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ANDREA VANONI | Seelenruhig

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Andrea Vanoni im Gespräch

In Ihrem neuen Thriller muss Paula Zeisberg, die Leiterin der neun-ten Mordkommision in Berlin, Mordfälle an jungen Frauen aufklä-ren, die post mortem misshandelt wurden. Wie sind Sie beim Schrei-ben vorgegangen? Obwohl es bei diesem Fall um Abgründe menschlicher Gewalt geht,war es mir wichtig, dem Leser immer wieder Ruhepausen zu gönnen.So wird die Perspektive des Täters hier nicht erzählt, sondern manerfährt nur durch Paulas Ermittlungen, was den Opfern widerfahrenist. Dass Paula selbst in höchste Gefahr gerät, kann ich dem Leser allerdings nicht ersparen.

Paula arbeitet sehr eng mit der neuen Rechtsmedizinerin Mar-tina Weber zusammen, einer Expertin auf ihrem Gebiet, die die Toten mit Ehrfurcht und großem Respekt untersucht.Ich wollte mit Dr. Martina Weber eine Figur schaffen, die sowohl rational und schnell handelt als auch gleichzeitig verletzlich undunsicher sein kann. Nur wenige wissen, was in der Rechtsmedizine-rin vorgeht, auch Paula nicht, aber die beiden Frauen beobachtensich und halten viel voneinander.

Sie lassen Ihrer Heldin nicht viel Zeit für ein Privatleben – gibt estrotzdem Hoffnung für Paula und Jonas? Wenn ich einen Liebesroman schreiben würde, dann auf jeden Fall.In diesem Krimi ist Paula allerdings sehr auf sich allein gestellt. AberJonas ist bei ihr, zumindest in Gedanken …

Die AutorinAndrea Vanoni, geboren 1963, war nach ihrem Studium als Assis-tentin am Wiener Burgtheater und als Dramaturgin am KielerOpernhaus tätig. Heute arbeitet sie als selbstständige Agentin fürDrehbuchautoren, Regisseure und Kameraleute und pendelt zwi-schen Maastricht und Berlin-Wilmersdorf hin und her. Nach »Totensonntage« und »Im Herzen rein« ist »Seelenruhig« ihr dritterRoman.

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ANDREA VANONI

Seelenruhig

Thriller

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Verlagsgruppe Random House FSC-DEUDas für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier Holmen Book Creamliefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden.

Originalausgabe 02/2009Copyright © 2009 by Diana Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHRedaktion | Angelika LiekeHerstellung | Helga SchörnigUmschlagmotiv | Mauritius Images/BotanicaUmschlaggestaltung | Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, München–Zürich, Teresa MutzenbachSatz | Leingärtner, NabburgDruck und Bindung | GGP Media, PößneckPrinted in Germany 2009978-3-453-35220-9

www.diana-verlag.de

SGS-COC-1940

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Prolog

Stolz aufgerichtet, mit flatterndem Haar und im wei-ßen langen Hemd steht sie auf dem Schinderkarren. Hochzu Ross reitet ein Büttel mit blankem Schwert voraus. Rau-nend steckt das Publikum die Köpfe zusammen, gierig undatemlos gespannt, wie sich der Engel der Schmerzen ver-halten wird.« Er wird mit seinen zwölf Jahren fast zum Poe-ten, wie er so vor sich hin wispert.

Es ist nicht die erste Hinrichtung, bei der er zuschaut,doch wieder spürt er Wildheit und Ehrfurcht zugleich. Ihrezarten Handgelenke stecken in Eisenfesseln, die mit Kettenan dem Karren befestigt sind. Ihre leuchtend blauen Augensind zum Himmel gerichtet. Ob sie wohl Gott anruft?

Er imitiert eine aufgeregte Frauenstimme und presst her-vor: »Zündet sie an!« Dabei bewegt er eine der Mädchen-figuren, die in vorderster Reihe stehen und dem Wagen aus-weichen müssen.

»Nur Geduld, der Henker wird ihr mit seiner Fackel schondie Füße kitzeln!«, ruft er mit geröteten Wangen. Für einenkurzen Moment hält er die Hexe in die Flamme seines Feuerzeugs.

