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ERNST JÜNGER – SÄMTLICHE WERKE Tagebücher I-VIII Band 1 Der Erste Weltkrieg Band 2 Strahlungen I Band 3 Strahlungen II Band 4 Strahlungen III Band 5 Strahlungen IV Band 6 Strahlungen V Band 7 Strahlungen VI, VII Band 8 Reisetagebücher Essays I-IX Band 9 Betrachtungen zur Zeit Band 10 Der Arbeiter Band 11 Das Abenteuerliche Herz Band 12 Subtile Jagden Band 13 Annäherungen Band 14 Fassungen I Band 15 Fassungen II Band 16 Fassungen III Band 17 Ad hoc Erzählende Schriften I-IV Band 18 Erzählungen Band 19 Heliopolis Band 20 Eumeswil Band 21 Die Zwille Supplement Band 22 Späte Arbeiten – Aus dem Nachlaß

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ERNST JÜNGER – SÄMTLICHE WERKE

Tagebücher I-VIIIBand 1 Der Erste WeltkriegBand 2 Strahlungen IBand 3 Strahlungen IIBand 4 Strahlungen IIIBand 5 Strahlungen IVBand 6 Strahlungen VBand 7 Strahlungen VI, VIIBand 8 Reisetagebücher

Essays I-IXBand 9 Betrachtungen zur ZeitBand 10 Der ArbeiterBand 11 Das Abenteuerliche HerzBand 12 Subtile JagdenBand 13 AnnäherungenBand 14 Fassungen IBand 15 Fassungen IIBand 16 Fassungen IIIBand 17 Ad hoc

Erzählende Schriften I-IVBand 18 ErzählungenBand 19 HeliopolisBand 20 EumeswilBand 21 Die Zwille

SupplementBand 22 Späte Arbeiten – Aus dem Nachlaß

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Ernst Jünger

Sämtliche Werke 22Supplement

Klett-Cotta

Verstreutes – Aus dem Nachlass

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Klett-Cottawww.klett-cotta.de© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart Alle Rechte vorbehaltenPrinted in GermanyReihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg, unterVerwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, BerlinGesetzt von pagina, TübingenGedruckt und gebunden von cpi books, LeckISBN 978-3-608-96322-9

Die 22 Bände der Sämtlichen Werke, die zwischen 1978 und 2003 bei Klett-Cotta erschienen sind (1–18: 1978–1983; Supplemente 19–22: 1999–2003), enthalten Ernst Jüngers Fassung letzter Hand. Ihr folgt diese Taschenbuchausgabe in Seiten- wie Zeilenumbruch. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die posthum erschienenen Supplement bände integriert. Der vorliegende Band folgt der gebundenen Ausgabe. Entnommen wurden das Tagebuch »Siebzig verweht V (Strahlungen VII)«, das in Band 7 dieser Ausgabe gemeinsam mit »Siebzig verweht IV (Strahlungen VI)« zu finden ist, sowie »Eine gefährliche Begegnung« (Band 21 dieser Ausgabe). Aus Band 18 der gebundenen Ausgabe wurden die Nachworte zu eigenen Werken sowie das chronologische Werkverzeichnis überführt.

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INHALT

Aus: »Das Antlitz des Weltkrieges«

Stoßtrupps

Der letzte Akt (Teildruck)

Zu eigenen Werken

Nachwort zu »Afrikanische Spiele«

Geleit zu »Der Friede«

Widmung von »Atlantische Fahrt«

Vorwort zu »Jahre der Okkupation«

Über die Ausgabe der »Werke«

Auf eigenen Spuren

Vorwort zu »Ad hoc«

Adnoten zu »Auf den Marmorklippen«

Zu »Aladins Problem«

Post festum

Ansprachen und Grußworte

Bei Verleihung der Ehrenbürgerwürdeder Gemeinde Wilflingen

Zu Christiane Helmholtz’ Büste des Autors

Einleitende Worte zur Lesungwährend einer Kapitelsitzung der Ritter

des Ordens Pour le Merite

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Zum fünfzigsten Jahrestag des Kriegsausbruchsam . August

Zu einer Lesung in Biberach

Dank für eine Ehrung in Amriswil

Grußwort zum Schützenfest in Wilflingen

Grußwort an den Musikverein Wilflingen

Geleitwort zu einer Ausstellung

Einleitung der Dankrede bei der Verleihungdes Goethe-Preises

Geleitwort zu »Wilflingen. Jahre Geschichte«

Über die Bekanntschaft mit Serge Mangin

Zur Käferkunde

Geleitwort zu »Käfer. Form und Farbe – Fülle und Pracht«von Franz Peter Möhres

Über den Sammler

Auf Subtiler Jagd. Zu einer Plastikvon Gerold Jäggle

Geleitwort zu »Der Heldbockkäfer«von Volker Neumann

Splitter

Zu »Auf tausendjähriger Karawanenstraße durch dieMongolei« von Edgar von Hartmann

Zur Rechtschreibreform

Hoff, o du arme Seele

Aus dem Nachlaß

Reisenotizen

Buironfosse.

Feilspäne. Ravensburg

Schweiz. Mai/Juni

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Turigliano.

Florenz. Oktober

Pully-Lausanne.

Sardinien.

Sardinien. März/April

Sardinien. Herbst

Sardinien.

Damaskus.

Sardinien. Frühjahr

Pressac. Paris. Karlsruhe.

Ägypten. Sudan. Sinai.

Benicasim. September

Sardinien.

Juist.

Gedichte

Unser Leben

Im Namen aller fahrenden Scholaren

Aus der Festzeitung :Motto

Selbstbildnis

Nachwort des Dichters

Der Legionär

Aus den Notizheften des Ersten Weltkriegs:Mein Tagebuch. Was auf die weißen Seiten

Die Fastnacht der Hölle

Ich wünsche Glück und Kummer

Zu Kubins Bild »Der Mensch«

Gleichschaltung

Drei Silben

Au General Speidel

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Prinzessin Tarakanow. Fragment

Letzte Worte. Fragment

Über Leibniz’ »Beste aller Welten«

Sp. R. Drei Schulwege

Übersetzungen

Vom Äther. Aus Maupassants »Reves«

Das Paris eines Parisers. Von Paul Leautaud

Nachwort

Verzeichnisse

Chronologisches Werkverzeichniszu den Bänden –

Alphabetisches Inhaltsverzeichnisder Bände –

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AUS : »DAS ANTLITZ DES WELTKRIEGES«

STOSSTRUPPS

Als nach der Marneschlacht die Stellungen der sich imWesten gegenüberliegenden Heere eine immer größereFestigkeit gewannen und jene Gewirre von Gräben, Draht-verhauen und Stützpunkten entstanden, die man mit demNamen Stellungssystem bezeichnete, änderten sich auch dieAnschauungen, die man über den Sturmangriff aus dem Frie-den mit in den Krieg genommen hatte. Solange die angrei-fende Truppe sich deckungslosen oder höchstens flüchtigeingegrabenen Schützenlinien gegenübersah, genügten dieMaßnahmen und Vorbereitungen, die ihr von den Übungs-plätzen und Manöverfeldern der Friedensausbildung geläufigwaren. Sie bestanden in einer mehr oder weniger langen undausgiebigen Erschütterung des Gegners durch Gewehr- undArtilleriefeuer, an die sich nach sprunghafter Annäherungunter gegenseitiger Feuerunterstützung der letzte Anlauf mitder blanken Waffe schloß. Der Einbruch erfolgte in den lan-gen Linien, in denen der Feuerkampf ausgefochten war, siewurden im Laufe des Gefechtes durch eingeschobene Unter-stützungen aufgefüllt und sollten im Augenblick des Sturmeseine überwältigende Stärke besitzen.

