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THEMENSCHWERPUNKT Die Beziehung zwischen Religion und Psychotherapie Teil II Theorie Diskussion WISSENSCHAFT Existenzanalyse - eine Tiefenpsychologie? Was ist Beratung und Begleitung?

Teil II Theorie - ExistenzanalyseKamper hat ganz richtig gesehen, daß Weltorientierung Sache eines aufrechten Körpers ist, der mit zwei Füßen auf der Erde steht und mit dem Kopf

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Page 1: Teil II Theorie - ExistenzanalyseKamper hat ganz richtig gesehen, daß Weltorientierung Sache eines aufrechten Körpers ist, der mit zwei Füßen auf der Erde steht und mit dem Kopf

THEMENSCHWERPUNKT

Die Beziehungzwischen Religion

und Psychotherapie

Teil II

Theorie

Diskussion

WISSENSCHAFT

Existenzanalyse -eine Tiefenpsychologie?

Was ist Beratung und Begleitung?

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EXISTENZANALYSE 1/96 3

I N H A LT

I M P R E S S U MMedieninhaber, Herausgeber undHersteller:GESELLSCHAFT FÜRLOGOTHERAPIE UNDEXISTENZANALYSE (Wien),GESELLSCHAFT FÜREXISTENZANALYSE UNDLOGOTHERAPIEin München e.V.Redaktion: P. Freitag, S.Längle,A. LängleAlle: Eduard-Sueßgasse 10A - 1150 WienTel.: 0222/9859566FAX Nr. 0222/9824845Druck: AV-Druck,Sturzgasse 1a, 1140 Wien.

„Existenzanalyse“, vormals„Bulletin“ der GLE, ist das offi-zielle Organ der Gesellschaft fürLogotherapie und Existenzana-lyse und erscheint 3x jährlich.

Die GLE ist Mitglied der Interna-tionalen Gesellschaft für Psycho-therapie (IFP), der EuropeanAssociation of Psychotherapy(EAP), des Österreichischen Bun-desverbandes für Psychotherapie(ÖBVP), der Internationalen Ge-sellschaft für Tiefenpsychologiee.V. Stuttgart, der Wiener Interna-tionalen Akademie für Ganz-heitsmedizin, der Martin-Heidegger Gesellschaft e.V. unddes Verbandes der wissenschaft-lichen Gesellschaften Österreichs(VWGÖ).

Die GLE ist nach dem österrei-chischen Psychotherapiegesetz alsAusbildungsinstitution zum Psy-chotherapeuten gemäß demPsychotherapiegesetz anerkannt.

Veröffentlichte, namentlich ge-kennzeichnete Beiträge gebennicht immer die Meinung derRedaktion wieder.

© by Gesellschaft für Logo-therapie und Existenzanalyse.

Mitglieder erhalten die Zeitschriftkostenlos.Jahresabonnement für Nichtmit-glieder:ÖS 150,- / DM 25,-

IMPRESSUM ........................................................................................................... 2EDITORIAL ............................................................................................................. 3

WISSENSCHAFTZum Begriff der “Tiefe” in der Existenzanalyse (N. Espinosa) ................................. 4Vom Willen zu einem letzten Sinn (Ch, Kolbe) ....................................................... 11Personale Existenz und gläubige Existenz (M. Utsch) ............................................ 16Das Ende der Vor-Stellung. Gespräch mit Hiob (G. Funke) .................................... 19Hiob und das Problem der Selbst-Übersteigerung (H. Tellenbach) ......................... 26Psychotherapie und Religion: Eine Gegenüberstellung (D. Regazzo) ..................... 30Was ist existenzanalytisch-logotherapeutische Beratungund Begleitung? (S. Längle) .................................................................................... 36

FORUM, LESERBRIEFEEin brisantes Thema. (B. Kalies ) ........................................................................... 38Was bleibt von der Existenzanalyse? (S. Brookmann) ............................................ 39Keine Lebensbereiche ausschließen (A. Längle) ..................................................... 40Persönliche Erfahrungen (R. Hefti) ......................................................................... 42Wir unterscheiden uns sehr (J. Wolfslehner) (P. Freitag)......................................... 43Sind Existenz und Person identisch? (A. Längle) .................................................... 44Anmerkungen zur Personalen Existenzanalyse (PEA) II (N. Espinosa) .................. 46Begegnung und Normen in der Schule (Ch. Possel) ................................................ 47“Person” statt “Geheimwissen” (M. Probst) ........................................................... 46

AKTUELLES ......................................................................................................... 49MITTEILUNGEN................................................................................................... 51TAGUNGSANKÜNDIGUNG ............................................................................... 56TERMINE............................................................................................................... 57Kontaktadressen ...................................................................................................... 55

OFFENLEGUNG NACH § 25 MEDIENGESETZ

Medieninhaber ist zur Gänze die Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse,Eduard-Sueßgasse 10, A-1150 Wien. Die Gesellschaft für Logotherapie und Existenz-analyse ist ein gemeinnütziger Verein im Sinne der Bundesabgabenordnung. Dem Vor-stand gehören folgende Personen an:

Vorsitzender: DDr. Alfried Längle. Stellvertretende Vorsitzende: Dr. phil. LiselotteTutsch. Schriftführer: Dr. med. Christian Probst. Stellvertretender Schriftführer: Dr.med. Walter Winklhofer. Kassier: Günter Funke. Stellvertretender Kassier: Stud. Dr.Wasiliki Winklhofer. Beirat für die BRD: Dr. paed. Christoph Kolbe und Dr. med.Walter Winklhofer. Beirat für die Schweiz: Dr. paed. Beda Wicki. Beirat für Pädago-gik: Stud. Dr. Wasiliki Winklhofer und Günter Funke. Beirat für Forschung: Dr. Sil-via Längle und Dr. med. Christian Probst.

Grundlegende Richtung: “Existenzanalyse”, vormals „Bulletin der Gesellschaft fürLogotherapie und Existenzanalyse“ ist das offizielle Mitteilungsblatt der genannten Ge-sellschaft. Die grundlegende Richtung der “Existenzanalyse“ besteht in der Informa-tion der Mitglieder des Vereins über die Wahrnehmung und Förderung ihrer gemein-samen wissenschaftlichen, beruflichen, sozialen und wirtschaftlichen Belange durch dieRedaktion, den Vorstand der Gesellschaft und der Mitglieder untereinander.

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4 EXISTENZANALYSE 1/96

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen !

E D I TO R I A L

H I N W E I S E

Wissenschaftliche Redaktiondes Themenschwerpunktes:

Günter Funke

HIOBaus zwei Blickwinkeln

Artikel von G. Funke undH. Tellenbach

Seite 19 und 26

- Forum -Diskussion zu den Themen-

schwerpunktenPsychotherapieund Religion,

PEA, Pädagogikab Seite 38

Verschwiegenheits-pflicht des

PsychotherapeutenSeite 51

Jahrestagung derGLE

Thema:Ich kann nicht...

Behinderungals menschliches

Phänomenvom 3.-5. Mai 1996 in

Rothenburg ob der TauberSeite 56

Das ausführlicheTagungsprogramm liegt

diesem Heft bei

Vorschau aufs nächste Heft:Existenzanalyse in der

klinischen Psychotherapie

Redaktionsschluß für dieNummer 2/96:

20. Mai 1996

Einige Jahre hat Lilo Tutsch die Editorials für unsere Zeitschriftgeschrieben. Nun, da Patricia Freitag und ich diese Aufgabe über-nommen haben, möchten wir ihr für ihre langjährige Redaktions-tätigkeit danken! Ich habe sie als den ruhenden Pol in der redak-tionellen Hektik erlebt. Das tat uns allen und auch der Zeitschriftgut. Zum Glück steht sie weiterhin als „assoziiertes“ Mitglied derRedaktion zur Seite.

Selbst im Wechsel bleibt Kontinuität: Wir führen den Themen-schwerpunkt Religion und Psychotherapie des letzten Heftes wei-ter. In diesen Kontext fügen sich zwei Vorträge von der GLE-Tagung in Stuttgart zum Thema „Existenz und Transzendenz“ ein,die bislang unveröffentlicht blieben, da es zu dieser Tagung kei-nen Tagungsbericht gibt. Auch eine schon länger zurückliegendeDiskussion um die PEA wird wieder aufgegriffen. Die Themen-redaktion zum wissenschaftlichen Schwerpunkt lag wie im vergan-genen Heft bei Günter Funke, der die Auswahl der wissenschaft-lichen Artikel traf.

Bei einem solchen Schwerpunktthema wie dem der Psychothera-pie und Religion geht es natürlich ebenso um eine wechselseitigeBedingung wie um Abgrenzung. Im Selbstverständnis der Psycho-therapie als Wissenschaft ist die Abgrenzung von umliegendenFachgebieten ein notwendiger Schritt. Erst in der Definition desspezifisch Psychotherapeutischen kann ein Arbeitsfeld beschriebenwerden, in dem ein gezieltes Vorgehen besser möglich wird: so-wohl für Therapie, wie für Lehre und Forschung.

„Abgrenzung“ mag bei dem einen oder anderen die Befürchtungauslösen, hier werde ein Reduktionismus betrieben; die Diskus-sionsbeiträge lassen es gelegentlich anklingen. Abgrenzen darf abernicht so verstanden werden, daß ein Teil zum Ganzen erklärt wird.Im Abgrenzen wendet man sich eben nur einem spezifischenAspekt im menschlichen Leben zu, um in der Psychotherapie denProzessen des menschlichen Werdens und Reifens nachzuspüren imWissen darum, daß der Mensch und das Leben weit mehr sind alsjede abgegrenzte Wissenschaft. Echte, kreative Wissenschaftlerhaben sich darum auch immer die Fähigkeit des Staunens bewahrt.

In diesem Sinne möchten wir gerne die EXISTENZANALYSE inder nächsten Zeit begleiten.

Silvia Länglefür das Redaktionsteam

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W I S S E N S C H A F T

Zum Begriff der „Tiefe“ in derExistenzanalyse

Nolberto Espinosa

Ein Beitrag zur Diskussion der Beziehung zwischen Psychotherapie und Religion

wärts oder rückwärts; wir haben “viel Raum”, und wirfühlen uns frei oder “wie im Gefängnis”, wo wir nicht at-men können.

3. Diese “Orte”, “Stellungen”, “Räume” im allgemei-nen Lebensraum, die in jeder Sprache mit den Adverbial-formen benannt werden, liegen genau dort, wo wir uns hin-gerichtet haben. Es gibt eine Pluralität von “Welten” in derWelt: die “Nahwelt”, die “weite Welt”, die “private” bzw.“öffentliche Welt”.Die Erschließung von Welt - in den ver-schiedensten Formen ihres Vorkommens - macht erst dieBegegnung mit den anderen und den Dingen möglich.

4. Das Gemeinsame, das an allen Weltweisen ange-zeigt wird, ist folgendes:

“Welterschließen” ist dasselbe wie “Welterfahren”. Wennwir erfahren, “fahren” wir - wir fahren “in die Welt”.Das Eigentümliche dieses Fahrens liegt darin, daß derWeg - die Richtung, die wir beim Fahren nehmen, erstdurch das Fahren selbst “geöffnet” wird. Mit jeder Er-fahrung geschieht ein “er-”, ein “ex-”, d.h. ein Raum, einFeld, ein Horizont wird erschlossen, innerhalb dessendieses oder jenes Seiende ans Licht kommen kann.Da die Welt faktisch gegliedert ist, sind die Strahlen die-ses Lichtes an Farben, an Intensität und Reichweite sehrverschieden. Dieses “Licht” ist das, was wir “Sinn” nen-nen. Welterschließung und Erschließung des Sinns sindgleichbedeutend. Aufgrund eines bestimmten Sinns“bedeuten” uns die Dinge unserer Welt das oder das.Nur weil wir die Bedeutung des Seienden irgendwie er-fassen, “verstehen” wir alles, was sich in unserer Weltzeigt. Und in eins damit verstehen wir uns selbst, indemwir uns zu den Dingen so oder so einstellen und mit ih-nen umgehen.

5. Das Bild von einer reich differenzierten Welt - ei-ner Welt nämlich mit “oben” und “unten”, mit “innen” und“außen”, mit “Nahem” und “Weitem” paßt nicht mehr zuder Form, wie wir heute die Welt verstehen (wir verstehendie Welt anders, als es selbst in der Blütezeit der Existenz-philosophie noch immer der Fall war). Demokratie, Kon-sumgesellschaft, Technologie, Informatik haben die Gren-zen zwischen dem privaten und dem öffentlichen Lebens-bereich gestrichen, das in Raum und Zeit weit Gelegeneganz nah gebracht; Menschen, Dinge, Vorkommnisse wer-

Einführendes

Vergegenwärtigen wir uns die Axiome, auf denen dieexistenzanalytische Denkweise basiert:

1. “Sein” heißt für uns Menschen “Sein in der Welt”.Welt ist das alle Seienden umgreifende “Da”, wo jeder vonuns ist. Es gibt Welt, weil wir - als Da-Seiende - “existie-ren”, und das heißt: weil wir uns so oder so auf die Weltausrichten. Durch jede Form unseres Gerichtetseins zurWelt wird für uns Welt erschlossen.

2. Die Eröffnung von Welt geschieht schrittweise.Menschliche Welt ist ein faktisch reich gegliedertes Wo:Wir sind immer da in der Welt, aber einmal oben, einmalunten; einmal rechts, einmal links; einmal nah, einmal weit,vorne oder hinten, innen oder außen; wir bewegen uns vor-

Ausgehend von einer Unterscheidung zwi-schen “innerweltlicher” und “überweltli-cher” oder metaphysisch-religiöser Erfah-rung (letzte ist Erfahrung der “Höhe” bzw.“Tiefe”) wird die Existenzanalyse von jederTiefenpsychologie bzw. Höhenpsychologieabgehoben. Existenzanalyse ist keine me-taphysisch-religiös fundierte Psychothera-pie. Anstatt um Höhe oder Tiefe geht es hierum die existenziellen Orte “Distanz” und“Nähe”. Hauptziel der Existenzanalyse istdie Ermöglichung der subjektiven Freiheit,die darin besteht, alles für das Subjekt Dis-tante und Fremde nah und vertraut zu ma-chen. Subjektive Freiheit erweist sich alsGrundbedingung zu einer Moral und Reli-gion, die man ohne Zwang und Bestimmungvon außen “leben” will. Alle Werte müssenauf einem Grundwert beruhen, nämlich aufder Intimität der Person.

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den “gegenwärtig”, alles was geschieht, tritt in eine Anwe-senheit ein, die keine Distanzen, Wertstufungen oder Hier-archien mehr kennt. Wir könnten so reden: Heute geht esallein um ein “horizontales” und nicht mehr “vertikales”Weltverständnis.

6. Die Formel “in der Welt sein” ist nicht nur ein theo-retischer Satz, eine Seinsaussage. Dabei klingt eine prak-tische, ethische Forderung mit, die recht menschliche Auf-gabe nämlich der Weltorientierung. Die Orientierung in derWelt, d.h. “sich in der Welt auskennen” und so die Weltbeherrschen, ist ein weiterer Schritt nach der Welter-schließung, es ist deren Ziel. Hier waltet ein Sollen, weilwir zur Welt wie Blinde von Geburt an kommen, die dasgrelle Sonnenlicht sehen zu lernen haben. Ohne Welt-orientierung vermag ein Mensch zu leben, aber nicht zuüberleben.

7. Weltorientieung, Welterfahrung ist eine entschiedenleibliche Angelegenheit. “Leib” ist ein anderer Name fürdie Person, für das Ganze der Person; für den konkretenMenschen - wie man sagt - “mit Körper und Seele”, des-halb gibt es für uns eine gegliederte Welt mit “oben” und“unten”, mit “innen” und “außen”, mit “Nähe” und “Wei-te”. Die “Orte” oder “Stellungen” in der Welt sind prinzi-piell nicht relativ und gegeneinander austauschbar (aus-tauschbar sind nur die ganz “neutralen” Orte des “physi-schen” Raumes, die von beliebigen Körpern besetzt wer-den können); jeder Ort für sich ist eine absolute Größe,weil sich in diesem Punkt vielleicht die Erfahrung einesganzen Lebensganges niedergelegt hat und wir wissen,“was es gekostet hat”, dahin zu gelangen. “Nach obengehen” fordert Willenskraft, Anstrengung, Ausdauer.“Oben” nennt den Ort unserer Welt, wo sich alle unsereWünsche, Pläne, Vorsätze versammelt haben. Von “innen”und “außen” weiß nur ein Mensch, der einen Sinn für Pri-vates, für Intimität hat.

8. Weil die Erfahrung von Welt eine “leibliche” ist, giltdie Frage, ob man sich in einer nur “horizontalen”, “amor-phen” Welt überhaupt orientieren könnte. Ich verweise aufden sehr interessanten Artikel von Dietmar Kamper - er-schienen in einem kollektiven Band, der das Thema “Ori-entierung durch Ethik?” diskutiert (Jean-Pierre Wils 1993).Der Verfasser bestreitet die Möglichkeit der Orientierungs-funktion der Ethik in einer Welt wie unserer, “die auf demKopf steht”.

Kamper hat ganz richtig gesehen, daß WeltorientierungSache eines aufrechten Körpers ist, der mit zwei Füßen aufder Erde steht und mit dem Kopf oben zum Himmel gerich-tet ist. Solange wir auf dem Kopf stehen, d.h. die Welt nurdenken, vorstellen, die Welt nicht mehr “erfahren”, “berüh-ren”, “spüren”, haben wir die Spuren verloren und sindnicht mehr in der Welt orientiert.

9. Weil die Erfahrung von Welt eine “leibliche” ist, istWeltverständnis keine Sache des “Verstandes” und dessen“Logik”, sondern der “gesamten” Person, an erster Stelle,ihrer leiblich-affektiven Verfassung.

10. Es gibt eine “gesunde” wie eine “krankhafte” Er-schließung von Welt.

Die Grund-erfahrung der Tiefe

Nach dem Gesagten können wir auf das Thema diesesBeitrags eingehen. Es handelt sich um eine eigentümlichemenschliche Erfahrung - nämlich die Erfahrung der “Tie-fe”. Wir wollen wissen, welchen Platz - wenn überhaupt -dieser Begriff in der Existenzanalyse hat. Das Gegenteilvon “Tiefe” ist “Höhe”. Beide bezeichnen keine Orte, Stel-lungen, Dimensionen, die “vergleichend” gesteigert werdenkönnten. Höhe und Tiefe als solche “transzendieren” dieWelt mit allen ihren Orten; ganz hoch bzw. ganz tief wal-ten der “Grund”, die “Quelle”, der “Ursprung” der Welt.Die Erfahrung vom Grunde heißt Grund-erfahrung. In derGrunderfahrung wird nicht “eine” - davon war oben dieRede - bestimmte Welt “in der” Welt, sondern “die” Weltim Ganzen erschlossen.

Wir unterscheiden die “innerweltliche” von der “über-weltlichen”, metaphysisch-religiösen Erfahrung. DerMensch kommt hier näher zu Gott, spürt das Göttliche.Wenn wir von “Höhe” und “Tiefe” reden, ist nicht der Sinnvon diesem oder jenem “Seienden” gemeint, sondern derSinn vom “Sein” überhaupt. Sinn vom Sein ist, was für unsSein bedeutet.

Wir haben hier keinen Platz, diese Gedanken weiter zuentwickeln. Es genügt uns, darauf hinzuweisen, daß Philo-sophien, Psychologien, Psychotherapien sich selbst - aus-drücklich oder unausdrücklich - als Lehren von der “Höhe”bzw. von der “Tiefe” verstanden haben: Es kommt auf denSinn vom Sein an, der für die betreffende Lehre maßgeb-lich ist. Die leitende Frage dieser Arbeit ist: Für welcheLehre hält sich die Existenzanalyse? (Existenzanalyse al-ler Prägungen, obwohl ich mehr an die Analytik des Da-seins von Heidegger und die von dieser inspirierten Exi-stenzanalyse denke). Meines Erachtens zielt die Existenz-analyse weder auf “Höhe”, noch auf “Tiefe” ab. ZumBeweis dieser These mag folgende grobe geschichtlicheErwähnung dienen:

Historischer Exkurs zur Konzeption von der“Höhe”

In der Tradition des abendländischen Denkens erkennen wirals Konzeptionen von der “Höhe” eine Reihe von Philoso-phien, die einen Bogen zeichnen - von Plato bis vielleichtzu Kant, über Plotin, den hl. Augustinus, die mittelalterli-chen Platoniker, Descartes. Das Gemeinsame aller dieserDenkrichtungen ist das, was Max Scheler (1991) im letz-ten Teil seines Buches “Die Stellung des Menschen imKosmos” dargestellt hat: Der Weltgrund ist dort als das“höchste” und so als das “stärkste” und “mächtigste“ ge-dacht. Das Höchste ist reiner “Geist” ohne Mischung mitder Materie. Den Kosmos stellt er sich wie eine Pyramidevor, an deren Spitze die göttlichen, geistigen Wesen herr-schen. Sieht man den Weltbau von oben nach unten an,dann kann man dabei “Schichten”, “Stufungen” unterschei-den. Diese Stufungen zeigen, daß die Erschaffung der Welt

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nicht ohne eine “Degradierung” im Sein stattgefunden hat.Sind die oberen geistiger, sind die unteren materieller Na-tur, sie sind dunkel, schwach und von den oberen zu dereneigenen Zielen hingelenkt. Die Folge dieser Weltanschau-ung für die Anthropologie: Der Mensch steht in direkterKommunikation mit dem Weltgrund, weil er wesentlich eingeistiges Wesen ist, wenngleich er auch durch seinen Kör-per an den unteren Weltschichten teilnimmt. Die Folge fürSittlichkeit und Religion: Wahre Moral und Religion beru-hen auf der Anerkennung des Göttlichen und Geistigen ,also auf dem Sieg des Geistes (der Vernunft) über diemateriellen, sinnlichen Kräfte. Der Triumph des Geisteswird wie ein “Überstieg”, ein “Transzendieren” des Men-schen auf das Transzendente hin gedacht. Der Gott der an-tiken Philosophen gesellte sich zu dem Gott des Alten Te-staments. Daraus ergab sich die im Abendlande weit ver-breitete Idee des Gottes “in der Höhe”, welcher bis heuteim allgemeinen Empfinden der christlichen Völker einen gutbewahrten Platz hat. (Und Gott ist doch Fleisch geworden!Könnte Er dem Menschen noch näher sein ?)

Es versteht sich von selbst, daß ein Gott in der Höhevom Menschen “unendlich” weit entfernt ist. Deshalb wirddas Selbsttranszendieren des Menschen zum Transzenden-ten wie eine unendliche Aufgabe begriffen, die den Einsatzaller Kräfte erfordert. Die sittliche Person soll und mußsich über sich selbst erheben und den Blick zu demIntelligiblen und Geistigen richten, dem einzigen vereh-rungswürdigen Objekt, “vor dem allein alle Neigungenverstummen”, wie Kant gesagt hat. Dieses Ehrwürdige istfür Kant eigentlich “das moralische Gesetz in uns”. DasGesetz sagt mir aber, daß ich von woanders herkomme:Mein Ursprung liegt im Göttlichen, das sittliche Gesetz istnämlich “Gott in uns”. “In uns” heißt jedoch nicht, derentfernte, transzendente Gott wäre jetzt dem Menschennäher gerückt. “Der Anblick (des moralischen Gesetzes)erhebt...meinen Wert, als einer ‘Intelligenz’, unendlichdurch meine Persönlichkeit, in welcher das moralischeGesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzenSinnenwelt unabhängiges Leben offenbart... Die Bestim-mung meines Daseins durch dieses Gesetz ist nicht aufBedingungen und Grenzen des (sinnlichen) Lebens einge-schränkt, sondern sie geht ins Unendliche...” (Kant, 1914,174).

Historischer Exkurs zur Konzeption von der“Tiefe”

Erst im ausgehenden 18. und ersten Drittel des 19. Jahr-hunderts - während der Zeit Goethes also - tritt in der eu-ropäischen Kultur - in Philosophie, Religion, Dichtung - einDenken auf, das nicht mehr von der “Höhe”, sondern vonder “Tiefe” sein wollte. Dieses Denken, das sich anfäng-lich als eine Reaktion gegen das Denken von der Höhe(damals die “aufklärerische” Denkweise) verstanden hat,konnte sich - in der Hochromantik - ganz durchsetzen undprägte alle philosophischen Auffassungen des vergangenenJahrhunderts - anscheinend entgegengesetzte Denkformen,

wie Idealismus, Materialismus, Lebensphilosophie.Es ist zu fragen: Worin besteht die Erfahrung der “Tie-

fe”? Ist die Erfahrung der “Höhe” ein Sich-Transzendieren,ein Sich-Erheben zum Erhabenen, so ist die Erfahrung der“Tiefe” eine “Vertiefung” in sich selbst, ein “in die Tiefe-Gehen”, eine “Verinnerlichung”, eine “Einkehr” in sichselbst, ein “Versunkensein”, ein “Zurück zum Grunde”.Streng genommen wäre die Erfahrung der Tiefe die einzi-ge “Grund-erfahrung”, wenn das Wort “Grund” hier inseiner primären Bedeutung gebraucht würde: “Grund” heißtnämlich “Fundamentum”, “Boden”, der Grund liegt “zu-grunde”, “sub”, “hypo”. Was in sich selbst einkehrt, wur-de “Subjekt” genannt. Die Erfahrung der Tiefe (bes. in dengermanischen Ländern) führte zu einer “Subjektivierung”,einer “Verlebendigung” der Welt, der Geschichte, der Kul-tur. Das Denken der Tiefe erklärt die Welt nicht von obennach unten, sondern umgekehrt von unten nach oben.