Dann schnappt er sich das Fischweib, das einen Korb un-ter dem Arm trägt, und raunzt: »Sie wird ins Feuer pieseln!«Er imitiert ein höhnisches Gelächter, eher ein Quaken. »Bei

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dem Fuder Holz ist ihr Angstwasser nur ein Tropfen in dieheiße Hölle!«

Während er den Wagen weiter zum Hinrichtungsplatzschiebt, mit einem Bleistift vorsichtig die mittelalterlicheMenge zurückdrängt und Pfaff und Henker in Positionbringt, flüstert er erregt: »Mitleid? Nein! Eine Kirmes – dabraucht man eine Hinrichtung.« Eine Trompete – tätätätät.Alle sehen zum Rathaus. Die feinen Herren auf dem Rund-balkon nicken träge dem Volke zu, dem sie heute eine Freu-de bereiten.

Aber den Gedanken hat er sofort wieder vergessen. Erspringt im Geiste unter die mittelalterlichen Zuschauer ganzvorne in die erste Reihe. Ihm glüht das Gesicht, denn di-rekt vor ihm hält der Karren. Die Henkersknechte springenherbei und lösen die eisernen Fesseln der Jungfrau. Als ihrweißes Kleid verrutscht, kann er die Spuren der erlittenenMarter sehen – klaffende Wunden an den Beinen, braune,violette und rote Hautpartien. Das zerquetschte Gewebe unddie geplatzten Adern zeugen von der Erbarmungslosigkeit derInquisitoren. Doch auf ihren Lippen, die rot und geschwol-len sind, liegt ein Lächeln. »Das Lächeln des Teufels«, mur-melt er wie im Fieber. Er weiß, dass der Teufel die Tränenaustrocknet, denn sie würden Gott erbarmen, und er würdeder Qual ein Ende setzen. Daher befeuchten manche Hexenihre Wangen mit Speichel, um ein Weinen vorzutäuschen.

Während er alles noch einmal in Ruhe betrachtet, greiftseine Hand nach dem Wurstbrötchen auf dem Teller nebensich. Er beginnt langsam zu kauen und stellt ein paar Fi-guren vor den Scheiterhaufen – den Richter mit den Schöf-fen –, würdig und streng. In gebührender Distanz zu ihnenschiebt er die Figur des Scharfrichters vor die Leiter, über

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die die Verurteilte hinaufsteigen wird. Breitbeinig steht erda, mit verschränkten Armen, nackt und muskulös. »Die rote Kapuze und die blutbefleckte Lederschürze sind die Insignien aller Höllenschmerzen, die auf den weißen Men-schenleib warten«, liest er sich laut aus der Beschreibungfür die Figuren vor.

Ein Stück Wurst ist auf die Tischplatte gefallen. Er beugtsich herab und packt es wie ein Hund mit den Zähnen. Erschluckt und brüllt: »Hure! Metze! Du höllische Dirne! Teu-felsbraten und Kinderverderberin!« Bei jedem Ausdruckwechselt er die Stimme, um die hasserfüllten Flüche einesaufgebrachten Volkes zu imitieren.

»Aber sie nimmt es kaum noch wahr. Am ganzen Leibzitternd, hängt sie mit gesenktem Haupt in den Armen ihrer Peiniger.« Er stellt die zum Tode Verurteilte auf denScheiterhaufen und platziert einige Henkersknechte um sieherum. »Demut hat sich in ihr ausgebreitet. Aber jetzt hebtsie doch wieder ihr schönes Gesicht, das wie durch einWunder fast gänzlich unversehrt geblieben ist. Ihre Augenleuchten, und ein Lächeln voller Verachtung trifft die Um-stehenden. Und dann geschieht es.« Er knipst ein paarmaldie Stehlampe neben sich an und aus. »Ein Blitz zuckt he-rab vom Himmel, der Pöbel schreit auf, und in dem grellflammenden Licht sehe ich ihren Blick auf mich gerichtet.Heiß durchfährt es mich. Ich frage mich, ob der Blitz wirk-lich vom Himmel kommt oder ihren Augen entwichen ist,um mich zu bannen oder vielleicht sogar zu vernichten. DerKrüppel vor mir beginnt hysterisch zu zucken.« Mit zweiFingern nimmt er die Figur eines Bettlers ohne Beine undschüttelt sie. Er packt auch noch andere und stößt kleineSchreie aus, die das Verbrennen der Hexe fordern.