Schon in den großen Herbstschlachten des Jahres ,besonders in Flandern, zeigte es sich jedoch, daß dieseMethode den hinter Drahtfeldern aufgestellten Maschinen-waffen des Verteidigers gegenüber zu unerträglichen Ver-lusten und endlich zum Scheitern jedes Angriffes überhauptführen mußte. Die Verluste an junger Mannschaft auf denEbenen vor Ypern legten blutiges Zeugnis dafür ab. Je mehrsich dann die Stellungen verdichteten und verstärkten, destosorgfältiger mußte die Vorbereitung werden, ehe man es

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wagen konnte, den ungedeckten Menschen über das, wennauch noch so schmale, Gebiet vorzuschicken, das ihn vomGegner trennte. Denn wenn es auch nur Minuten oder viel-leicht sogar Sekunden waren, die dem Verteidiger zum Zielenund Schießen blieben, so genügte diese Zeit doch, um mitMaschinenwaffen die Fläche leerzufegen wie einen Tisch.Außerdem zwangen die immer dichter werdenden Draht-verhaue den Angreifer, seinen Aufenthalt im gefährlichenRaume auszudehnen und sich dicht vor den Mündungen derGewehre und in Wurfweite der Handgranaten aufzurichten,um die Hindernisse zu übersteigen oder Gassen durch sie zubrechen.

Die Vorbereitung des Angriffes mußte daher bald eineWucht gewinnen, von der man sich im Frieden noch keineVorstellung gemacht hatte. Dies drückte sich vor allem in derSteigerung des Artilleriefeuers aus, das sich bereits in denersten Monaten des Krieges noch durch den Einsatz vonMinenwerfern und anderen, auf kurze Entfernungen wirken-den Waffen verstärkte. Ferner wurde sowohl die Wirkung desFeuers wie die des menschlichen Angriffes noch dadurchsummiert, daß sie sich nicht mehr auf die Breite erstreckte,sondern an bestimmten Orten überwältigend zusammen-gefaßt wurde.

In bezug auf die angreifende Mannschaft stellte sich her-aus, daß die körperlichen, geistigen und moralischen Eigen-schaften, die der erste Einbruch in einen so stark gerüstetenund verschanzten Gegner erforderte, weit über den Durch-schnitt der Leistung hinausgingen, der in einem Massenheerevom Einzelnen erwartet werden konnte. Die Überwindungsolcher Schrecknisse, wie sie dieser erste und entscheidendeTeil des Angriffes dem kämpfendenMenschen entgegenstellte,mußte einer ausgesuchten Schar von Sturmsoldaten über-tragen werden. Ihr lag es ob, die Bahn zu brechen und denStein ins Rollen zu bringen.

An diesen zeitlichen, räumlichen und persönlichen Bedin-gungen bildete sich der Stoßtrupp in seiner Eigenart heraus.Aus dem Heereskörper schieden sich kleine ausgesuchte Ver-

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au s : »das antl itz de s weltkr i ege s«

bände, die imstande waren, das feindliche Feuer blitzschnellzu unterlaufen, an die Wirkung der eigenen Feuermaschinensofort den Einsatz der menschlichen Kraft zu schließen undauf engem Raume geschlossen in die verteidigte Stellung zustoßen, um sie auseinander zu reißen. Um uns ein Bild zumachen, wie sich die Tätigkeit dieser Verbände in der Wirk-lichkeit abspielte, müssen wir uns zur Stunde des Angriffesauf eine der großen beschossenen Ebenen Nordfrankreichsversetzen, auf denen sich unter jahrelangen Kämpfen dasSchicksal des Krieges entschied.

Wir befinden uns in einer scheinbar menschenleeren Ein-öde, auf der wie in einer vulkanischen Landschaft seit Tagendie Sprengkegel unzähliger Geschosse steigen und fallen undin deren Weite der Donner der Abschüsse und Explosionen sozur Gewohnheit geworden ist, daß ihn das Ohr kaum nochvernimmt. Weit im Gelände verstreut arbeiten die Artilleriender beiden Heere wohlverborgen gegeneinander an, es ist, alsob diese Arbeit von einer Naturkraft geleistet würde, die sichden Augen des Betrachtenden verbirgt. Ebenso öde und ver-lassen wie das Land rings umher liegen die Gräben unter denWolken von Geschoßqualm und Staub, ihre Aufwürfe hebensich vom Boden ab wie ein eng aneinander geflochtenesNetz, so daß die schmale Grenze des Niemandslandes kaumzu erkennen ist. Sie sind mit Menschen überfüllt, die, in derEnge von Stollen und Unterständen zusammengepreßt, seitlangem die Stunde des Angriffes erwarten. Nur vereinzelt ste-hen wenige Posten, die, in Betonstände oder kleine Nischengedrückt, fast schutzlos dem Unwetter preisgegeben sind, umjederzeit die unter der Erde lauernden Besatzungen alarmie-ren zu können.

Plötzlich ändert sich das Bild. In dem Augenblick, in demein letzter furchtbarer Feuerstoß die Landschaft erschüttert,der alle bisherigen Schrecknisse weit in den Schatten stellt,beginnt der Graben sich an verschiedenen Stellen mit Mann-schaften zu füllen. Langsam kriechen sie aus den niedrigenEingängen der Erdlöcher hervor, um sich an Punkten zusammeln, vor denen schmale Gassen in die Drahtverhaue

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geschnitten sind. Sie sind schwer bewaffnet, mit Handgrana-ten gefüllte Säcke hängen vor ihrer Brust, sie tragen kurzeKarabiner am Riemen um den Hals, und auch an ihren Kop-peln ist eine Reihe verschiedenartiger Waffen und Werkzeugebefestigt. Einige tragen Maschinengewehre, andere geballteLadungen, Brandröhren und Sprengkisten. Die Führer haltenUhr und Pistole in der Hand.

