: Ihre Po-sition als ‚master tool‘ fundiert die Hand durch Usurpation einer Fähigkeit, die sich der Mund vorbehält: sie spricht. Gestik begleitet den verbalen Sprechakt und verleiht der Akustik die Expressivität optisch ausagierter Sprache. Darüber hinaus formt die Hand ihre eigene Sprache, welche sich als unabhängig vom Mund be-greift. Mit einer Fülle an Belegen hat die Gebärdensprachforschung die Selbstän-digkeit kineto-lingualer Zeichen nachgewiesen.37 Zeichensprache kombiniert Hand-bewegung, Fingerhaltungen und Bewegungspositionen zu komplexen Systemen eines kinetischen Alphabets, das keineswegs gesprochene Sprache in eine manuelle Optik übersetzt, sondern autonom von gesprochener Rede agiert. Bereits die anti-ken actio-Lehren thematisieren diese Duplizität der Handgeste zwischen illustrati-ver Bebilderung des Gesagten und ihrer Lösung aus dieser sekundären Position eines Zeigens des Gesagten. Beide Formen der rednerischen Geste zielen dabei gleichwohl auf dasselbe Problem: Die Transformation des Körpers, insbesondere der Hand, in ein Zeichen, das sich zwischen natürlich und artifiziell bewegt. Wie an der Geste verkörperten Sprechens diese Scheidung von Physis und Symbol ver-sagt, so auch „die Trennung von Signifikant und Signifikat“38.

    Dabei basieren nicht nur rhetorische Deklamationskunst und Zeichensprache auf dieser Engführung von Hand und Wort. Sie ist Grundlage für einen performa-tiven Sprachgebrauch, der Wort und Tat in eins setzt. Und sie manifestiert sich in

    37 Ulrike Bergermann: Ein Bild von einer Sprache. Konzepte von Bild und Schrift und das Hamburger Notationssystem für Gebärdensprachen. München 2001.

    38 Doris Kolesch: Die Geste der Berührung. In: Christoph Wulf und Erika Fischer-Lichte (Hgg.): Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis. München 2010, 225-241, hier 228.

  • 22 EINFÜHRUNG

    einer deiktischen Kompetenz der Sprache, die Karl Bühler als Möglichkeit der ver-balen Evokation eines Wahrnehmungs- und Erfahrungsraums analysiert hat.39 In diesen Akten zeigt sich, dass keineswegs nur die Hand das Sprechen begleiten oder ersetzen kann, sondern dass die Sprache die Rolle der Hand fortsetzt und besetzt, indem sie Handlungsräume entwirft. So überschreitet Sprache in der Figur der Hand die ‚bloße‘ und immer wieder als leer empfundene Rhetorizität des Wortes, um aus der Welt der Zeichen in die der Dinge einzutreten. Mit der konzeptionellen Konjunktion von Wort und Tat ist damit mehr als eine Erweiterung des Hand-lungsradius verbunden. Es geht hier darum, eine neue mediale Dimension des Sprachhandelns zu erreichen, in denen Zeichen im Modus des Realen wirksam werden, in denen die manus loquens zur manus agens wird.40 Dieser Aktionsmodus des Sprechens, der von der Linguistik auf den Fall des Performativs begrenzt wurde und den die konstruktivistische Poetik Sergej Tret’jakovs im Konzept des operati-ven Schriftstellers idealtypisch eingelöst sieht, geht über die einschlägigen Sprech-akte des Versprechens, Verheiratens, Schwörens oder Namengebens weit hinaus. Er kennzeichnet einen Modus des Sprachgebrauchs, welcher ‚anhand der Hand‘ Worte zu Agenten des Körpers macht.