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Plötzlich springt er auf, rennt in die Küche und holtsich einen Schokokuss, den er gierig verschlingt. Er lecktseine Finger ab, reibt sie an einem Taschentuch sauber undpackt das Mädchen im weißen Hemd, um sie zu quetschen,als käme sein Schluchzen aus ihrer Brust. Er beugt sichüber die Szene und führt mit roten Ohren alles leise undangespannt zu Ende. Der Henker steigt die Leiter hinauf,nimmt einen Strick, den der Junge in einem kleinen Was-sereimer mit echtem Wasser tränkt, und fesselt ihre Hand-gelenke. Er zieht fest zu und imitiert ihr schmerzvollesAufstöhnen. Er reißt sie hoch und stellt sie mit dem Rü-cken an den Pfahl. Mit sicheren Griffen schlingt er denStrick um sie und zurrt ihn so fest es geht. Als der Henkervom Scheiterhaufen wieder herabgestiegen ist, nimmt ervon einem seiner Knechte die Fackel. Er streckt sie sie-gessicher in den Himmel wie ein Feldherr vor der Schlachtsein Schwert.

Der Pöbel schreit auf, Rufe der schmutzigsten Art er-tönen.

Ungerührt hält der Henker die Fackel an das Reisig. DasFeuer springt schnell auf die untere Lage Knüppelholz über.Gierig fressen sich die Flammen in das Innere des Haufens.Am Anfang sieht es aus, als ob sich das Feuer versteckt.Nur die schimmernde Glut und ein Flimmern in der Luftverraten es. Dennoch geben die winzigen, aus Birkenholzbestehenden Knüppel das Feuer an die Buchenscheite wei-ter. Er drückt auf die Stopptaste seines Rekorders, der vor-fabrizierte Sound einer johlenden Menschenmenge ver-stummt. Es ist so still, dass er das Knistern des Feuers hörenkann.

»Das Mädchen sieht mit dem Ausdruck eines zu Tode ge-

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hetzten Tieres auf die emporkletternden Flammen. VollerEntsetzen windet es seinen geschundenen Leib und wirftden Kopf von der einen zur anderen Seite. Die Haare schla-gen über das Gesicht. Die aufsteigende Hitze bläst ihr un-ter das Hemd. Flatternd weht der bereits brennende Saumüber ihre Schenkel. Sie trägt nichts weiter am Leibe, und dieFlammen beleuchten ihren schönen schlanken Körper. Ers-te Flämmchen lecken an ihren Füßen. Sie verkrampft sich.Die Flammen steigen unaufhörlich, und schon steht sie biszu den Knien im Feuer.« Er kann den Text auswendig, wenner ihn auch jedes Mal ein wenig variiert.

Wegen der Hitze wirft die Farbe der Figur Blasen undbeginnt abzublättern. Ihre bleiernen Unterschenkel schmel-zen, und sie sackt zusammen.

Fasziniert betrachtet er das Herabtropfen des Bleis. »VorSchmerzen hat sie ihre Zunge zerbissen und spuckt das Blutaus. Angeekelt kreischt die umstehende Menge auf undweicht zurück. Ich nicht, ich bleibe stehen.« Er taucht eineFingerspitze in das flüssige Blei und schmiert es sich ins Ge-sicht. »Ich mache mir nicht einmal die Mühe, mir das Blutaus dem Gesicht zu wischen. Die Qualen der vor mir im Feu-er stehenden Hexe stählen meine Muskeln. Ich spüre meineKraft und heldenhafte Zuversicht. Nichts wird mich je ver-letzen können.« Mit einem Schraubenzieher schiebt er denKopf und die Reste der Figur in das Feuer. »Wird sie nochlange durchhalten? Ihre verzweifelten Schreie überschlagensich und gehen bereits in ein kraftloses Gurgeln über.« Erschreit und gurgelt. »Roter Schaum quillt ihr aus dem Mund.Doch ihr Leben kehrt zurück, und heftig schlägt sie mit demHinterkopf gegen den Pfahl, die gefesselten Hände ringend.Der inzwischen trockene Strick zieht sich fester. Lichterloh

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brennt das Hemd. Der Geruch von versengtem Fleisch steigtmir in die Nase.«

Knisternd bricht der kleine Scheiterhaufen in sich zu-sammen, und der Kopf fällt schmelzend hinein. Eine win-zige Explosion schießt einen Schwall von Funken aus demPfahl, an den sie gefesselt war.

»Ein viehisches Brüllen tönt aus der Flamme. Es ist un-fassbar, denn dort in der Feuersäule steht sie in der Hoch-zeit ihrer Schmerzen. Seht, der Satan holt sie!« Er imitiertden Schrei einer Hysterikerin. »Ja, wirklich, es sieht so aus,als würden sich zwei Gestalten in dem Feuer bewegen!Kämpfen sie? Mir wird unheimlich, obwohl ich mir sage,dass es nur eine Täuschung sein kann. Bewegung kommtunter die Leute, nicht wenige ergreifen die Flucht.« Mit einer schroffen Handbewegung schiebt er die Figuren fort,sodass sie weit über den Teppich purzeln.