Für diese Denkweise ist der Weltgrund weiterhin“Geist”. Aber es geht hier um eine andere Idee von Geistals jenem der Höhe: Er ist nämlich nicht mehr das Höch-ste und Mächtigste, reines, immaterielles Licht, sondern dastief verborgene und gleichzeitig alle Seienden durchdringen-de Leben der Welt, die Weltseele, von der alles, was ist,entstanden ist und die alles im Sein hält. Gott hat die Weltnicht so erschaffen wie ein Ingenieur eine Maschine bautund von außen durch einen Stoß in Bewegung setzt. Goe-the hat diesen Sachverhalt in direkter Anspielung auf denGott der Deisten schön gedichtet:

“Was wär´ein Gott, der nur von außen stieße,Im Kreis das All am Finger laufen ließe!Ihm ziemt´s, die Welt im Innern zu bewegen,Natur in sich, Sich in Natur zu hegen,So daß, was in Ihm lebt und webt und ist,Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt”.

(J.W. v. Goethe in H.A. Korff 1958 (4), 103 f.)

Wie im Denken von der Höhe unterliegen auch hier Meta-physik, Religion und Moral einem Prozeß derVergöttlichung und Vergeistigung; aber der Weg zu Gott istnicht auf ein Jenseits der Welt gerichtet, dieser Weg ist eineRückkehr in sich. Im Gegensatz zu Kant meinte Hegel, derGeist könne und müsse sich selbst wissen. Der Weg zumSelbstbewußtsein sei ein Zurückkehren in sich selbst, einVertiefen des Geistes in sich. “Der Geist muß sich selbstwissen, sich heraussetzen, sich zum Gegenstand haben, daßer wisse, was er ist, und daß er sich ganz erschöpfe, sichganz zum Gegenstand werde, daß er sich ganz enthülle. Jehöher der Geist entwickelt ist, desto tiefer ist er; er ist dannwirklich tief, nicht nur an sich; an sich ist er weder tiefnoch hoch. Eben die Entwicklung ist ein Vertiefen desGeistes in sich, daß er seine Tiefe zum Bewußtsein brin-ge. Das Ziel des Geistes, wenn wir in dieser Anwendungsprechen, ist, daß er sich selbst erfasse, daß er nicht mehrverborgen ist.” (G.W.F. Hegel 1940, 111)

Es gilt anzumerken, daß das Selbstbewußtwerden desGeistes eine prozeßhafte Offenbarung des Geistes ist, d.h.

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eine Entwicklung, in deren ersten Stadien der Geist sichnoch nicht ganz als Geist für sich selbst zeigt. Am Anfangseines Werdeganges erscheint der Geist als inorganischeMaterie, später als organische nur vegetative, dann alsTriebbündel beim Tierischen, als Gefühl beim Menschenbis zuletzt als Vernunft oder Gedanke. Diese entwicklungs-mäßige Phänomenisierung des Weltgrundes erklärt die ge-schichtliche Tatsache, daß es verschiedene Versionen deseinen Denkens von der Tiefe gegeben hat - nämlich eineidealistisch-spiritualistische, eine materialistische, einebiologistische. Es kam allein darauf an, welche Dimensionder Entwicklung als Erklärungsprinzip der gesamten Ent-wicklung erhoben wurde. Die Bezeichnung “Tiefenpsycho-logie” für die Lehren Freuds oder Jungs ist also berechtigt,wenngleich hier keine Rede von einer spiritualistischenAuffassung des Menschen ist.

Die Existenzanalyse ist keine “Tiefen-psychologie”

Nach dem Gesagten kann klar werden , warum wir obenbehaupteten, die Existenzanalyse sei weder eine Lehre vonder “Tiefe” noch von der “Höhe”. Denn “Höhe” und “Tie-fe” bezeichnen extreme, übersinnliche, überweltliche Di-mensionen, und die Erschließung dieser Dimensionen isteine Grunderfahrung, Erfahrung vom Grunde. Die Erfah-rung, aus der die Existenzanalyse ihre Erkenntnisse schöpft,ist eigentlich keine Grund-Erfahrung, anders gewendet, sieist keine “Metaphysik”, wenn man mit diesem Wort dasWissen vom höchsten-tiefsten Seienden, also von Gottmeint. Das Wissen von Gott ist Metaphysik, “Theologie”.Existenzanalyse ist - wie es in Beiträgen der letzten Zeitim Bulletin der GLE diskutiert wurde (siehe Längle,1994,15 ff.) keine Theologie, keine Religion (keine “me-taphysische” Religion im traditionellen Sinne), was nichtverbietet, von einer “existenziellen” Religiosität zu reden.

Wir wollen diese Behauptungen ein bißchen nuancie-ren und sagen: Es ist nicht so, daß Existenzanalyse keineGrund-Erfahrung kennt. Ihre Erfahrung steht auf einemMittelweg zum Grunde, sie ist nicht genug “gründlich”, siegeht nicht ganz “zum Grunde”, sie schwebt in einem Be-reich “zwischen” dem endlichen Menschen und dem unend-lichen Weltgrund. Weil sie nicht ganz zu Grunde geht,“transzendiert” sie die Welt nicht; sie transzendiert nur dieSeienden (die innerweltlichen Seienden) zur Welt. So bleibtsie ein Denken des “Diesseits”.

“Metaphysik” ist wesentlich keine Aufgabe und keinWerk einer nur “endlichen” Vernunft (des allen Menschengemeinen Verstandes). Sie ist Wissen einer endlichen Ver-nunft , die aber unendlich wird; besser ausgedrückt, die voneiner unendlichen Vernunft aufgehoben wird. Für die bloßendliche Vernunft ist Metaphysik eine Zumutung, sie isteine un-endliche Aufgabe in dem Sinne, daß sie niemals zuEnde geht, zu keinem Schluß kommt. Die Vernunft, die dieExistenzanalyse treibt, ist eine endliche, sie ist endlicher

als die Vernunft der Metaphysik, weil sie keinen Anspruchhat, unendlich - oder von der unendlichen aufgehoben zuwerden.

Wir sagten, “Mensch-sein” heißt für die Existenzana-lyse “in der Welt sein”. Das Sein in der Welt erfordert -als primäre Aufgabe des Menschen - die Welt zu erschlies-sen. Welt als solche, und zwar im Vergleich zu den Sei-enden, die in der Welt sind, ist unendlich, weil sie alleSeienden umgreift. “Welt” ist “Sein”, kein “Seiendes”, we-der dieses noch jenes. Welt ist der “Horizont”, der dasSeiende - so wie es ist - sich zeigen läßt. Nun, die Unend-lichkeit der Welt übertrifft nicht die Endlichkeit des Da-seins, sie ist “proportional” zu ihr. Wir könnten es so aus-drücken: Die Welt ist so unendlich groß, wie das Vermö-gen des Subjekts unendlich ist, alle mögliche Welten zuerschließen. Menschliche Subjektivität oder Dasein undWelt (beide stehen hier für “Sein”, nicht für “Seiendes”)sind die zwei Seiten eines und desselben Phänomens, daswir seit Brentano und Husserl “Intentionalität”nennen.

Diese wichtigen Zusammenhänge finden wir bei Eu-gen Fink (1958, 57) noch treffender formuliert: “Das Welt-gefüge (in der Metaphysik) gewinnt den Charakter einerZuordnung der mannigfaltigen Dinge auf ein oberstes ‘Sei-endes’, gewinnt den Charakter einer Hierarchie. Solangeein solches theologisches Gefüge die Philosophie be-herrscht, versucht notwendig der denkende Mensch, seineEndlichkeit aus dem Abstand zu Gotte zu deuten - begreifter sich als ‘imago Dei’, welches Abbild aber durch einenungeheuren Abstand vom Urbild bestimmt sei. Die Endlich-keit des menschlichen Daseins wird damit also als ein Ver-hältnis der Abständigkeit eines Seienden von einem ande-ren Seienden ausgelegt...Härter und radikaler ist die End-lichkeit des Menschenwesens begriffen, wo sie nicht auseinem Abstand zu einem höchsten Seienden, sondern ausdem Spannungsbezug des binnenweltlich Seienden über-haupt zum umfangenden Weltall gedacht wird. Alle Dingeüberhaupt sind ‘endlich’. Endlichkeit ist kein Charakter, dereinigen Seienden zukommt, anderen wieder nicht. Sie istnicht ein Makel, mit dem fast alles , was ist, gezeichnet ist,- aber der das oberste und höchste, das mächtigste undwissendste Seiende ausläßt.”

Ist die Logotherapie Frankls eine„Existenzanalyse“?

Meines Erachtens ist die Lehre Frankls - wenngleich siegewisse Begriffe der Existenzphilosophie verwendet - eineentschieden metaphysisch-religiös fundierte Anthropologieund Psychotherapie. Das Denken Frankls schreibt sich injener Richtung der Philosophie der Gegenwart ein (dabeiist die große Schar von den sogenannten Münchner undGöttinger Phänomenologen - mit M. Scheler ganz vorne -und andere Personalisten und Spiritualisten aus Italien undFrankreich zu nennen), die in der Zeit zwischen beidenWeltkriegen eine Erneuerung der Metaphysik versucht hat-

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te. In der Franklschen Axiologie, in der Lehre von Person,in seiner Auffassung des Geistes, der Freiheit, des Gewis-sens, der Beziehung Körper-Seele, in den noo-dynamischenBegriffen von “Selbsttranszendierung” und “Selbst-distanzierung” usw. erkennen wir sofort die Denkweise unddie Sprache unserer abendländischen Denktradition. Vonbeiden Flügeln des metaphysischen Denkens - nämlich vonder “Höhe” bzw. von der “Tiefe” - wählte Frankl schon amAnfang seiner Karriere den ersten, und dessen Förderungwidmete er sein ganzes Lebenswerk. Diese frühe Entschei-dung zum Spiritualismus und Personalismus teilte Franklselber unmißverständlich dem Leser seiner “Ärztliche Seel-sorge” mit, als er für eine zukünftige “Höhen-psychologie”plädierte, die als Widersacher der damals allein-herrschenden “Tiefenpsychologie” auftreten sollte: “Manhat den Ausdruck Tiefen-psychologie geprägt; wo aberbleibt die Höhenpsychologie - die nicht nur den Willen zurLust, sondern auch den Willen zum Sinn mit einbezieht inihr Gesichtsfeld? Wir müssen uns fragen, ob es nicht an derZeit ist, auch innerhalb der Psychotherapie die menschli-che Existenz nicht nur in der Tiefe, sondern auch in derHöhe zu sehen - damit allerdings bewußt hinausgreifendnicht nur über die Stufe des Physischen, sondern auch nochüber die des Psychischen, und den Bereich des Geistigenprinzipiell einbeziehend.” (Frankl 1985, 14)

Von der Existenzanalyse her mag es sicher befremden,daß die Suche nach “Sinn” bei Frankl wie ein Weg “in dieHöhe”, als ein “Übersteigen” gedeutet wird. Warum es soist, wird dadurch erklärt, daß es für Frankl, wie für unsalle, sofern wir weiter gemäß der traditionellen Denkwei-se denken, ganz selbstverständlich war (und noch ist), das“Sinnhafte” dem “Wertvollen” und dem “Gesollten” gleich-zusetzen. Nun, das Wertvolle liegt - und zwar “objektiv”,d.h. gemäß der ontologischen Struktur der Welt - “oben”an der Werttafel. Konsequenterweise ist es auch selbstver-ständlich, daß die sittliche (gute) Handlung (wie das gesun-de Verhalten eines Menschen) die Ausklammerung der “un-teren” Schichten der Person - des sogenannten Psycho-physikums - erfordert und eine In-Bewegung-Setzung desGeistes verlangt, welcher allein offen ist für Sinn und Werteund dafür bestimmt ist.

Wie gesagt ist “Sinn” auch ein Zentralbegriff der Exi-stenzanalyse. Aber existenzanalytisch gesehen liegt Sinnweder “hoch” noch “tief”: Er liegt genau dort, wo die Per-son Sinn je aufscheinen lassen “kann”. Das setzt die Fä-higkeit und Bereitschaft des Daseins voraus, einen mögli-chen Sinnraum aufzuschließen und offenzuhalten. MeinesErachtens ist für die Existenzanalyse nicht entscheidend,daß der aufgedeckte Sinn gleichzeitig etwas Wertvolles ist.Wichtig ist nur, daß der Sinn “Sinn für die Person ist”, undes ist dann so, wenn das Sinnhafte nicht mehr “von außen”auf die Person wirkt, als etwas Fremdes, das den Menschenzwingt, sondern etwas Nahes, sogar am nächsten, vor demdas Subjekt sich frei aber geschützt, geborgen fühlen kann.Stimmt das “Sinnhafte” (für das Subjekt) mit dem “Wert-vollen” (an sich), d.h. das Subjektive mit dem Objektivenüberein, desto besser. In dieser Koinzidenz liegt ein Ideal

für Moral, auch für Beratung und Therapie. Nun, eineÜbereinstimmung kann in entgegengesetzter Richtung be-trachtet werden. Für die Mentalität und das allgemeineEmpfinden des modernen Menschen, und zwar im Unter-schied zur antiken und mittelalterlichen Denkweise, geht esum eine “Subjektivierung” des “Objektiven” und nichtumgekehrt. Das bedeutet: das andere, das mir Transzenden-te, das, was ich nicht bin, muß mein “Eigentum” werden;mehr noch, es muß sich mit mir identifizieren.

Aus Objektivem etwas Subjektives zu machen, heißtnicht unbedingt, was an sich ist, das an sich Wertvolle, derbloßen Willkür des Individuums zu unterwerfen. Grundan-liegen der Existenzanalyse ist nur, ein Verständnis für diesemenschliche, allzumenschliche Tatsache zu erwecken (dasmacht ein Kernstück der christlichen Lehre aus), daß wirMenschen nämlich für gewöhnlich auf das moralische Ge-setz achten, d.h. den Geboten folgen, aber mit schlechtemWillen, und daß eine gute Handlung vollkommener undverdienstwürdiger ist, wenn sie nicht bloß “aus Ansehungdes Gesetzes”, oder um dem Führer zu folgen, oder dasGewissen zu beruhigen und den Eltern Unannehmlichkei-ten zu ersparen..., sondern “aus vollem Herzen” getan wird.

Die “existenzielle” Wende der Logo-therapie Frankls

Mit Alfried Längle vollzog sich in neuester Zeit die “exi-stenzielle” Wende der Logotherapie. Vom alten logo-therapeutischen Baum ergab sich dadurch die Abzweigungeiner “Existenzanalyse”, welche, sofern sie eine solche ist,von der Lehre Frankls strikt abzugrenzen ist. Hauptanlie-gen Längles ist, daß man in der psychotherapeutischenPraxis dem Subjektiven oder Personalen, d.h. dem intimenBereich des Daseins den gebührenden Raum lasse. Manwolle “weg von der Beschreibung der äußeren Bedingun-gen für Sinnfindung und hin zur Analyse der personalenVoraussetzungen, Möglichkeiten und Kräfte, ohne die einSinn nie personal getragen ist, sondern nur als Auftrag oderPflicht “aufgesetzt” wird. Es ist derselbe Schritt, den esbraucht, damit die Logotherapie sich von ihrer moralisie-renden Gefahr endlich wirksam schützen kann” (Längle1993a, 6).

Nun, es läßt sich fragen, ob durch ihre Krisis dieLogotherapie nicht von der “Höhe” weggerissen und wie-der in die “Tiefe” geführt wurde, in die Tiefe nämlich, wosie nicht bleiben wollte. Meines Erachtens enthebt sich dieExistenzanalyse im Sinne Längles der Polarisierung “Höhe-Tiefe”, zumal sie keiner Metaphysik oder Ontologie Tributzahlen will (siehe den Artikel “Sinn-Glaube oder Sinn-Gespür”, Bulletin 2/1994, S. 15), zumal sie - und zwar mitRecht, solange sie eine “Existenzanalyse” ist - keine me-taphysisch-religiös fundierte Psychotherapie ist. Ich redevon einer “Polarisierung: Höhe-Tiefe”, weil - wie die Ge-schichte der abendländischen Metaphysik wohl lehrt - dieOntologien der Höhe ihre eigene Dimension, nämlich die

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Höhe, nach einem schweren Ringen mit den Ontologien derTiefe erreicht haben; mit anderen Worten, sie gelangten zurHöhe, indem sie irgendwie die Tiefe “verneint “ haben.(Diese Verneinung wird auch “Transzendierung” genannt).Und dasselbe gilt von den Ontologien (bzw. Psychologien,Psychotherapien) der Tiefe in bezug auf die Ontologien derHöhe (das zeugt zur Genüge die Geschichte des Materia-lismus, Naturalismus, Biologismus aller Prägungen bis inunsere Tage).

In dem Maße, wie es der Existenzanalyse gelingt, demSpannungsfeld beider metaphysischen Gegenpositionen zuentkommen, gewinnt sie eine Dimension - wir könnten sie“existenzielles Milieu” nennen - wobei es nicht darum geht,über die Welt hinaus hoch zu steigen oder in sich selbstzurückzukehren, sondern das uns in der Welt Distante undFremde nah und vertraut zu machen. “Höhe” und “Tiefe”könnten “metaphysische” Orte heißen; jetzt geht es um die“existenziellen” Orte, um “Nähe” und “Distanz”. Die me-taphysischen Orte liegen in den Extremen einer Vertikalen,die existenziellen dagegen sind nicht “End-stationen”, sindvielmehr dynamische Größen, Segmente einer Horizonta-len, die schon deshalb nicht “objektiv” gemessen werdenkönnten, weil sie nicht - ohne uns - schon in der Welt vor-liegen: Sie sind also nicht etwas an sich Reales, sie sind“Möglichkeiten”, die aber dann zum Dasein gelangen,wenn man die Initiative ergreift, sie sich anzueignen. Wasauf dieser Horizontalen gezeichnet wird (gemeint ist der“Horizont” der Welt, die ich für mich erschlossen habe; vonalldem was “diesseits” dieses Horizontes ans Licht kommt,kann ich sagen - das ist “meines”) ist die Erfahrung derFreiheit.

Die Ermöglichung der subjektiven Frei-heit: Hauptziel der Existenzanalyse

Es gibt verschiedene Arten von Freiheit: Eine ist die “sitt-liche” Freiheit, die dann erreicht ist, wenn das Gute an sich- mittels der entsprechenden Handlungen - verwirklichtwird; eine andere ist die, die man gewinnt, wenn man sichmit dem “Allgemeinen” - dem All der Seienden, dem Va-terland, der Familie - “versöhnt”, von dem sich der einzelneMensch notwendigerweise zu trennen hat, damit er als erselbst leben kann. Bei der dritten Form der Freiheit, vonder hier die Rede ist, - der “existenziellen” Freiheit näm-lich, geht es um etwas anderes: Im Sinne der existenziel-len Freiheit bin ich nicht dann frei, wenn ich ein “besse-rer” Mensch geworden oder als der “verlorene Sohn” nachHause zurückgekehrt bin. “Frei sein” heißt jetzt “sich nichtgezwungen fühlen”, “nicht von außen bestimmt sein”, “dieDistanzen mit den anderen und den Dingen geschlossenhaben”.

Der Weg zur existenziellen Freiheit geht nicht nachoben - in die Höhe der Werte, der Ideale und Lebens-projekte; es handelt sich nicht um eine “geistige”, rein“vernünftige”, sondern um eine mehr “psychologische”,

“gefühlsmäßige” Freiheit. Das “Selbst” oder das “Subjekt”,das die Erfahrung der existenziellen Freiheit macht, bin“ich selbst”, der ich mir “ganz nah” bin. Die “Nähe”, vonder die Existenzanalyse spricht, und die alles Äußere undFremde zu sich zu ziehen vermag, ist - wenn man so will- eine mehr “periphere”, am eigenen Körper, an der Hautgefühlte Nähe. Sie ist also keine tiefe Nähe, die das tiefeSelbst mittels einer Reflexion oder Vertiefung in sich selbstspüren könnte, von der wir im alltäglichen Leben keineAhnung haben (das ist übrigens die metaphysische, mysti-sche Erfahrung der Nähe Gottes).

Mit der Unterscheidung von diesen drei Arten vonFreiheit wollte ich nicht eine Form - nämlich die “existen-zielle”, die auch “subjektive” Freiheit heißt - gegen dieanderen ausspielen. Nehmen wir die drei Formen zusam-men, dann gilt es zu sagen: Die “existenzielle” Freiheit istnicht Endzweck der sittlichen Freiheit und der Freiheit derVersöhnung mit dem Seinsgrund; mit anderen Worten, ichsoll das Gute tun, Gott und die Nächsten lieben, aus Ach-tung des Gesetzes handeln, nicht mit der Absicht - wennich so lebe, dann werde ich mich “gut” - in Frieden mit mirselbst - fühlen. Sicher ist der innere Friede, das Sich-wohl-Fühlen, “Folge” eines rechten Lebens. Existenzanalyse isteigentlich kein “Subjektivismus”, wenn man davon eineDenkposition versteht, für die der Mensch (das einzelneSubjekt oder das Kollektive) Mitte der Welt ist. Existenz-analytisch denke ich jedoch “subjektivistisch”, solange ichnicht vergesse, daß es in meinem Leben, als diesem kon-kreten Menschen, “um mich selbst geht”. In der Existenz-analyse geht es, wie schon vermerkt, allein darum, demFaktum (ich rede von einem Faktum, weil es anders seinkönnte) genug Rechnung zu tragen, daß wir gewöhnlicher-weise das Gute tun, aber mit keinem guten Willen; und weilwir keinen guten Willen haben, auch nicht das Gute tun.Nun, wo liegt der Grund des schlechten Willens? Andersgefragt, warum sind wir miteinander und mit uns selbstschlecht gesinnt? Von Jesus haben wir zum ersten Malgehört, daß wir Gott von ganzem Herzen nicht lieben, wennwir die Nächsten nicht lieben; und seit Freud lernten wir,daß wir uns nicht lieben, wenn die anderen - in erster Stelledie Eltern - uns nicht geliebt haben. Der schlechte Willehat sich selbst nicht gern, er verachtet sich, er haßt sich.Heute wissen wir, daß dieser Selbsthaß sich als Grundla-ge fast aller Psycho-pathologien erweist. Ist dem so, dannist die existenzielle Freiheit nicht “Ziel”, sondern “Voraus-setzung” für die anderen Freiheitsformen.

Kommen wir zu dem eingangs Gesagten zurück:“Mensch-sein” heißt “in der Welt sein”, “Welt-erschlie-ßen”. In dieser Formel bin nicht ich, sondern ist nur dieWelt erwähnt. Die Eröffnung von Welt aber erfordert dieÖffnung des intimen Bereiches des Daseins, des Menschen-herzens, an dessen Wärme alles Distante und Fremde nahund vertraut wird. Unser Herz wärmt sich, indem wir unsselbst innen berühren, fühlen. Was ich fühle, ist, “daß ichbin - und es im Grunde gut ist, daß ich bin” (Längle 1993a,36). Auf der Selbsterfahrung des Wertes meiner Existenzgründet - muß gründen - die Tafel aller Werte und Gebo-

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te. Hauptziel der existenzanalytischen Psychotherapie ist,Menschen, die taub und blind für sich selbst sind, zu hel-fen, sich selbst zu finden und zu erkennnen.

Die Rede von “Subjekt” und “Subjekti-vem” in der Existenzanalyse

Zuletzt eine Erklärung über die Form, wie die Existenzana-lyse von “Subjekt”, “Subjektivem” und “Subjektivität”spricht. Gion Condrau (1963, 26) wies in seiner Abhand-lung - ganz im Sinne Heideggers gedacht - die Idee einer“personalen” Psychologie (an dieser Stelle bezieht er sichauf die Logotherapie Frankls) mit dem Argument zurück,man könne den Begriff von Person nicht denken, ohne ihmden eines “Subjekts” zu unterstellen: “Wenn Rudin (in“Psychotherapie und Religion”, Zürich, 1960, 84) bemerkt,die Logotherapie Frankls beziehe die geistige Dimensiondes Menschen am entschiedensten mit ein, so darf dies nichtkritiklos hingenommen werden. Die Idee vom Menschen alseiner Geist-Seele-Einheit, wie immer diese auch beschaf-fen sein möge, entspricht ...wohl nicht der heutigen Auf-fassung des menschlichen Daseins. Deshalb fällt es auchschwer, in der psychotherapeutischen Praxis von ‘Person’oder ‘personaler’ Psychologie zu sprechen, ohne daß mangleichzeitig dieser ‘Person’ oder dem ‘Personalen’ denBegriff eines Subjektes oder einer Subjektivität unterstel-len müßte”.

