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Sozial- und Pr~iventivmedizin M(~decine sociale et pr(~ventive 23, 75-76 (1978) Editorial Systematisches Vorgehen im Gesundheitswesen: Ziele, Grenzen, Methoden Th. Abelin 1 Das schweizerische Gesundheitswesen ist im Laufe der Zeit funktionell gewachsen. Die Niederlassung yon Arzten, der Bau von Spit/ilem und Heimen und die Griindung einer Vielfah von Hilfsvereinen effolgten bis vor einigen Jahrzehnten als spontane Antwort auf Krankheit, Leiden und Not. Eine langfrisfige Planung war nieht erforderlich, solange den Bedtirfnissen ftir gesundheitliche Leistungen an Ort und Stelle und mit geringen Mitteln geniigt werden konnte. Koordination musste ein abstrakter Begriff bleiben, solange die angebotenen Hilfeleistungen aufgrund pers6nlicher Kontakte leicht iiberblickbar waxen. Rasante Entwicklungen auf dem Gebiet der biomedizinischen Teehnologie, soziale Umw~ilzungen, die eine weitgehende Neuorientierung der gesundheitlichen Berufe mit sich brachten, die Verkiirzung der Distanzen durch moderne Transportmittel, die Zunahrne der Betagten in der Bev61kemng und der Obergang zur Kleinfamilie haben die Situation im Gesundheitswesen entscheidend geandert. 7-10 % des Bruttosozialproduktes fliessen heute in das Gesundheitswesen. In jedem anderen Gebiet der Volkswirt- schaft, in dem j ahrlich Milliarden von Franken umgesetzt werden, wiirden gr6ssere Investitionen nur nach sorgf~iltiger Priifung einer Ftille von Entscheidungsgrundlagen getatigt. Im Gesundheitswesen stiitzen sich entsprechende Entscheide jedoch noch immer haufig auf gefiJhlsm/issige Abwagungen, wobei das Risiko besteht, dass gewisse Aspekte (z. B. psychosoziale Aspekte, Gesundheitserziehung) gegenfiber anderen (z. B. technisehe Aspekte der kurativen Medizin) vemachlassigt werden. In den letzten Jahren hat sich als Antwort auf diese problematische Entwicklung weltweit die Einsicht durchgesetzt, dass auch im Gesundheitswesen ein systematisches Vorgehen unentbehrlich ist, um die Kosten in den Griff zu bekommen und um im Kampf gegen die Zivilisationskrankheiten pr~iventive und kurative Anstrengungen in ausgewogener Weise einsetzen zu k6nnen. Was ist unter <<Systematischem Vorgehen im Gesundheitswesen>> zu verstehen? Bedtirfniserhebung, Erar- beitung yon Modellvarianten der den Bedtirfnissen angepassten Dienstleistungen, Abkl~irung der organi- satorischen, soziokulturellen und finanzieUen Randbedingungen, Ausarbeitung konkreter Plane als Kom- promiss zwisehen IdealmodeU und Realitat, Durchfiihrung und schliesslich Evaluation der Dienstleistun- gen und ihrer Auswirkungen auf die Gesundheit als Grundlage zum Neubeginn des Zyklus sind die Teilelemente des Regelkreises, der das systematische Vorgehen pragt. Ihre Verwirkliehung erfordert differenzierte statistische Grundlagen auf jeder Stufe des Gesundheitswesens, fachlich ausgewiesene Sach- bearbeiter und die Bereitschaft, die Probleme von Gesundheit und Krankheit trotz der damit verbundenen geftihlsm~issigen Aspekte sachlich anzugehen. Voraussetzung dazu ist eine klare Regelung der Kompeten- zen, die der Komplexitat und der gegenseitigen Abhangigkeit der Teilelemente des Gesundheitswesens Rechnung tr/igt. Die Verwirklichung eines systematischen Vorgehens im Gesundheitswesen ist in der Schweiz zu einem h/iufig ausgedriickten politischen Postulat geworden. Zugleich ist sie das vordringliche fachtechnische Anliegen der Sozialmedizin als der Disziplin, die die Probleme von Gesundheit und Krankheit auf der Ebene von Bev61kerungsgruppen und Gesellschaft mit wissenschaftlichen Methoden zu 16sen versucht. Die traditionellen Instrumente der Sozialmedizin - Gesundheitsstatistik und Epidemiologie - bilden die Basis zur Erarbeitung der Entscheidungsgrundlagen im Gesundheitswesen. Dazu gesellen sich je naeh Problemstellung Elemente der Sozial-, Erziehungs-, Wirtschafts- und Betriebswissenschaften. Die Verbin- dung dieser Fachgebiete mit den Grundkenntnissen der Medizin ist das Ziel einer Ausbildung zum Spezialisten in 6ffentlicher Gesundheit, wie sie in den meisten IAindern bei den Faehmitarbeitern der Gesundheits~imter vorausgesetzt wird. Bereits haben zwischen 15 und 20 schweizerische ,~rzte und einige 1Prof. Dr. med.,InstitutfiirSozial-und Prhventivmedizin der Universitfit Bern, Inselspital,3010Bern. 75