Das Feuer auf dem großen Kupfertablett flammt nocheinmal auf und fällt dann in sich zusammen.

»Jubel bricht aus, die Freude ist groß! Gott triumphiert,der Teufel ist vertrieben! Am Pfahl hängt ein verkohlter, zu-sammengekrümmter Leichnam. Der Mund ist wie im Schreierstarrt, die Zähne stehen glänzend hervor, die Augen glei-chen Bratäpfeln.« Er hebt den Kopf und schnuppert. »Un-heilvoll schwebt eine dunkle Wolke über der Stadt. Es istnur eine Frage der Zeit, wann die nächste der fünfunddrei-ßig vom Teufel Besessenen den Holzstoß besteigen muss.Oder denket ihr Magas, dass ihr dem Urteil entrinnen wer-det? – O nein, o nein, das wird euch nicht gelingen … dennAlles ist Eins, und Eins ist Alles.«

Er keucht, der brenzlige Rauch bringt ihn zum Husten,während er Rosenblätter auf die Zerschmolzene streut.

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Plötzlich ertönt die Stimme seiner Mutter, streng undunerbittlich: »Komm her! Aber sofort!«, und auf ist er, renntins Bad, bürstet sich Hände und Nägel, fährt sich mit demnassen Kamm glättend durchs Haar. O Gott, bitte, bitte, tumir nicht weh!

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Er besuchte sie viel zu selten, aber sein Job bei Ärz-te der Welt erlaubte ihm kein normales Privatleben. Es warschon ein Wunder, dass er am Silvestermorgen gekommenwar und sie die Tage seither vollkommen ungestört genie-ßen konnten. Zwar hatte Paula Bereitschaftsdienst, und je-des Klingeln ihres Handys hätte das Ende ihrer Zweisamkeitbedeuten können, aber seit Weihnachten hatte es Gott seiDank keinen Mord mehr gegeben. Jeder Tag, jede Stundewar ein Geschenk. Wenn man einmal vom Regen absah.

»Ich habe schlechtes Wetter mitgebracht«, hatte Jonaslachend gesagt, als sie ihn vom Flughafen abholte.

Und er hatte recht: Mit seiner Landung hatte der Regeneingesetzt und bis zu seiner Abreise nicht mehr aufgehört.Sie wollten eigentlich am Silvesterabend irgendwo schönessen gehen, aber man wäre schon allein von der Haustürbis zum Taxi klatschnass geworden. Jonas schlug vor, zuHause in der Küche zusammen etwas zu improvisieren. DerVorschlag gefiel ihr, denn sie hatte vorher noch eingekauft.Um Mitternacht begrüßten sie das neue Jahr mit Champag-ner im Bett. Es regnete die ganze Nacht hindurch und hör-te auch die nächsten Tage nicht auf. Manchmal standen sieam Fenster und hielten Ausschau, ob es nicht endlich bes-ser werden würde, aber die Wolken türmten sich wie düs-

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tere Kathedralen, und der finstere Himmel schien die Stadtzu erdrücken, die mit flimmernden und flackernden Lich-tern unter ihm lag. Dann sackten die Wolkenberge plötzlichin sich zusammen und schütteten ihre Wassermassen aufDächer und Balkone und in die Straßen.

Paula und Jonas verbrachten die meiste Zeit im Bett. Ein-mal versuchten sie, das Haus zu verlassen, sprangen aberzurück, als die erste Wasserfontäne eines viel zu schnellvorbeifahrenden Autos sie vollspritzte. Durchnässt standensie im Fahrstuhl und küssten sich.

Paulas Wohnung lag nach hinten hinaus, und vor ihrenFenstern im sechsten Stock sah sie die Wipfel der Pappelnund Buchen aus dem Grüngürtel zur Fasanenstraße hin.Manchmal ließ der Regen ein wenig nach, und es wurde bisauf die rauschenden Dachrinnen und gurgelnden Abflüssestill. Es war wie ein Luftholen und eine Hoffnung, er wür-de nun endlich aufhören, aber dann frischte der Wind wie-der auf, bewegte die Zweige der Bäume und kündigte dienächste Öffnung der Schleusen an. Schließlich kamen dieersten Nachrichten von Überschwemmungen am Rhein undan der Elbe.

Jonas war schlimmere Katastrophen gewöhnt und be-stand mit bester Laune darauf, eine Stadtrundfahrt im Taxizu machen. Auf den Straßen waren kaum Passanten zu se-hen. Zwei Männer in Kapuzen tauchten schemenhaft auf,Bierdosen in der Hand, die sie wütend dem Wasser-Taxihinterherwarfen.