Condrau läßt sich dabei - wie sein verstorbener Leh-rer Medard Boss - von der Meinung Heideggers leiten (wieich es auch tat, als ich Stellung nahm zur “Personalen Exi-stenzanalyse” Längles (Espinosa 1993; vgl. den Brief indiesem Heft - Anm.d.Red.), man habe sich das “Subjekt”oder die “Subjektivität” immer wie eine “Kapsel” (wieeinen Innenraum der Seele oder des Bewußtseins) vorge-stellt, wo wir leben und von dem her wir zur Außenweltkommen, wenn wir etwas wahrnehmen, fühlen, wollen, usw.(Boss 1987, 5). Gegen “diese” Idee von “Subjekt” hat derfrühe Heidegger die Idee des “Daseins” gedacht: Wir sindnicht “drinnen”, in uns selbst verschlossen; die dem Men-schen eigene Seinsweise heißt “Existieren”, und dieses ist“Sein in der Welt”. Das “In” von “in der Welt” ist keinLokativ, wie wenn wir jetzt nicht mehr in uns, sondern inder Welt wären. In der Tat existieren wir weder draußenin der Welt noch drinnen im Psychismus, sondern “zur Welthingerichtet”. Nun, wegen der in der AuseinandersetzungHeideggers mit der “Bewußtseinsphilosophie” (Kant,Husserl) berechtigten Betonung des “ex-statischen” Cha-rakters der Existenz (Existenzialität des Daseins), hat mannicht - oder nicht genug - einen anderen Aspekt berücksich-tigt, der so wichtig ist wie dieser, nämlich die “Intimität”des Daseins. Person kann, ohne eine Kapsel zu sein, ge-dacht werden; ohne Intimität aber nicht.

In dem Maße wie Längle (1993b, 133 ff.) diesen fürdas Person-Sein tragenden Aspekt (das Personale in derExistenz) hervorhebt, kann er seine Existenzanalyse alseine “personale” bezeichnen. Damit läßt die neue Existenz-analyse ihre logotherapeutische Herkunft erkennen.

Literatur

BOSS M. (1987) (Hrsg) Zollikoner Seminare, Frankfurt/M.:Klostermann

CONDRAU G. (1963) Daseinsanalytische Psychotherapie. Bern:Huber

ESPINOSA N. (1993) Anmerkungen zur Personalen Existenzana-lyse (PEA). Wien: Bulletin der GLE 10,2, 15-19

FINK E. (1958) Sein, Wahrheit, Welt. Vor-fragen zum Problem desPhänomen-Begriffs. Den Haag: Martinus Nijhoff

FRANKL V. (1985) Ärztliche Seelsorge. Frankfurt: FischerHEGEL G.W.F. (1940) Einleitung in die Geschichte der Philoso-

phie. Ausgabe J. Hoffmeister, Hamburg: Phil. Bibl., Mei-ner

KAMPER D. (1993) Orientierung durch Ethik? In: Wils J.-P.(Hrsg.) Orientierung durch Ethik? Paderborn: Schöningh

KANT I. (1914) Kritik der praktischen Vernunft, Kants Werke ,Bd. V. Berlin: Ausgabe Cassirer

KORFF H.A. (1958 (4)) Geist der Goethezeit, Bd I, Leipzig: Köh-ler & Amelang

LÄNGLE A. (1993a) Wertberührung. In: Längle A. (Hrsg.) Wert-begegnung. Phänomene und methodische Zugänge. Wien:GLE-Verlag, 22-59

LÄNGLE A. (1993b) Personale Existenzanalyse. In: Wert-begegnung. Phänomene und methodische Zugänge. Wien:GLE-Verlag, 133-160

LÄNGLE A. (1994) Sinn-Glaube oder Sinn-Gespür? Zur Differen-zierung von ontologischem und existentiellem Sinn in derLogotherapie. Wien: Bulletin der GLE 11, 2, 15-20

SCHELER M. (1991) Die Stellung des Menschen im Kosmos.Bonn: Bouvier, 12..Aufl.

WILS J.-P. (1993) (Hrsg.) Orientierung durch Ethik? Paderborn:Schöningh

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Nolberto EspinosaMartinez de Rosas 44

5500 Mendoza, Argentinien

Anmerkung der Redaktion:Die Schreibweise von “existenziell” lehnt sich auf aus-drücklichen Wunsch von N. Espinosa an die von M.Heidegger an.

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sondern ein Jemand sein muß, eine Person bzw. - als einmeine Person Überragendes - eine Überperson sein muß.Mit einem Wort: Sofern ich existiere, existiere ich immerschon auf Gott hin.“ (Frankl 1984, 232)

Es bleibt die Frage: Ist mit einer derartigen Aussagedie Grenze einer sich als wissenschaftlich verstehendenPsychotherapie überschritten? Handelt es sich bei der Exi-stenzanalyse also letztlich um ein religiöses System? Der-artige und ähnliche Sätze veranlassen manche Psychothe-rapeuten zu dieser Annahme und damit zur Ablehnung derExistenzanalyse als ein religiös-philosophisch überhöhtesSystem. Auf der anderen Seite läßt sich ein großes Inter-esse an der Existenzanalyse aus kirchlich-christlichen Krei-sen beobachten. Man hört dann, daß die Verbindung vonGlauben und Psychotherapie - vermittelt über den Sinn-begriff - fasziniere. Gerade aber der Glaube dieser von derExistenzanalyse faszinierten Menschen erweist sich bei ge-nauerem Hinsehen oft als massiv von angst- und zwangs-neurotischen Strukturen geprägt, sodaß der Eindruck ent-steht, daß die Faszination von einer als stützend empfun-denen Existenzanalyse für einen angstbesetzten Glaubenausgeht. Endlich kann man im Horizont des eigenen Glau-bens auch die Psychologie, ja sogar die Psychotherapie in-tegrieren. Daß dieses die Skepsis und Ablehnung eben ge-nannter Psychotherapeuten nur verschärft, liegt auf derHand.

Macht es die Existenzanalyse aufgrund ihrer Aussagenzu Religion und Glauben dem Glaubenden zu einfach, in-dem sie ihn in seiner Selbstgewißheit bestätigt und an kirch-lich- theologische Traditionen und bürgerliche Formen an-paßt? Legen die Aussagen Frankls nahe, als reifer, existen-tiell lebender Mensch konsequenterweise auch religiös zusein? Entfaltet sich also vor dem Hintergrund der Aussa-gen Frankls ein geheimer Anspruch an das Erleben vonReligiosität? Und schließt dieser nicht unweigerlich die sichals irreligiös verstehenden Menschen aus, ja mobilisiert inihnen sämtliche Abwehrmechanismen aufgrund einer alsunzulässig empfundenen Vereinnahmung? Ist die Existenz-analyse eine eigenständige anthropologische und psychothe-rapeutische Forschungsrichtung oder eine ancilla theologiae,eine Magd der Theologie?

Diese und weitere Fragen ergeben sich aus dem Stu-dium der Aussagen Frankls zur Religion und entsprechen-der Auseinandersetzungen.

Vom Willen zu einem letzten SinnChristoph Kolbe

Die Existenzanalyse und ihr Verhältnis zu Glaube und Religion aus der Sicht V.E. Frankls

Diesem Artikel liegt ein Vortrag zugrunde,der während der GLE-Tagung im Herbst1990 gehalten wurde.Es geht in diesem Beitrag um eine möglichstsachgerechte Darstellung der Position Vik-tor E. Frankls zum Verhältnis von Existenz-analyse und Religion bzw. Glaube.Der Vortrag diente damals als Gesprächs-grundlage für die weitere thematische Ent-faltung während der Tagung. Er kann auchheute noch manchen Anlaß für eine vertief-te und weiterführende Auseinandersetzungbieten. Die Gedanken werden unter vierSchwerpunkten entfaltet:1. Religion als Gegenstand2. Gläubigkeit als umfassenderer Sinn-

glaube3. Existentielle und unbewußte Religiosität4. Glaubenserfahrung und Form

Einführendes

Beginnen wir mit einer Aussage Frankls, die die gesamteSpannung des Themas bereits enthält - eine Aussage imRahmen eines Artikels, dem Frankl die Bemerkung voran-stellt, daß viele seiner Ausführungen die anthropologischenGrundlagen der Psychotherapie auf theologische Grenzfra-gen hin überschreiten. Deshalb dürfen sie auch nicht alsBestandteil der Logotherapie gesehen werden, die sich alsMethode und Technik der Psychotherapie auch von denenanwenden läßt, die diesen Überlegungen nicht zustimmen.Nun also zu dem Zitat: „Sofern ich existiere, existiere ichauf Sinn und Werte hin; sofern ich auf Sinn und Werte hinexistiere, existiere ich auf etwas hin, das mich notwendigan Wert überragt, das wesentlich von höherem Wertrangist als mein eigenes Sein - mit anderen Worten: ich exi-stiere auf etwas hin, das auch schon kein Etwas sein kann,

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1. Religion als Gegenstand

Zum Verhältnis von religiöser und nicht religiöserGrundauffassung

Beginnen wir deshalb grundlegend mit der Frage nach demVerhältnis von Existenzanalyse und Religion, wie es vonFrankl verschiedentlich herausgearbeitet wurde:

„Für die Logotherapie kann Religion nur ein Gegen-stand sein - nicht aber ein Standort. Religion ist ein Phä-nomen unter anderen Phänomenen, denen die Logo-therapie begegnet; im Prinzip aber sind für die Logo-therapie die religiöse und die irreligiöse Existenz ko-exi-stente Phänomene, mit anderen Worten, die Logotherapieist ihnen gegenüber zu einer neutralen Einstellung ver-pflichtet.“ (Frankl 1981, 91)

Dies bedeutet für die Existenzanalyse, auf jeden welt-anschaulichen Oktroi zu verzichten. Warum aber ist dieserVerzicht eine grundlegende Bedingung, weshalb ist strikteNeutralität gefordert? Frankls Hinweis auf das ”Österrei-chische Ärztegesetz“ in diesem Zusammenhang mutet zu-nächst eher formal an. Tatsache ist, daß es religiöse undnicht religiöse Menschen gibt. Und ihnen gegenüber ist dieExistenzanalyse zu Toleranz verpflichtet, ansonsten würdesie in den psychotherapeutischen Prozeß Bedingungen ein-flechten, die dem Patienten keine freie Wahl hinsichtlichseiner Religiosität lassen. Das aber bedeutet auch, daß sichdie Sinnfrage und weiter gefaßt die Frage nach erfülltemLeben diesseits einer Trennung in eine religiöse und einenicht religiöse Grundauffassung beantworten lassen muß.Und gerade diesen Nachweis hat die Existenzanalyse ge-führt. Sie hat die Sinnfrage als eine zutiefst menschlicheFrage herausgearbeitet - eine Frage, die religiös beantwor-tet werden kann, aber nicht muß. Dies ist ein Stachel fürjegliche Weltanschauung und Religion, die meint, daß sichnur von ihr her die Sinnfrage beantworten ließe.

„Die Existenzanalyse stellt nur fest: Der Mensch istauf der Suche. Aber sie vermag von sich aus niemals zuentscheiden: ob auf der Suche nach einem Gott, den derMensch erfindet, oder auf der Suche nach dem Gott, dener nicht findet, oder dem Gott, den er findet - oder aufder Suche nach sich selbst. Diese Frage wird sich von derExistenzanalyse her schon einfach darum nie beantwor-ten lassen, weil Gott nicht in einer der ihr zugänglichenDimensionen `ist’; vielleicht ist er aber überhaupt in kei-ner Dimension, sondern das Koordinatensystem selbst.“(Frankl 1982, 75)

Damit aber stellt sich die Frage nach dem Verhältniszwischen der religiösen und der nicht religiösen Grundauf-fassung neu. Frankl sieht es nicht gegensätzlich, sondernzusätzlich. Dieser Gedanke ist überaus klärend und hilf-reich. Psychotherapeutisches Ziel der Existenzanalyse istes, den Menschen zur Erfahrung des Lebens als Aufgaben-erlebnis zu führen. Die Existenzanalyse des religiösenMenschen zeigt nun, daß dieses Aufgabenerlebnis in Ver-bindung mit einem Auftraggeber erfahren wird, so daß sich

vom Auftragserlebnis sprechen läßt. Dieser Schritt in eineweitere, eine andere, eine umfassendere Dimension hinein,wie Frankl sagt, darf jedoch weder Überlegenheit nochÜberheblichkeit als Gefühl zur Folge haben.

Halten wir bis hierhin fest:

Existenzanalyse als Psychotherapie bescheidet sich mit derKlärung der Sinnfrage in existentieller Hinsicht. Ihr gehtes um die Frage nach dem Sinn im Leben, die sich dort be-antwortet, wo der Mensch das Leben mit seinen Möglich-keiten als Aufgabe erlebt, der Sinn somit die Frage ist, dieden Menschen angeht und der er mit seinem Dasein antwor-tet. Anders stellt sich die Sinnfrage in ontologischer Hin-sicht. Ihr geht es um den Sinn des Seins. Damit wird derMensch zum Fragenden aus ontologischer Betroffenheitheraus: Wie und durch wen bin ich im letzten begründet?Wer kann mir antworten? Stellt sich auf diese Fragen Ge-wißheit ein, wird Sinn als Antwort erlebt. Das aber setzteinen Glaubensschritt voraus, wie er in der religiösen Er-fahrung vollzogen wird. Der „Lebensauftrag“ wird deshalbvom religiösen Menschen in Verbindung mit einem tran-szendenten „Auftraggeber“ erlebt. Diese Erfahrung gilt alsein Wesenszug des homo religiosus. Das Wozu desVerantwortlichseins wird in Verbindung mit dem Wovorerlebt.

„Das Sollen ist bei allem Wollen somit immer schonvorausgesetzt; das Sollen ist dem Wollen ontologisch vor-gelagert ... so ist das Wovor aller Verantwortung - vor-gängig der Verantwortung selbst. Mein Sollen muß vor-gegeben sein, sofern ich wollen soll.“ (Frankl 1979, 51 f.)

2. Gläubigkeit als umfassender Sinnglaube

Zum Verhältnis von Sinn und Über-Sinn

Von hierher läßt sich nun die Frage nach dem Verhältnisvon Sinn und Über-Sinn aufnehmen. Existenzanalyse undReligion treffen sich in der Frage nach dem Sinn des Le-bens, wenn auch die Sinnfrage als anthropologischeOrientierungskategorie nicht identisch ist mit der Gottes-frage. Vermag nun die Religion die Antwort auf diese Fra-ge vom Offenbarungsgeschehen her zu geben, so ist derPsychotherapie eine Antwort nur diesseits eines solchenGlaubensschrittes möglich. Die Existenzanalyse beantwor-tet darum die Sinnfrage diesseits einer Trennung in einereligiöse oder nicht religiöse Lebenseinstellung. Allerdingsstellt sie dabei fest, daß der Sinnglaube eine transzenden-tale Kategorie ist.

Frankl vergleicht den Sinn mit einer Mauer, hinter dienicht weiter zurückgetreten werden kann, die vielmehr hin-zunehmen ist. Ebenso muß der Mensch einen letzten Sinnannehmen, hinter den er nicht zurückfragen kann, denn „beidem Versuch, die Frage nach dem Sinn von Sein zu beant-worten, (ist) das Sein von Sinn immer schon vorausgesetzt“

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(Frankl 1979, 78). Genauso wie es sinnlos ist, über dieKategorien von Raum und Zeit hinauszufragen, weil derMensch nicht denken und fragen kann, ohne diese Katego-rien immer auch schon vorauszusetzen, genauso ist dasmenschliche Sein immer schon ein Sein auf den Sinn hin,mag es ihn auch noch so wenig kennen. Frankl spricht des-halb vom „Vorwissen um den Sinn“ bzw. einer „Ahnungvom Sinn“, die dem Willen zum Sinn zugrunde liegen.Hierin ist der Glaube an einen im dimensionalen Sinnehöheren Sinn des Lebens eingeschlossen.

Diesen „umfassenderen Sinnglauben“ stellt Frankl dem„Glauben an Gott“ gegenüber, und deshalb hält er es fürlegitim, sich als Psychotherapeut mit dem „Phänomen derGläubigkeit“ zu beschäftigen. Dann erst im Glauben stößtder Mensch in diese höhere, die ultra-humane Dimensionvor. Frankl geht davon aus, daß der „Sinn des Weltganzen“für den Menschen erst dann faßbar wird, wenn er seineWelt überhöht sieht als von einer ihm nicht zugänglichenWelt, deren Sinn seinem Leben und Leiden Sinn zu gebenimstande ist.

Dieser Schritt in die ultra-humane Dimension kann nurim Glauben vollzogen werden. Die Existenzanalyse sprichthier von dem „Willen zu einem letzten Sinn, einem Über-sinn, ... und der religiöse Glaube ist letztlich ein Glaubenan den Übersinn - ein Vertrauen auf den Übersinn“ (Frankl1979, 78). So läßt sich also das Phänomen der Gläubigkeitexistenzanalytisch als umfassenderer Sinnglaube kenn-zeichnen.

Diese phänomenologische Charakterisierung des reli-giösen Glaubens als Vertrauen auf den Übersinn steht je-der Reduzierung religiöser Erfahrung auf eine bestimmteReligion, eine bestimmte Konfession, auf einzelne dogma-tische Inhalte sowie auf einen bestimmten institutionellenRahmen entgegen. Ja mehr noch - in existentieller Hinsichtgilt:

„Soweit es überhaupt möglich ist, nach dem Sinn zufragen, muß nach dem Sinn einer konkreten Person undkonkreten Situation gefragt werden. Sobald die Sinnfra-ge jedoch aufs Ganze geht, wird sie sinnlos. Wird dieSinnfrage konkret gestellt, so wird sie ‘ad hoc’ gestellt,d.h. es wird nach einem bloß relativen Sinn gefragt - wennauch nicht im Sinne eines Relativismus, sondern nur indem einer Frage nach einem partikulären Sinn. Die Fra-ge nach dem absoluten Sinn zu beantworten, ist derMensch außerstande.“ (Frankl 1984, 200)

An anderer Stelle führt Frankl deshalb aus, daß, jeumfassender ein Sinn ist, er um so weniger faßlich ist(Frankl 1979, 89). Das hat damit zu tun, daß das Ganzefür den Menschen eo ipso nicht mehr überschaubar ist unddamit der Sinn des Ganzen über das menschliche Fassungs-vermögen notwendig hinausgeht. Der Sinn des Ganzen istdeshalb nicht weiter aussagbar - außer im Sinne einesGrenzbegriffs: „Das Ganze hat keinen Sinn - es hat einenÜbersinn“ (Frankl 1984, 200 f.). Ein Beweis für den Sinndes Ganzen, den Übersinn, ist unmöglich, ebenso wie esunmöglich ist, ihn zu denken; so ist es notwendig, ihn zuglauben. So stellt sich dem Menschen eine grundlegende

Aufgabe:„Die Unüberschaubarkeit des Ganzen, die Unein-

sehbarkeit der Sinnfülle dieses Ganzen, die Unbeweisbar-keit des Übersinns - dies auf sich zu nehmen, gehört zumDasein wesentlich mit dazu.“ (Frankl 1984, 201) „Undwas ihm (dem Menschen) die Verzweiflung erspart am of-fenbaren Unsinn, das ist sein Vertrauen in den verborge-nen Übersinn. Ein Vertrauen, das den Verzicht in sichschließt auf die Wißbarkeit des Übersinns - zugunsten ei-ner Gläubigkeit an ihn.“ (Frankl 1984, 227)

Es stellt sich von hierher neu die Frage: Muß derMensch glauben, um sinnvoll leben zu können? Genauergefragt: Wie korrespondiert die Sinnfrage in existentiellerund ontologischer Hinsicht? Hierzu nochmals ein längeresZitat von Frankl:

„Wenn ich mich in meinem Glauben an einen Über-sinn darauf verlasse, daß - was auch immer ich tun magund wie auch immer dieses mein Tun ausgehen mag - imEffekt des Tuns der Übersinn sich irgendwie, so oder so,durchsetzen wird, durchsetzen muß: wenn ich mich auf alldies verlasse, dann bin ich in meinem Handeln lahmge-legt. Daher muß ich so tun, als ob alles einzig und alleinvon meinem Tun und Lassen abhinge und als ob allesdarauf ankäme, was ich tue und lasse. Meinen Glaubenan einen Übersinn muß ich im Augenblick meines Han-delns, um überhaupt handeln zu können, abblenden. Ichdarf mich im Moment des Handelns nur an den Sinn hal-ten, der mir jeweils vorschwebt, aber nicht an den Über-sinn, der sich immer durchsetzt. Darauf, daß er sichdurchsetzt, kann ich mich verlassen. Darauf kann ichrechnen. Ich kann ‘auf ’ den Übersinn rechnen, aber nicht‘mit’ ihm. Den Glauben an einen Übersinn abblendenheißt aber nicht, den Übersinn ausschalten. Das Durch-setzen eines Sinnes, der mir vorschwebt, ist abhängig vonmeinem Tun und Lassen: Je nachdem, was ich tue undlasse, geschieht etwas entweder - oder es geschiehtnichts; aber der Übersinn setzt sich durch, unabhängigvon meinem Tun und Lassen: entweder mit oder ohnemein Dazutun, entweder mit meiner Mitwirkung oder un-ter Umgehung meiner. Mit einem Wort: Die Geschichte,in der sich der Übersinn erfüllt, geschieht entweder durchmeine Unternehmungen hindurch - oder über meine Un-terlassungen hinweg.“ (Frankl 1984, 202)

Dieser Gedanke ist gerade in praktischer Hinsicht au-ßerordentlich wichtig. Wenn ich davon ausgehe, daß sichim Effekt meines Tuns der Übersinn irgendwie durchsetzt,dann wird mein Handeln, meine Entscheidung, mein Ent-schluß zweitrangig, dann trage letztlich nicht ich Verant-wortung, sondern irgendeine höhere Instanz. Das aber legtmich im praktischen Handeln lahm. Tatsächlich suspendie-ren sich viele religiöse Menschen von der Last der Eigen-verantwortung, indem sie ständig auf den Willen Gottesverweisen und sich dabei noch besonders fromm vorkom-men, weil sie sind, sich selbst zurückzunehmen und damitanderen und anderem Raum geben. Bei genauerem Hinse-hen erweist sich ein derartiger Glaube als eine Hilfs-funktion, Eigenverantwortung zu vermeiden, also nichtselbst für das einstehen zu müssen und zu wollen, was man

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tut und läßt. Bei noch genauerem Hinsehen vermag sichdahinter sogar eine spezifische Selbstverwirklichung inreligiösem Gewand verbergen. Hierzu der evangelischeTheologe Heinz Zahrnt in seinem Buch „Gotteswende“:„Im Horizont der Welt ist Gott nicht notwendig. DerMensch kann auch ohne Gott Mensch sein - sowohl gutleben als auch gut handeln. Den Glauben unter dem Ge-sichtspunkt des Zwecks als notwendig erweisen zu wollen,ist ein verächtliches Unterfangen, weder für Gott noch fürden Menschen schmeichelhaft. Einen Gott, den manbraucht, braucht es nicht - ein brauchbarer Gott ist im-mer ein Götze. Gott hat seinen Grund allein in sich selbstund ist darum auch nur um seiner selbst willen interes-sant.“ (Zahrnt 1989, 102)

3. Existentielle und unbewußte Religiosität

Zur Existenzanalyse des homo religiosus

Kommen wir nun zu einem dritten Schwerpunkt meinerAusführungen, zur Existenzanalyse des homo religiosus.

Wenn Glaube seine Bedeutung nicht im funktionalenSinne des Zweckglaubens hat, dann ist zu fragen, um wel-che Erfahrung es sich hierbei handelt. Denn daß es Men-schen gibt, die „das Leben gleichsam in einer weiterenDimension erleben“ (Frankl 1985, 71), läßt sich immerwieder feststellen. Frankl unterscheidet nun zwischen exi-stentieller Religiosität, unbewußter Religiosität und existen-tiell unechter Religiosität.„Religiosität ... ist nur dort echt, wo sie existentiell ist,wo also der Mensch nicht irgendwie zu ihr getrieben ist,sondern sich für sie entscheidet. Nun aber sehen wir, daßzu diesem Moment der Existentialität als ein zweites nochhinzu tritt das Moment der Spontaneität.“ (Frankl 1979,65 f.)

Entscheidung und Spontaneität gelten somit als Kenn-zeichen echter Religiosität. Gemeinsam mit C.G. Jung ver-tritt Frankl die Auffassung, daß die Seele des Menschennaturaliter religiosa sei (1979, 69). Innerhalb des Unbe-wußten ist auch das Religiöse zu sehen, die sogenannteunbewußte Religiosität. Anders als Jung sieht Frankl siejedoch im geistig Unbewußten angesiedelt. Wie kommtFrankl zu diesen Auffassungen? Ein Zugang war dieexistenzanalytische Traumdeutung, die bei verschiedenenPatienten die Problematik mehr oder weniger bewußterbzw. verdrängter Religiosität zum Thema hatte. Dabei zeig-te sich, daß ein Kennzeichen echter Religiosität ihre Inti-mität ist. Zusätzlich zu diesen psychologischen Ergebnis-sen existenzanalytischer Traumdeutung versucht Frankl dasFaktum unbewußter Religiosität aufgrund ontologischerVoraussetzungen nachzuweisen. Es sind wohl gerade dieseAusführungen, die einige Wissenschaftler und Psychothe-rapeuten veranlassen, die Existenzanalyse und Logotherapieals letztlich theologisch überhöht einzuschätzen und abzu-lehnen. Frankl sagt, daß sich das Frei-Sein des Menschenaus seiner Existentialität verstehen läßt, das Verantwortlich-

sein bedarf jedoch eines Rückgriffs auf dieTranszendentalität des Gewissen-Habens. Mit anderenWorten: Gewissen ist die Stimme der Transzendenz,Sprachrohr von etwas anderem, mehr als mein Ich. Eineaußermenschliche Instanz klingt durch das Gewissen dermenschlichen Person.„Der irreligiöse Mensch ist nun nichts anderes als einer,der diese Transzendenz des Gewissens verkennt. Dennauch der irreligiöse Mensch ‘hat’ ja Gewissen, auch derIrreligiöse hat Verantwortung; er fragt bloß nicht weiter- weder nach dem Wovor der Verantwortung noch nachdem Woher des Gewissens. ... Der irreligiöse Mensch istalso derjenige, der sein Gewissen in dessen psychologi-scher Faktizität hinnimmt; derjenige, der bei diesem Fak-tum als einem bloß immanenten quasi haltmacht - vorzei-tig haltmacht, können wir sagen: denn er hält das Gewis-sen für eine Letztheit, für die letzte Instanz, vor der er sichzu verantworten hat. Das Gewissen ist aber nicht das letz-te Wovor des Verantwortlichseins; es ist keine Letztheit,sondern eine Vorletztheit. Vorzeitig hat der irreligiöseMensch auf seiner Wegsuche zur Sinnfindung haltge-macht, wenn er über das Gewissen nicht hinausgeht, nichthinausfragt. ... Dieses Wagnis leistet eben nur der religiö-se Mensch.“ (Frankl 1979, 48 f.)