Zur bestimmten Sekunde, während noch die letzten Gra-naten in die feindliche Stellung schlagen, schwingen sie sichauf den Grabenrand und überschreiten das Hindernis. Nunändert sich mit einem Schlage der leblose Eindruck des Fel-des, überall jagen kleine Rudel von Menschen durch Nebelund Dampf, und wenn auch einige Gewehrschüsse fallen undhier und da ein Maschinengewehr einsetzt, so spielt sich dochalles so plötzlich und überraschend ab, daß die Stoßtruppsdie gefährliche Stelle schon überwunden haben, ehe sich dieBesatzung drüben vom Schrecken der Beschießung erholthat. Man sieht, wie sie sich vor den zerschossenen Draht-resten auf der anderen Seite in Granattrichter werfen, undgleich darauf kreiseln Handgranaten in schwerfälligem Flugehinüber, um in einer milchweißen Wolke zu explodieren. Einegeballte Ladung geht hoch und reißt eine breite Lücke in denDraht. Dann folgt ein letzter Sprung, und der schwerste Teilder Aufgabe, der eigentliche Einbruch, ist geglückt. Damit istdie Arbeit aber noch keineswegs beendet, denn der Einbrucherfolgte ja nur an Punkten, während auf das Getöse derHandgranaten hin der angegriffene Graben in seiner ganzenBreite lebendig wird. Nun beginnt erst die eigentliche Technikdes Aufrollens, bei dem unter fortwährenden Handgrana-tenwürfen Schulterwehr um Schulterwehr in erbittertemKampfe genommen wird. Das Vordringen ist maschinenmäßiggeregelt, Werfer, Beobachter und Träger arbeiten, fast ohneein Wort oder einen Zuruf zu wechseln, Hand in Hand. Woein stärkerer Widerstand auftaucht, wird mit Gewehrgranatenund Maschinengewehren nachgeholfen, Gewehrträger riegelndie Seitengräben ab, um Überraschungen und Rückschlägenvorzubeugen. Signalraketen zur Verständigung der Artillerie

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steigen hoch, in die Eingänge der Stollen werden geballteLadungen geworfen, und wo Barrikaden den Weg versperren,verlassen einige Schützen den Graben, um sie rechts undlinks zu umgehen. Bald sieht man die Handgranaten-wölkchen der einzelnen Abteilungen sich nähern, die einge-schlossenen Reste der Besatzung ergeben sich oder werdenniedergemacht. Nun ist es Zeit, in die in die Tiefe der ange-griffenen Stellung führenden Gräben einzudringen, dennschon beginnt sich der Graben mit nachdrängender eigenerMannschaft zu füllen. Die eigentliche Aufgabe des Stoß-trupps, der Einbruch, ist vollbracht.

DER LETZTE AKT

Um den Weltkrieg an der westlichen Front von Anfang bis zuEnde zu überstehen, dazu gehörte unter anderen Glücksfäl-len auch unzweifelhaft der der Verwundung. Die Verwun-dung, insofern sie weder zu schwer noch zu leicht war, zähltebei den alten Kriegern zu den Glückstreffern, die die großeLotterie des Krieges in Bereitschaft hielt. Zu leicht durfte siedeshalb nicht sein, weil sie dann nur einen kurzen Aufenthaltim Feldlazarett dicht hinter der Front zur Folge hatte und ihreschönste Frucht, den vierzehntägigen Heimaturlaub, nichtausreifen ließ. Ein rechter Treffer aber, der sogenannte Salon-,Kavaliers- oder Heimatschuß, wurde mit einem Vergnügenbegrüßt, von dem man sich zu Beginn des Feldzuges nochnichts hatte träumen lassen. Unter den Rufen, die aus einerins Gefecht ziehenden Truppe erschollen, konnte man daherhäufig Gratulationen vernehmen, die den ihr entgegenkom-menden marschfähigen Verwundeten galten.

Zu einem besonders glücklichen Zufall wurde die Verwun-dung kurz vor Gefechtshandlungen, die mit der Vernichtunggrößerer Truppenteile endeten. Im Verlaufe des Krieges, mit

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der Steigerung der großen Materialschlachten, ereignete essich immer häufiger, daß von den bei einem Großangriff inder vordersten Stellung liegenden Bataillonen auch nicht eineinziger Mann wiedergesehen wurde. Dies war eine nur allzuerklärliche Folge des Verfahrens, das sich für solche Angriffeherausgebildet hatte. So begann die Wirkung des Vorbe-reitungsfeuers zunächst alle rückwärtigen Verbindungen zuzerstören, teils um die Verständigung der Kämpfer mit denStäben und der Artillerie unmöglich zu machen, teils um dieReserven zu verhindern, die vordere Linie zu verstärken.Durch dieses Verfahren wurde die Besatzung der vorderstenVerteidigungszone wie durch eine große Feuerglocke über-deckt und von jeder Hilfe abgeschlossen. Erfolgte dann end-lich der Angriff, so blieb die Abriegelung durch Feuer beste-hen, so daß auch den wenigen Überlebenden jedes Entrinnenunmöglich war. So kam es, daß diejenigen, die die letztenMitteilungen vom Schicksal einer solchen Truppe zu machenvermochten, die auf dem Anmarsch Verwundeten waren unddaß man die nächste, ungewisse Nachricht erst durch denfeindlichen Heeresbericht oder durch die Briefe Gefangenererhielt. In vielen Fällen hörte man erst nach dem KriegeGenaueres über die Augenblicke, in denen der Einbruch desGegners geschehen war. Eine solche Verwundung entzogmich bei Combles dem Schicksal meines Bataillons, das amAbend bei Guillemont in Stellung gehen sollte und das balddarauf bis auf den letzten Mann verschollen war. Das spur-lose Verschwinden einer so großen Einheit in der Schlachtwar uns damals noch zu neu, um nicht einen mächtigen Ein-druck in uns zu hinterlassen – ebenso neu wie die ganze Artdieses Krieges, die mit der Sommeschlacht begann, und umdiese handelte es sich hier. Die ganze ungeahnte und noch nieerlebte Wucht des Feuers machte den Eindruck einer Natur-katastrophe, und die Schwere der Verluste war diesem Ein-druck angemessen. … <Teildruck><Der weitere Text wurde nicht abgedruckt, da er fast wörtlich überein-stimmt mit den entsprechenden Passagen von »In Stahlgewittern« (Bd. der Sämtlichen Werke, S. ff.).>

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NACHWORT ZU »AFRIKANISCHE SPIELE«

Die Erzählung des Herbert Berger gehörte recht lange mei-nen unveröffentlichten Papieren an. Ich möchte diese kleineSchrift dem Sinne nach als meine erste betrachten, obwohlsie später entstanden ist – als ein Experiment, dessen Aus-gang ergibt, daß man die Kraft nicht an jedem beliebigenPunkte ansetzen kann. Die Zeiten der Klingerschen Dramen,deren Helden sich beiläufig erkundigen, in welchem Erdteilsie sich gerade befinden, sind leider vorbei. Vielleicht kehrensie verändert zurück. Mit den Lichtern der bürgerlichen Weltsind auch die Illusionen ihrer farbigen Ränder verblaßt. DerEinzelne lebt heute unter veränderten Bedingungen, und esscheint mir ein lohnendes Gegenstück, ihn aufzusuchen, woer sich als Punkt im Koordinatensystem der Totalen Mobil-machung bewegt – etwa hoch über nächtlichen Wolkenschwebend während des einsamen Absprunges in ein vonGrund auf feindliches Reich. Welcher Art sind die Kräfte, dieso seltsame Bilder ermöglichen?

Die Veröffentlichung von Büchern ist von jeher ein Wagnisgewesen; sie ist es heute noch in einem besonderen Sinn, vondem man sich früher nichts träumen ließ. Es scheint, daß derDruck die Bücher in zunehmendem Maße zu verändern be-ginnt, und zwar in einer Weise, die den Wirkungen des Licht-bildes oder der künstlichen Stimme entspricht. Ich nehme an,daß der Autor, der seine Bücher in den Auslagen der Buch-händler erblickt, ein wachsendes Gefühl der Befremdungempfinden muß; seine Veröffentlichung gleicht dem Wurfin einen Raum, der einer veränderten Physik untersteht.Oswald Spengler führte diese Wirkung auf den Leser zurück;er, dessen so einsamer Tod mich lebhaft ergriff, machte übri-gens auf der vorletzten Seite seiner »Jahre« zu unseremThema eine jener Anmerkungen, wie man sie unter Augurenschätzt.