»Das wär eine Farbe für dich«, sagte er gut gelaunt unddeutete auf eine Frau im roten Regenmantel, die die Häu-serwände entlanghastete.

»Du meinst, Rot steht mir?«

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»Ja, unbedingt«, sagte er und küsste sie.Der Regen klatschte auf die verdreckten Straßen und die

grauen Häuser. Er fiel auf Parkhäuser und Bürogebäude,auf türkische Kebab-Buden und düstere Eckkneipen undtauchte das Kopfsteinpflaster in der Mommsenstraße inglänzendes Grau. Er fiel auf die neue Wohnanlage am Liet-zensee, deren Fenster noch mit Plastikfolie geschützt waren.Die Fundamente in den tiefen Baugruben standen seit Ta-gen unter Wasser. Er prasselte auf den Engel auf der Sie-gessäule und die geschwungenen Dächer der Philharmonie.Er fiel auf die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße,die nun wie reines Gold glänzte, und auf die über 2700 Ste-len des Holocaust-Denkmals. Es regnete auf die Reichs-tagskuppel und das Rote Rathaus.

»Was ist das da?«, fragte er.»Der Berliner Dom. Die Hauptkirche des norddeutschen

Protestantismus.« Und als die Museumsinsel ins Blickfeldkam, sagte sie: »Und sieh mal dort, die Museumsinsel siehtjetzt tatsächlich wie eine Insel aus.«

»Wäre ein schöner Platz für uns«, sagte er und zog sieenger an sich.

Er wollte auch unbedingt die Weltzeituhr auf dem Ale-xanderplatz sehen und anschließend den Gendarmenmarkt,weil er gelesen hatte, dass das einer der schönsten PlätzeEuropas sei.

Also fuhren sie zunächst über die Straße des 17. Juni bishin zum Brandenburger Tor.

»Das ist die Quadriga«, sagte der Taxifahrer. Unter den Linden vor dem Hotel Adlon ließen sich zwei

junge Männer mit Regenschirmen von einem livriertenBellboy die teuren Lederkoffer aus ihrem schwarzen Mer-

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cedes tragen. In der Ferne erhaschte Paula ein paar Blickeauf die hohen Gebäude des Potsdamer Platzes, das SonyCenter, den gläsernen Bahn-Tower, den Kollhoff-Tower mitdem schnellsten Aufzug Europas. An den Hackeschen Hö-fen zerrte eine alte Frau ihren Dackel bei Rot über die Am-pel in Richtung S-Bahn-Treppen. Sie hatte ihm eine Plas-tiktüte mit Öffnungen für Kopf und Beine über den Körpergezogen.

Als sie an der zehn Meter hohen Uhr ankamen, stiegensie doch nicht aus, denn sie konnten sie auch gut vom Ta-xi aus sehen. Obgleich es sonst ein beliebter Treffpunkt fürdie Berliner war, war kein Mensch dort. Die viele Tonnenschwere Uhr mit ihren vierundzwanzig Zeitzonen, durchdie Jonas so oft um die Erde flog, ließ Paula schmerzlich anseinen Abschied denken. Er war die große Liebe ihrer Kin-dertage gewesen, aber erst im letzten Jahr hatten sie zu-einandergefunden. Bloß eine Affäre, hatte sie anfangs ge-dacht, aber mittlerweile wünschte sie, dass vielleicht mehrdaraus werden könnte. Doch leider erwartete man ihn inwenigen Tagen im Libanon.

Der Taxifahrer deutete auf die Spitze des Fernsehturms,die im Nebel fast verschwunden war. »Eine Million Touris-ten besuchen die Aussichtsetage jedes Jahr«, erklärte er.»Zweihundert Meter hoch. Da kann man bis vierzig Kilo-meter weit gucken.«

»Aber heute sind’s wohl keine hundert Meter«, erwider-te Jonas freundlich.

Paula erinnerte sich an den Besuch ihrer Schwester imletzten Jahr. Sie waren mit dem Aufzug in die Etage überdie Aussichtsplattform gefahren, wo sich das Telecafé be-findet. Während Manuel, Paulas Neffe, Pommes rot-weiß

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verputzte und sie sich von ihrer Schwester den neuestenTratsch von zu Hause berichten ließ, hatte sich das Café ineiner halben Stunde einmal um die eigene Achse gedreht.