    Neben der operativen und der rhetorischen Dimension der Hand ist ihre phäno-menale Funktion im Wahrnehmungsgefüge und im sensorisch fundierten Erkennt-nisprozess zu berücksichtigen. In der Geschichte der Sinne wurde fast kontinuier-lich dem theorieaffinen Auge (vgl. etwa die metaphorischen Nobilitierungen des oculus spiritualis) eine privilegierte Position zugeschrieben, während der ‚proletari-schen‘ Hand nur eine sekundäre Dienstleisterrolle zukam. Daneben steht eine starke wissenschaftshistorische Tradition der Diskursivierung der Hand zum Kog-nitionsorgan, in der die Figur des Manuellen und Haptischen zur Denkmetapher rationalisiert wird (man denke nur an abgeschliffene Metaphoriken des Begreifens und Erfassens) bzw. in der die Hand als sinngenerierendes Denkwerkzeug konzep-tualisiert oder in das Register der Sprache eingeordnet wird (am deutlichsten wohl in rhetorischer Gestenlehre, in Fingeralphabeten, aber auch Chiromantik).41 Noch Herder, der Vorzeigephilosoph des Taktilismus, bindet seine Privilegierung der Hand zurück an die epistemischen Funktion des Tastsinns, bliebe doch der „Oph-thalmit mit tausend Augen, ohne Gefühl, ohne tastende Hand, […] zeitlebens in Platons Höhle, und hätte von keiner einzigen Körpereigenschaft, als solcher, ei-gentlichen Begriff. […] Je mehr er Körper, als Körper, nicht angaffte und be-träumte, sondern erfaßte, hatte, besaß, desto lebendiger ist sein Gefühl, es ist, wie auch das Wort sagt, Begriff der Sache.“42

    39 Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart; New York 1982. 40 Vgl. zum Verhältnis von manus loquens und manus agens Hedwig Pompe: Eine Handreichung

    zum Thema. In: Markus Bickenbach, Annina Klappert und dies. (Hgg.): Manus loquens. Medium der Geste – Gesten der Medien. Köln 2003, 8-25.

    41 Marco Wehr: Die Hand – Werkzeug des Geistes. Heidelberg; Berlin 1999. 42 Johann Gottlieb Herder: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmali-

    ons bildendem Traum [1778]. In: Herders Werke. Hg. v. Hans Lambel. Teil III., Abt. 2. Stuttgart 1890, 273-357, hier 279.

  • 23DISKURSE

    In den letzten Jahren sind weitere Bausteine für eine Geschichte entstanden, die sich gegen diese kognitive und phänomenale Privilegierung des Blicks richtet und ein konkurrierendes Paradigma der Berührungsemphase verfolgt.43 Eingedenk Maurice Merleau-Pontys Beobachtung, „daß jedes Sichtbare aus dem Berührbaren geschnitzt ist […] und daß es Übergreifen und Überschreiten nicht nur zwischen dem Berührten und dem Berührenden gibt, sondern auch zwischen dem Berühr-baren und dem Sichtbaren“, ist gleichwohl diese Konkurrenz eher als Korrelation aufzufassen.44 Daneben ist zu eruieren, wie über den Tastsinn in der Erfassung der Dinge die Steigerung des manuellen Begreifens zur sensitiven Ergriffenheit, zum affektiven Eindruck provoziert wird. Neben Modellen distanzierter Rezeption son-dieren die Lektüren dieses Buches hier das vernachlässigte Gebiet von Poetologien der Berührung, des Kontagiösen, in denen die symbolische Hybridfigur von (Kör-per-)Kontakt und visueller Dechiffrierung (z.B. Index, Spur, Abdruck u.ä.) in ihrer poetischen Reichweite erschlossen wird.45 Nur so ist die Empfindung der Zudring-lichkeit des ästhetischen Objekts als pathisches Geschehen der leiblichen Erfah-rung einzufangen. Denn taktile Texte, die in der Regel stark von der Textur-Meta-pher in all ihren Verflechtungen zehren46, bringen ihre Gegenständlichkeit ins Spiel, um in Tastexperimenten den Akt der Lektüre in eine phänomenologische Annäherung an den Textkörper zu gestalten.