Was aber den Leser betrifft, so mache ich Ausnahmen,wenngleich ich zugebe, daß ein Echo die Leistung verändert

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und daß gerade sein Beifall Besorgnis erweckt. Es gibt jedochauch vereinzelte Beobachtungen, die diesem Befund wider-sprechen – so entdeckt man in manchen Filmen feine und fastdämonische Züge, und man hat auch den Eindruck, daß sichOrgane entwickeln, die diese Berührungen zu erfassenimstande sind.

Aber auch davon abgesehen, ist es ohne Zweifel ein Zeichender Schwäche, wenn der Geist sich über die wachsende Mono-tonieundUniformierungderAnschauung, die nicht zu leugnenist, beklagt. Wenn wirklich Eigenart vorhanden ist, so ist sie esam wenigsten, die diese Monotonie zu scheuen hat – wie mandenn auch denWuchs und die Umrisse von Bäumen besser aufEbenen als im Dickicht des Waldes erkennt. In der Tat deutensich solche Verhältnisse an; das Versteckspiel wird schwieriger,und man weiß heute über weite Räume hinweg sehr genauübereinander Bescheid. Die Luft wird härter, aber zugleichdurchsichtiger, und damit treten die Maße deutlicher hervor.

Die erste Fassung dieser Spiele zeichnete sich von der vor-liegenden durch eine stärkere Lösung aus, in der der gutePaul Ekkehard mit seiner Bande den Ausschlag gab. Es gibtjedoch Unternehmungen, denen der Mißerfolg das einzigAngemessene ist, wenn man nicht zur immer noch beliebtenromantischen Täuschung seine Zuflucht zu nehmen gedenkt.Dies gilt im besonderen für jedes Bestreben, das sich derKälte der heraufziehenden technischen Ordnungen zu ent-winden gedenkt. Das Feld, auf dem wir uns zu schlagenhaben, ist mit geometrischer Schärfe abgesteckt; es gibt hierkein Ausweichen. Auch der Exotismus gehört zu den romanti-schen Ausflüchten; dies erinnert mich an die Bemerkung vonLeon Bloy über jene Leute, die dem Teufel unter fremdenund absonderlichen Verkleidungen nachspüren und bei die-sem Bestreben den weit stärkeren Satanismus ihres Kolonial-warenhändlers übersehen, der an der nächsten Ecke wohnt.Das Verständnis so vorzüglicher Bemerkungen setzt jedochErfahrung voraus.

Neben der Erinnerung an ganz ähnliche Zustände, derensich wohl jeder mehr oder minder deutlich zu entsinnen ver-

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mag, entnahm ich einige landschaftliche Züge dem Rosen-schen Buch. Unter Umständen könnte auch der Pädagogehier einige Anregungen finden, obwohl zwischen den Auf-gaben des Autors und denen des Pädagogen Unterschiedebestehen. Der Pädagoge hat sich nach den Gesetzen der Er-ziehung zu richten, der Autor dagegen nach denen der Schil-derung, wobei er es dem Leser überlassen darf, welche Lehreer zu ziehen gedenkt. Dieses Verhältnis wird leicht über-sehen; auch tritt es wie alle solche Einteilungen niemals reinan den Tag, denn einmal muß der Lehrer auch in der größerenSchule des Lebens erfahren sein, und andererseits gibt esmoralische Gesetze, von denen der Autor sich nicht entbin-den darf. So würden wir einen Kriminalroman als anstößigempfinden, an dessen Ende statt der Ordnung das Verbrechentriumphiert, obwohl dies im Leben häufig geschieht.

Die Art und Weise, in der sich die jungen Leute ruinieren,ist mannigfaltig genug; sie wiederholt sich in den Stücken desTerenz nicht weniger als in Werthers Leiden oder im spani-schen Schelmenroman. Es scheint fast, als ob im Leben eingewisser Abschnitt unumgänglich sei, in dem man die Verhält-nisse, in die hinein man geboren ist, als abgestanden und ver-staubt empfindet und in denen man in seinen Vätern undErziehern die natürlichen Feinde erblickt. Wir sehen dassowohl bei Robinson wie bei Stendhal, und sowohl bei Kleist,der nach Boulogne, als bei Friedrich dem Großen, der nachLondon zu entweichen gedenkt. Solche Abschnitte scheinenzum Risiko des Lebens zu gehören; sie sind oft geschildert,und ihre Kenntnis ist wichtig genug. In den Köpfen der jun-gen Leute sieht es oft wunderlich aus, und hier Änderung zubewirken, genügt nicht die Belehrung allein. Hierfür gibtauch die Fremdenlegion ihr Beispiel ab, denn trotz allerWarnungen und Schreckensbilder hat es den Franzosen seitSimplizius’ Zeiten nie an Dummen gefehlt, die ihnen ihreStraßen und Grenzplätze ausbauten, und dieses Schauspielist ärgerlich genug. Da also die Vernunft nicht genügt, hierAbhilfe zu schaffen, muß man auf andere Mittel sinnen – unddas einzig wirksame scheint mir darin zu bestehen, daß man

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im eigenen Lande ähnliche Einrichtungen schafft. Freilichsind in dieser Beziehung die imperialen Staaten begünstigter,denn wie erschlossen liegt nicht die Welt für den jungenEngländer da? Hier fließt das besondere Wagnis in das Strom-bett des Staates ein, und die Abenteuer der Churchill undLawrence sind Weltabenteuer im Dienst. Es gibt indessenauch Räume, die sich eben erst erschließen und die sich derkühne Sinn, ohne sich in die Ferne zu verlieren, wohl zuerobern vermag. Zu ihnen zählt das Luftreich, in dem sichder Mensch wie ein Adler bewegt.

Überhaupt mehren sich die Anzeichen, daß der Elementar-geist uns näher rückt. Die Gefahr wird brennender, unddamit vermindert sich notwendig die Schulfuchserei. Wir tre-ten in einen seltsamen Abschnitt ein, in dem man zugleichnatürlicher und künstlicher lebt, auf jeden Fall aber gefähr-licher, und Hoffmanns Visionen gewinnen Realität. Aber nochdringt die Ahnung künftiger Ordnungen verworren in unserDasein ein wie die verwehten Takte einer fernen Musik. Hal-ten wir uns vorläufig an den schönen Spruch von TheophileGautier: »La barbarie nous vaut mieux que la platitude.« Dasist in der Tat eine Alternative, über die sich reden läßt; vorallem, wenn man befürchtet, daß der Mensch sich zu beidemzugleich zu entschließen gedenkt. Dieser Gedanke tauchtjedesmal in mir auf, wenn mich mein Weg an einem unsererneuzeitlichen Denkmäler vorüberführt – ich meine jeneungeheuren Bomben, die man auf Betonsockeln in die öffent-lichen Anlagen stellt.