Am Gendarmenmarkt stürzte der Regen in rasendemTempo durch die Rinnsteine auf einen Abfluss zu, und im-mer wieder hörte Paula die Sirenen der Unfall- und Polizei-einsatzwagen. Ein Ehepaar – beide trugen grüne Kopfbede-ckungen und die gleichen braunen Regenschirme – standmit langen Gesichtern am geschlossenen Portal des Franzö-sischen Doms. Paula und Jonas bewunderten aus dem Wa-gen heraus die Kuppelbauten der beiden Zwillingskirchen.Im ehemaligen Schauspielhaus gab es am Abend ein Kon-zert mit Beethoven-Sinfonien, aber Paula war froh, dass Jonas die wenige Zeit, die sie zusammen hatten, nur mit ihrverbringen wollte.

Es freute sie, dass ihn diese originelle Sightseeingtouramüsierte. In Tiergarten wurden die vier- und fünfstöckigenHäuserzeilen von Villen und kleinen Parks abgelöst, undein Stück weiter öffneten sich schöne Alleen. Sie fuhrendurch das Botschaftsviertel – vorbei an den RepräsentanzenÖsterreichs, Italiens, Japans, Saudi-Arabiens, Süd-Koreas,den Nordischen Botschaften und Mexikos – und schließ-lich zurück in die Uhlandstraße.

Auch in den Nächten mit Jonas und selbst noch imSchlaf hörte sie den Regen. In ihrem Traum war er ein Vor-hang aus bunten Perlen, die klackernd aneinanderschlugen.Etwas hinter diesem Vorhang winkte sie heran, aber siekonnte nicht erkennen, was es war.

Paula war glücklich. Der einzige Wermutstropfen war,dass sie es nicht geschafft hatte, vor Jonas’ Besuch die Woh-nung noch renovieren zu lassen. Eigentlich hatte sie es

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selbst machen wollen, aber dann reichte einfach nie die Zeitdafür. Und so hatte sie es immer weiter vor sich her ge-schoben, und nichts war passiert. Im Flur und im Bad stan-den zahlreiche Umzugskartons herum, die sie auch nochnicht ausgepackt hatte.

Dann kam der Tag des Abschieds, und das Geräusch desRegens begleitete ihre Traurigkeit. Gegen Abend wurde eskalt, der graue Matsch bildete auf den nassen Straßen eineEisschicht. Im Radio wurden die Autofahrer vor erhöhterUnfallgefahr gewarnt.

Paula hatte keine Lust, nach draußen zu gehen. Sieschmiegte sich an Jonas, als könnte sie damit die Zeit an-halten, doch es blieben ihnen nur noch wenige Minuten.Er hatte ihr angeboten, ein Taxi zum Flughafen nach Schö-nefeld zu nehmen, aber sie schüttelte den Kopf. Sie wolltemit ihm so lange zusammenbleiben, wie es nur ging.

Die Straßen waren zwar glatt, aber es hatte aufgehört zuregnen, und überall waren Streuwagen im Einsatz. Den-noch brauchte sie mit ihrem Wagen über zwei Stunden. Zu-sammen zogen sie seinen Koffer zum Check-in. Sie standeneng umschlungen, bis sein Flug zum letzten Mal aufgeru-fen wurde und sie sich voneinander lösen mussten. Traurigund mit einem Gefühl von Leere ging sie über den Parkplatzzurück zu ihrem Auto. Ein scharfer, eisiger Wind schlug ihrins Gesicht.

Als sie nach Hause kam und die Tür aufschloss, fühlte siesich noch elender. Im Schlafzimmer warf sie sich auf daszerwühlte Bett, und als ihr Jonas’ Duft aus den noch war-men Laken in die Nase stieg, brach sie in Tränen aus.

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Den nächsten Tag verbrachte sie allein. Die meisteZeit saß sie mit angezogenen Beinen auf dem Fensterbrettund schaute in den Innenhof hinaus in den Regen. Sie frös-telte trotz der aufgedrehten Heizkörper. Draußen wurde derHimmel schließlich dunkel, und dann war es auch schonNacht. Müde wurde sie nicht. Sie vermisste Jonas und fühl-te sich unbeschreiblich verlassen.

Es war schon nach elf, als ihr Handy klingelte. Für einenkurzen Augenblick hoffte sie, dass es Jonas war, der zu ihrzurückkommen wollte. Aber als sie die Stimme hörte, wuss-te sie sofort, dass ein Mord geschehen war. Ein Beamter in-formierte sie über einen Leichenfund auf dem Dorotheen-städtischen Friedhof.