Von hierher läßt sich auch verstehen, daß existentielleReligiosität Entscheidungscharakter hat. Hinter dem Gewis-sen nun steht - so Frankl - das Du Gottes. Machtwort istdas Gewissen in der Immanenz, weil es das Du-Wort derTranszendenz ist (Frankl 1979, 52). Die unbewußte Reli-giosität innerhalb der unbewußten Geistigkeit des Men-schen meint also seine unbewußte Gottbezogenheit, einedem Menschen immanente, wenn auch noch so oft latentbleibende Beziehung zum Transzendenten. Gott ist unbe-wußt immer schon intendiert. Der Mensch hat immer schoneine, wenn auch unbewußte, so doch intentionale Beziehungzu Gott.

„Und diesen Gott eben nennen wir den unbewußtenGott. Unsere Formel vom unbewußten Gott meint alsonicht, daß Gott an sich, für sich, sich selbst - unbewußtsei; vielmehr meint sie, daß Gott mitunter uns unbewußtist, daß unsere Relation zu ihm unbewußt sein kann, näm-lich verdrängt und so uns selbst verborgen.“ (Frankl 1979,55)

Ist die Beziehung zur Transzendenz gestört, der tran-szendente Bezug verdrängt, so mag sich das in der neuro-tischen Existenzweise widerspiegeln - sichtbar mitunter ineiner „Unruhe des Herzens“ oder anderen Erscheinungsfor-men neurotischer Vordergrundsymptomatik. Verdrängte un-bewußte Religiosität kann pathogen sein. Im Gegenüber zuFreud wagt Frankl die Behauptung, die Zwangsneurose seidie seelisch erkrankte Religiosität. Man sieht dies überalldort, wo der verdrängte Glaube in Aberglaube ausartet, wodas religiöse Gefühl einer Verdrängung seitens der selbst-herrlichen Vernunft, des technischen Verstandes zum Op-fer fällt. „In der neurotischen Existenz rächt sich an ihrselber die Defizienz ihrer Transzendenz.“ (Frankl 1979, 64)

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4. Glaubenserfahrung und Form

Zum Verhältnis von personalisierter Religiosität undKonfession

Lassen sie mich mit einigen Aussagen zum Verhältnis vonPersonalität und Konfession schließen - wohl wissend, daßeine Reihe von Aussagen Frankls z.B. zur Frage nach derExistenz und Essenz Gottes, zum Verständnis der Symbo-le und zum Menschen als dem Ebenbild Gottes nur ange-deutet bzw. nicht ausgeführt werden konnten.

In welchem Verhältnis steht nun das personale Ver-trauen auf den Übersinn, wie es auch im religiösen Glau-ben erlebt wird, zur Konfession? Frankl meint, seine Auf-fassung von Religion habe herzlich wenig zu tun mit kon-fessioneller Engstirnigkeit und religiöser Kurzsichtigkeit,„die in Gott anscheinend ein Wesen sieht, das im Grundenur auf eines aus ist: daß eine möglichst große Zahl vonMenschen an ihn glaubt, und überdies noch genau so, wieeine ganz bestimmte Konfession es vorschreibt. Ich kannmir einfach nicht vorstellen, daß Gott so kleinlich ist. Ichkann mir aber auch nicht vorstellen, daß es sinnvoll ist,wenn eine Kirche von mir verlangt, daß ich glaube. Ichkann doch nicht glauben wollen“ (Frankl 1979, 78). Soweitdie Konfessionen nichts anderes zu tun haben, als sich ge-genseitig zu bekämpfen und die Gläubigen abspenstig zumachen, führt der Trend von ihnen weg, nicht aber von derReligion. Hier zeigt sich, daß wir auf „eine personale - einezutiefst personalisierte Religiosität zu(gehen), eine Religio-sität, aus der heraus jeder zu seiner persönlichen, seinereigenen, seiner ureigensten Sprache finden wird, wenn ersich an Gott wende“ (Frankl 1979, 79). Das macht dieKonfession nicht zwangsläufig überflüssig, es verweist siejedoch in ihre Grenzen. Konfession hat den Charakter derForm und des Weges. Die Toleranz gebietet es, im Blickauf das Ziel um den Weg nicht zu streiten. Religiosität undKonfession gehen insofern Hand in Hand, als die konfes-sionelle Tradition dem religiösen Menschen die Sprachebietet, in der er seiner Religiosität Ausdruck zu verleihenvermag. Andererseits weist Frankl auf die Gefahr erstarr-ter Konfessionalität hin. Der religiöse Gehalt einer Kon-fession darf nie in der Form gerinnen, darf nicht in dog-matischem Inhalt und in ritualer Form fixiert werden. Esbleibt zu berücksichtigen, daß die Konfessionen „irgend-wie einen identischen Urtatbestand“ (Frankl 1982, 71)meinen, der nun wiederum auch nicht in einer allgemeinenMenschheitsreligion aufzulösen ist. Dies würde lediglichkünstliche Religiosität zur Folge haben. Die konfessionel-le Verschiedenheit ist nämlich für den Menschen eine Not-wendigkeit, weil sie jedem einzelnen seinen Weg weist, zudem einen gemeinsamen Ziel zu gelangen. Das aber erfor-

dert - wie bereits angesprochen - Toleranz und gegenseiti-ges Verständnis. Für den durchschnittlichen Menschen - sobetont Frankl - ist die religiöse Sprache nur als konfessio-nell traditonsgebundene Sprache zu finden (Frankl 1982,71). Denn der religiöse Enthusiasmus neigt dazu, „im Ne-bulosen zu verpuffen, im Vagen zu verschwimmen, im Ufer-losen zu zerfließen. Gerade darum aber verlangt es ihnnach der Form, nach einer Form, die ihn eingrenzen soll,nach symbolischer Form: nach dem Rituellen, Zeremoniel-len, Institutionellen - kurz: nach der konfessionellen Tra-dition.“ (Frankl 1984, 238). Dies schließt jedoch ein, daßder Mensch durch das Medium jeder Religion hindurch zudem einen Gott finden kann. Glaube darf also nicht starrsein, er soll jedoch fest sein. „Starrer Glaube macht fana-tisch - fester Glaube tolerant“ (Frankl 1984, 239).

Nach diesen weitgespannten Überlegungen zum Ver-hältnis der Existenzanalyse zu Glaube und Religion bleibtabschließend als Anliegen der Existenzanalyse festzuhal-ten:

„Die Existenzananlyse hat es sich zur Aufgabe zu ma-chen, gleichsam das Zimmer der Immanenz einzurichten -es einzurichten allerdings, ohne die Tür zur Transzendenzhierbei zu verstellen. Die Tür bleibt offen - jene Tür, durchdie der Geist der Religiosität einziehen, oder der religiöseMensch hinausgehen kann in all der Spontaneität, die al-ler echten Religiosität eignet.“ (Frankl 1982, 75)

Literatur

FRANKL V.E. (1979) Der unbewußte Gott. Psychotherapie undReligion. München: Kösel (5. Aufl.)

FRANKL V.E. (1981) Das Leiden am sinnlosen Leben. Psychothe-rapie für heute. Freiburg/Basel/Wien: Hans Huber (6.Aufl.)

FRANKL V.E. (1982) Der Wille zum Sinn. Ausgewählte Vorträ-ge über Logotherapie. Bern/Stuttgart/Wien: Hans Huber(3. Aufl.)

FRANKL V.E. (1984) Der leidende Mensch. AnthropologischeGrundlagen der Psychotherapie. Bern/Stuttgart/Toronto:Hans Huber (2. Aufl.)

FRANKL V.E. (1985) Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logo-therapie und Existenzanalyse. Frankfurt/Main: Fischer

ZAHRNT H. (1989) Gotteswende. Christsein zwischen Atheismusund neuer Religiosität. München: Piper

Anschrift des Verfassers:

Dr. paed Christoph KolbeBorchersstraße 21

D - 30559 Hannover

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Personale Existenz und gläubige ExistenzMichael Utsch

Über die spannungsreiche Verbindung zwischen personaler und gläubiger Existenz

Durch die Verwurzelung der Existenzanaly-se in der christlichen Anthropologie von M.Scheler hatte die Logotherapie von jehereine natürliche Nähe zur Religion. Im Sinneeiner Abgrenzung schlägt der Autor eine Dif-ferenzierung zwischen personaler Existenzund gläubiger Existenz vor. Dies hätte denVorteil, daß die unterschiedlichen Voraus-setzungen zu ihrem Gelingen sowie die Ver-schiedenheit der Ziele deutlich gemachtwerden könnten.In der Gegenüberstellung der beidenExistenzweisen werden kritische Anfragenan die jeweilige Gegenposition formuliert.

Die Existenzanalyse Frankls berücksichtigt wie kaum einanderes psychotherapeutisches Verfahren in ihrerEntwicklungs-, Persönlichkeits- und Krankheits- bzw. Ge-sundheitslehre die religiöse Dimension der Person. FürFrankls genuin christliches Verständnis von Religion ist pri-mär der Einfluß der theonom geprägten AnthropologieSchelers geltend zu machen, der mit seiner dualistischenPerson-Geist-Lehre als eine philosophische HauptquelleFrankls gilt. Die anthropologischen Grundlagen desPersönlichkeitsmodells von Frankl weisen starke Affinitä-ten zur christlichen Lehre vom Menschen auf, wenngleichFrankl in seinem wissenschaftlichen Werdegang eine Ver-schiebung von einer christlichen zur existentialistischen An-thropologie nachgewiesen wurde (Röhlin 1986, 14 ff). Vordiesem Hintergrund wird verständlich, warum Wyss (1977,276) in seinem Überblickswerk der psychotherapeutischenSchulen den Ansatz des “frühen“ Frankl zur „katholischenSchule“ einordnete und mit dem thomistischen Personbegriffgleichstellte. Der implizite Ausgangspunkt einer christlichenAnthropologie hat es vielen überzeugten Christen leicht ge-macht, auf dem schillernden Psychomarkt zwischen denvielfach egomanischen Selbstfindungsschulen die Existenz-analyse als ideale Therapierichtung für sich zu erwählenund damit zu arbeiten. Das Theoriegebäude Frankls läßt

bekanntlich die Tür zur transpersonalen Dimension desMenschen offen, weshalb Frankl in einigen Übersichts-artikeln auch der Transpersonalen Psychologie zugerechnetwird (vgl. Fabry 1988, Heinrichs 1993, Sedlak 1994). Al-lerdings lassen persönliche Erfahrungen und die teilweisehitzigen Auseinandersetzungen der letzten Ausgaben in dervorliegenden Zeitschrift darauf schließen, daß eine gerad-linige Verknüpfung zwischen christlichem Glauben undpersonalem Sein offensichtlich eine Fiktion darstellt. Wasmacht die Verbindung zwischen gläubiger und personalerExistenz so spannungsreich? Bei dem Versuch einer Inte-gration zwischen personaler Existenz - verstanden als zen-trales Theorem authentischen Lebens- und Zentralbegriffder Existenzanalyse Wiener Provinienz (vgl. Längle 1993)- und gläubiger Existenz als eine Formel für gelebtesChristsein (vgl. Michel 1948, Guardini 1952) treten unver-meidlich Konflikte auf. Um die Gegensätzlichkeit beiderGrundeinstellungen zu kontrastieren und möglicherweise zueiner besseren, weil bewußteren Integration beizutragen,werden im folgenden die unterschiedlichen Definitionen,Ziele und Voraussetzungen von personaler und gläubigerExistenz gegenübergestellt. Dabei nimmt die Darstellungder gläubigen Existenz einen größeren Raum ein, weil da-von ausgegangen wird, daß dem Leser die personale Exi-stenz besser vertraut ist. Reizvoll erweist sich die Gegen-überstellung auch deshalb, weil die theologische Anthropo-logie von Michel und Guardini - ebenso wie das Menschen-bild der personalen Existenzanalyse - dialogisch undpersonalistisch angelegt ist und auch psychotherapeutischeImplikationen enthält (vgl. dazu den Sammelband vonSborowitz 1979). Abschließend wird gegenseitig je einekritische Anfrage gestellt und eine ergänzende Verbindungbeider Lebensformen angedeutet, wobei der Rahmen die-ses Beitrags nur Hinweise erlaubt.

1. Unterschiedliche Definitionen

Personale Existenz will „die Person in ihrer authentischenArt auffinden und ihr im Rahmen ihrer Existenz zumDurchbruch verhelfen ... Dank ihrer dialogischen Natursteht die Person stets im Austausch mit der Welt und inWechselwirkung mit sich selbst und der Welt“ (Längle

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1993, 134 u. 137). Für die Welt ansprechbar zu sein, den„Anruf“ der Situation zu verstehen und darauf antwortenzu können, sind nach Längle die drei Grundaktivitäten derPerson aus dialogisch-personaler Sicht.

Als gläubige Existenz „weiß sich der Mensch auch alsein Abhängiger, er ist nicht absoluter Herr seiner eigenenExistenz, sondern erfährt sich als ‘verdankt’, ‘beschenkt’,‘beauftragt’, ‘bei seinem Namen angerufen’ (Jes. 43, 1)“(Betz 1992, 367). Aus christlich-personalistischer Perspek-tive gründet nach Michel (1948) die gläubige Existenz aufder Anrede Gottes, deshalb charakterisiert er den Menschenals „angesprochenen Partner Gottes“. Dieses „An-gesprochenwerden ‘von oben’, erfahren als Anruf einertranszendenten und absoluten und doch zuinnerst vertrau-ten Macht, konstituiert den Menschen als Person“ (Michel1948, 100). Damit kehrt Michel die geläufige anthropolo-gische Reihenfolge um: „Der Mensch ist primär nicht einIch, das auch fähig ist, Du zu sagen, sondern kraft des An-gesprochenseins als Du wird er in ursprünglicher Art fä-hig, Ich zu sagen“ (ebd. 101).

Während Guardini (1952) in seiner ebenfallspersonalistisch geprägten theologischen Anthropologie vomchristlichen Dasein, Bewußtsein oder der christlichen Exi-stenz spricht, präzisiert Michel die Bezeichnung der christ-lichen Personalität zur „gläubigen Existenz“ als dem „tra-genden Grund“ des Menschseins (Michel 1948, 13 ff.).Dem Menschen kann seine Existenz nach Michel nur imGlauben gelingen: „Vom wiederhergestellten Ursprung herwird die Anrede Gottes erfahren als geheimnisvolles Heils-wirken des Vaters aus der Liebe und beantwortet in einerVertrauenshingabe aus der Herzensmitte, im Glauben“(Michel 1948, 101). Glaube als sinnstiftendePersönlichkeitsdimension hat neuerdings Fowler (1991) indas Zentrum seiner empirisch generierten Entwicklungs-theorie gestellt (vgl. dazu Utsch 1990).

Während sich die drei konstitutiven Elemente derpersonalen Existenz aus der ansprechenden Situation, derverstehenden und dann antwortenden Person zusammenfü-gen, bildet die ebenfalls dialogisch konzipierte Grundlageder gläubigen Existenz der Anruf Gottes, die sich nur imGlauben verständlich machende Funktion der Person Jesuund der Antwort des Glaubens im Gehorsam des Menschen.

Im systematischen Entwurf von Guardini (1952), derden christlichen Personalismus weiterentwickelt hat, ist einbedenkenswerter Brückenschlag zwischen personaler undgläubiger Existenz zu finden. Nach Guardini haben dieDinge der Welt „Wortcharakter“ (ebd., 140ff). Im Anrufder Situation kann sich auch der Anruf Gottes verbergen:„Die Welt ist von Gott zum Menschen hin gesprochen. AlleDinge sind Worte Gottes zu jenem Geschöpf hin, das dazubestimmt ist, im Du-Verhältnis zu Gott zu stehen“(Guardini 1952, 146).

Aus diesen schlaglichtartigen Zitaten werden die ähn-lich aufgebaute dialogische Grundkonzeption, aber auch dieunterschiedlichen Bestimmungsgrößen deutlich. Währenddie Urheberschaft der ansprechenden Situation bei derpersonalen Existenz im Dunkeln bleibt, kann durch einen

Glaubensschritt der Raum der Existenz auf das Trans-personale ausgeweitet werden.

2. Unterschiedliche Ziele

Ziel der personalen Existenz ist es, die Offenheit der Per-son für die Welt herzustellen und den personalen Austauschmit ihr zu fördern (Längle 1993, 134). Auch Guardini gehtin seiner christlichen-dialogischen Anthropologie von demWelt-Person-Zusammenhang aus. Seine Grundthese besagt,daß „der Mensch nicht als geschlossener Wirklichkeits-block oder selbstgenügsame, sich aus sich selbst herausentwickelnde Gestalt, sondern zum Entgegenkommendenhinüber existiert“ (Guardini 1952, 10). Ziel der Personwer-dung des Menschen besteht nach Guardini darin, ein„christliches Bewußtsein“ auszubilden und zur „christli-chen Existentialität“ heranzureifen. Während der „personalexistierende Mensch in der Einheit all der Strukturen undProzesse steht, welche die dingliche Natur ausmacht“ (ebd.131), sei die gläubige Existenz dadurch charakterisiert, daßsie die angestrebte Offenheit gegenüber Gott nicht durcheine unbestimmte, „im freien Raum der Welt und Geschich-te sich vollziehenden religiösen Begegnung, sondern vonder Person Christi“ (ebd. 146) herleite.

Das Weltbild der personalen Existenz stellt sich als eingeschlossenes dar, das der sinnlich wahrnehmbaren Weltpersonale Deutung entnimmt und um die Verwirklichungsinnvoller Möglichkeiten bemüht ist. Demgegenüber er-weist sich die gläubige Existenz offen für übersinnliche,transpersonale Einflüsse und strebt nach der Verwirklichungder ursprünglichen Bezogenheit des Menschen zu Gott, inden Worten Guardinis: „Die Person hat eine Sinnbedeutung,die ihr Seinsgewicht übersteigt“ (ebd. 144). Mit ähnlicherIntention bezeichnet Michel den Glauben als den unzerstör-baren Existenzgrund des Menschen. Erst der von Gott an-gesprochene Mensch finde durch sein Antwortgeben zuseiner ursprünglichen Existenzmöglichkeit zurück.

3. Unterschiedliche Voraussetzungen

Die Grundlage der personalen Existenz beruht auf demSeinserlebnis als Grundwerterfahrung: „Ich bin, und daßich bin, ist an sich schon gut“. Demgegenüber geht diegläubige Existenz von der Mangelerfahrung der „ichhaftenSelbstbezogenheit“ (Michel) aus. Weil der antwortendeGlaube gegenüber Gottes Anfragen befürwortet oder abge-lehnt werden kann, ist auch der Vertrauensbezug Gott ge-genüber eine Entscheidungsmöglichkeit: „Der Mensch kanndie ursprüngliche Gottbezogenheit des Selbst aufgeben undaus seiner Selbst-Ermächtigung, also von sich aus, zu le-ben versuchen“ (Michel 1948, 103). Hat der Mensch ein-mal die existentielle Glaubensbasis verlassen, verändertsich nach Michel das Grundverhältnis zur Welt zur Ur-

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Literatur:

BETZ O. (1992) Existenz. In: C. Schütz (Hrsg.), Praktisches Le-xikon der Spiritualität (366 f.). Freiburg: Herder

FABRY J. B. (1988) Die Rolle des Transpersonalen in der Logo-therapie. In: S. Boorstein (Hrsg.), Transpersonale Psycho-logie (S. 89-107). Bern: Scherz

FOWLER J. (1991) Stufen des Glaubens. Die Psychologie dermenschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn.Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus

GUARDINI R. (1952) Welt und Person. Versuche zur christlichenLehre vom Menschen. Würzburg: Werkbund (NeuauflageMainz: Grünewald)

HEINRICHS J. (1993) Transpersonale Psychologie. In: S. R. Dunde(Hrsg.), Wörterbuch der Religionspsychologie (S 330-338). Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus

LÄNGLE A. (1993) Personale Existenzanalyse. In ders. (Hrsg.)Tagungsbericht der GLE, 6 (1 & 2), (S. 133-160). Wien:GLE.

MICHEL E. (1948) Der Partner Gottes. Weisungen zum christli-chen Selbstverständnis. Heidelberg: Lambert Schneider

RÖHLIN K.-H. (1986) Sinnorientierte Seelsorge. München: tuduv-Verlagsgesellschaft

SBOROWITZ A. (Hrsg.) (1979) Der leidende Mensch. PersonalePsychotherapie in anthropologisher Sicht. Darmstadt: Wis-senschaftliche Buchgesellschaft

SEDLAK F. (1994) Die transpersonale Perspektive der Logo-therapie und Existenzanalyse nach V. Frankl. In: E.Zundel & P. Loomans (Hrsg.), Psychotherapie und reli-giöse Erfahrung (S 81-103). Freiburg: Herder

UTSCH M. (1990) Glaubensentwicklung zum Thema der Psycho-logie. Wege zum Menschen 42(6), 359-366

UTSCH M. (1995) Grundmerkmale wissenschaftlicher Religions-psychologie und Entwurf einer Synopse. Dissertation ander Philosophischen Fakultät der Universität Bonn (Pu-blikation in Vorbereitung)

WYSS D. (1977) Die tiefenpsychologischen Schulen von denAnfängen bis zur Gegenwart. Göttingen: Vandenhoeck &Ruprecht

Anschrift des Verfassers:

Dr. Michael UtschNiedernfeldstraße 23

D - 30890 Barsinghausen

Angst, aus der eine „Selbstverschlossenheit“ (Guardini)resultiert, die erst durch Christus überwunden werden kön-ne.

4. Gegenseitige kritische Anfragen

Personale Existenz bildet nicht nur die anthropologischeGrundlage einer psychotherapeutischen Methode, sondernstellt ebenso wie die gläubige Existenz auch eine Lebens-form dar, vielleicht sogar eine Weltanschauung. Insofernkonkurrieren beide Grundeinstellungen miteinander. Anfolgenden Berührungspunkten ergeben sich gegenseitigekritische Anfragen:

* Wo hört „Welt“ auf, und was/wer befindet sich „hin-ter“ ihr? Kann der Anruf der Situation nicht auch einen An-ruf Gottes bedeuten? Die gläubige Existenz lädt ein, denHorizont der Personalität zu erweitern und die Geborgen-heit nicht nur in der sinnlich wahrnehmbaren Welt, sonderndarüberhinaus in ihrer kosmischen Dimension zu suchen.Diese erschließt sich allerdings nur dem Glaubenden. Ge-hört aber die Beantwortung metaphysischer Fragen zumAufgabengebiet von Wissenschaft und Psychotherapie? In-teressanterweise hat die neuere wissenschaftstheoretischeDiskussion ergeben, daß jegliche Wissenschaft abhängt vonmetaphysischen Vorentscheidungen und ontologischen Fest-legungen. Dies ist insbesondere bei religions-psychologischen Fragestellungen zu berücksichtigen, weilsich hier Religion und Wissenschaft berühren (vgl. dazuausführlich Utsch 1995). Insofern bleibt die Möglichkeiteiner stimmigen und sich gegenseitig ergänzenden Verbin-dung zwischen personaler und gläubiger Existenz eine Her-ausforderung, bei der aber die jeweiligen Kompetenzgebietestrikt getrennt bleiben sollten.

* Der christliche Ausgangspunkt der Mangelsituationkann dazu verleiten, ein manifestes Minderwertigkeitsge-fühl zu entwickeln, das einer selbstbewußten und vor al-lem selbstverständlichen Personalität wenig Raum läßt. Vordiesem Hintergrund kann die Personale Existenzanalysegerade der gläubigen Existenz große Dienste erweisen,wenn sie ihr den Reichtum der Welt erschließen hilft undden Blick für das Geschenk der Diesseitigkeit und desAugenblicks öffnet.

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Das Ende der Vor-StellungGespräch mit Hiob

Günter Funke

Überarbeitetes Referat von der Jahrestagung der GLE zum Thema „Existenz undTranszendenz“ in Stuttgart, Herbst 1990.