Diese naiven Sinnbilder, durch die wir die banalen Kunst-werke unserer Väter ersetzen, sind die Symbole eines Zustan-des, in dem wir seit über zwanzig Jahren begriffen sind, undnoch ist kein Ende davon abzusehen. Die Nachwelt tätejedoch unrecht, uns allzusehr zu bedauern, denn auch imFeuer ist Leben, wie das Beispiel des Salamanders beweist.Auch steht es uns frei, uns zuweilen im Vergangenen zu erho-len; ich tat das mit dieser Niederschrift, und es würde michfreuen, wenn sie auch den Leser nicht allzusehr langweilte.

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GELEIT ZU »DER FRIEDE«

Die Schrift »Der Friede« wurde im Winter in ihrenGrundzügen entworfen und lag im Sommer in dieserFassung vor. Inzwischen hat die Lage der Dinge sich geän-dert; nicht aber geändert haben sich die Heilmittel, durch dieallein Europa und darüber hinaus die Welt gesunden kann.

Es ist mir ein Bedürfnis, den Lesern des Manuskriptes fürdie Sorgfalt zu danken, mit der sie das Geheimnis bewahrthaben – so mancher von ihnen trotz aller Schrecken derGefangenschaft. Besonders gedenke ich des Generals Hein-rich von Stülpnagel, des ritterlichen Mannes, unter dessenSchutze die Schrift entstand.

Gewidmet sei die Arbeit meinem lieben Sohn ErnstJünger; auch er hat sie gekannt. Nachdem er sich, fast nochein Knabe, imWiderstande gegen die innere Tyrannis bewährtund auch in ihren Kerkern geschmachtet hatte, fiel er am. November im Marmorgebirge von Carrara mit acht-zehn Jahren für sein Vaterland. So haben sich die Besten derVölker nicht geschont. Ihr Opfer und der Schmerz, den sieuns hinterließen, wird fruchtbar sein.

Kirchhorst bei Hannoverden . April

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WIDMUNG VON »ATLANTISCHE FAHRT «

Den deutschen Kriegsgefangenen in England

Aus meinen Manuskripten wählte ich dieses, weil es Erinne-rungen an Sonne und Raum enthält. Die Erde ist groß. Mögees einladen zu geistiger Begleitung und Wanderschaft. Ichsende es nach drüben mit herzlichem Dank für die Briefe, dieich aus den Lagern erhielt, und mit dem Wunsche, daß rechtbald die Stunde für die Rückkehr in die Heimat schlägt, dieEuch entbehrt.

Kirchhorst, . März

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VORWORT ZU »JAHRE DER OKKUPATION«

Ein Tagebuch hat kein Thema; es hat kaum eine Form. Es willdie erste, flüchtige Berührung mit der Wirklichkeit und ihrenEindruck fassen; darin liegt seine Begrenzung und sein Reiz.

Auch mit »Jahre der Okkupation« ist kein Thema, sondernein Rahmen, ein zeitlicher Abschnitt gemeint. Er gliedert sichden fünf vorangegangenen, während des Zweiten WeltkriegsentstandenenTeilendesTagebuches anund soll sie abschließen.

Die Geschichte der Okkupation wird so bald nicht ge-schrieben werden, schon deshalb, weil der Zustand, hiermehr, dort weniger sichtbar, andauert – nicht nur länger, alsman befürchtet hatte, sondern vielleicht auch länger, als manahnt. Die Besetzung zählt zu den Formen, die den Verlust dernationalen Souveränität ankünden. Wie dieser Verlust selbst,so wird auch sie unmerklich ihren Sinn verändern im Über-gang zu Einheiten, die zugleich stabiler und umfassendersind. Der Schmerz freilich läßt sich nicht abkaufen. Er gehörtzur notwendigen Mitgift, die ein neuer Stand einfordert.

Ein gutes Beispiel der Katastrophe gibt der Katarakt – auchwas ihr Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit betrifft.Das Auge ruht auf einer Wasserfläche, auf der es viele Bootesich frei bewegen sieht. Nur wenige der Insassen spüren denfeinen Sog, der wie der Tastarm eines fernen Ungeheuers umdie Kiele spielt. Allmählich wird die Strömung stärker, unddas Belieben mindert sich. Die Ufer werden steiler, dunkler;die Boote beginnen zu kreiseln und werden in eine Richtunggepreßt; die Fahrt beschleunigt sich. Das Brausen des großenFalles wird hörbar und schwillt an, bis es die Stärke des Don-ners erreicht. Dort droht Vernichtung; ihr Wirbel ist unver-meidlich; man muß ihn bestehen oder untergehen. Die Frei-heit ist geschwunden; der Zwang wird absolut.

Jenseits des Katarakts rücken die Ufer wieder auseinan-der; die Wasser beruhigen sich allmählich, die Freiheit stelltsich auf neuer Ebene und unter neuen Gesetzen wieder her.

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Das ist ein Schauspiel, das sich wiederholt. Einmal auch wirdder Strom ins Meer münden. Dort ist die Freiheit absolut.

Ein solcher Wechsel hat viele Schichten; er wird in vielenKammern sowohl empfunden wie durchdacht. Er hat seineprimitive Seite wie in der Antike: wenn die Männer gefallensind, breitet sich der Schrecken über die Wehrlosen aus.Daran ändert nichts, daß er sich der technischen Mittelbedient, zu denen auch die Propaganda gehört.

Wunderbar ist demgegenüber der geistige Zustrom, der diephysische Not begleitet, als ob Hunger, Schmerz und Gefahrein Innerstes aufschlössen. Das war mir bereits in Frankreichund Rußland aufgefallen, wo ich den Vorgang als Okkupantbetrachtete, und dann in erhöhtem Maße im deutschen Vater-land. Man traf da nicht nur Geister, die Schuldige suchten,sondern auch solche, die sich selbst vor ihr inneres Forumzogen und Ausschau nach unbeschrittenen Wegen hielten,Menschen, deren Optimismus bis auf die Grundfesten, aberauf eine fruchtbare Weise, erschüttert war. Das war sehrschön. Es zeugte von einer Berührung der alten Tiefe; dermaterielle Aufstieg, der ihr folgte, ist nur ein Abglanz davon.

Die Lose, die ausgeworfen wurden, waren ungleich ver-teilt. Was den einen nur streifte, vielleicht im Letzten sogarförderte, vernichtete den anderen. Das deutet auf eineZuordnung von Schuld und Sühne, die sich der menschlichenBerechnung, dem Streben nach irdischer Gerechtigkeit ent-zieht. Was in den Individuen wirkt, ist nicht zu isolieren; siehandeln und leiden für viele andere mit. Dafür gaben dieseJahre eine gute Anschauung.

Ich habe zweimal regelmäßig Tagebuch geführt: während desErsten und Zweiten Weltkriegs und der Jahre, die sie umran-deten. Gern verzichte ich auf eine dritte Anregung. DasSelbstgespräch wurde mit der Festigung der Verhältnisse all-mählich schwächer, ging auf undatierte Einfälle über oderlebte auf Reisen wieder auf. Da es einem Trieb entsprach undihn befriedigte, entschwand es auch bald der Erinnerung.Dazu kommt, daß die Publikation auch immer eine Trennung

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bedeutet, und das vor allem in Zeiten, in denen zwei mäch-tige Leidenschaften, die Furcht und der Haß, vorwiegen. Soließ ich die Blätter lange im Schreibtisch liegen, und zwarunter der Überschrift »Die Hütte im Weinberg«, die ihrerStimmung entspricht.