»Wer ist von der Staatsanwaltschaft dabei?«, fragte sie.»Staatsanwältin Gregor.«Sie hatte Chris Gregor in der letzten Zeit nicht oft gese-

hen und freute sich jetzt, sie zu treffen. Auch wenn der An-lass weniger erfreulich war.

In den vergangenen Monaten hatte Paula an einemlangweiligen Fall gearbeitet, bei dem der ermittelnde Staats-anwalt Dr. Schmitteneiner war, ein dröger Typ, der seineErfolge seinem Steckenpferd verdankte: der Strafprozess-ordnung. Alle nannten ihn »Schmitt-im-Eimer«, weil das

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eine seiner häufig verwendeten Redewendungen war. »Die-se These ist doch jetzt im Eimer«, pflegte er zu sagen, wenner eine von Paulas Überlegungen verwarf.

Chris! Wir sollten uns wirklich mal wieder einen ge-mütlichen Weiberabend machen, dachte Paula. Wein trin-ken und über die Kollegen lästern. Normalerweise gab eskeine Freundschaften zwischen der Staatsanwaltschaft undder Kripo, aber mit Christiane Gregor war es etwas ande-res. Ihr war sie bei einem der letzten Fälle sehr nahege-kommen.

Während Paula sich anzog und das Nötigste zusam-menpackte, überlegte sie, wo der Friedhof sein könnte. Siekannte den Waldfriedhof in Zehlendorf, den Dahlemer St.-Annen-Friedhof, sie hatte auch schon einmal auf dem Süd-westfriedhof in Stahnsdorf zu tun gehabt, aber da es etwadreihundert Friedhöfe in Berlin gab, war es sicherer, aufder Karte nachzuschauen. Irgendwo in der Nähe vomBahnhof Friedrichstraße musste er sein.

In der Küche hing ein großer Stadtplan an der Wand,daneben lag das Heft mit dem alphabetischen Straßenver-zeichnis. Doch das brauchte sie nicht, sie sah ihre Routeauf einen Blick: durch den Tiergarten, über den Haupt-bahnhof und dann die Invalidenstraße entlang. Sie wollteschon losgehen, sah aber im letzten Moment, dass es nocheinen zweiten Dorotheenstädtischen Friedhof gab. Das hat-te ihr der Idiot vom Lagedienst nicht gesagt. Während sienoch eine Pudelmütze in die Tasche stopfte, drückte sie Ma-rius’ Nummer.

»Paula?«»Hallo, Marius. Welcher ist es denn nun? Chausseestra-

ße oder Liesenstraße?«

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»Chausseestraße.«»Wie lange brauchst du noch?«»Bin gleich da.«Sie rannte die Treppe hinunter und ärgerte sich, dass sie

ihren schönen Parkplatz aufgeben musste.

Ein neues Tief brachte wieder wärmere Luft und Regen mit.Um den Hauptbahnhof war gestreut worden, und es knirsch-te unter den Reifen, aber schon in der Invalidenstraße wardurch die langen grauen Regennadeln, die auf den Asphaltniederprasselten, alles weggespült worden. Aus dem Schiff-fahrtskanal stieg eine Dunstglocke aus kondensierter Feuch-tigkeit auf und legte sich über die Straße.

Auf Höhe der Chausseestraße 126 standen drei Streifen-wagen quer auf dem Bürgersteig, und als sie vorsichtigbremsend näher kam, winkte sie einer der Polizisten mitder Kelle an den Rand. Sie nannte ihren Namen.

»Die Einfahrt zum Friedhof ist dort, Frau Hauptkommis-sarin«, sagte er und deutete auf ein Tor.

»Ist schon alles abgesperrt?«»Sicher.«Im Schritttempo fuhr sie durch das große Tor. Links be-

grenzten eine hohe Kalksteinmauer und rechts die Hofwän-de der Nachbargebäude den Friedhof. Vor ihr schwenkte jemand in der Dunkelheit eine Lampe durch den Regen. Siefuhr langsam weiter gegen das Wasser an, das ihr auf demleicht ansteigenden Kiesweg entgegenkam. Kurz vor einemDenkmal stoppte sie.

Wer auch immer mit der Lampe gewunken hatte, warwieder verschwunden. Sie stieg aus und ärgerte sich, dasses niemanden gab, der ihr sagen konnte, wohin sie sich

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wenden sollte. Es war völlig dunkel, selbst in den Gebäu-den um den Friedhof herum brannten keine Lichter.