    Am Schnittpunkt der drei Diskurse gerät ein zentrales ästhetiktheoretisches Pro-blem in den Blick der Untersuchung: das Verhältnis von Poiesis und Manipulation. Über die Figur der Hand ist das Werk als Medium der Manipulation zu erfassen. Der Begriff Manipulation, der im Lateinischen ‚Kunstgriff‘ bedeutet, steht im Doppelsinn seiner Verwendungsweise im Bereich des Taktilen, des Verfertigens, des Manuellen oder gar Manufakturellen, wie auch im Bereich der subtilen Verän-derbarkeit, des Gefügigmachens, des Täuschens, des Dienstbarmachens, der objek-tivierenden Verdinglichung und Steuerung, der autoritären Aneignung und dres-sierenden Zurichtung, des Arrangements, der technischen Umformung, die in einem Brückenbegriff zwischen Hand und Technologie, dem ‚Digitalen‘ zusam-menfallen.47 George H. Mead definiert 1926 in seiner Studie The Nature of Aesthe-

    43 Claudia Benthien: Hand und Haut. Zur historischen Anthropologie von Tasten und Berührung. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 1, 1998, 335-348; Hartmut Böhme: Der Tastsinn im Gefüge der Sinne. Anthropologische und historische Ansichten vorsprachlicher Aisthesis. In: tas-ten. Hg. v. der Kunst- und Ausstellungshalle der BRD. Göttingen 1996, 185-210; Constance Classen (Hg.).: The Book of Touch. Oxford; New York 2005; Daniel Heller-Roazen: The Inner Touch. Archaeology of a Sensation. New York 2007; Ulrike Zeuch, Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit. Tübingen 2000.

    44 Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare. München 1994, 177. 45 Gundel Mattenklott: Berührend berührt. Die Ästhetik des Tastsinns. In: Universitas 617, 1977,

    1050-1064; Michail Jampol’skij: Poėtika kasanija (Dragomoščenko). In: ders.: O blizkom. Moskva 2001, 210-233; Christina Lechtermann: Berührt werden. Narrative Strategien der Präsenz in der höfischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts. Berlin 2005.

    46 Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln 2002.

    47 Jean Baudrillard: Das Taktile und das Digitale. In: ders.: Der symbolische Tausch und der Tod. München 1991, 97-111.

  • 24 EINFÜHRUNG

    tic Experience den Menschen als Subjekt, das die Bedeutungshaftigkeit der Welt notwendig in einer direkten physischen Beziehung der Manipulation erlebt und erzeugt.48 Unter dieser Prämisse eines ‚Manipulationszwangs‘ erst wird demnach das Wesen ästhetischer Erfahrung erschließbar. Wie sich eine Hand gegen die an-dere presst, macht nach Mead einen Druck des Dings und einen Druck gegen das Ding spürbar. In den Dingen und durch die taktile Handhabung der Dinge kons-tituiert sich Bedeutung und Welt.

    Für eine Poetik der Poiesis steht die Hand somit in mehrfacher Hinsicht zur Disposition. Sie figuriert als Werkzeug, das Körperbeherrschung und Medienbe-herrschung gleichermaßen betrifft; sie vermittelt zwischen den Polen Kunstschaf-fen und Technologie, Ästhetik und Technik, Artistik und Mechanik; sie entwirft einen Raum, in dem ästhetische Erfahrung in ihrer sensuellen Widerständigkeit und affektiven Reichweite hervortritt. Konzepte einer Poetik der Poiesis aufzuspü-ren und zu erarbeiten, bedeutet somit, über die Hand Bereiche der Genese, des Gebrauchs und der Gestalt von Kunstwerken zu erschließen.