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Die Hiobgeschichte ist religions-geschichtlich betrachtet ein einzigartigesDokument der Befreiung aus einem mora-lisch verstandenen Gottesbild, das den Men-schen in seiner Unmündigkeit und Angstfesthält und dadurch lebensbehindernd undkrankmachend wirkt. Hiob überwindet denmoralischen Gott, er widerspricht demZweckhaften der Religion, er vertieft Reli-gion auf ihr Wesen hin und lebt aus diesemWesen seinen Glauben auch als Protest ge-gen Gott. Nicht Unterwerfung, sondern Wi-derspruch und Herausforderung sind diewesentliche Signatur eines personalen, exi-stentiellen und damit auch heilenden Glau-bens. In der Hiobgeschichte wird erkennbar,daß Gottes Sein im Werden ist. In diesemWerdeprozeß gibt es besondere Markie-rungspunkte, an denen sich ein neuesmenschliches Gottes- und Selbstbewußt-sein zeigt, das alte Formen und traditionelleBilder ablöst und so eine personale Entwick-lung des Glaubens ermöglicht.

eigentlich nicht „über“ Hiob sprechen. Die Reflexionen, dieich vornehmen werde, sollen deshalb der Versuch sein, mitHiob ins Gespräch zu kommen, ohne immer in der wörtli-chen Rede zu sein. Ein Dialog hat viele Ebenen.

Angesichts der Gestalt des leidenden und um seinRecht ringenden Hiob, angesichts der sich aufbauenden undscheinbar in den Abgrund führenden Dramatik wäre ich gutberaten, zu schweigen. Schon ein Blick auf die Reden derFreunde Hiobs legt es nahe, denn sie zeigen, wie das gut-gemeinte Reden, wenn sie das Wesen des Glaubens nichtberühren, zum Gerede wird und so zur Qual für den An-geredeten. Dies ist auch eine Warnung an die Existenzana-lyse, an das oft allzu forsche Fragen und Auffordern zurStellungnahme. Aber das Schweigen soll nicht bedeuten,mich vor etwas zu drücken. Die Befangenheit, die gerne dasSchweigen wählt, muß überwunden werden in dem Wissen,daß das Reden vom Unsagbaren die große Herausforderungechter Theologie und Psychotherapie schlechthin ist.

Es ist meine Überzeugung, daß das Thema dieser Ta-gung - Existenz und Transzendenz - sich in kaum eineranderen „Geschichte“, in kaum einer anderen Gestalt, inkaum einer tiefergehenden Dramatik und Reflexion so sehrverdichtet, wie im Buch Hiob. Denn Hiob begründet mitseinem Widerspruch und durch seine Kritik eine Religions-kritik, die auch die Existenzanalyse trifft, wenn diese sichnicht radikal von allen Vor-Stellungen, Sinnhorizonten undSinnverpflichtungen löst. Ich habe oft den Eindruck, daßwir sowohl in der Theologie, als auch in der Existenzana-lyse immer wieder hinter das Niveau Hiobs zurückfallen.Jeder Rückfall hinter Hiob aber bedeutet, daß der Gehaltder Aussagen oberflächlich wird, daß der Mut des Glau-bens verkommt zur Ergebenheit ins Leiden, wodurch dieKraft des „Sich-Transzendierens“ auf das Unbedingte ver-loren geht. Kurzum, es wird banal, und wie bei jeder Ba-nalität ist die Person gefährdet, und nicht selten wird die-se Gefährdung gerade von denen, die sie betreiben, einfachverharmlost oder zur Ideologie gemacht.

Hiob existiert im ausweglosen Leiden, er ist ins Un-recht versetzt, ist rechtlos, verzweifelt, aber nicht depres-siv. Wie sieht diese Ausweglosigkeit aus? Wie nimmt Hiob

Einleitung

Über Hiob zu sprechen, führt mich in eine große Befangen-heit. Denn ich weiß, daß im Buch Hiob letztlich etwas Un-sagbares geschieht im Verhältnis Mensch zu Gott, Gott zuMensch, etwas elementar Echtes, das Einblick geben kannin das Wesen des Glaubens. Hier wird Glaube als Ver-trauen von der intimsten Seite her sichtbar, ohne daß die-ser Glaube ins Private verschoben wird. Deshalb kann ich

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sie auf? Das sind zwei wichtige Fragen, die stets im Hin-tergrund mit bedacht werden.

Existenz und Transzendenz

Wo aber liegt für die Thematik dieser Tagung der An-knüpfungspunkt zur Hiobgeschichte, wo können wir siethematisch ansiedeln? Was haben die kritischen, ja un-erhörten Aussagen Hiobs mit den Grundaussagen derExistenzanalyse zu tun?

Ich gehe zunächst davon aus, daß es dort, wo vonExistenz und Transzendenz gesprochen werden soll undwo diese beiden Begriffe aufeinander bezogen sein sol-len, vor allem darum geht, daß Existenz im Gegenüberzur Transzendenz bedeuten muß, daß sie sich nie in sichselbst verschließen und in sich selbst abschließen kann.Wenn Frankl davon spricht, „daß die Existenzanalysedas Wartezimmer zur Transzendenz einzurichten habe,ohne dabei die Türe zu verstellen“, dann beziehe ichdiese Aussage nicht nur auf das Verhältnis von Religionund Psychotherapie, sondern sehe darin eine Erinnerungan diese „Haltung und Offenheit“ dem Leben gegenüber.Und diese Erinnerung bezieht sich auf das Grund-phänomen des Lebens, dem es in seinem Leben immerwieder gelingt, so zu existieren, daß dieses Existierensich nicht in sich selbst verschließt. Ist das „Ab-schließenwollen“ der Dinge, der Fragen, des Lebensdoch letztlich eine neurotische Tendenz. Es ist eine Ten-denz, die sich besonders schnell auch des Glaubens be-mächtigt. Dogmen, Traditionen, Instruktionen,Fundamentalismus, Überzeugung statt Haltungen sind ei-nige solcher Erscheinungen des sich Abschließens.

Aber auch die Existenzanalyse ist nicht ungefährdet.Ontologischer Sinn statt existentieller Sinn, Sinndeutungstatt Sinnfindung. Wertfühlen statt Lebensaffektion, jaselbst die in der PEA geforderte Stellungnahme darfnicht als einzig wesentlicher personaler Akt verstandenwerden.

Es gibt auch Geheimnisse und man kann etwasschön finden, ohne zu wissen warum. Leben ist Offen-heit, Personsein ist Offensein. Wenn existieren bedeutet„heraustreten“, dann stellt sich die Frage, wo heraus -und wo hinein? Ist existieren nicht nur möglich in derSpannung zwischen der „Versuchung“, die Dinge abzu-schließen und so verfügbar zu machen und dem Wider-stehen dieser Versuchung aus personalem Grund, derimmer aufs Leben und nicht auf die Welt verweist? Exi-stieren in der Weltverhaftung als Unfreiheit (Welt-deutung ist Unfreiheit) oder existieren im Bezug auf dasUnbedingte, das das Leben, das Gott selbst ist. Mensch-sein bedeutet, vor dieser ständigen Wahl zu stehen. Diesbedeutet, die eigene Existenz stets offen zu halten aufihre eigene Zukunft hin, denn Existenz ist nicht denkbarohne diese Offenheit zur Zukunft. Wir werden sehen, wieHiob der Versuchung widersteht, trotz seines Leidens et-

was „abzurunden“ und sei es dadurch, dem Leiden ei-nen Sinn zu geben.

Die Situation des Leidens scheint mir eine besonde-re Versuchung zu sein, ja, sie ist besonders gefährlichund gefährdet den Menschen zutiefst gerade dann, wennin ihr die Sinnfrage nicht ausgehalten, sondern beantwor-tet wird. Die Sinnfrage führt zur großen Versuchung derSinnantwort, einer Antwort, die dann aufs Ganze gehenwird. Es bleibt die Versuchung, im Aufbrechen der exi-stentiellen Sinnfrage die Ontologie mit zu beantworten,eine Gefahr, die Therapeuten und Therapeutinnen erken-nen müssen. Die Situation des Leidens kann nicht durchOntologie gelöst, sie kann durch Personalität vielleichtein wenig gelindert werden. Ontologie statt Person ver-hält sich wie „Steine statt Brot“.

Es hilft auch nicht weiter, wenn ich einwende, daßstatt nach Sinn doch gerade im Leiden nach Gott zu fra-gen sei. Auch nach Gott kann ontologisch gefragt wer-den. Jedoch ist Gott kein Aspekt des Seins - Gott ge-schieht „jenseits des Seins“ inmitten der Welt. „Wennman nach Gott in der Erwartung fragt, in ihm den Punktzu finden, an dem sich die Rätsel, die Widersprüche undauch Sinnlosigkeiten der Geschichte und auch der eige-nen Existenz auflösen, dann wäre es falsch, in Gott le-diglich die Repräsentation dieses gesuchten Sinns zu se-hen“ (Thielicke, 94 ff).

Wie geschlossen (Levinas spricht in diesem Zusam-menhang von „gewalttätig“) die Ontologie definiert wer-den kann, wird an Heidegger deutlich, wenn er formu-liert: „Das Sein, dem es in diesem seinem Sein um die-ses Sein selbst geht.“ Wird das Personsein des Menschennicht nur dann gewahrt, wenn er sich auf ein Unbeding-tes bezieht, das in keinem Seinszusammenhang aufgeht,auch wenn es „in jedem dieser Bezüge präsent ist, ja sieträgt?“ (Thielicke, 94ff). Gott ist die Antwort, die michin meinem Suchen nach Sinn auch schon wieder in Fra-ge stellt, Gott ist nicht die Antwort auf unsere Fragen,er ist die Frage als Leben an uns. Gott ist die Lebens-dynamik, die dafür sorgt, daß wir unser Leben nicht imengen Horizont der Welt verantworten müssen. Wir dür-fen das Leben nicht in einer Weltformel abschließen,auch wenn wir uns oft genug danach sehnen, weil esRuhe versprechen würde, Friedhofsruhe, aber keine Ge-borgenheit, Weltanschaung, aber keinen Glauben.

Alle diese bisher angesprochenen Themen, die fürtherapeutisch-beraterisches Arbeiten im Sinn der Exi-stenzanalyse nicht ohne Bedeutung sind, werden in derHiobsgeschichte zu zentralen Themen mit größter Dra-matik.

Eine letzte Anmerkung zur Einleitung. JedeTheodizeefrage (warum läßt Gott das Leiden zu) ist an-gesichts der existentiellen Not und Verzweiflung Hiobseine Unredlichkeit. Und bis in die Nähe der Unredlich-keit gehen auf logotherapeutischer Seite solche Formu-lierungen wie „auch dein Leiden hat Sinn“. Schon imvoraus ein solches „Wissen“ zu postulieren (das tun dieFreunde Hiobs), ist eine Unerträglichkeit. Auch hier ist

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Offenheit nicht gewährt. Wer meint, daß Leiden undLeben unter allen Umständen und Bedingungen Sinn hat,unterwirft das Leben einem Postulat, einem Dogma.

Aber nun endlich zur Hiobgeschichteselbst.

Hiob nimmt sein Leiden an, widersteht aber nachdrücklichder Sinndeutung seines Leidens

Kennen wir Hiob? Was wissen wir von ihm? Bekanntist jener Hiob, der nach dem Verlust seines Reichtums,seiner Kinder und seiner Gesundheit in der Asche sitzendmit „bösartigem Geschwür von der Fußsohle bis zumScheitel“ mit einer Tonscherbe seine Wunden schabendimmer noch sagt: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’sgenommen, gelobt sei der Name des Herrn. Nehmen wirdas Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böseannehmen?“ Vor allem von der kirchlichen Tradition ist derHiob bekannt gemacht worden, der sich in Leiden ergibt,der sich dem Leiden unterwirft, der sich in einer beklem-menden Fraglosigkeit auch Gott fügt. Gerade so ist er ver-kündigt worden, als solle man von ihm lernen das Dulden,das Stillsein, die fromme Resignation. Aber genau das istnicht Hiobs Antwort auf sein Geschick und Ergehen. SchonKierkegaard hat in seiner scharfen Kritik am bürgerlich-kirchlichen Glauben Beschwerde darüber geführt, daß Hiobin der Tradition eben nur um dieser schönen Worte willenzitiert wird. Hochgehalten wird seine fromme Ergebung.Verschwiegen wird sein Klagen, sein heftiges Klagen undAnklagen. Hiob hat den Tag seiner Geburt verflucht, er hatGott verflucht, hat sich empört über diesen schweigendenGott und über die frommen Freunde. Das ist Hiob, der übersein frommes Sich-Ergeben hinauswächst, der sich tran-szendiert weg vom Gott der Tradition, fort von einem frag-würdigen Theismus, den Gott der Philosophen hinter sichlassend hin zum personalen Gott. So wurde Hiob zu einemunbestechlichen Zeugen für die Möglichkeit des sichTranszendierens, er wurde auch Zeuge des herzzerreißen-den Elends, das in uns stecken kann, und er hat es gewagt,der Bitterkeit seines Herzens Sprache zu geben auch ge-gen Gott und Sinn, er wagte es, gegen Gott zu streiten.Warum hat man uns das nicht gesagt von seiten der Kir-che? Denn letztlich gilt von Hiob, was M. Luther einmaletwa so ausdrückte: „Das Fluchen der Heiligen ist Gottlieber als die Heuchelei der Unfrommen.“ Weil Hiob nichtschwieg, weil er sich nicht gefügt hat in Deutung undWelterklärungen, wirft er Lebensfragen von letzter Trag-weite und Bedeutung auf, Fragen, die auch in der Sinnfra-ge und in der Gottesfrage kulminieren.Sie lauten etwa so:

Was ist der Sinn des Glaubens an Gott?Hat Glauben einen Zweck oder einen Sinn?Ist Religion auf’s „Haben“ aus?Was habe ich vom Glauben, was vom Sinn?

Und die Antwort, die Hiob gibt, die er mit Gott erstreitet,

die er durchhält und die dann von Gott bestätigt wird, istdie:

VOM GLAUBEN HAT DER MENSCH NICHTS,GLAUBE IST ZWECKLOS!

Ja, wenn wir es genau sehen, dann hat Hiob eigentlichnur Ärger und dann Elend durch seinen Glauben. Denn seingelebter, gerade sprichwörtlicher Glaube läßt es zu einemVerdacht und dann zu einer himmlischen Wette kommen.Schauen wir in den Text der Rahmenerzählung, die in Kap.1,1-2,10 zu finden ist:

„Der Herr sprach zum Satan: Hast Du auf meinenKnecht Hiob geachtet? Seinesgleichen gibt es nicht aufder Erde, so untadelig und rechtschaffen, er fürchtet Gottund meidet das Böse. Der Satan antwortete dem Herrnund sagte: Geschieht es ohne Grund, daß Hiob Gottfürchtet? Bist du es nicht, der ihn, sein Haus und all dasSeine ringsum beschützt? Das Tun seiner Hände hast Dugesegnet; sein Besitz hat sich weit ausgebreitet im Land.Aber streck nur Deine Hand gegen ihn aus, und rühr anall das, was sein ist; wahrhaftig, er wird dir ins Angesicht.....“ (Kap.1, 8 11).

Der Ankläger, im Text wird er Satan genannt, der indieser Szene als Staatsanwalt am göttlichen Hofstaat fun-giert, hat ja recht. Es ist leicht zu glauben, wenn es einemgut geht, wenn man etwas davon hat. Wird Hiob den Glau-ben durchhalten, wenn ihm das genommen wird, was er vonseinem Glauben zu haben scheint? Was man vom Glaubenhat, das könnte als das „Opium fürs Volk“ bezeichnet wer-den. Sicherheit, Tradition, Vertröstung, ewiges Leben, etc.und sogar Sinn könnte man vom Glauben erwarten. Wirdnicht so versprochen? Aber der Versucher ist der Überzeu-gung, daß Hiob Gott ins Gesicht den Glauben aufkündigenwird, wenn ihm das genommen wird, was er von seinemGlauben hat.

Und dann kommt eine „Hiobsbotschaft“ nach der an-deren, und Hiob sitzt in Staub und Asche mit seiner Krank-heit und seinem ganzen Elend. Nicht nur das muß er aus-halten und bewältigen, er muß dieses Geschick mit Gottund mit der Echtheit seines Glaubens in Verbindung brin-gen.

Auf die Kunde von Hiobs Unglück kommen dreiFreunde. „Als sie von Ferne aufblickten, erkannten sie ihnnicht; sie schrien auf und weinten... Sie saßen bei ihm aufder Erde sieben Tage und sieben Nächte; keiner sprachein Wort mit ihm, denn sie sahen, daß sein Schmerz großwar“ (Kap. 2, 12-13). Das ist eine bewegende Szene, die-se Solidarität im Schweigen.

Die traditionellen Deutungen werdenHiob nicht gerecht

Um so größer ist dann das Erstaunen, dann das Entsetzen,als die Freunde zu reden beginnen. Dieses Entsetzen will

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ich nicht als Vorwurf an die Freunde verstehen, sondern esdrängt sich auf, weil allzu sichtbar wird, daß die Freundemit einem traditionellen Gottesbild, mit einem geschlosse-nen Weltbild, mit fertigen Sinnantworten Hiob nicht mehrgerecht werden können. Sie möchten Hiob trösten, aber siekönnen es nur mit der Hilfe ihrer eigenen erstarrten Bildervon Gott, Welt, Sinn und Existenz. Sie kommen nicht mehrlos, sie können sich nicht mehr auf Hiob hin transzendie-ren, weil sie gefangen sind in ihren eigenen Bildern undVorstellungen. Dies ist und bleibt auch eine kritische An-frage an die Ausbildung in Existenzanalyse. Wie offen istsie, wie offen kann sie sein? Wer löst die inneren Fixierun-gen auf, ohne neue Bindungen zu schaffen und neue Bil-der zu fertigen?

Die Freunde Hiobs variieren letztendlich immer wie-der ein Argument hin und her: Das große Unheil, das Hiobgetroffen hat, zeigt an, daß er vor Gott schuldig ist. „Be-denke doch, wer geht ohne Schuld zu Grunde? Wo wer-den Redliche im Stich gelassen?“ (Kap. 4, 7).

Etwas anders formuliert: Wenn du krank bist, dannhast du etwas Böses getan, denn Gott straft nur den Schul-digen. Die Freunde können Hiobs Schicksal nur kausal-deterministisch deuten und Hiob deshalb nicht verstehenund ihm nicht gerecht werden. Das geballte Unglück, dasüber Hiob hereinbrach, kam nicht von ungefähr: ihm müs-sen konkrete Vergehen Hiobs vor Gott und vor den Men-schen zugrunde liegen. Und deshalb kommt auch bald derRat der Freunde: „Beugt etwa Gott das Recht, oder beugtder Allmächtige die Gerechtigkeit? Wenn du mit EiferGott suchst, an den Allmächtigen dich flehend wendest,wenn du rein bist und recht, dann wird er über dich wa-chen, dein Heim herstellen, wie es dir zusteht. Und wardein Anfang auch gering, dein Ende wird gewaltig sein“(Kap. 8, 5-7). Unschwer ist das Gottesbild und die Welt-deutung der Freunde zu erkennen. Es ist gewachsen aus derTradition und der Beobachtung des Laufs der Welt, „ja, dashaben wir erforscht, so ist es. Wir haben es gehört. Nimmauch du es an“ (Kap. 5, 27). Fazit ist, daß Frevler undGottlose am Ende umkommen, die Gerechten aber lebenund blühen werden. In diesem Fazit allerdings ist schonfestgelegt, wer gerecht ist und wie ein Gerechter sich zuverhalten hat. Er muß sich Gott unterwerfen und Gott rechtgeben in seiner Allmacht. Hiobs Freunde sind unermüdlichim Beschwören der Ansicht, daß man vom Glauben etwashat, und wenn man nichts davon hat, dann glaubt man nichtrichtig. Erfolg, Reichtum, Glück, Glückseligkeit als „Be-weis“ des richtigen Glaubens. Sie sind dabei, eineneudämonistischen Glauben zu begründen. Thesen diesesEudämonismus sind:

- Wenn du richtig glaubst, hast du etwas davon!- Bekehrung zu Gott lohnt sich!- Wenn du vorgegebene Werte verwirklichst, findest du

Sinn!Mit solchen Thesen wird Gott zum Hüter des Lebens-

glücks degradiert und die Intentionalität zur Effekthasche-rei reduziert. Ein „Sich-transzendieren“ auf Gott hin istdamit nicht mehr möglich.

Naiv-archaische Religiosität als pädago-gische Maxime und Festhalten in derUnmündigkeit

Das Gottesbild der Freunde Hiobs und die damit verbun-dene Weltsicht tragen die Zeichen einer naiv-archaischenReligiosität, die sich bis heute auch in säkularisiertemGewande hartnäckig durchhält. Hier liegen die Wurzeln derunbarmherzigen Leistungsgesellschaft, die auch für existen-tiellen Sinn immer weniger Verständnis hat, und die derVerzweckung des Lebens unter dem Synonym „Sinn“ dasWort redet. Hier wurzelt auch eine Form der Depressivi-tät, die das Gefühl des „Nie genug“ und „immer zu wenig“wuchern läßt. Das Gottesbild der Tradition, dessen sich dieFreunde bedienen, hat sich auch in Staats- undGemeinschaftsformen etabliert. So meint Paulus, daß die„Obrigkeit“ das Schwert nicht umsonst trägt, sie soll denBösen strafen und den Guten belohnen. Hier wird der mo-ralische Gott sichtbar, ein Gott soll hier am Werk sein unddas Weltgeschick lenken, der nur eines vom Menschen will,daß er sich ihm unterwirft und den eigenen Willen aufgibt.Daraus läßt sich dann auch leicht eine pädagogische Ma-xime entwickeln: Das Selbst des Kindes, des Gläubigen,des Rekruten, der Frau muß erst einmal „gebrochen“ wer-den, bevor er und sie als Mensch gelten können. Diesesmoralische Gottesbild mit seinen schlimmen Folgen hatauch den säkularisierten Menschen mehr im Griff, als sichdieser so aufgeklärte Zeitgenosse selbst zugesteht. Und dieExistenzanalyse tut gut daran, darauf zu achten, diesemGottesbild nicht in die Hände zu arbeiten. Ich halte dieExistenzanalyse übrigens recht gefährdet an diesem Punkt.

Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang einmal gründ-lich auf Freuds Religionskritik einzugehen und zu zeigen,daß im archaischen Gottesbild sich auch das Schutz-bedürfnis und die Sehnsucht nach Zuwendung spiegeln, diemit Unterwerfung bezahlt werden müssen. „Wer hochmü-tig redet, den duckt er, doch hilft er dem, der die Augensenkt“ (Kap. 22, 29).

Hiobs Widerspruch - auf dem Weg zurPartnerschaft mit Gott

Hiob aber, dessen ganze Wirklichkeit in der Deutung sei-ner Freunde und in der Sicht der Lehrmeinung der Traditi-on gegen ihn selbst stehen muß, widerspricht dieser Argu-mentation heftig und nachdrücklich. Ja, er steigert sich an-gesichts dieser ständigen Bedrängnis in Wut, in Haß undin Feindschaft gegen das Gottesbild, das ihm immer wie-der vor-gestellt wird und das nach Unterwerfung ruft. Hioberöffnet hier aber eine ganz neue Dimension von Religion.

Das Buch Hiob ist religionsgeschichtlich betrachtet einHöhepunkt. Hiob löst sich aus dem traditionellen Gottes-und Weltbild, in dem er sich auf Gott selbst hin transzen-diert und Gott zum Partner macht. Religion und Glaube

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meinen nicht das Verhältnis vom kleinen Kind zum Über-vater, dem es zu gefallen und zu gehorchen hat. Glaube istnicht bezogen auf Abhängigkeit, sondern auf Partnerschaft,ist Gleichberechtigung zwischen Gott und Mensch, ist Be-ziehung zwischen DIR und MIR und nicht zwischen Herrund Knecht. Daß diese naiven Vater- und Mutterbezügesich auch im sogenannten Glauben der Erwachsenen fort-führen und verfestigen ist immer wieder ersichtlich, beson-ders in der Therapie der „ekklesiogenen Neurosen“, dieaber, wie schon angedeutet, durchaus in säkularerem Ge-wand als einer gelebten Frömmigkeit daherkommen können.Hiobs Gottesglaube, der im Verlauf der Auseinandersetzungmit den Freunden immer offenbarer wird, kann von S.Freuds Religionskritik nicht getroffen werden. Er hat über-holt, was Freud kritisierte. Hiobs Glaube macht nichtkrank! Wie aber transzendiert Hiob sich auf Gott hin, dener doch auch nur vermittelt durch Tradition und Theologiekennt? „Hiob steigert sich in Haß und Feindschaft gegendas gefügte Gottesbild der Tradition, gegen diesen „gerech-ten Gott“ der Wissenden und Urteilenden. Aber was dieseweisen Redner vorzutragen haben, weiß auch er (Kap. 13,2). Natürlich ist auch er Teilhaber am Gottesbild der Tra-dition. Anteil hat er im abgrundtiefen Zweifel am bekann-ten Gott, im Aufbegehren und eben im Haß und in derFeindschaft. Hinter allen Exzessen der Polemik, die auchvon seiten Hiobs erfolgen, aber steht letztlich der Wille,Gott neu zu begegnen, mit ihm zu reden und zu streiten(Kap. 13, 3).

Authentizität trotz Leiden

Zunächst aber bestreitet Hiob den Freunden und damit auchGott gegenüber, daß er sein Unglück verdient habe.Existenzanalytisch können wir sagen, daß Hiob seine Au-thentizität durchhält. Er hört nicht auf, seine Unschuld zubeteuern gegenüber den aufdringlichen Unterstellungen derFreunde, die er als untaugliche Ärzte (Kap. 13, 4) undTherapeuten entlarvt. „Fern sei es mir, euch recht zu ge-ben, ich gebe, bis ich sterbe, meine Unschuld nicht preis.An meinem Rechtsein halt’ ich fest und laß’ es nicht. MeinGewissen beißt mich nicht wegen einer meiner Tage“(Kap. 27, 5-6). Gegenüber dem Ansinnen der Freunde,endlich die Schuld zu bekennen, beruft sich Hiob auf seinGewissen. Hier ist keine Spur von Depressivität spürbar,wenn er sagt, daß sein Gewissen ihn nicht beißt wegeneiner seiner Tage. Das ist Bejahung des Lebens, das istStimmigkeit, das ist Authentizität trotz Sinnlosigkeit.