Sie holte die Stablampe aus dem Wagen und den nochverpackten Schutzanzug, zog ihre Kapuze tief ins Gesichtund richtete den Lichtstrahl auf die Umgebung. An derrechten Seite der Zufahrt sah sie einen grob verputzten Baumit Satteldach, der wohl die Friedhofskapelle war. ZweiSäulen flankierten den Eingang, zu dem ein paar Stufen hi-naufführten. Rechts daneben war ein weiteres Häuschen.Es schien unter dem Efeu ziemlich verwittert. Vielleichtwohnte da der Friedhofsverwalter. Sie ging ein paar Schrit-te darauf zu. Noch weiter rechts war eine hässliche weißeEisentür mit einem Münzeinwurf und der Aufschrift »WC«.Dahin wollte sie sicher nicht, aber wohin sonst? Sie leuch-tete weiter in die andere Richtung. Die hohen Grabdenk-mäler wirkten wie düstere Gestalten in der Finsternis, ausder in Hunderten von kleinen Blitzen der Regen in denSchein ihrer Lampe fiel.

Von irgendwo hörte sie eine Stimme. Als sie sich um-wandte, sah sie einen Uniformierten ihren Wagen mit einerLampe durchsuchen.

Sie ging schnell zu ihm und sagte bissig: »Ich bin schonausgestiegen.«

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«»Kriminalhauptkommissarin Zeisberg. Warum steht hier

niemand, der einem sagt, wo man hin soll?«Er grinste. »Jetzt erkenne ich Sie. Der Fall mit dem …«Sie unterbrach ihn ungeduldig. »Sagen Sie mir einfach

nur, wo ich hinmuss.«»Ja klar, Entschuldigung, ich bringe Sie hin. Hier ent-

lang.«

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Der Polizist begleitete sie und zeigte ihr mit der Lampedie Pfützen, damit sie nicht hineintrat. Hinter einem riesi-gen schwarzen Baum bog er in einen Weg nach links ein.Ihre unwirsche Reaktion hatte bewirkt, dass er nicht mehrsprach, was ihr ganz recht war. Im Dunkeln konnte sie nichtsehen, wie groß der Friedhof war, aber die Grabstellen, andenen sie vorbeigingen, waren stattlich, zum Teil mit mäch-tigen Steinmalen geschmückt.

»Hier ist das Mausoleum«, sagte er, und sie standen voreiner kleinen Versammlung Vermummter. War Chris schonda? Sie erkannte ihren Vertreter Herbert Justus, der sich mitdrei Uniformierten und zwei Zivilisten unterhielt. Sie hat-ten alle ihre Kapuzen oder Regenhüte tief ins Gesicht ge-zogen. Justus kam auf sie zu und gab ihr die Hand. »Hallo,Paula. Schönen Urlaub gehabt?«

Ihm war es immer recht, wenn sie Urlaub hatte. Dannspielte er den kleinen Napoleon. Sie konnte seine Gesichts-züge in der Dunkelheit nicht sehen, aber sie ahnte, dass ersein typisches unlustiges Lächeln aufgesetzt hatte. »Ich hat-te Bereitschaftsdienst, Herbert, keinen Urlaub. Ist Frau Gre-gor schon da?«

»Nein.«»Wäre es nicht besser, wenn ihr ein paar Lampen auf-

stellt, damit man den Weg findet?«Justus wandte sich sofort an die Beamten. »Haben Sie

ein paar Warnlichter dabei, um den Weg hierher zu kenn-zeichnen?«

»Und wer sind Sie?«, fragte Paula den Zivilisten, der ihram nächsten stand.

»Ich bin Heinz Lankwitz. Ich bin hier in der Friedhofs-verwaltung.«

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Andrea Vanoni

SeelenruhigRoman

ORIGINALAUSGABE

Taschenbuch, Broschur, 480 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-453-35220-9

Diana

Erscheinungstermin: Januar 2009

Liebe ist kälter als der Tod - Die deutsche Antwort auf Tess Gerritsen Auf einem Berliner Friedhof wird eine junge Frau tot aufgefunden: misshandelt und teilweiseenthäutet. Und die Obduktion ergibt: Die Verletzungen wurden dem Opfer post mortem zugefügt.Wenig später wird das nächste Opfer geborgen. Wieder eine junge Frau, wieder grausamentstellt – ihre Leiche nach dem Tod geschändet. Kriminalhauptkommissarin Paula Zeisberg istwie gelähmt vor Entsetzen, bis sie erkennt, dass es nur einen Weg gibt, den Täter zu stellen … Bedrohlich, verstörend, gewaltig: Schlaflose Nächte sind vorprogrammiert.