Systematisches Vorgehen im Gesundheitswesen: Ziele, Grenzen, Methoden

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Sozial- und Pr~iventivmedizin M(~decine sociale et pr(~ventive 23, 75-76 (1978)

Editorial

Systematisches Vorgehen im Gesundheitswesen: Ziele, Grenzen, Methoden

Th. Abelin 1

Das schweizerische Gesundheitswesen ist im Laufe der Zeit funktionell gewachsen. Die Niederlassung yon Arzten, der Bau von Spit/ilem und Heimen und die Griindung einer Vielfah von Hilfsvereinen effolgten bis vor einigen Jahrzehnten als spontane Antwort auf Krankheit, Leiden und Not. Eine langfrisfige Planung war nieht erforderlich, solange den Bedtirfnissen ftir gesundheitliche Leistungen an Ort und Stelle und mit geringen Mitteln geniigt werden konnte. Koordination musste ein abstrakter Begriff bleiben, solange die angebotenen Hilfeleistungen aufgrund pers6nlicher Kontakte leicht iiberblickbar waxen. Rasante Entwicklungen auf dem Gebiet der biomedizinischen Teehnologie, soziale Umw~ilzungen, die eine weitgehende Neuorientierung der gesundheitlichen Berufe mit sich brachten, die Verkiirzung der Distanzen durch moderne Transportmittel, die Zunahrne der Betagten in der Bev61kemng und der Obergang zur Kleinfamilie haben die Situation im Gesundheitswesen entscheidend geandert. 7-10 % des Bruttosozialproduktes fliessen heute in das Gesundheitswesen. In jedem anderen Gebiet der Volkswirt- schaft, in dem j ahrlich Milliarden von Franken umgesetzt werden, wiirden gr6ssere Investitionen nur nach sorgf~iltiger Priifung einer Ftille von Entscheidungsgrundlagen getatigt. Im Gesundheitswesen stiitzen sich entsprechende Entscheide jedoch noch immer haufig auf gefiJhlsm/issige Abwagungen, wobei das Risiko besteht, dass gewisse Aspekte (z. B. psychosoziale Aspekte, Gesundheitserziehung) gegenfiber anderen (z. B. technisehe Aspekte der kurativen Medizin) vemachlassigt werden. In den letzten Jahren hat sich als Antwort auf diese problematische Entwicklung weltweit die Einsicht durchgesetzt, dass auch im Gesundheitswesen ein systematisches Vorgehen unentbehrlich ist, um die Kosten in den Griff zu bekommen und um im Kampf gegen die Zivilisationskrankheiten pr~iventive und kurative Anstrengungen in ausgewogener Weise einsetzen zu k6nnen. Was ist unter <<Systematischem Vorgehen im Gesundheitswesen>> zu verstehen? Bedtirfniserhebung, Erar- beitung yon Modellvarianten der den Bedtirfnissen angepassten Dienstleistungen, Abkl~irung der organi- satorischen, soziokulturellen und finanzieUen Randbedingungen, Ausarbeitung konkreter Plane als Kom- promiss zwisehen IdealmodeU und Realitat, Durchfiihrung und schliesslich Evaluation der Dienstleistun- gen und ihrer Auswirkungen auf die Gesundheit als Grundlage zum Neubeginn des Zyklus sind die Teilelemente des Regelkreises, der das systematische Vorgehen pragt. Ihre Verwirkliehung erfordert differenzierte statistische Grundlagen auf jeder Stufe des Gesundheitswesens, fachlich ausgewiesene Sach- bearbeiter und die Bereitschaft, die Probleme von Gesundheit und Krankheit trotz der damit verbundenen geftihlsm~issigen Aspekte sachlich anzugehen. Voraussetzung dazu ist eine klare Regelung der Kompeten- zen, die der Komplexitat und der gegenseitigen Abhangigkeit der Teilelemente des Gesundheitswesens Rechnung tr/igt. Die Verwirklichung eines systematischen Vorgehens im Gesundheitswesen ist in der Schweiz zu einem h/iufig ausgedriickten politischen Postulat geworden. Zugleich ist sie das vordringliche fachtechnische Anliegen der Sozialmedizin als der Disziplin, die die Probleme von Gesundheit und Krankheit auf der Ebene von Bev61kerungsgruppen und Gesellschaft mit wissenschaftlichen Methoden zu 16sen versucht. Die traditionellen Instrumente der Sozialmedizin - Gesundheitsstatistik und Epidemiologie - bilden die Basis zur Erarbeitung der Entscheidungsgrundlagen im Gesundheitswesen. Dazu gesellen sich je naeh Problemstellung Elemente der Sozial-, Erziehungs-, Wirtschafts- und Betriebswissenschaften. Die Verbin- dung dieser Fachgebiete mit den Grundkenntnissen der Medizin ist das Ziel einer Ausbildung zum Spezialisten in 6ffentlicher Gesundheit, wie sie in den meisten IAindern bei den Faehmitarbeitern der Gesundheits~imter vorausgesetzt wird. Bereits haben zwischen 15 und 20 schweizerische ,~rzte und einige