Wie mögen die Lücken entstanden sein, die mir bei derAbschrift aufgefallen sind? Es ist möglich, daß größere Arbei-ten die Aufzeichnungen unterbrachen, möglich auch, daßTeile verlegt oder verloren gegangen sind. Aber auch sowaren Streichungen angebracht. Sie betrafen vor allem dieAnmerkungen zu einer umfangreichen Lektüre, besondersdort, wo entlegene Gebiete gestreift wurden. Herausgenom-men wurde ferner eine Anzahl in sich abgeschlossenerStücke, die ich unter dem Titel »Sgraffiti« zurücklegte. Siesollen, als dritte Stufe, die beiden Fassungen von »Das Aben-teuerliche Herz« vervollständigen.

»Jahre der Okkupation« bedeuten auch und bedeuten vorallem »Jahre der Beschäftigung«. Beide Bedeutungen durch-dringen und ergänzen sich. Viele werden das aus ihrer Erfah-rung bestätigen. Wenn der äußere Druck wächst und dieschlimmen Botschaften sich häufen, wenn die Wahrnehmungdes Unheils sich in den Nächten zum Albdruck verstärkt,sucht und findet der Geist seine Zuflucht nicht nur im Ver-gangenen, in dem, was die Väter an Gedachtem und Geform-tem hinterließen, sondern auch in der Einsamkeit der Wälder,in den Frucht- und Blumengärten, den Bibliotheken, denTraumwelten. Er prüft die Bahnen, die sich in der Kata-strophe schneiden, indem sie konzentrisch in sie hinein-, und,sich zu neuen Möglichkeiten, neuen Hoffnungen weitend, ausihr hinausführen. Ungeahnte Hilfe wird ihm zuteil.

Jahre der Okkupation sind in diesem Sinne auch Jahre derFruchtbarkeit.

Basel, . August

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ÜBER DIE AUSGABE DER »WERKE«

In der Form, in welcher meine Schriften nach dem Vergleichder Handschriften mit allen Ausgaben und Fassungen in dieGesamtausgabe übergehen, sind sie endgültig fixiert. DieBücher sind nicht mit einem Mal entstanden, sondern habensich im Laufe der Jahre ausgebaut wie Wein, der im Kellernoch Sorge erfährt.

Die Aufnahme einer Einzelschrift in ein Gesamtwerk hatetwas Abschließendes; die Absicht des Autors wird sichtbarim Rahmen seiner Zeit und seiner Existenz.

Der Autor arbeitet nicht für die Wissenschaft, sondern ergibt ihr den Stoff. Das gilt auch dort, wo er irrt, gilt für dieFassungen.

In welchem Umfange stehen dem Autor denn überhauptVeränderungen an seinem Werke zu? Das ist eine umstritteneFrage, doch kann an der Berechtigung, sein geistiges Eigen-tum zu verwalten, kein Zweifel sein. Diese Verwaltung be-schränkt sich auch nicht auf das Museale, Archivarische oderKommentatorische. In diesem Falle würde sich die Aufgabedes Autors bedeutend vereinfachen, ja er würde sie vielleichtbesser Hilfskräften anvertrauen. Es ist hier aber ein grund-sätzlicher Unterschied zwischen einer vom Autor persönlichund einer nach seinem Tode besorgten Ausgabe. Selbst imzweiten Falle werden Angleichungen an die gültigen Regelnfür statthaft gehalten, wie wir es bei den Klassikerausgabensehen. Ein solches Durchgehen der Texte fördert nicht nur dieEinheitlichkeit und Lesbarkeit, sondern überhaupt das Ge-fühl, daß eine Regel besteht und geachtet wird. Wenn darüberhinaus veraltete Wendungen, flüchtige Moden und Manie-riertheiten ausgemerzt oder wenigstens beschnitten werden,so ist das auch ein Gewinn. In allen Lebensaltern tretengewisse stilistische Vorlieben auf, die sich bald wieder verlie-ren. Wenn man solche Passagen nach Jahren wieder liest,empfindet man die Manier mit Recht als störend; mit ihrerErhaltung ist weder dem Autor noch dem Leser gedient. Hier-in liegt einer der Vorteile einer vom Autor besorgten Ausgabe;

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ein Bearbeiter könnte solche Änderungen nicht verantwor-ten. Eine andere Frage ist die der Auswahl. Mit der Aufnahmevon Gelegenheitsarbeiten wie Geburtstagswünschen, Einlei-tungen und Beiträgen zu Sammelwerken, Zeitungs- und Zeit-schriftenaufsätzen ist Vorsicht geboten; sie vermehren denUmfang auf Kosten der Qualität. Aber auch hier gibt es Aus-nahmen.

Die Streichung ist meist eine Verbesserung. In der Jugendneigt der Mensch zu Überheblichkeiten, in der Mitte desLebens zu Banalitäten, im Alter zu Wiederholungen. Es istgut, wenn er diese Mängel beim Blick auf das Ganze seinesWerkes bemerkt. Wenn er einer Ungerechtigkeit, einer Platt-heit, einem offensichtlichen Irrtum sein Placet versagt, wirddas seiner geistigen Physiognomie zugute kommen, trotzaller Anmerkungen törichter Freunde und gehässiger Gegner,die ihm gewiß nicht erspart bleiben.

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AUF EIGENEN SPUREN

ANLÄSSLICH DER ERSTEN GESAMTAUSGABE

Oft habe ich mich gefragt, was die Unzufriedenheit mit deneigenen Texten bedeuten mag und mit ihr der ameisenhafteTrieb, am beschriebenen und bedruckten Papier herumzumi-nieren, sobald es mir wieder vor Augen kommt: das Gefühl,daß die Deckung der Aussage mit dem Gemeinten nicht ge-nügt und daß der Satz besser, schlichter und treffender for-muliert werden kann. Der Aufwand an Zeit, wahrscheinlichsogar an verlorener Zeit, ist zum mindesten wert, daß mansich Gedanken darüber macht.

Gewiß ist da einmal das Bedürfnis nach handwerklicherSorgfalt und Sauberkeit. Wenn in die Werkstatt des Schrei-ners ein Schrank, eine Truhe zurückkehren, die er in seinerJugend baute, so wird er außer den Spuren, die Zeit und Nut-zung hinterließen, auch Mängel finden, die auf Maß und An-lage beruhen.

Die Sprache ist wie das Holz ein Stoff, an dem die Arbeitlohnt; sie wird zum Spiel an ihm. Das Auge, das dem Textfolgt, gleicht der Hand, die über eine gefügte Fläche gleitet:hier hemmt ein Sprung und dort ein kleiner Widerstand.Doch zeugt bereits die Wahrnehmung für einst geglückteMühe; der Splitter stört nur am gehobelten Brett.

Das Wort muß treffen wie eine Klinge, die gut geschliffenist. Wenn wir nach Jahren die Schneide prüfen, indem wir siebei geschlossenen Augen mit dem Finger streifen, bezeugtdie Schärfe ihre Güte – nicht sie gefährdet, wohl aber dieScharte: hier versagte der Stahl am Stoff, den er durch-schnitt.