Indem Hiob so eigensinnig, ja so rechthaberisch(Trotzmacht des Geistes) auf seiner Unschuld besteht,kämpft er gleichzeitig auch um die Echtheit seines Glau-bens. Er sitzt ja immer noch in der Asche in seinem gan-zen Elend. Und angeboten werden ihm - sehr versuchlich- Mittel, die Besserung versprechen. Es wäre das größteUnrecht vor sich selbst und deshalb auch vor Gott, wennHiob den Freunden recht gäbe, damit es ihm „besser“ gehe.

Dann würde für Hiob das Gesundwerden bedeuten, sichselbst zu verleugnen und seine Integrität aufzugeben. Gäbeer dem Drängen nach und würde sich vor Gott schuldigbekennen, er würde nicht nur sich und seinen Glauben,sondern auch Gott verraten. Würde er auf die Weise seinLeiden wenden, so würde er damit Ausdrücken, nicht anGott zu glauben, sondern einem Zweck zu huldigen.

Aber da ist ja auch noch das undurchdringlicheSchweigen Gottes. Das ist die Situation, die Hiob in dieVerzweiflung stürzen könnte. Die Freunde reden unerträg-lich, und Gott schweigt - unerträglich. Von allen Seiten -die Krankheit ist nicht zu vergessen - Unerträglichkeit.

Hiobs Herausforderung

Hiob weiß, daß Gott sich verborgen hat, er offenbart sichnicht mehr, schon gar nicht in den Reden der Freunde, dieschlechte Therapeuten und Theologen sind. Hiob weiß, daßGott neu erscheinen muß. Hiob will Gott zum Reden, zumErscheinen zwingen, und deshalb fordert er ihn zumRechtsstreit heraus. Auch das ist aus religions-geschichtlicher Sicht eine Ungeheuerlichkeit. Daß jemandinnerhalb der Tradition steht und in ihr stehend gegen Gottaufsteht und einen Rechtsstreit beginnt. „Der Allmächtigegebe mir Antwort. Rufe, so will ICH DIR antworten, oderICH will rufen, dann antworte DU mir“ (Kap. 13, 22). Anfolgenden Zitaten soll das Ungeheuerliche des AnsinnenHiobs noch einmal deutlich werden: „Was sind doch diesämtlichen alten und neuen Skeptiker, Pessimisten,Religionsspötter und Atheisten für arglose, gemütlicheGesellen neben diesem Hiob. Die wußten und wissen ja garnicht, gegen wen sie mit ihrem Achselzucken, Zweifeln,Lächeln und Leugnen angingen und angehen. Hiob wußtees. Die konnten und können sich mit einem Gott, den sieals ihren Gott gar nicht kannten, wohl ohne erheblicheKosten auseinandersetzen. Hiob konnte das überhaupt nichttun“ (K. Barth, Kirchliche Dogmatik IV, 3; 466).

Radikale Subjektivität

Ich glaube, das ist die tiefste Weise des sichTranszendierens: Im Herausschreien des eigenen Zorns undHasses an der eigenen Gerechtigkeit festzuhalten; dem ei-genen Gespür zu vertrauen, auf Welt- und Sinnformem vonÜbersinn und Sinn zu verzichten und mich ihnen nicht zuunterwerfen, auch wenn dadurch Hilfe oder Wendung ver-sprochen wird. Hier ist „radikale Subjektivität“ gefordert,wie sie R. Kühn phänomenologisch erörtert (R. Kühn,43ff). Hiob zieht aus den Vorstellungen aus, nicht demütigund gehorsam, sondern als Rebell, Gott überwindend. EinMensch kann besser sein als Gott, „ein Mensch überholt,ja durchleuchtet seinen Gott - das ist und bleibt die Logikdes Hiobbuches“ (E. Bloch; 154). Aber Hiob überholt Gott

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nicht nur, er zieht aus, zieht aus „aus caesarischer Gottes-vorstellung. Gerade der Rebell Hiob besitzt Gottvertrauen,ohne an Gott zu glauben“ (Bloch 166 f.). Das heißt Glau-ben. Hiob hat Gottvertrauen, ohne sich seines Glaubens inletzter Instanz versichern zu können, er glaubt, und hatdeshalb keine Weltanschaung und keine Weltdeutung. Glau-ben ist Einklammerung der Welt, ist Epochè.

Hiob kann auch selbst nichts von einer Gerechtigkeitim Lauf der Welt erkennen. Die Frevler und Gottlosenkommen eben nicht um, und den Gerechten und Frommengeht es nicht schon deshalb gut, weil sie glauben und anGott festhalten. Hiob spricht: „Warum bleiben Frevler amLeben, werden alt und stark an Kraft? Ihre Nachkommenstehen fest vor ihnen. Ihre Häuser sind in Frieden, ohneSchreck, die Rute Gottes trifft sie nicht. Ihr Stier springtund fehlt nicht, die Kühe kalben und verwerfen nicht. Siesingen zu Pauke und Harfe, erfreuen sich am Klang derFlöte, verbrauchen ihre Tage im Glück und fahren vollRuhe ins Totenreich. Und doch sagen sie zu Gott: Weichevon uns! Deine Wege wollen wir nicht kennen. Was ist derAllmächtige, daß wir ihm dienen, was nützt es uns, wennwir in angehen?“ (Kap. 21, 7-21).

Hiob kann in der Weltgeschichte nirgendwo eine ge-rechte, göttliche Ordnung erkennen. Aber nicht nur das. DerGott der Freunde, der moralische Gott zeigt Züge vonWillkür. “Der eine stirbt in vollem Glück, ist ganz inFrieden, sorgenfrei. Der andere stirbt mit bitterer Seeleund hat kein Glück genossen. Zusammen liegen sie imStaub, und Gewürm deckt beide zu.“ (Kap. 21, 22-34).Letztendlich ist Hiob davon überzeugt, daß es gleichgül-tig ist, ob man an Gott glaubt oder nicht, denn er hat fest-gestellt, daß Gott nicht darauf achtet. Gott macht, wie eres will,e r bringt den Frommen um, wie den Gottlosen.Ehrlicher und schonungsloser kann dies kaum gesagt wer-den. Hiob kann kein moralisches Prinzip erkennen, wederim Gang der Geschichte, noch in der Biographie eines ein-zelnen Menschenlebens. Es gibt keinen ontologischen Sinn!Indem Hiob auch persönlich immer wieder auf seiner Un-schuld beharrt und für den Lauf der Welt das Gesetz dergerechten Vergeltung leugnet, streitet er auch gegen denmoralischen Gott, der in immer neuen Variationen bis inunsere Tage hochgehalten wird. Dem Menschen nützt esnichts, wenn er gottgefällig lebt! „Es nützt dem Menschennichts, daß er in Freundschaft lebt mit Gott“ (Kap. 34, 9).Die Freunde sind empört, mit Recht, denn das ist das Endeder Religion im traditionellen Verständnis, ist der Tod desmoralischen Gottes. Dieser Gott ist eine Illusion und ebensodie Religion, die dieses Gottverständnis aufrecht erhält.Diese Vor-stellung geht zu Ende. Der Vorhang könnte fal-len, Religion ist überflüssig geworden: nur noch eine pri-vate Angelegenheit für nicht Aufgeklärte?

Hiob jedoch kämpft gegen Gott um Gott, er will vonGott nicht los, er leidet unsäglich, besonders aber unter demSchweigen Gottes, das er nicht mit dem Durchhalten sei-ner Authentizität und der eigenen Berufung auf sein Gewis-sen kompensieren kann. Jetzt, da feststeht, daß Hiob vomGlauben an Gott nichts hat, kann es um Gott selbst gehen.

„Gäbe es doch einen, der mich hört. Das ist mein Begeh-ren, daß der Allmächtige mir Antwort gibt.“ (Kap. 31, 35).

Die Hilflosigkeit Gottes und Hiobs Glaube

Endlich erhält Hiob Antwort, Gott redet, und wie er redet.Lese ich diese Gottesreden Kap. 38 - 419, dann bin ichjedesmal enttäuscht, ratlos, auch zornig. Gott macht Hiobklein. Er spricht nicht anders als die Freunde, er fragt nur:Wo warst du, als ich die Erde gründete? Gott geht nicht einauf Hiob, er bringt eine grandiose Selbstdarstellung seinerSchöpfungstaten. Hat Gott das nötig? Braucht er den lei-denden Hiob, um groß zu sein? Hier türmen sich Fragenüber Fragen auf, sehr kritische Fragen. Ist denn nun dochalles umsonst gewesen, der ganze Kampf Hiobs, sein„Sich-Transzendieren“? Es scheint, als ob Hiob sich amEnde doch diesem mächtigen, moralischen, allwissendenGott wieder fügt. Als Gott den Hiob zur Antwort auffor-dert, mit dem nötigen Unterton der Überlegenheit, „da ant-wortete Hiob dem Herrn und sprach: Siehe, ich bin zugering. Was kann ich dir erwidern? Ich lege meine Handauf meinen Mund. Einmal habe ich geredet, ich tu es nichtwieder“ (Kap. 40, 3-5). Und Gott redet weiter, aufdring-lich, eindringlich, schleudert Frage an Frage dem Hiobentgegen und fordert zur Stellungnahme auf ohne Einfüh-lungsvermögen (Kap. 40-41). Aber dann antwortet Hiobdoch nocheinmal und bekennt: „Vom Hörensagen nur hatteich von dir vernommen, jetzt aber hat mein Auge dichgeschaut“ (Kap. 42, 5). Das heißt doch, daß Hiob durchdas Gottesbild der Tradition und auch durch das Bild derSelbstdarstellung Gottes hindurchstößt zu Gott selbst. Derallein über die Tradition vermittelte Glaube, der keine ei-gene Gotteserfahrung kennt, kann nur Gefängnis sein. Die-ses Gefängnis hat Hiob aufgebrochen in seinem Kampf.Und wenn Hiob sagt „mein Auge hat dich gesehen“, dannkönnen wir zunächst annehmen, daß Gott gesehen wird, woihm widersprochen wird, wo er herausgefordert wird. DerProtest, der Kampf offenbart Gott, die Ergebenheit verne-belt die Klarheit.

„Hier ist Glaube aber nicht mehr Glaube an einen ir-gendwie verstehbaren oder lehrbaren Gott, an einen ande-ren über dem Menschen, einen ‘Großherren’, aber noch anein Wort, - ein Wort aber, das nicht dem Menschen zuge-sprochen wird, sondern das er in sich trägt: das letzte Worthuman - ein Wort, aus dem nun nicht mehr ausgezogenwird“ (Bloch 166 f.). Dieses Wort ist das Wort des Lebensselbst, das sich ohne Vermittlung mitteilt. Das, was Hiobbleibt, ist zunächst die „bescheidene Hoffnung“, zumindestschon durch das „Gefühl“ (wie Haß, Zorn, Wut, Leid) sichwieder zum Geborgensein im Leben leiten zu lassen. Dazubedarf es keiner Worte (siehe Bloch), weil das Unsagbaredes Lebens als das Unvorstellbare (Gott) keine andereSprache als die des Gefühls und Tuns eben besitzt“ (Kühn,113 f). Kühns weitere Ausführungen machen für die The-rapie das geltend, was Hiob geltend machte gegen seine

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Freunde. „Will man für therapeutische „Bergung der Ge-fühle“ mithin die Abhängigkeit von lang tradierten Denk-mustern vermeiden, so ist aus lebensphänomenologischerAnalyse heraus jene radikale Umkehr gerade zu vollziehen,die als unser je vorgängiges, ursprüngliches Geborgenseinin den Gefühlen angesprochen werden kann... Nur indemwir die Schalen der sozialen Vorurteile und der angelern-ten Scham, Gefühle zu haben und zu zeigen, nach und nacheinklammern, gelangen wir an einen Kern, der nicht mehrvon einem selbst, sowie vor anderen zu rechtferigen ist,weil er das Leben selbst ist“ (Kühn, 114 f.). Hiob ist biszu diesem Kern vorgedrungen.

Aber er bleibt gefährdet durch das alte Gottesbild.Kaum hat er Gott mit seinen eigenen Augen gesehen, schei-nen die alten Muster wieder in Gang zu kommen „Darumspreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub undAsche“. Doch Resignation?

Radikale Wende - kopernikanische Wen-de - der Tod des moralischen Gottes

Jetzt aber geschieht etwas ganz entscheidend Wichtiges.Gott kommt mit den Freunden ins Gespräch: „Mein Zornist entbrannt gegen dich und deine beiden Gefährten,denn ihr habt nicht recht geredet von mir wie mein KnechtHiob. Hiob aber soll für euch Fürbitte einlegen, nur aufihn nehme ich Rücksicht, daß ich euch nichts Schlimme-

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res antue... Und der Herr nahm Rücksicht auf Hiob“(Kap. 42, 7-9). Hier kehren sich alle Vor-stellungen um.Gott begibt sich in die Hände Hiobs, Gott gibt Hiob recht!Beide, Hiob und Gott haben sich gegenseitig gefunden, siesind Partner. Glaube kann nur um dieser Partnerschaft wil-len gelebt werden, nicht um irgendeinen Zweck zu verfol-gen. Der zweckorientierte Glaube, und würde er die edel-sten und frömmsten Zwecke verfolgen, ist Irrglaube, und erträgt ein krankmachendes Potential in sich. Glaube ist nichtnur der verlängerte Sinn auf Gott hin, wie Frankl meint,Glaube erschließt eine ganz andere Dimension. Am Glau-ben und im Glauben an Gott zerbrechen auch alle Vor-stellungen von Sinn, und „darum ... atme ich auf“ (Kap.42, 6).

Literatur

Für genauere Literaturangaben wenden Sie sich bitte an denAutor.

Anschrift des Verfassers:

Günter FunkeBerliner Institut für EA und LT

Lietzenburger Straße 39D - 10789 Berlin

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Mit diesen Feststellungen ist zugleich eine Vorentscheidungzum Ursprung von Hiobs Klagen getroffen. Daß diese aus derReflexion stammen und nicht aus jener Region des Seelischen,der die Klagen der Melancholischen entfließen, wird deutlicher,wenn wir sehen, wie aus dem Klagenden bald ein Kläger wird,aus dem Kläger ein Ankläger. Wer wollte den Mann, den seinGeschick zu so erbitterter, leidenschaftlicher, kämpferischer Ge-genwehr aufruft, der sich aus so unsäglichem Elend aufrichtet,um Jahwe gegenüberzutreten, wer wollte einen solchenprovocator Dei jemals einen Melancholischen nennen!2 Wenn nunaber Hiob nicht in einer Depression zu Boden sinkt: weshalbdenn verknüpfen wir seinen Namen mit dem Problem der Me-lancholie? Nicht so sehr, um zu vergegenwärtigen, daß selbst einso steiler Sturz in tiefste Niederungen den Menschen nicht not-wendig in das Schattenreich der Melancholie hinabzwingen muß- und daß Hiobs Entwicklung sein Wort „So steigt, wer hinab-fuhr, nimmer herauf“ (7, 9) glänzend widerlegt, - wohl aber, umzu verdeutlichen, wie Hiob sich dem Wirken eben jener Schwer-kraft entzog, die sein Dasein womöglich in das hätte hinabzie-hen können, was der psychiatrische Kliniker Melancholie nennt.

Von Melancholie sprechend meinen wir nicht die Schwer-mut - seit Aristoteles’ berühmtem Problema Gegenstand von Phi-losophie und Dichtung-, sondern die psychiatrische Krankheit.Wenn uns die Analyse der Entwicklung Hiobs zeigen kann, daßHiob sich immer mehr von der Möglichkeit der Melancholieentfernte, so gilt uns diese Möglichkeit durchaus als ein Datumder klinischen Empirie. Es läßt sich nämlich zeigen, daß einesolche Möglichkeit immer dann aufkommt, wenn gewisse unterden Titeln der Einschränkung („Inkludenz“) und des Hinter-sich-selbst-Zurückbleibens („Remanenz“) faßbare und designierbareSituationen im Dasein eines spezifisch strukturierten Typus be-stimmend werden; eines Typus, für den solche inkludent-remanenten Entwicklungen deshalb gefährlich sind, weil in ihm,der durch starre Ordnungsmächte festgelegt ist, die geistgeboreneKraft des Übersteigens zu schwach angelegt ist, oder weil es ihman Energie gebricht, das Vermögen des Transzendierens hinrei-chend zu entfalten. Für einen solchen Typus können die genann-ten Entwicklungen dann von perniziöser Bedeutung werden,wenn sie ihn in einen Status drängen, in welchem Tendenzen ein-ander widersprechen, an deren Realisierung die Selbstverwirkli-chung gebunden ist. Eine solche Konstellation der

Hiob und das Problemder Selbst-Übersteigung

Hubertus Tellenbach✝

Einübung im Transzendieren als Prinzip einer psychotherapeutischen Melancholie-Prophylaxe

Hubertus Tellenbach geht es in dieser Ar-beit um den psychologischen Aspekt derVerarbeitung des Schicksals von Hiob. Esgeht insbesondere um die Frage, warumHiob nicht in eine Depression verfallen ist.Tellenbach weist in exemplarischer Weisedarauf hin, wie Hiob die Situation zu tran-szendieren versteht und sich damit vomtypus melancholicus unterscheidet.

Bei diesem Artikel handelt es sich um eineleicht gekürzte Version eines Beitrages vonHubertus Tellenbach für die Festschrift„Werden und Handeln“ zum 80. Geburtstagvon V.E. Freiherr von Gebsattel (1963). Wirdanken Frau Dr. I. Tellenbach für ihre freund-liche Erlaubnis zur Wiederveröffentlichung.

Der Genius, der in den Rahmen der „vorexilischen Prosaer-zählung“ (G. v. Rad) - vom Hiob eine die Menschen aller Zei-ten und Breiten erregende Auseinandersetzung einließ, war - überseine theologische Bedeutung hinaus - von staunenswerter psy-chologischer Kapazität. In einer einzigen fundamentalen Wen-dung führt er den Hiob der Geschichte über in einen Hiob derGeschichtlichkeit: er läßt Hiob in die Reflexion eintreten, indemer in ihm die Sinnfrage weckt.

Die Reflexion geht dem Wort voran. Wenn der Mensch indie Reflexion eintritt, wird alles still. Es ist von feiner psycholo-gischer Konsequenz, daß Hiob nach dem Bescheid an sein Weibsieben Tage und sieben Nächte verstummt. Diese stumme Zeitwird, psychologisch gesehen, zum absoluten Mittelpunkt desHiob-Buches, weil hier das Entscheidende beginnt: eine giganti-sche Reflexion auf das Warum des Schicksals1. Während nochdie Freunde jammern, ist Hiob schon verstummt, weil die Refle-xion auf die Sinnfrage ihm die Sprache geraubt, ihn aber nochnicht in die Klage freigegeben hat.

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Selbstwidersprochenheit kann in einem solchen Dasein den Sturzin die Melancholie vorbereiten3, in welcher das Remanente end-gültig in die durch V.v. Gebsattel meisterhaft erschaute „basaleWerdenshemmung“ übergegangen ist.

Indem wir die Feststellung vorwegnehmen, Hiob entfernesich stetig von der Möglichkeit der Melancholie, unterstellen wirstreng genommen, es liege in Hiobs Möglichkeiten, ein Melan-choliker im Sinne der Psychiatrie zu werden - während wir dochandererseits davon überzeugt sind, daß Hiob eine solche Mög-lichkeit gar nicht zuerkannt werden kann. Diese unsere Überzeu-gung wächst in dem Maße, in welchem Hiobs Reden vorschreiten.Vollends aber werden durch die Selbstdarstellung der Schlußrede(Kap. 29-31) alle möglichen Zweifel an einer VerwandtschaftHiobs mit dem zur Melancholie disponierten Typus beseitigt; dennhier begegnen wir den Selbstzeugnissen einer so königlichen Fül-le, eines so unbedingten Willens, sich in der Prägung seiner Um-gebung auszudrücken, zugleich aber auch einer so freimütigenBekundung unbestechlicher Rechtfertigung im Gewissen, daß unsdie Sorge, Hiobs innere Entwicklung könne sich in eineprämelancholische Konstellation verknoten, zunehmend verläßt.

Wenn es dennoch zuweilen scheint, als wehe durch das BuchHiob ein Hauch aus der Welt der Melancholie, so ist nun zu fra-gen, wie ein solcher Eindruck entstehen kann. „Recht, gerade,Gott fürchtend, fern vom Bösen.“ Diese Formel für Hiobs We-sen, die in der Art einer stehenden Wendung des öfteren wieder-kehrt, versieht, wie F. Stier zu Recht sagt, den so Bezeichnetenmit einem Akzent des Notorischen. Denken wir vor allem dar-an, daß Hiob die Söhne - sie könnten sich doch beim Gelageversündigt haben! - „nach ihrer aller Zahl“ durch Brandopfer zuentsühnen pflegt. Dieser Vorgang mutet an wie eine Eventual-Pro-phylaxe. Die darin vorscheinende Korrektheit wird allerdingsnicht wundernehmen, wenn man den erhabenen, unbedingten Ge-horsam heischenden Rang bedenkt, welchen die mosaische Re-ligion wie auch die damalige Weisheitslehre dem Gesetze zuweist.Wie sehr Hiob sich mit diesem Anspruch identifiziert - wiewohler doch, wie vor allem die Schlußrede zeigt, das Leben nie undnimmer vom Gesetz entwerten ließ - , zeigt sich an der ausdrück-lichen Erwähnung dieses Sühneopfers, das gerade in seinem pro-hibitiven Sinn Hiobs Tendenz offenbart, sein Dasein unbedingtin den festen Ordnungen der gesetzten Sitte zu verwirklichen.Diese Art ist es, die - zumindest formal - in ihrer Beflissenheit,Korrektheit, Gewissenhaftigkeit an Wesenszüge erinnert, wie mansie bei Menschen findet, die zur Melancholie hinneigen. Es istdiese Gewissenhaftigkeit, die zu den entscheidenden Bedingun-gen der Möglichkeit zur Melancholie zählt. In dieser Perspekti-ve erweist sich denn auch die Satansfrage „Ist etwa Hiob um-sonst gottesfürchtig?“ in psychologischer Hinsicht als eine Fra-ge von wahrhaft diabolischem Raffinement. Diabolisch ist dieFrage, weil sie Hiobs Gottesfurcht in der Perspektive der Unheil-prävention erscheinen läßt. Weil die Prägung durch den Geist desGesetzes Hiob lehrte, sein Gottesverhältnis an die korrekte Er-füllung gebotener Dienste zu knüpfen, und weil der Eindruckentstehen konnte, es habe Hiob vor allem an einer magisch-pro-hibitiven Entkräftung des unheilbringenden Bösen gelegen: kannHiobs Gestalt in einer Beleuchtung erscheinen, welche der inne-ren Landschaft der Melancholischen verwandt ist.

Über solche primär außerhalb von Hiobs Eigensein liegen-

dem, an ihn erst herangetragenen Momente hinweg ist jetzt auchauf etwas anderes hinzuweisen. Gemeint ist ein furchtbarer, dasganze Dasein Hiobs in Frage stellender Widerspruch. Könntedenn ein größerer Widerspruch vorgestellt werden als es der war,der Hiobs Dasein zerklüftete? Was die Erinnerung an Hiob durchalle Zeiten wachhielt, das war - so nennt es F. Stier (S. 217), „derSkandal“, daß Gott mit solchem Unheil gerade den schlug, dener selbst seinen treuesten Knecht nennt. Aber wenn Hiob sich nunnicht tötete und wenn er nicht versteinte; wenn er, der in der to-talen Zerstörung seiner Existenz durch Jahwe einen furchtbarenWiderspruch zu dem erblicken mußte, was ihm das Gesetz ver-hieß, sofern er nur sein Gottesverhältnis in der Erfüllung desGesetzes verwirklichte - wenn Hiob in diesem Widerspruch nichtzu Boden sank, weder in der Melancholie noch in der Schwer-mut: dann müssen wir fragen, vermöge welcher Bewegungen esHiob gelang, diese seine Eingeschlossenheit in seinen zerstör-ten Leib, seine gedemütigte Seele, sein Schicksal des Verstoßen-seins von Jahwe, zu übersteigen.

Es sind in der Tat Bilder verderblicher Einschränkung, mitdenen Hiobs Klage beginnt. Er ist der Betrübte, der des Todesharrt, der nach dem Tode gräbt, wie nach einem Schatz (3, 21).Er ist der Mann, „dem gesperrt sein Weg, den allum Gott um-zäunt“ (3, 23)4; und der auch später noch sagen wird, daß Gottin „krümmt“, ihn rings mit seinem Netz umspannt (19, 6). „DenWeg er mir vermauert, darüber komm ich nicht“ (19, 8)5. Demso Umschlossenen werden Licht und Leben schal, weil es ihmversagt ist, sich im Welthaften, Lebendigen zu verwirklichen.Darum kehrt sich in ihm das Leben gegen sich selbst, den Au-genblick der Zeugung und die Stunde der Geburt nihilistisch ver-wünschend. Unterbrochen wird dieses Wüten gegen das eigeneLeben durch den Widerspruch der Freunde; denn als diese emp-fehlen, die Herkunft des Leidens in verborgener Schuld zu erblik-ken, wecken sie seinen leidenschaftlichen Protest. Was die Freun-de sagen, soll Hiob von der Selbstverneinung abziehen und de-ren destruktive Energien durch Wendung zur Resignation lähmen.Was sie ihm auf die gequälte Frage nach dem Grunde seines Un-glücks (3, 20) antworten, kann ihn allenfalls dorthin führen, woalles Fragen unnötig wird: in die Resignation. Indessen hätten siemit nichts sein Wissenwollen stärker herausfordern können. In-dem Hiob sich gegen das Ansinnen verwahrt, sein Unheil könnenur in eigener Schuld wurzeln, formt sich in ihm erst recht dieFrage nach dem Ursprung seines Geschickes.