1 Prof. Dr. med., Institut fiir Sozial- und Prhventivmedizin der Universitfit Bern, Inselspital, 3010 Bern.

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Sozial- und Pr~iventivmedizin M6decine sociale et pre~ventive 23, 75-76 (1978)

Angeh6rige anderer Berufe an ausl~indischen Universit~iten eine solche Ausbildung (z. B. mit Erlangung des Diploms eines <<Master of Public Health~ [MPH] abgeschlossen). Nur zwei oder drei unter ihnen sind, ihrer Ausbildung entsprechend, in der Praxis des sehweizerischen Gesundheitswesens eingesetzt. Mehrere arbeiten an den Universit~itsinstituten ffir Sozial- und Pr~iventivmedizin, und einige sind in die Praxis der l_ndividualmedizin zurfickgekehrt, nachdem sie im Gesundheitswesen keine Besch~iftigung fanden, nicht zuletzt weil dort der Gedanke des systematischen Vorgehens, wie es in der modemen Individualmedizin selbstverst~indlich ist, noch nicht durchgedrungen war. Im Bestreben, auch in der Schweiz dem systematischen Vorgehen im Gesundheitswesen zum Durchbruch zu verhelfen, die in verschiedenen ,~mtem und Organisationen t~itigen interessierten Politiker und Fach- leute einander n~iherzubringen und die Rolle der Universit~itsinstitute f/Jr Sozial- und Pr~ventivmedizin als Zentren der Forschung fiber das Gesundheitswesen (<<Health Services Research>~) zum Ausdruck zu bringen, nahm die Schweizerische Gesellschaft ffir Sozial- und Pr/iventivmedizin anfangs 1977 mit mehre- ren Organisationen des Gesundheitswesens in der Schweiz Kontakt auf. Als H6hepunkt widmete sie ihre Herbsttagung vom 20./21. Oktober 1977 ganz dem Thema: r162 Vorgehen im Gesundheitswe- sen: Ziele, Grenzen, Methoden>> und dem dazu erforderlichen interdisziplin~iren Gespr~ich. Das vorlie- gende Heft der ~Sozial- und Pr~iventivmedizin~ versucht, die Ergebnisse dieser yon fast 200 Teilnehmern besuchten Veranstaltung festzuhalten. In einem ersten Teil sind die ins Thema des ~Health Services Research~> einffihrenden Hauptreferate von Professor J. E. Blanpain (Leuven) und Dr. F. Gutzwiller (Basel) wiedergegeben, erg~inzt durch den anl~isslich der Genfer Juni-Tagung der SGSPM von Professor P. Tschopp gehaltenen Festvortrag sowie durch einleitende Ausfiihrungen zum Thema der Herbsttagung aus der Warte des kritisehen Soziologen (A. Gebert) und des pragmatischen Spitalplaners (C. Kleiber). Im zweiten Teil folgen die Berichte und Empfehlungen der sieben Diskussionsgruppen, die in Luzern Gele- genheit batten, das systematische Vorgehen im Hinblick auf verschiedene Teilaufgaben des Gesundheits- wesens zu beleuchten. Im letzten Tell folgen eine Selbstdarstellung der Mitorganisatoren der Tagung, ein Bericht fiber das abschliessende Rundtischgespr~ich und die Wiedergabe von Ergebnissen aus einer Um- frage, die als Vorbereitung der Tagung bei den wichtigsten )kmtem und Stellen des Gesundheitswesens durchgefiihrt wurde. Es ist mir ein Bedfirfnis, der Schweizerischen Sanit~itsdirektorenkonferenz, der Vereinigung schweizeri- scher Amts~irzte, dem Schweizerischen Krankenhausinstitut, der Schweizerischen GeseUschaft fiJr Ge- sundheitspolitik und der Gesellschaft Hochschule und Forschung als Mitorganisatoren der Luzerner Tagung fiir ihre Mitarbeit herzlich zu danken. Besonderer Dank gilt ferner den Herren Rudolf Bruppa- cher, Felix Gutzwiller, Jean Martin und Luc Raymond ffir die unermiidliche Zusammenarbeit, mit der sie dem Tagungsleiter im Rahmen der Vorbereitungsgruppe zur Seite standen.

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