Eine solche Arbeit, bei der die Zeit im Fluge verstreicht,setzt ein Mehr voraus, einen der großen organischen Bestän-de, die, wie die alten Wälder, immer seltener werden und zudenen die Sprache gehört. Sie ist ererbter Reichtum, ist einPalast, den zu durchwandern ein Leben nicht genügt. In ihmzu dienen: das zählt zu den Mühen, die nicht ermüden, zu denDingen, die man noch ernst nehmen kann.

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Den bildenden Künstler pflegen Skrupel, ob der Wurf ge-glückt sei, lebhafter zu beunruhigen. Das beruht darauf, daßer stärker im Raum als in der Zeit schafft; er komponiert imNebeneinander, während der Vortrag im Nacheinander ge-schieht: ein Wort folgt dem anderen.

Das Bild steht seiner Natur nach im Licht und ist primavista zu beurteilen. In der Geschichte, dem Roman, dem phi-losophischen System, in jeder Darstellung, der die Spracheals tragendes Mittel dient, kann es gelungene Stellen geben,Oasen, die für den Anmarsch durch trockene Passagen reich-lich entschädigen.

Raphael Mengs, ein strenger Arbeiter, der sich, wie vielegute Maler, auch mit der Theorie seiner Kunst beschäftigte,hat offenbar darüber nachgedacht. In seiner Charakteristikdieses Meisters erwähnt Casanova ein Gespräch, das er mitihm im Jahre zu Madrid führte, und zwar über eineMagdalena, an der die Arbeit kein Ende nahm. Mengs sagtdarin unter anderem:

»Neunundneunzig von hundert Kennern könnten das Bildfür vollendet halten; mir aber liegt am Urteil des hundert-sten, und mit seinen Augen betrachte ich das Bild. Sie müs-sen wissen, es gibt auf der Welt überhaupt nur relativ fertigeBilder, und auch diese Magdalena wird erst fertig sein, wennich aufhöre, an ihr zu arbeiten, und auch dann nur relativvollendet, denn sicherlich würde sie noch vollendeter sein,wenn ich einen Tag länger daran arbeitete. Wissen Sie, daßin Ihrem ganzen Petrarca nicht ein einziges Sonett wirklichvollendet ist? Nichts auf dieser Welt ist vollkommen, es seidenn eine mathematische Konstruktion.«

Vorzüglich, bis auf die Verschmelzung von Vollkommenheitund Perfektion im letzten Satz, in dem sich der Übergangvom barocken zum klassizistischen Geist ankündigt und mitihm das Vordringen berechenbarer, erlernbarer Elemente indie Poesie und die bildende Kunst.

Erst aus dieser Verwechslung erklärt sich die wachsendeFron, die das mathematische Denken dem Leben aufzwingt

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und in dem nicht nur die Formel das Wort ersetzt, sondernauch das Wort selbst zur Formel zu werden droht. Hier al-lerdings kann, zwar nicht Vollkommenheit, doch Perfektionerreicht werden. Daher geht es in der berechenbaren Weltebenso offensichtlich voran wie in der musischen zurück.Das läßt, ohne daß damit ein Werturteil gefällt werden soll,eine Anzehrung des Humanen an der Wurzel vermuten, dazum Menschen die Unvollkommenheit gehört. Sie begrenztihn als eng mit seiner Freiheit und seinem Versagen ver-knüpftes Kennzeichen. Das gilt auch für die Kunst, das ei-gentliche Zeugnis seiner Art. Gebiete, auf denen Berechen-bares vorwiegt, wie die Architektur, verweist man daher mitRecht an die Ränder der musischen Welt.

Persönliches Temperament wird mitspielen. Der alte Leau-taud, der es mit seiner Autorschaft so ernst nahm, daß er ingrünster Jugend, um eine Notiz zu sichern, sogar die Schäfer-stunde zu unterbrechen pflegte, vertrat die Ansicht, daß dererste Wurf unwiederholbar sei und daher mit seinen Schwä-chen besser als jeder revidierte Text. Sein großer MeisterStendhal hätte ihm darin kaum zugestimmt, wie man aus denManuskripten schließen darf.

Hier, wie so oft im Leben, gilt alles und auch das Gegen-teil. Der Stil eines Menschen, sein behaviour bis zu den klei-nen alltäglichen Gewohnheiten, ja gerade dort, etwa die Art,in der er Brot schneidet oder die Treppe hinaufsteigt – dasreicht tief in die Gründe, ist Ausdruck des ihm verliehenenCharakters und seiner Prägung, mag man es als Erbe auf-fassen oder als horoskopischen Zug, als das »Gesetz, nachdem er angetreten« ist.

Die astrologischen Definitionen sind schärfer als die psycho-logischen. Die Sterne bieten einen festeren Rahmen; sie grei-fen tiefer ein.

Wie aber soll ich die typischen Züge des Widders, der zuden Feuerzeichen zählt, in Einklang bringen mit dem Bienen-fleiß an abgelegten und halbvergessenen Texten, mit der

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Vorliebe für verstaubte Böden, dem Wiedergang auf altenWechseln überhaupt? Der Widder neigt zur Überschreitunggesetzter Grenzen, zu Fahrten und Zügen in fremde Reiche,läßt Bahnen von Rauch und Feuer hinter sich. Nautisch ge-sprochen, bestätigen Minen seine Route, wenn er längst inanderen Gewässern, Meerengen und Archipelen sich be-wegt. Sein Wesen bedarf der Widerstände, die ihn aufhalten.Das gilt physisch wie metaphysisch; sein Äon hat Tiefe undSpannweite. Moses und Alexander tragen sein Zeichen; eineDoppelreihe ruhender Widder führt auf das hunderttorigeTheben zu.

Die Sonne im Zenit ist dem nicht ungünstig. Mediterrane,ägyptische, nubische Sonne wirft ein steiles Licht auf die be-wegten Bilder, oft unbarmherzig, aber zwingend, wo Köpfeauf dem Spiel stehen: der des Pompejus in aussichtsloserVerhandlung vor dem Delta oder der des Crassus im meso-potamischen Sand. Die Kreise der Parther werden enger; dieBahn der Pfeile verschwimmt im Staub, den die Hufe aufwir-beln. Der Triumvir hat bereits das aufgespießte Haupt desSohnes geschaut. Der Herr über Syrien und den Tempel-schatz von Zion streckt vergeblich die Hand nach Wasseraus. Am Ringe blitzt der Karneol, in den der behelmte Kopfder Roma eingegraben ist. Noch trügen schattige Bilder aufdem roten Vorhang; es ist sehr heiß, doch noch nicht heißgenug. Bald wird sich ein Geheimnis offenbaren, das jedenFrühling übertrifft.