Die reine Selbstverneinung wird rasch abgelöst von einemdurchdringenden Fragen; aber in diesem Fragen gelangt Hiobzunehmend vor die Paradoxie. Der psychologische Ausdruck die-ser in sich widersprüchlichen Situation ist die Verzweiflung; dennwas ist es - in der Perspektive seines bisherigen Gottes-verhältnisses - anderes als Verzweiflung, wenn Hiob im Unglückist und dabei doch im Recht (6, 30) - eine Verzweiflung aber, dienicht stumm ist, sondern beredt, deren Wesen ein Alternieren ist,das sich in immer eindringlicheren Fragen zu Wort meldet undsich Gehör verschaffen will. Deshalb sollen die Freunde „desVerzweifelten Rede“ (6, 26) auch nicht in den Wind schlagen.

Darin, daß er das factum brutum seiner vernichteten Exi-stenz im ursprünglichen Sinne des Wortes „in Frage stellen“ kann,vollzieht Hiob einen Akt echten Transzendierens; denn damit hater die resignierende Selbstverneinung gegen die Verzweiflung ein-

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getauscht. Das ist die glatte Umkehr jenes Vorgangs, den wir sooft als ein Geschehen auf der Strecke zur Melancholie beobach-ten können. Dennoch hat Hiob damit die Möglichkeit zur Me-lancholie noch keineswegs definitiv entkräftet. Vielmehr wird inder Folge alles darauf ankommen, daß er die im Überstieg zurVerzweiflung gewonnene Elastizität nicht mehr preisgibt. Wenn- was gerade am Anfang der Melancholie angetroffen werdenkann - die Verzweiflung sich verfestigen würde in eine (wörtlichzu nehmende) dubietas, in ein auswegloses Hin und Her zwischenmöglichen Positionen, so wäre Hiob verloren. Einer solchenWerdehemmung (V.v. Gebsattel) kann Hiob nur dadurch entge-hen, daß er die dialektische Spannung der alternierenden Ver-zweiflung zu einem immer vollkommeneren Ausdruck bringen,auf einer immer höheren Stufe austragen kann.

Der Wandel im Modus der Beziehungen zu den Freundenkann als ein Kriterium gelten, an dem sich der Stand solcher Be-wegungen6 ablesen läßt. Die Freunde vernehmen den schneiden-den Ton von Hiobs Verzweiflung nicht. Gleichsam advocatidiaboli wider Willen vertiefen sie diese in ihren starrsinnigen Ent-gegnungen nur noch mehr. So wächst eine sich ständig vertiefendeKluft: denn die Freunde verbleiben auf der einst gemeinsamenStufe der Auslegung von Welt und Dasein, indessen Hiob immerentschiedener auf eine Stufe gedrängt wird, auf welcher seine Ver-zweiflung einen absoluteren Ausdruck annehmen kann. DieseStufe kann Hiob nur erreichen, wenn seine Intention sich auf dasAbsolute schlechthin, auf Jahwe richtet. Und so versucht Hiobimmer mehr, seine Verzweiflung in einem Dialog mit Jahwe aus-zutragen. Er will Jahwe in ein Gespräch hineinzwingen. Nochsein letztes Wort verlangt: „Der Allmächtige gebe mir Antwort“.Merkt Gott so sehr auf den Menschen, warum erniedrigt er ihndann zu einem so nichtigen Vegetieren? Ist er die Großmut, war-um vergreift der unendlich Überlegene sich dergestalt an demSchwachen? Wenn Gott die Gerechtigkeit ist, warum vernichteter dann Schuldlose wie Schuldige? (9, 22); und warum läßt erihn, den Schuldlosen („da du doch weißt, daß ich schuldlos bin“10, 7), so aus seiner Gerechtigkeit fallen! Wie kann Gott sein ei-genes, so liebreich und kunstvoll geschaffenes Geschöpf so ge-ring achten, den Vornehmen, der sich seinem Dienste weihte, aufden Kehricht werfen. „Meiner Seele ekelt ob meines Lebens“ (10,1).

Je mehr die Freunde versuchen, dieses Fragen schon als sol-ches, in seinem Eigenrecht, zu bestreiten, desto energischer treibtihn die Verzweiflung weiter und weg vom antinomischen AspektJahwes. Der Zarathustra-Ton seiner Rede gegen die Freundezeugt von seinem tapferen, wenngleich tiefverwundeten Geiste,dem es (im 13. Kapitel) gelingt, seiner Verzweiflung nochmalseine neue Fassung zu geben; denn nun sehen wir ihn einerseitsgleichsam auf seiten Jahwes gegen die Jahwes Größe verwäs-sernden Freunde zu Felde ziehen. Hiob wagt das Äußerste: umdes Rechtes willen will er Jahwe stellen, Leib und Leben aufsSpiel setzen. Er will Gott zu einem Rechtsgang fordern. Seinesgeschundenen Leibes nicht achtend und mit einer von der Machtseiner Verzweiflung zeugenden geistigen Vehemenz will er denDeus absconditus beschwören, aus der Verborgenheit hervorzu-treten. Welch ein verzweifelt großes Spiel! Ein Spiel vor Gottgegen Gott!

Bei alledem sagt Hiob sich doch nicht einen Augenblick

lang von Jahwe los. Darin liegt ja seine Größe, daß er von An-beginn alles ihm Widerfahrende von seinem Gottesverhältnis herbegreift, es vor dem Angesicht Gottes zur Sprache bringt. „Sei-ne Streitreden sind weithin eine Bitte an Jahwe, sein Bild in HiobsSeele zu retten“ (G.v. Rad S. 411). Je dringlicher er sich aberan das Fragen und das Fordern Gottes verwiesen sieht, um sostärker fühlt er seine Intention dadurch gefährdet, daß Jahwe ihnermüdet und verstört, ihn der Energie der Verzweiflung berau-ben will, die allein ihn doch über das Nichts hinwegtragen kann.Es gibt kaum Worte, die nun folgende letzte Wendung in HiobsVerzweiflung auszudrücken: wie er dieser aus seiner Ohnmachtheraus nochmals einen neuen und äußersten Ausdruck zu gebenvermag; denn nun bittet Hiob Gott, ihm gegen Gott Recht zuverschaffen. Dabei ist doch in Hiob keine Spur von Egoismusund nicht einmal eine Andeutung von Querulanz! Allein darumgeht es Hiob, daß Gott sich tiefer offenbare, ihm seine Gerech-tigkeit entdecke und faßlich mache, seine Gerechtigkeit, die sichentgegen der konstanten Versicherung der Freunde eben nicht imintramundanen Ausgleich zeigt.

Es ist nicht verwunderlich, daß diese letzte sublime Formder Verzweiflung Hiobs Wesen so bereit macht für das Erfassendes Sinnes seiner Prüfung, so offen für die wandelnde Macht gött-licher Verkündigung, so tauglich zur Metamorphose seines Da-seins. Was an diesem Vorgang im Felde der Psychologie faßbarwird, läßt sich so verstehen: daß Hiob von der Instanz geborgenwird, die er mit seinem Fragen7 als solchem wählte: vom Geist.Indem seine mächtige Reflexion sich in leidenschaftlichem Fra-gen entlädt, ist Hiob nicht einen Moment in Gefahr, melancho-lisch zu werden - vor allem deshalb nicht, weil die Richtungseines Fragens auf das Unendliche hin geht. Gibt es einzwingenderes Maß für die Größe dieser Haltung als das furcht-bare Dilemma, in das Hiob geworfen ward? Ethisch gesehen warJahwes Eingehen auf Satans Vorschläge der Beginn eines expe-rimentellen Verhältnisses zu Hiob; religiös gesehen war es einePrüfung. Deshalb kann Hiob die nur ethische Ebene der Freun-de keinesfalls akzeptieren; denn hier könnte er sich angesichts dersubjektiven Gewißheit seiner Schuldlosigkeit ja nur als Gegen-stand von Willkür und Experiment erfahren. Andererseits kannaber Hiob auch nicht erkennen - höchstens ahnen -, daß er ge-prüft wird; das heißt, er kann die religiöse Ebene im Entschei-denden nicht betreten, höchstens intendieren. Das macht, daßHiobs Situation Verzweiflung ist. Mit Energie zweifelt er sichdurch die Endlichkeit hindurch, gleichsam bis an deren Ende;denn wenn sich das Endliche auch in seiner provozierendenSchlußrede noch einmal in ungeheurer Weise dokumentiert, sodoch dergestalt, daß gerade darin sein Dasein reif wird für dieBotschaft des Unendlichen.

Psychologisch gesehen wird dieses Reifen nur dadurch mög-lich, daß Hiob den Geist wählte; genauer gesagt: daß er aus schierhoffnungsloser Umschränkung in das Fragen der Verzweiflung -und das heißt: in den Geist ausbricht. In allen Stürzen fing Hiobsich auf kraft der unermüdlichen Bitte um eine tiefere ApophansisGottes, rettet er sich dadurch, daß er eine Weise des Gott-verhältnisses sucht, die eigentlicher ist als in glücklicherer Zeit.Indem er verzweifelt immer aufs neue ansetzt, jene Tiefe in seinGottesverhältnis einzubeziehen, in die ihn das Geschick verstieß,kann er der Resignation vor dieser Tiefe entgehen. Das Abge-

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löst-sein von dem Leben, das um ihn und durch ihn blühte, dasEingeschlossensein in einen der Zerstörung anheimgegebenenLeib und das ungeheure Entferntsein vom Heile Gottes: all die-se heillosen Einschränkungen kann Hiob nur vermittels der En-ergie seines Transzendierens auf das Unendliche hin übersteigen.Von dieser ihn rettenden Bewegung haben die Freunde nicht dieleiseste Ahnung.

In dieser immer neu anhebenden Bewegung auf die Offen-heit des Geistes hin liegt Hiobs Bedeutung für ein bislang nichteinmal gesehenes, geschweige denn in Angriff genommenes Pro-blem der Melancholie-Prophylaxe. Der Typus, in dessen Struk-tur die Möglichkeit angelegt ist, melancholisch zu werden,gravitiert mit jener Konstanz, die dem Typischen eignet, zur Ein-deutigkeit des Festliegenden, Konstanten, Geregelten, Gesicher-ten, kurzum: zu einer Form von Ordnung in allen Daseins-bezügen, welche durch eine progressive Eliminierung des nurMöglichen, des Möglichen vor allem als der möglichen Unord-nung, gekennzeichnet ist. Was dieser Typus Mensch sich allemalverderblich wünscht, sagt den Kern treffend Elihu: „Die Ruhe vordem Rachen der Not, da keine Bedrängnis dich erschreckte“ (36,16). Das ist ein von Grund auf melancholischer Zug: daß dergewissenhafte und rechtschaffende Typus der Leiderwartung kei-nen Platz einräumen will. Es ist in ihm ständig eine prohibitiveTendenz am Werk, allen Möglichkeiten vorzubeugen, die Leidnachziehen könnten - vor allem der Schuld, die ihn Leid verdie-nen lassen könnte. Er beschenkt alle, will sich selbst aber nichtbeschenken lassen, weil ja das Geschenkte nicht verdient ist. WerUnverdientes nimmt, gerät in Schuld; aber der Rechtschaffene willniemandem etwas schulden. Das Wesen des melancholischen Ty-pus ist bezeichnet durch eine Tendenz, sich ausschließlich imEndlichen aufzuhalten und die Einübung jenes Übersteigens derEndlichkeit zu vernachlässigen, ohne welches das Dasein keinerMetamorphose fähig ist. Demgegenüber hat das menschlicheWerden seine entscheidende Voraussetzung darin, daß der Menschgeist-offen existiert, weil die ganze Schöpfung vom Werde-Gei-ste lebt (34, 14), ohne den alles stagnieren, verfaulen würde.Menschliches Dasein kann nicht stagnieren, wenn es über seinemHingehen die Weite des Geistigen sich offenhält. In dem Über-stieg auf das Geistige hin verwirklicht der Mensch sein Wesen,das auf Natur und auf Geist angelegt ist. Von der Wendung aufdas Geistige hin sprechend meinen wir jene schlichten, innerenBewegungen, deren auch der Einfachste mächtig ist, die ihn aberwie durch ein Zauberwort aus der Welt des Endlichen hinausfüh-ren. Es ist dabei - psychologisch gesehen - nicht entscheidend,welche Bereiche der geistigen Wirklichkeit gewählt werden. Imstrengen Gedanken wie im schönen Gebilde wie auch im Feldedes religiösen Bezuges weist die gleiche Flammenkraft, die denMenschen unmerklich gewandelt der Endlichkeit zurückgibt. Einsolches immer wieder geübtes Übersteigen kann jeder leisten,wenn er nur will. Wo auch immer der Mensch sich in solchenAkten in seiner allgemeinen Bedeutung ergreift - da geschiehtetwas, das jener Neigung zur Stagnation entgegenwirkt, die demmelancholischen Typus mitgegeben ist. Es ist von ebenso abgrün-digem wie beglückendem Sinn, daß Hiobs Fragen zwar keineentsprechende Antwort zuteil wird; aber „die wahre Antwort, dieHiob empfängt, ist“ , so sagt M. Buber (S. 106), „die Erschei-nung Gottes allein, dies allein, daß die Ferne zur Nähe sich

wandelt“. Daß Hiob ein Genie des Transzendierens war, und daßdieses Transzendieren fruchtet, weil es den Menschen dem Ab-soluten nähert und darin jedwede Stagnation aufhebt: darin be-ruht - psychologisch gesehen - Hiobs hilfreiches Vermächtnis analle, deren Wesen in Gefahr ist, auf den Weg in die Melancholiezu geraten - aber auch an alle, die den so Gefährdeten ärztlich,psychotherapeutisch, helfen wollen, diesen Weg zu vermeiden.

Anmerkungen

1 Diese Auffassung hätte textkritische Konsequenzen. Ihr zufol-ge würde die Rahmengeschichte mit 2,10 enden und mit 42,10wieder beginnen.

2 L. Baumer hat Hiob die Selbstschilderung einer zyklothymenDepression in den Mund gelegt. Dieser Versuch gründet diagno-stisch in einer Querschnittsanalyse und auf einem Symptom -Pointillismus. Die Verkennung des Klage - Kanons, der sich inden gleichen Formeln in den Psalmen wie bei den Prophetenfindet, hat Baumer bewogen, auch dort wörtlich zu nehmen, wostehende Wendungen vorliegen. (Schurr J.).

3 Für die ausführliche Begründung und für das nähere Verständ-nis dieser Sachverhalte darf ich verweisen auf: Tellenbach H.,Melancholie. Springer, Heidelberg 1961.

4 Die Zürcher Bibel übersetzt: „Dem sein Pfad verborgen und demGott jeden Ausweg sperrt.“

5 Luther übersetzt: „Er hat meinen Weg verzäumt, daß ich nichtkann hinübergehen.“

6 Das rechte Verständnis dieser Bewegungen scheint uns G. vonRad (S. 407/408) zu ermöglichen, wenn er sagt, die „geistigeBewegung in dem Dialogganzen“ entspreche nicht dem Vorgang„eines einlinigen und folgerichtigen Schlußverfahrens“, sonderneinem Angehen des Problems von den verschiedensten Seiten,in der Absicht, es „in seiner Totalität zu erfassen“. Das schließtjedoch nicht aus, daß sich „wenigstens in den Monologen Hi-obs ein gewisses gedankliches Fortschreiten feststellen“ läßt (S.409).

7 Man könnte eine gleichsam transzendente Rechtfertigung die-ses Fragens darin erblicken, daß Jahwes Antwort an Hiob mit„einem Sturm von Gegenfragen“ (G. v. Rad, S. 414) beginnt.

Literatur

BAUMER L. (1957): Das Buch Hiob. Versuch einerpsychopathologischen Deutung. Nervenarzt 28, 546.

BAUMER M. (1952): An der Wende. Jak. Hegner. Köln.RAD v. G. (1957): Theologie des Alten Testaments. Bd.I. Chr. Kai-

ser. München.SCHURR J.cand. theol. (1958): Vortrag über das Problem der Me-

lancholie bei Hiob in meinem Seminar „Gestalten derMelancholie“ im Heidelberger Sommersemester.

STIER F. (1954): Das Buch Hiob. Kösel. München.WOLFSKEHL K. (1950): Hiob oder die vier Spiegel. Claassen.

Hamburg

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Ritualen der verschiedenen Religionssysteme, sowie vomGrad der Echtheit, mit dem sie in den verschiedenen sozia-len Gruppen oder im Individuum vorhanden sind. Diesespezifische Art religiösen Empfindens hilft den Menschengerade dort, wo die Wissenschaft keine erklärenden Theo-rien mehr bereitstellt.

Das sind z.B. Fragen welche die Schöpfung, der Tododer eine Gerechtigkeit, die die Handlungen des Menschenin eine Ursache-Wirkung-Beziehung zum eigenen Schick-sal bringt, aufwerfen. Tatsächlich finden sich in den Reli-gionen (und zwar in allen) grundlegende Aussagen überdiese großen Existenzfragen des Menschen. Es sindKentnisse, die man schon in der Kindheit in unverfälsch-ter Weise assimiliert und denen jene verzerrenden Elementefehlen, die die kindliche Religiosität von jener der Erwach-senen oftmals unterscheiden.

Zahlreiche Forschungen über die Aufnahme religiöserKentnisse in der Kindheit zeigen:

das Vorhandensein der Idee eines Schöpfers in der Reli-giosität (Vianello 1980, Forschung über christliche Kin-der. Braido, Sarti, 1967-68-70, Forschungen an christli-chen und moslemischen Kindern);das Vorhandensein der Idee eines Gottes, der sich für dieGerechtigkeit einsetzt (Vianello 1977-80);die Präsenz eines Gottes, der die Unsterblichkeit, diekeine irdische sein kann, gewährleistet, sondern ein Le-ben ist, das nach dem Tod anfängt und für immer dau-ert.

Das bisher Gesagte soll genügen, um die große Bedeutung,die der Religion und der Religiosität zukommt, aufzuwei-sen. Sie gibt dem Menschen strukturierte Mittel zur Lösungseiner Angstknoten, wie verschiedene Autoren des Existen-tialismus und der Existenzanalyse unterstreichen:

die Angst, die Heidegger für den Grundzug der Gefühls-situation des Menschen hält. Es ist dies eine Angst, dienicht von Ereignissen oder durch konkrete äußere Wirk-lichkeiten verursacht ist. Sie ist vielmehr das Ergebnis derMöglichkeit des Existierens. Mit anderen Worten handeltes sich um eine Angst ohne genaue Ursachen, die denMenschen befällt und ihm die Anwesenheit des Nichts

Die verbindende Funktion des Heiligen.

Psychotherapie und Religion:Eine Gegenüberstellung

Lucio Demetrio Regazzo

Dies ist ein Versuch, Psychotherapie undReligion gegenüberzustellen und dabei nachGemeinsamkeiten zwischen beiden zu su-chen. Das Thema wird dafür in verschiede-ne Teile geteilt, die vorwiegend selbstän-dig analysiert werden. Die einzelnen Teilefügen sich aber an den Berührungspunktender therapeutischen und religiösen Praxiswieder zusammen, wobei der Begriff desHeiligen hier gleichsam als Synapse dienenwird.

Religion und Religiosität

Die Religionen sind gegliederte Systeme von Übereinkünf-ten, Gefühlen und rituellem Verhalten, die das, was fürheilig gehalten wird, zum Gegenstand haben. Obwohl die-se Systeme Elemente für individuelle Differenzierungenvorsehen, sind sie normalerweise von einer oder mehrerenSozialgruppen gebilligt und tragen so dazu bei, den Kultur-typ einer Bevölkerung zu bestimmen. Die wesentlicheFunktion der Religion ist es, dem Einzelnen und der Gruppeeine Beziehung zum Heiligen zu ermöglichen und dieseBeziehung in ihren Grundaspekten zu kodifizieren.

Die Religiosität kann dagegen als subjektive Überzeu-gung vom Bestehen einer transzendenten göttlichen oderheiligen Wirklichkeit angesehen werden; in ihr geht es umdie Gegenwart eines Subjekts in der persönlichen Lebens-ideologie, nämlich um die Gegenwart des Göttlichen. DieReligiosität ist also letztlich der Glaube an Gott, währenddie Religion die Weise betrifft, in der sich das Subjekt mitdiesem Gott in Verbindung setzt.

Religiosität und Religion beinhalten eine typische Artzu empfinden, selbst wenn man ganz absieht vom Spezifi-schen eines jeden Glaubens und den charakteristischen

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und sein eigenes Sein zum Tode enthüllt.das Jaspersche „Scheitern“, in das der Existierende un-weigerlich fällt, weil er dem Leid und dem Tod nichtentkommen kann.der Wahnsinn, den Binswanger als das Versagen derExistenzmöglichkeiten des Menschen auffaßt. Das Ichkann seine Unabhängigkeit in der Welt nicht mehr ver-treten, es kann sich nicht differenziert und authentischentwickeln. Im Binswangerschen Verständnis des Wahn-sinns wird die Fähigkeit paralysiert, aufeinanderfolgen-de Weltentwürfe zu konstruieren, die weiter und tiefersind als die vorhergehenden. Die Person verfällt in derFolge in die Einsamkeit, in ein Interesse für das weltlichVergängliche und in eine Unfähigkeit, neue Beziehungenzum anderen einzugehen;das Leid, die Schuld und der Tod, die V. Frankl „die tra-gische Triade der Existenz“ bezeichnet;das Franklsche “Existentielle Vakuum”, in das derMensch verfällt, wenn er die Möglichkeit verliert, sichselbst zu transzendieren in der Realisierung von Sinn undWerten und auf eine Begegnung mit einer Existenz hin,die über die eigene hinausgeht.

Die Religionen können also auch in ihrer Eigenschaft alsGlaubens- und Gefühlskategorien aufgefaßt werden, die denMenschen in seinem Versuch beistehen, zur Authentizi-tät zu gelangen, insofern sie nämlich den Menschen helfen,sein Schicksal anzunehmen (Heideggersche Authentizität)vermittels der Erwartung einer Begegnung mit der unend-lichen Existenz. In gleicher Weise helfen die Religionen,daß das Scheitern im Jasperschen Sinne zum Mittel wird,die größte Freiheit zu erreichen, weil sich in den religiö-sen Werten der Sinn des Leidens, des Schmerzes und desTodes findet. Darüber hinaus geben die Religionen demMenschen Beistand in seinem Verlangen, an die Möglich-keit zu glauben, unzählige Weltentwürfe bauen zu können,indem er mit Gott das ideale und unendliche Projekt insSeins projiziert (Binswanger). Schließlich sind die Religio-nen Kategorien, die das Franklsche existentielle Vakuumkompensieren. In bezug auf das Verhältnis zwischen Glau-be, Religion und Psychotherapie bekräftigt Frankl (1982,217): „Dem religiösen Menschen, der sich im verborgenenMetaphysischen geborgen weiß, haben wir nichts zu sagen,hätten wir nichts zu geben.“ An einer anderen Stelleschreibt er (ebd. 46): „Daß der Glaube an einen Über-Sinn(...) von eminenter psychotherapeutischer undpsychohygienischer Bedeutung ist, erhellt von selbst. Er istschöpferisch. Als echter Glaube innerer Stärke entsprin-gend, macht er stärker. Für solchen Glauben gibt es letz-ten Endes nichts Sinnloses.“

Wir haben soeben sicherlich mehr über die Beziehungzwischen Religion und Psychopathologie gesprochen undweniger über Religion und Psychotherapie. Tatsächlichkönnen die religiösen Werte auch als Werte eingesetzt wer-den, die pathologische Entwicklungen verhindern können,weil sie der Existenz einen Sinn geben. Die Psychothera-pie hingegen tritt dann auf den Plan, wenn die Ver-rücktheit

schon vorhanden ist. Ein allfälliger Zusammenhang derPsychotherapie mit der Religion kann dann nur in der Ana-lyse des Gegenstandes der Religion selbst erkannt werden,nämlich in dem, was das Heilige ist.

Die Religion ist sicherlich keine Psychotherapie, unddie Beziehung zwischen Priester und Gläubigen kann mitjener zwischen Psychotherapeut und Patient nicht gleich-gesetzt werden, selbst in Momenten größter Intimität, dieden Geistlichen mit dem Gläubigen verbindet - in der “Ko-existenz” während des Beichtrituals. Die Beichte - indivi-duelle oder kollektive, geheime oder öffentliche je nach denBesonderheiten der Relgion und ihren verschiedenen histo-rischen Entwicklungen - sieht einen Beichtvater und einenBeichtenden vor: eine Person, die der Seele verzeiht undsich um sie kümmert und eine Person, die den religiösenRegeln zuwidergehandelt hat und Schuldträger ist. Der er-ste benutzt eine „Bezugstheorie“, um den Sünder zu hei-len; diese stimmt mit dem religiösen System überein, inwelchem er Diener ist; der zweite befindet sich in einerbußfertigen Haltung und wartet auf die Wiederversöhnungmit Gott, die nur durch die Absolution des Priesters undeventuell auch ein vom Priester erteiltes Sühneopfer wie-derhergestellt werden kann.