    4. Schritte: Gang der Argumentation

    Die folgenden Überlegungen gliedern sich in basale Vollzugsformen der Hand-Habung. In Einzelkapiteln untersuchen sie die gestischen Komplexe des Sprechens, Schreibens, Zeigens, Werkens, Handelns, Gebens und Berührens. Jedes dieser Ka-pitel perspektiviert durch sein gestisches Leitmotiv ein spezifisches poetologisches Problem, das in der Avantgarde von besonderer Brisanz ist und das sich bevorzugt in eben jener Geste manifestiert. So nimmt das Kapitel über das Geben die Frage nach dem Anspruch der Literatur auf Leben in den Blick, im Mittelpunkt des Ka-pitels über das Berühren steht das literarische Evidenzbegehren zwischen Bild und Berührung, im Kapitel über das Werken geht es um die Möglichkeiten einer Poetik der Praxis, das Kapitel über das Zeigen fokussiert das theatrale Dispositiv der Geste zwischen Darstellen und Durchleben. In sich sind die Kapitel so gefasst, dass sie einzeln lesbar sind, dabei aber durch eine Vielzahl von Bezügen verwoben bleiben. Dies ergibt sich nicht nur aus den Überlappungen der gestischen Bereiche, die durch ihre transitorische Natur auf Grenzüberschreitungen hin angelegt sind. Auch über AutorInnen und Werke, die in verschiedenen Kapiteln systematisch unter je anderem Gesichtspunkt betrachtet werden, ergibt sich ein engmaschiges Netz der Verweise.

    Die Auswahl der genannten Bewegungsformen beugt zugleich einem nahelie-genden Missverständnis vor: Diese Studie gibt kein Verzeichnis einer Ikonografie der frühsowjetischen Geste, sie erstellt kein Inventar emblematisch gewordener Gebärden der 1910er und 1920er Jahre, kompiliert kein ‚Hand’wörterbuch der

    48 George Herbert Mead: The Nature of Aesthetic Experience. In: International Journal of Ethics, 36 (1926), 382-392.

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    Avantgarde, kartographiert keinen Atlas der Pathosformeln des homo sovieticus. Vielmehr ist die Systematik der Studie daraufhin angelegt, das poetologische Para-digma der Avantgarde in seiner Bezogenheit auf basale anthropologische Vollzugs-formen des gestischen Handelns neu zu verstehen. Wo sie Abbildungen aus zeitge-nössischen Abhandlungen zur Geste, Dokumentationen gestischer Praxis oder Illustrationen gestischer Theoreme heranzieht, erlauben diese einen Blick auf die Konzeptualisierungen von darstellenden Akten, symbolischen Handlungen und performativen Vollzügen als Gesten. Anders als es eine Synopse der Gebärde von 1910-1930 leisten könnte, geht es hier vor allem darum, im Lichte spezifischer Gesten zentrale Fragestellung der Poetik zu verhandeln.