Wie aber ist es mit den Rückzügen? Besonders mit den ge-glückten Rückzügen? Hier müssen andere Zeichen mitspre-chen, vielleicht der Krebs in guter Position. Der geglückteRückzug erhebt und wandelt die äußersten Punkte, die er-reicht wurden, zu Wendemarken der Lebensbahn. Das be-ruht unter anderem darauf, daß er einen tieferen Wert derräumlichen Bewegung, nämlich den dichterischen, enthüllt.Der Zug Alexanders nach Indien, der Napoleons nachÄgypten würden sich anders darstellen, wenn sie zum Un-

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tergang geführt hätten. »Ich liebte ihn, weil er Gefahr be-stand.«

Hier streifen wir das Gebiet der maladie de relais – dasheißt: jener Art von Krankheit, die neuen Vorspann gibt,stärkere Vitalität einbringt. Mit dem Vorstoß ins Unwegsa-me bis hart an die Nähe des Todes wird neuer Einstand ge-zahlt. Das gleicht den Knoten im Bambusrohr. Sie stärkenden Halt, doch mit ihm die Biegsamkeit. Theologisch gehörthierher, was in Halle die »heilsame Verzweiflung« genanntwurde.

Der Einwand liegt nahe und ist auch oft gemacht worden:daß mit dem geglückten Rückzug auf die Dauer wenig ge-wonnen sei. Die maladie de relais bedeutet Umstieg auf einergroßen und im ganzen unangenehmen Fahrt. Die Erde liebtden Sohn, der frühe heimgeht; die Götter lieben den, der frü-he fällt. Er fand die gute Pforte, wählte das große Schiff. Dagibt es, selbst an der indischen Grenze, kein Umsteigenmehr. Nicht umsonst treten die Söhne kaum in die Träumeein, zu denen die Ahnen andrängen.

Was bedeutet der Aufschub, der mühsame Zins an dieZeit? Gewonnene Zeit ist auch verlorene Zeit; das erweistsich, wenn der Schlußstrich gezogen wird. Wer Zeit hat, wirdder Zeit nicht nachlaufen. Wer Zeit hat, wird auch etwasmehr als Zeit haben: Zeit gewährende, Zeit löschendeMacht. Das ist der eigentliche Reichtum, an dem man denHerrn erkennt – vor allem dort, wo die Zeit knapp zu wer-den beginnt.

Immerhin bleibt der Augenblick des Glückes, die großeWandlung, die Errettung im Zeitlichen wunderbar. Sie kannim Mythos, in der Geschichte ein Trauma bleiben, das durchJahrtausende Hoffnung und Zuversicht gibt. Wasser des Le-bens sprang aus dem Felsen in der Wüste; die Woge des Ro-ten oder der Götterwind des Gelben Meeres verschlangendie feindlichen Heerscharen.

War daran die gewonnene Zeit der Gewinn? Wohl kaum,

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denn solche Schicksalswenden leuchten über Untergang undTod, auch den von Völkern, hinweg. Sie werden exempla-risch für den Lebensweg als solchen, indem Zeitloses sichtbarwird. Das begründet den Wert der Bibel als des Buchs derBücher und, nota bene, jedes Buches, das diesen Namen ver-dient.

Der Tod behält das letzte Wort. Damit bestimmt sich auchdas Provisorische der geglückten Rückzüge, Schicksalswen-den, Rettungen und Heilungen, der vordergründigen Sorgenüberhaupt.

Alles ändert sich freilich, wenn wir es nicht nur im Vorder-grunde, sondern auch als Vordergrund sehen: den Glücksfallals Lichtstrahl großer Sonnen, der durch die Fenster unseresHauses fällt. Was flüchtig wärmt, ist Abglanz des großenFeuers; die Werte sind Abglanz absoluter Macht. In Staaten,Reichen und Kulturen Häuser aufzurichten, zu derenSchmückung Wissen und Künste wetteifern: das ist mensch-licher Dienst. Ein solches Haus ist Gleichnis und kann dahernicht währen; es hat seine Zeit und verweht wie ein Rauch-opfer. Das Vergebliche gehört zum Ruhm und zur Größe desOpferdienstes, wie zur Kunst und zum Kultus das Wissen,daß das Ziel nicht erreicht werden kann.

Zeitliche Dauer ist insofern von Bedeutung, als sich einanderes in ihr verrät, wie in Roma aeterna die Ewige Stadt.Das Unzulängliche konvergiert zum Unzugänglichen.

Daß sich im Augenblick des Glückes mehr verbirgt als dieLösung eines durch die Zeit geschürzten Knotens oder dieÜberwindung einer Stromschnelle, das wird vom Glückli-chen leicht übersehen. Doch wurde ihm im flüchtigen Blickdie Quelle des Lichtes offenbar. Dort ruht mehr als seinindividuelles Glück. Er nahm die Gabe als neue Wegzehrungan. Wenn er die Münze ein wenig schärfer ins Auge faßte, sowürde er in ihr den Obolos erkennen, der ihm dereinst alsFährgeld dienen wird.

Das Beste zu vergessen, sich selbst zu billig zu nehmen, ist

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des bildlosen Menschen Gefahr. Wären die Träume nicht, sowürde er sich spurlos amortisieren; so aber bringt die Nachtihm die großen Figuren zurück. Da regt sich der Urstrom un-ter dem Alltagshäutchen; aus der Hülle des Bettlers tritt derKönig hervor.

Zu billig ist auch, was der Mensch vom Seher und seinerDeutung verlangt. Glücksstunden, Warnung vor den Iden,Termine für Beginnen und Unterlassen: das bleiben Dateninnerhalb der Fahrzeit, Ortungen vorm Katarakt.

Die echte Deutung vermag mehr. Sie achtet nicht auf dieKnoten am Faden, den die Parzen spinnen; sie sieht das Mu-ster, das aus ihm gewoben wird. Nun erst wird sichtbar, daßNotwendiges sich hinter dem Chronologischen verbirgt. DieWahrheit wird zwingend, und oft zu stark für den Betroffe-nen.

Daß der Mensch seine Aufgabe nicht löst, daran ändern alleschönen Nachrufe nichts, weder die des Pfarrers am Grabenoch die des Historikers. Andererseits stirbt keiner vor derErfüllung seiner Aufgabe. Der Widerspruch löst sich da-durch, daß Teile des Lebens sich im Unberechenbaren ab-spielen. Von dort aus wird die Waage ins Gleichgewicht ge-bracht. Ein winziger Anstoß genügt. Das gilt für die Kindheit,die Träume und auch für das Sterben, bei dem eine unendlichkurze Spanne ein Leben aufwiegen kann. Es erinnert an dieendlosen Brüche – etwas ganz anderes müßte die Zahl er-gänzen, damit sie sich abrundet. So wird die Hast durch Ru-he, das Handeln durch Nichthandeln gekrönt.

Daß er die Aufgabe nicht erfüllt, weiß jeder; und bessernoch als am Tage weiß er es zur Nacht. Daher die Qual derPrüfungsträume; sie betreffen die irdische Leistung und dasGericht. Ein heiteres Erwachen folgt.

Auf der anderen Seite hält die Welt nicht, was sie demMenschen verspricht. Das ist eines der tragischen Themen,variierend vom Scheitern des Großen Einzelnen in seinemWillen oder seiner Güte bis zur Enttäuschung jeder neuenGeneration. Immer wieder sieht man sie kommen, Großes

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glaubend und wollend, und dann in Geschäften und widrigenHändeln verbraucht. Sie leiden stärker, wenn sie glaubten,was in den Büchern steht. Trotz allem lebt die Welt von dem,was sie mitbringen. Sie lebt vom Gedicht.

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