    Den Anfang macht das Kapitel zum Sprechen als derjenigen Artikulationsform, die aus poetologischer Perspektive traditionell am stärksten auf den Begriff der Geste bezogen, mit diesem in Relation gesetzt und von ihm abgesetzt wurde. Wie Hand und Mund, Gebärde und Wort in einem – sei es kritischen, sei es kooperativen – Dialog miteinander stehen, gehört zu den Fragen, die am Ursprung menschlicher Rede und ihren Ausdifferenzierungen angesiedelt werden. Die Gebärde erscheint hier als Ort, an dem sich die Naturalisierung der Sprache mit der Artifizialisierung des Leibes verschränkt, an dem Sprache plastisch greifbar wird und der Körper sich zum Zeichen abstrahiert. Dieses supplementäre Wechselverhältnis gehört zu den konzeptionellen Fixpunkten der avantgardistischen Poetik. Nach einer Rekonst-ruktion der Schnittstellen zwischen rhetorischen und chirologischen Diskursen untersucht das Kapitel drei Bereiche erhöhter Gestenaffinität avantgardistischer Poetik: 1. Das linguistische Paradigma der Fundierung sowohl natürlicher wie auch künstlicher Sprachen auf der Handgeste. Hier werden zwei Modelle vorge-stellt: das paläolinguistische Modell der Linearsprache Nikolaj Marrs sowie die phi-losophische Gesto-Kinetologie Jakov Lincbachs. Während es Lincbach darum geht, sein zunächst mathematisch abgeleitetes Konzept einer künstlichen Sprache als intermediales Symbolsystem der Künste zu deklarieren, diffundieren Marrs Ma-nualsprachursprungstheorien in die Poetiken der Avantgarde hinein und lösen hier eine Suche nach der vergessenen Geste des Geschichtenerzählens aus. 2. Das per-formative Paradigma der Szene poetischer Darbietung. An einer kontrastiven Be-trachtung der stummen Dichterlesungen Vasilisk Gnedovs und des Habitus Anna Achmatovas geht es hier zum einen um die Geste als Gravitationszentrum dichte-rischer Selbstinszenierung, zum anderen um die Einführung der sog. „Rhythmo-Bewegung“ als textkonstitutiver Kategorie. 3. Das poetologische Paradigma litera-rischer Konzeptualisierungen der Geste. An drei literarischen Konzeptionen vom Symbolismus bis zum Formalismus untersucht dieser Teil des Kapitels das Spekt-rum von Stilisierungen der Geste zum poetologischen Schlüsselbegriff. Zunächst wird hier nachgezeichnet, wie Aleksej Tolstoj während der Arbeit an seinen Erzäh-lungen und Romanen zur petrinischen Zeit in enger Anlehnung an Marr und die Jurisdiktion von ‚Wort und Tat‘ (slovo i delo) eine Typologie des Erzählens entwirft, die aus der Trias von Geste, Gewalt und Geschichte ein Raster für die historiogra-fische Literatur zu gewinnen versucht. Daran schließt sich eine Auseinanderset-zung mit Andrej Belyjs glossolalisch inspiriertem Projekt der lingualen Lautgeste

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    an. Belyjs Studien zum „handlosen Tanz“ der Zunge und ihren vokalischen Entspre-chungen bilden dann den Hintergrund, vor dem als dritte Ausprägung einer Ges-tenpoetik Boris Ėjchenbaums skaz-Theorie in den Fokus rückt. Der am Verfahren des skaz (literarisch fingierte Mündlichkeit) ausgetragene historische Streit zwischen Ohren- und Augenphilologie um den Charakter eines sich grotesk gebärdenden Erzählens erweist sich nun als Phänomen einer handphilologischen Unterströmung.

    Neben dem Sprechen ist es die Geste des Schreibens, in der die Literaturwissenschaft die Hand am ehesten aufsucht. Zumeist geschieht dies in Ausbuchstabierungen des fest etablierten medienhistorischen Dreistufenmodells von Manuskript-, Typokript- und Digiskriptzeitalter. Jenseits dieses vielbegangenen Pfades unternimmt dieses Ka-pitel den Versuch, die Geste des Schreibens mit derjenigen des Spielens zu verbinden und die Effekte und Implikationen dieses konzeptionellen Wechselspiels zu beleuch-ten. Dazu wird zunächst der schriftwissenschaftliche Ansatz der Literatur in seiner mediologischen, anthropologischen und praxeologischen Bezugnahme auf die Hand rekonstruiert, bevor dann in einem nächsten Schritt der Begriff des Schriftspiels unter Berücksichtigung von Wittgensteins Philosophie des Sprachspiels entfaltet wird. Seine Überprüfung und Erweiterung erfolgt anhand dreier plastischer, piktorialer und literarischer Konketisierungen: Petr Mituričs raumplastischen Umsetzungen der palindromatischen Lyrik Velimir Chlebnikovs, Sergej Tret’jakovs Schreibspielprojek-ten für Kinder und schließlich Aleksandr Rodčenkos und Varvara Stepanovas Über-tragungen dieser Schriftspiele ins Medium des Bildes.

    Sowohl die Geste des Sprechens wie auch diejenige des Schreibens verfügen über spezifische Dramaturgien, über die sie sich in Szene setzen. Den sich hier nicht selten abspielenden Konflikt zwischen Auge, Mund und Hand thematisiert das sich anschließende Kapitel zur Geste des Zeigens. Die bereits in den vorangehenden Analysen immer wieder angerissene Problematik des Verhältnisses von Zeichen, Bewegung und Bild wird hier unter dem Fokus der deiktischen Gebärde zum Ge-genstand. Aufgesucht wird sie auf dem Theater bzw. in der Dramaturgie und Schauspieltheorie der Avantgarde. Das Theater ist prädestinierter Ort elaborierter Gestenlehren, aber auch fundamentaler Gestenkritik, die sich immer wieder an der Geste des Zeigens als Zentrum des szenischen Geschehens entzündet. Das Zeigen und seine Gesten erfahren hier eine umfassende typologische Ausdifferenzierung, die sich im Spannungsfeld von Darstellen und Durchleben bewegt. Beide Begriffe markieren eine Art Leitdifferenz des dramatischen Diskurses. Sie verhandeln vor allem die Frage, ob eine Geste primär auf die Gestalt zielt oder aber auf ein Gefühl. Kann sie Ausdruck sein, ohne die Erfahrung eines Affekts, der diesem Ausdruck zugrunde liegt oder ihn stimulieren soll? Und welche Darstellungskonzepte stützen oder unterminieren die Dramaturgie des Durchlebens? Diese Schlüsseldebatte dis-kutiert das Kapitel in einem Dreischritt von der psychologisch motivierten Geste bei Sergej Volkonskij über die phänomenologisch argumentierende Loslösung der szenischen Darstellung aus dem Paradigma des Durchlebens und Durchleidens hin zur mechanistisch induzierten Physiologie der Geste in den Konzepten der Biome-chanik (Vsevolod Mejerchol’d) und der geometrisierten Geste des Taylor-Theaters (Ippolit Sokolov).

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    Das darauf folgende Kapitel nimmt den avantgardistischen Trend zum Tayloris-mus am Leitfaden der Geste des Werkens auf und betrachtet die konsequente Instru-mentalisierung des Wortes in der Poetik des Konstruktivismus. Hier verbindet sich der aristotelische Topos der Hand als instrumentum instrumentorum mit dem pla-tonischen organon-Konzept des Wortes zu einer radikalen Form des performativen Sprachfabrizismus. Protagonist dieser Bewegung ist Aleksej Gastev, der im Über-gang zwischen den Welten der Literatur und der Arbeitslehre eine „Poesie des Ar-beitsschlags“ (poėzija rabočego udara) mit dem Ziel einer utilitären Dienstbarma-chung des Wortes verfasst. Nach einer begriffsgeschichtlichen Situierung der Werkzeugmetapher des Wortes und ihren modernistischen Ausprägungen im Hin-blick auf den „Autor als Produzenten“ (Benjamin) befragt das Kapitel Gastevs po-etische Produktionsprogrammatik auf drei konzeptionelle Fluchtpunkte: 1. die Entwicklung eines Organon-Modells des Textes, 2. die Durchsetzung eines Evi-denzprinzips in der Literatur, und 3. die Umformatierung von Arbeitswerkzeugen (wie Meißel oder Chronometer) zu Schreibmedien. In der Zusammenschau dieser drei Linien wird deutlich, wie die Poetik im Zeichen des Werkzeugs durch ihre Sensibilisierung für die Techniken und Medien des Erzeugens und Gebrauchens weniger einem bloßen Technikfetischismus des Maschinenzeitalters das Wort redet, sondern das Handlungsfeld für eine Poetik der Praxis bereitet.

    Diese Dimension wird im Kapitel über die Geste des Handelns weiter ausgeführt. Die große Spannweite des handlungstheoretischen Diskurses der Avantgarde mar-kieren Michail Bachtins Philosophie der Handlung, Nikolaj Čužaks Programm der Literatur als Lebensbauen und Maksim Gor’kijs Äquivalenzmodell von Wort und Tat. In ihrem Zentrum steht Tret’jakovs Konzept des sog. operativen Schriftstellers. Operativität als textuelles Verfahren zielt auf einen doppelten Effekt: Zum einen will es den passiv-protokollarischen Dokumentarismus der 1920er Jahre in einen politisch-performativen Aktivismus überführen; zum anderen will es den Hand-lungsprimat der Literatur sowohl juristisch regulieren wie auch optisch optimieren. Das Kapitel zeichnet dies in zwei Strängen nach. Zunächst zeigt es, wie Tret’jakov die altrussische Rechtsformel slovo i delo (‚Wort und Tat‘) umformuliert, um eine Art Haftpflicht der Literatur einzuführen, die man in Anlehnung an Genette als juridischen Pakt zwischen Autor und Figur bezeichnen könnte. Parallel zu diesen Versuchen, durch vertragliche Verbindlichkeit zwischen Verfasser und Werk das Verhältnis von Fiktion und Fakt zu kontrollieren, arbeitet Tret’jakov an einer Revi-sion der Darstellungsmedien. Diese Ebene wird im zweiten Strang im Hinblick auf den operativen Einsatz von Fotografie und eine Diagrammatisierung der Bildrhe-torik betrachtet.

    Mit der Geste des Gebens ist ein neues Feld beschritten. Von den operativen Ge-setzen des Handelns herkommend reicht sie hinein in die ökonomischen Gesetze des Handels. Nach einem Überblick über die sozialen, ethischen und wirtschaftli-chen Verflechtungen und Verpflichtungen der gebend initiierten Tauschbeziehung koppelt sich das Kapitel von diesen ökonomischen Kreisläufen ab und konzentriert sich auf den Anspruch der Literatur, mit Worten Leben zu geben. Das biologizisti-sche Phantasma avantgardistischer Belebungs- und Unsterblichkeitsexperimente

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    von Nikolaj Fedorovs Auferweckung der Väter bis zu Aleksandr Bogdanovs Umfor-mulierung des Krematoriums zum Kreatorium ist mittlerweile legendär. Seine poe-tische Ausprägung bleibt gleichwohl dort verschattet, wo sie nicht direkt anschließ-bar ist an diskursive Konjunkturen, welche Literaturwissenschaft umstandslos den Lebenswissenschaften zurechnen. Am Leitfaden von Osip Mandel’štams Organo-Poetik befragt die Studie hier Figuren energetischer Rede auf ihren Anspruch, pul-sierend-pneumatische Vitalpräsenz zu evozieren. Wo sich aus Texten Hände der Leserin entgegenstrecken, wo Worte auf Handtellern zum Verzehr geboten werden, wo Fingerspitzen Apostrophen diktieren, bewegt sich die Literatur an einer Grenze, die Mandel’štam in Bilder des Gebens gefasst hat – von der Flaschenpost über die Liebesgabe bis zur Grabbeigabe.

    Wie schwer aber das, was der Text gibt oder zu geben vorgibt, angenommen werden kann, davon handelt das letzte Kapitel über die Geste des Berührens. Kaum gerät die Hand so in den Blick wie hier. Im Sog des Herderianischen Tastjubels erfährt sie in der Philosophie des 20. Jahrhunderts eine ungekannte Aufwertung zum Organ der Wahrheit und Wirklichkeitserfahrung. Das Kapitel diskutiert zu-nächst, wie die Avantgarde zwischen offensiv ikonoklastischem Gebaren und kaum verhüllter Ikonodulie die Berührbarkeit von Texten gegen ihre Bildlichkeit aus-spielt. Šklovskijs gern zitiertes Verdikt des Bildprimats der Poetik zugunsten eines sinnlichen Spürbarmachens der ästhetischen Erfahrung wählt sich eine dezidiert taktile Metapher des physischen Widerstands: Es gilt, den „Stein wieder steinern“ zu machen. Auf der Suche nach der dinghaften Konkretizität der Literatur unter-nimmt die Avantgarde verschiedene Tastexperimente, die zu einer Poetik des Resis-mus führt. Chlebnikovs Sehnsucht, jeder Buchstabe solle die Finger küssen, oder Gnedovs Erfindung „spürbarer Reime“ (osjazatel’nye rifmy), die wie Glas oder Stahl über unterschiedliche Wertigkeiten auf einer lyrischen Tastskala verfügen, initiieren eine Hapto-Poetik, die sich zunächst streng materialfixiert auf die Me-dien der Literatur und ihren Fakturfetischismus bezieht, um dann in der späten Avantgarde, im Obėriu, zu einer phänomenologischen Revision der Parameter von Gegenständlichkeit und sinnlicher Erfahrbarkeit der Literatur zu finden. Die Ana-lyse konzentriert sich hier nach einer Lektüre der Handmotivik in der Obėriu-Progammatik auf die Poetik des Absurden. Für Daniil Charms ist die Referenz auf die Tastempfindung der Hand nicht nur Ort der Bildkritik, sondern der Anlass epistemischer Beunruhigung über den Status der Gegenständlichkeit, sei sie in der Gestalt eines Gedichts oder eines Geschosses gegeben. Wenn Gedichte, nach Charms, Fensterscheiben durchschlagen können, werden Gesten bemüht, die sich von der Berührung ballistisch weit entfernen. Jede Welt- oder Wortvergewisserung durch die Haptik nähert sich hier der Abwehrgeste des Berührungsverbots: noli me tan-gere. Die Wiederaneignung dieses biblischen Gebots durch die Philosophie des Obėriu bildet den Abschluss des Kapitels.

    Mit dem skizzierten Gang der Argumentation legen die Kapitel den verschütte-ten Ort der Hand in der Poetik der Avantgarde frei. Zugleich schlagen sie einen konzeptionellen und einen chronologischen Bogen. Konzeptionell reicht er von zunächst eher sprachgebundenen über primär handlungsorientierte bis hin zu phä-

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    nomenologisch fokussierten Referenzen auf die Hand und ihre Bewegungen. Chronologisch setzt er mit Einzelstudien zum Symbolismus (Belyj) und zur frü-hen, kubofuturistischen Avantgarde (Gnedov, Miturič, Chlebnikov) ein und führt über die konstruktivistisch geprägten 1920er Jahre (Gastev, Tret’jakov, Rodčenko, Stepanova) hin zur letzten Bewegung der russischen Avantgarde, der absurden Po-etik der Obėriuten. In dieser doppelten argumentativen Linie zeichnet sich ab, wie sich über zwei Dekaden von den frühen Zehner Jahren bis zu den frühen Dreißi-gern innerhalb der avantgardistischen Strömungen eine Verschiebung der poetolo-gischen Paradigmen und ihrer symbolisch-somatischen Praktiken vollzieht, die sich in konkreten Gesten manifestiert.49

    49 Anmerkung zur Übersetzung: Das Textkorpus der Arbeit bilden überwiegend Schriften, die nur im russischen Original vorliegen. Wo nicht anders ausgewiesen, stammen die Übersetzungen von der Verfasserin. Um den Originalwortlaut bei Bedarf verfügbar zu halten, ist dieser in der Regel in den Fußnoten angeführt, zumal dort, wo es sich um unpubliziertes Archivmaterial, entlegene Quellen oder schwer zugängliche russische Periodika handelt.