In den phänomenologisch-existentiellen Psychotherapi-en sollte der sich entwickelnde Vorgang in der psychothe-rapeutischen Dyade die folgenden Eigenschaften aufweisen:

keine Beurteilung durch den PsychotherapeutenVerzicht einer Theorie zur Erklärung dessen, was passiertvom Therapeuten werden keine Verhaltensanweisungenzur Heilung (Wiederversöhnung) vorgeschlagenAusschluß von therapeutischen Verhaltensweisen undHaltungen, die mit einem Angebot von heilsbringendenSühneopfern einhergehender Patient soll sich nicht notwendigerweise als Sünderfühlen und sich in Schuld und in reuiger Haltung befin-den.

Die Unterschiede in der Beziehung zwischen Beicht-vater und Gläubigem und zwischen Therapeut und Patientsind so evident, daß eine Berührung von Psychotherapieund Religion nur mittels einer dritten Wirklichkeit möglichwerden kann, nämlich jener, die man als das Heilige be-zeichnet. Denn die Unterschiede zwischen Religion undPsychotherapie sind paradigmatisch auf Grund der Anders-artigkeit der Beziehungen, aus denen die Religion und diePsychotherapie jeweils bestehen. Beide Beziehungsformenverweisen nämlich auf unterschiedliche Wirklichkeiten, diesich der Person zeigen.

Das Heilige

Es ist nicht leicht, den Begriff des Heiligen zu definieren.Er kann durch alle menschlichen Tätigkeiten und durch alleGegenstände der Wirklichkeit erklärt werden, die mit derGottheit, dem unerklärbaren Religiösen verbunden sind.Anders gesagt kann das Heilige so bestimmt werden, daß

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es sich in all dem zeigt, was dem Menschen erfurchtsvollesVerhalten und Verehrung abverlangt. Im allgemeinen wirddas Heilige durch Gegensatzbegriffe definiert: als heilig giltdas, was nicht unter die Kategorie des Profanen fällt.

Die Phänomenologie hat das Problem der Unbestimm-barkeit des Heiligen durch das Studium der Wirklichkeit,die durch sie zum Ausdruck kommt, überwunden; dazuführte W. F. Otto in der ersten Hälfte des 19. JahrhundertsStudien durch, durch die er den autonomen Aspekt der Er-fahrungen des Heiligen bestätigen konnte. Er definierte dasHeilige, ohne Gegensatzbegriffe zu verwenden und ohne sieanderen moralischen oder rationalen Kategorien unterzu-ordnen. Konkret behauptet Otto, daß das Heilige durchseine Wirkung auf das menschliche Verhalten verstandenwerden könne: das Verhalten angesichts des Heiligen sei einbesonderes Verhalten. Es habe genaue Charakteristiken, diees von anderen Verhaltensweisen unterscheide, die zu dergleichen Art von Ereignissen gehören, aber keine Heilig-keit haben. Das Verhalten zum Heiligen sei oft kodifiziert,das heißt mit Auflagen und Verboten verbunden. Das Ver-halten zum Heiligen nehme Formen und Richtungen an, dievon der Überzeugung geleitet seien, daß Dinge und Perso-nen, die mit Heiligkeit ausgestattet seien, eine Macht undeine oft mysteriöse Stärke hätten, die den Ablauf der Er-eignisse und das Schicksal der Personen zu ändern vermö-ge.

Ottos Definition des Heiligen ist offenkundigphänomenologisch, weil sie den Inhalt nicht mit Worten er-klärt, die in direkter oder abstrakter Weise auf das Kon-zept selbst wieder Bezug nehmen. Statt dessen schaut Ottoauf die Manifestationen des Heiligen, erklärt sie durch dieArt, wie sie erscheinen und stellt erst danach Abstraktio-nen an.

Erminio Gius (1982a) geht dann über diephänomenologische Bestimmung des Heiligen hinaus, in-dem er eine im wesentlichen existentialistische Beschrei-bung versucht: „Das Heilige ist die Möglichkeit selbst,unendlich vielfältige Daseinsweisen zu sein; es ist die dia-lektische Bewegung zu einer Neubildung seines eigenenWesens inmitten der Heiligkeit, (...) es ist die Möglichkeitfür die Präsenz, sich in der Transzendenz zu leben als stän-dige Wiederentdeckung seiner inneren Freiheit, seinerschöpferischen Fähigkeit, seiner Möglichkeit der Teilhabean der authentischen Freiheit der Kinder Gottes.” (Gius1982a)

Gemäß der Auffassung dieses Autors ist die Heiligkeitalso in jedem Menschen zu suchen, wenn er sich mit derWelt in Verbindung setzt, und jede Beziehung ist in demMoment heilig, wenn sie die innere Freiheit ermöglicht unddie schöpferischen Fähigkeiten des Menschen von der Fes-sel der Einsamkeit löst. Diese Kreativität ist immer Be-wußtheit davon, daß man seine Existenz auf verschiedeneund unendliche Weise entwerfen kann. Das Heilige und dasGöttliche können sich also decken, aber das Heilige ist aufjeden Fall in jeder Person vorhanden. Auch wenn es oftverborgen ist, und wenn es auch geopfert wurde „der Machtder Sorge, des Besetztseins durch die Dinge, dem eigenen

Sicherheitsbedürfnis, dem Narzißmus, der eigenen innerenArmut” (Gius 1982b, 69).

Psychotherapie

Die Psychotherapie als Behandlung des menschlichen Gei-stes entstand vor sehr langer Zeit und wurde im Ursprungsicherlich mit der Zauberkunst und mit einigen archaischenReligionsformen verwechselt. Wenn wir aber die Psycho-therapie als ein Behandlungssystem für seelische Störun-gen auffassen, welches mit nicht-pharmakologischen Mit-teln arbeitet, dann müssen wir den Ursprung bei F. A.Mesmer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts suchen.Er führte die Hypnose und die Suggestion ein. Vor allemmüssen wir den weiteren Ursprung bei S. Freud sehen, dermit der Psychoanalyse die ausschließliche Orientierung ander Symptomheilung überwand und damit die Ursache derseelischen Störung zum Gegenstand der Psychotherapiemachte und sich nicht mehr mit der Behandlung der Be-schwerden selbst begnügte.

Seither hat sich die Psychotherapie entwickelt und vie-le und unterschiedliche Behandlungsmodelle hervorge-bracht, sodaß Harper 1959 eine Liste von 36 Interventions-methoden aufstellte. Herink kam 1980 sogar auf 250 ver-schiedene Psychotherapiemethoden. Spätere Autoren ver-suchten in einem Bemühen um Vereinheitlichung die brei-te Skala therapeutischer Strukturen auf drei Haupt-strömungen zu reduzieren:

a) psychodynamisch-analytischeb) koognitiv-verhaltenstherapeutischec) phänomenologisch-existentielle und humanistische.Der Versuch, die unterschiedlichen Formen der Psy-

chotherapie zu verbinden, benützt als Hauptkritierien dieTheorie der Persönlichkeit, von der sich das Therapiemodellableitet, die wissenschaftliche Tradition, die Theorie der In-tervention. Anhand dieser Kriterien wurden alle bestehen-den psychotherapeutischen Modelle den drei oben genann-ten Hauptströmungen zugeordnet.

Es gibt hingegen zahlreiche Methoden zur Bildung vonKategorien, nach denen die verschiedenen Therapie-richtungen unterschieden und die vielen Interventions-stränge eingeordnet werden können; eine Art, die für dasThema, das wir hier behandeln, hilfreich sein könnte, be-steht in der Unterscheidung der Psychotherapien intheistische und atheistische. Das Konzept des Heiligen unddas Konzept von Gott sind darüber hinaus nicht nur für dieexistenzialistischen Therapiemethoden grundlegend, diesich dem Thema auch explizit stellen, sondern erweisensich als ebensowichtig für jene Therapiemethoden, die dasProblem des Göttlichen behandeln, aber oft ohne es zubenennen.

Wenn man tatsächlich das Göttliche als Bezugspunkthernimmt, beschränken sich die Psychotherapien auf bloßzwei Typen, nämlich atheistische und theistische. In denersten sind Gott und der Glaube das Emblem der Entfrem-

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dung des Menschen von den Ereignissen der Welt, und derMensch hat die Aufgabe, sich dem Heiligen zu versagen,um die eigene Authentizität und die eigene, individuelleIdentität wiederzufinden, durch die man vor dem eigenenSchicksal verantwortlich ist. In den theistischen Therapie-richtungen ist Gott das Fundament der Existenz, sind derSinn und der Wert, auf welche sich der Mensch beziehensoll, um seine Identität zu finden, die ihn aus seiner Ein-samkeit herausführen und es ihm ermöglichen, sich auf denanderen auszurichten.

Wenn man diese kategoriale Unterteilung verwendet,finden wir ein erstes Moment der Einheit zwischen derPsychotherapie und dem Gegenstand der Religion (nichtunbedingt zwischen Psychotherapie und Religion). Tatsäch-lich bedienen sich alle Theorien des Heiligen: entweder umes zu leugnen oder um auf es als das Licht der Existenz zuverweisen. Es ist klar, daß das nicht immer direkt gesagtwird. Die Kategorien sind als ideale Konstruktionen und alsextreme Pole eines ebenso idealen Segments zu verstehen,wo jedes psychotherapeutische Modell eine Position findenkann, die mehr oder weniger nahe am theistischen oderatheistischen Extrem liegt. Nehmen wir z.B. denPawlovschen Behaviorismus, nach welchem der Mensch,seine Gesundheit und seine Pathologie ausschließlich vongleichsam mechanischen Konditionierungen abhängen undwo als Konsequenz davon die Therapie mit ebenso mecha-nischem Dekonditionieren erfolgt. Wir wissen nicht, obPawlov Gott ausdrücklich oder theoretisch geleugnet hat;aber er hat nicht nur Gott geleugnet, sondern hat sicherlichdem Menschen die Existenz einer Spiritualität abgespro-chen. Er mußte notwendigerweise den Menschen die Spi-ritualität und die Heiligkeit absprechen, um mit seinemeigenen Theoriemodell und der resultierenden therapeuti-schen Praxis die wissenschaftliche Kohärenz und diescheinbare, positivistische Sicherheit zu erreichen.

Eine andere Art, die verschiedenen Modelle der psy-chologischen Behandlungsformen zu trennen, ist jene, wel-che E. Gius (1982) verwendet hat - einer der berühmtestenitalienischen Forscher der Anthropoanalyse L.Binswangers. Gius unterteilt die verschiedenen Formen derAnalyse in nur zwei unterschiedliche Klassen anhand dertiefen und neuen Bedeutung der Psychotherapie, die sich inden Begriffen „repressiv“ und „reparativ“ niederschlägt.Nach Gius sind die Psychotherapien also entweder repres-siv-hemmend oder reperativ-heilend. Eine hemmende Me-thode (Gius nimmt die orthodoxe Psychoanalyse als Bei-spiel) betrachtet den Patienten als ein Subjekt, das von denGeselleschaftsnormen abweicht und das dahin geführt wer-den muß, daß es wieder Gefühle und Verhalten entspre-chend der Theorie und der Ideologie dieser psychotherapeu-tischen Strategie ausdrückt.

Auch wir stimmen mit dieser Aufteilung der psycho-therapeutischen Methoden in repressiv-hemmende undreparativ-heilende - oder besser befreiende - Interventions-weisen bei psychischen Störungen überein. Die einen wer-den repressiv, weil sie sich von einer Ideologie leiten las-sen und sich beim Versuch, den abweichenden Patienten auf

den richtigen Weg - den Weg ihrer Ideologie - zu bringen,verhärten. Zu diesem Zweck werden Techniken und Instruk-tionen eingesetzt, mit deren Hilfe der Patient besser diekrankhaften Mechanismen benützen soll, auf denen sichunsere - noch zu technokratische - Gesellschaft gründet.Durch sie verringert sich die Möglichkeit des Menschen,seine Bedürfnisse auszudrücken und nach seinen Werten zusuchen.

Repressiv ist auch jedes Modell, das den Patientenideale Werte vorschlägt, seien sie theistischer oder atheis-tischer Natur. Dabei handelt es sich um Ideale, die theore-tisch im vorhinein gebildet wurden mit dem Zweck, dereigenen Existenz einen Sinn zu verleihen; sie erfüllen da-her eine Funktion der inneren Befriedigung. In diesenModellen wird der Patient gläubig, unabhängig davon, ober einer Religion angehört oder nicht und nimmt in dogma-tischer Weise Werte des anderen als eigene an. Er hat ent-weder Vertrauen in den Therapeuten und in die Behandlungoder ist unfähig, die Zuwendung des Therapeuten aufs Spielzu setzen und ihn narzißtisch zu verletzen. Es ist sicher-lich weniger gefährlich, sich in eine Zweierbeziehung ein-zulassen, wenn man geschützt ist durch eine strenge Rolleals Heiler, gesund und ausgerüstet mit allmächtigenBehandlungsinstrumenten. Gestützt durch eine Ideologie,die den anderen als verrückt oder unangepaßt beschreibtund Gesundheitsmodelle liefert, an denen man sich orien-tieren kann, um die Verrücktheit der anderen in akzeptablerWeise zu umschreiben, wird der Wert der Behandlungglaubwürdig und die Gesellschaft vor den Außenseitern ge-schützt. In einem solchen Kontext besteht daher keine Ge-fahr, daß der Analytiker (Psychotherapeut) sich dem see-lisch Kranken zu ähnlich fühlt und sich einer plötzlichenAnwandlung von relationaler Authentizität in derselbeninneren - geistigen - Armut - wie der Patient wiederfindet,von der beide versuchen herauszukommen unter identischenBedingungen des Menschseins und auf der Suche nachWerten und Sinn: der eine, indem er verrückt wird, derandere, indem er den Wahnsinn behandelt. Es besteht da-her keine Gefahr, daß die Rollen verwechselt werden oderdaß der Therapeut seine sichere Identität plötzlich verliert.Dagegen gibt es den Sieg des Narzißmus, der Arroganzdessen, der mit seinen wissenschaftlichen Kentnissen seineigenes existentielles Vakuum armselig auffüllt. Der Gip-fel der repressiven Feigheit besteht darin, den leidendenMenschen wieder an eine Normalität zu adaptieren, die aufdogmatische Weise auf gesellschaftlichen Prinzipien beruht,die den Erfordernissen des Menschen und seinem existen-tiellen Ziel, sich von den Zwängen der vergänglichen Din-ge zu befreien, entgegen stehen. Der Priester-Therapeut, derVerhaltensweisen lehrt und auferlegt, die nicht aus derSolidarität mit dem Patienten erwachsen, hindert sich, amLeid des anderen teilzuhaben und sich in ihm wiederzuer-kennen; schlimmer noch, er hält das Leid von sich ab: undda das Leid Ergebnis eines “Abweichens” ist, benutzt dernicht-deviante Therapeut den, der leidet, um seine eigene“Normalität” und seinen gesunden Zustand zu bestätigen.

Es ist schließlich jede therapeutische Beziehung als

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repressiv zu bezeichnen, in welcher der Therapeut Kompli-ze eines Spieles ist, bei dem die Gesellschaft die Aufgabestellt, den devianten Patienten mit Hilfe von Techniken aufdie Geleise der gesellschaftlichen Normalität zu bringen.In der Annahme einer solchen Rolle stellt der Psychothe-rapeut seine Kentnisse und Methoden der Gesellschafts-kontrolle zur Verfügung und arbeitet somit gegen den Men-schen, statt zu ihm hin. Er wird damit selbst zum Priestereiner Religion, deren Heiligkeit nicht das Göttliche ist,sondern die Angst vor der Verschiedenheit, vor all dem, waswissenschaftlich nicht kontrolliert werden kann und wassich den von den Gesellschaftsgruppen als befriedigendanerkannten Werten oder Unwerten nicht anpaßt. Der Psy-chotherapeut, ganz gleich ob existentialistischer oder po-sitivistischer Prägung, ist dann ein Beichtvater, der eineBeziehung bildet, wo der bußfertige Patient seine Sündengegen einen Gott zugibt, der die Gestalt der wissenschaft-lichen Sicherheit und der von ihr abgeleiteten Theorien an-nimmt. Ob das heilige Objekt nun Gott oder die Wissen-schaft sei, der Psychotherapeut hat seinen eigenen Glaubenauszusetzen und sich damit freizugeben für den Mut, sichin die Beziehung einzulassen und dabei Gefahr zu laufen,mit der eigenen Identität in Verwirrung zu geraten, weil erals grundlegenden Wert für den eigenen Beruf den Aus-schluß jedes ideologischen Kompromisses ansieht.

Heilende Psychotherapie

Wie kann eine heilende Psychotherapie aussehen? Bis jetzthaben wir sie durch ihren Gegensatz beschrieben:reparativ-heilend ist das, was nicht repressiv-hemmend ist.Hier soll nun eine Beschreibung versucht werden, indemdie Gedanken von Gius erweitert werden.

Reparativ heilend ist eine Beziehung, in welcher derPatient Person wird und Gegenstand der Liebe des Thera-peuten, sodaß er sich mit ihm in absoluter Freiheit bei derSuche seines Sinns wieder herstellt und daß beide als Paarin einen Prozeß radikaler Veränderung des Wissens um sichselbst gelangen.

Die Psychotherapie ist reparativ-heilend, wenn mit demWort Liebe das Konzept der Heiligkeit koinzidiert, eineHeiligkeit, die die Freiheit darstellt, die kreativen Kapazi-täten eines jeden zum Ausdruck zu bringen, in einem un-ablässigen sich Finden in den existentiellen Möglichkeiten.Die Psychotherapie ist heilend, wenn sie über die Notwen-digkeit der Behandlung hinaus das Heilige in jeder Formdes Daseins, in jedem Wahnsinn entdeckt. Heilsam ist jedePsychotherapie, die sich selbst heiligt, indem sie die gei-stige Armut des Therapeuten und Patienten erkennt undannimmt und im Modus der Zweierbeziehung unter Gleich-gestellten einen Entwurf der Existenz wiederfindet, dersich, wenn auch bescheiden, so dennoch in die Geistigkeiterhebt. Heilend, heilig und geistig ist jede Psychotherapie- ich denke z.B. an die Existenzanalyse - die die Geistig-keit in all jenes übersetzt, was Solidarität, Respekt, Sinn

der Existenz ist, der in der eigenen Möglichkeit liegt, an-dere in der Tiefe zu lieben, in einer unbegrenzten Hingabean den Verlauf der Zeit, in den unendlichen Wirklichkei-ten, die darin freigegen werden:

reparativ-heilend ist jede Zweierbeziehung, die ein ein-maliges und einzigartiges Gepräge hat und wo Ideologieund Werte mit der kollektiv-gesellschaftlichen Ideologienicht übereinstimmen müssen, sofern sie nicht destruktivsind. So heilen sich Patient und Therapeut gegenseitigohne vorgegebene Kategorien theoretischer, technischeroder wertmäßiger Art. Sie suchen in der Beziehung ihreTheorie, ihre Technik und ihre Werte;eine Beziehung ist reparativ-helfend, je mehr sie auf fest-gesetzte Regeln für eine klare Trennung der Therapeuten-Patientenrolle verzichtet. Indem sich die beiden gegensei-tig anvertrauen und vertrauen, finden sie Heilung in ei-nem Bündnis, dessen Ziel die Suche der Heiligkeit dar-stellt, die in jedem der beiden gegenwärtig ist. Eine sol-che Beziehung ist kein Bündnis, das nach mehr Effizi-enz im Überleben der Verkommenheit, der sozialen Ein-samkeit, der gewaltsamen und zwingenden Vergänglich-keit oder einer in Kodices gefaßten Daseinsbewegungsucht. Diese Heiligkeit ist in uns allen vorhanden, auchwenn sie durch die Inauthentizität und Verfremdung ver-borgen ist. Sie stellt jenes Bewußtsein dar, die Möglich-keit zu unendlich vielen Arten des Daseins zu haben. Siebestehen in der Möglichkeit, radikale Veränderungen inder Kenntnis von sich selbst vollbringen zu können: obam Ende ein Gott ist oder nicht, ist dann nicht von Be-deutung.

Religion, Psychotherapie und das Heilige

Im Verlauf dieses Beitrags wurden vielleicht unerwar-tete und unvermutete Zusammenhänge zwischen Religion,Psychotherapie und dem Heiligen gefunden. Die Religionsteht nur dann in einem verbindenden Zusammenhang mitder Psychotherapie, wenn wir von repressiv-hemmenderPsychotherapie sprechen, also jener Psychotherapie, die dieHeilung einer von der Norm abweichenden Person zumZiele hat. Zwischen reparativer Psychotherapie und Reli-gion haben wir nichts gefunden, das sie verbinden würde,wenn wir nicht eine dritte Wirklichkeit eingeführt hätten:das Heilige. Tatsächlich entsteht die Verbindung zwischenreparativer Psychotherapie und Religion durch den Gegen-stand der Religion selbst, der das Heilige ist. Die Psycho-therapie ist für den Menschen Liebe, Heilung und Befrei-ung, wenn es ihr gelingt, das Heilige, das in uns allen ist,zu befreien. Aber paradoxerweise muß dieses Heilige mitdem Dogma, dem Mysterium und dem Glauben nichts zutun haben; es ist eine Art Heiligkeit, die mit dem Leben undnicht mit Gott übereinstimmen kann.

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Anschrift des Verfasssers:

Dott. Lucio Demetrio RegazzoIstituto di Analisi Relazionale

Piazzale Mazzini, 3I-35137 Padua

Dott. Regazzo ist Direktor dieses Instituts, das neben derPatientenbetreuung auch eine Ausbildung inphänomenologisch-existentieller Psychotherapie anbietet.Das Institut steht in wissenschaftlicher Zusammenarbeitmit der GLE.

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Zu dieser Frage haben wir im letzten Som-mer im Ausbildungsteam der GLE ausführ-lich beraten und diskutiert. Wir sehen dassinnorientierte Vorgehen der Logotherapievon ihrem Wesen her als bestens geeignetfür Beratung und Begleitung existentieller(Krisen-)Situationen. In Abgrenzung zur Exi-stenzanalyse als Psychotherapie ist in derGLE „Logotherapie“ die Bezeichnung fürdie beraterische Vorgangsweise. Da dieBeratungsausbildung in der GLE aber nichtnur die rein sinnorientierte Vorgehenswei-se vermittelt, sondern darüberhinaus aucheinen Zugang zu breiteren existenz-analytischen Themen wie z.B. Grund-motivationen, Phänomenologie, Authentizi-tät, personale Ressourcen und Abgrenzun-gen, Entscheidungsfähigkeit, Willens-stärkung, Beziehungsfähigkeit, Konflikt-fähigkeit, Anleitung zur Persönlichkeitsent-faltung usw., hat die Beratungsausbildungder GLE neben der spezifischen Bezeich-nung „Logotherapie“ auch die Bezeichnung„existenzanalytische Beratung und Beglei-tung“. Das Diplom der GLE wird daher aufdie Bezeichnung „Logotherapie undexistenzanalytische Beratung und Beglei-tung“ ausgestellt.Im folgenden werden die in den Diskussio-nen des Ausbildungsteams der GLE im Kon-sens erarbeiteten inhaltlichen Beschreibun-gen unseres Verständnisses für Beratungund Begleitung wiedergegeben.

Worin unterscheidet sich Beratung von Psychotherapie?Haben sie spezifische Vorgangsweisen oder unterscheidensie sich nur im Ausbildungsgang und in der Honorierungder Krankenkassen? Die Psychotherapie hat sich spätestensseit dem neuen Psychotherapiegesetz in Österreich breit-flächig etabliert - wird Beratung dadurch überflüssig? At-mosphärisch wurde die Akzeptanz für Beratung und Beglei-tung in den vergangenen Jahren schmäler. Dies soll Anlaßsein, das Spezifische in der Zielsetzung und Umsetzungvon Beratung und Begleitung darzustellen.

Existenzanalytische Beratung

Die Beratung arbeitet auf der Handlungsebene mit demZiel, eine Lösung für ein aufgeworfenes Problem aufzufin-den.

Psychotherapie hingegen wendet sich einer dahinterste-henden Traumatisierung oder der Ebene derPersönlichkeitsstruktur zu. Sie zielt darauf ab, das dazu-gehörende Erleben hereinzubringen, zu halten und zu ver-arbeiten.

Das heißt also, Beratung befaßt sich lösungsorientiertmit einer Aufgabe oder einem Thema. Auf der Handlungs-ebene zu arbeiten bedeutet folglich, daß der Berater res-sourcenorientiert vorgeht und dabei folgende Mittel ein-setzt:- geeignete Sichtweisen werden auf dem Hintergrund der

Selbst-Distanzierung vermittelt („... so hab’ ich es nochnie gesehen“)

- Informationen und Kenntnisse z.B. aus der existenz-analytischen Anthropologie verhelfen, das Spektrum desMöglichen zu erweitern ( „letztlich verbleibt mir immerein Freiraum, um mit dem Faktischen im Leben umzu-gehen“)

Was ist existenzanalytisch-logotherapeutische Beratung

und Begleitung?Silvia Längle

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- beraterische Methoden (z.B. die Dereflexion, Sinner-fassungsmethode, Willensstärkungsmethode) werden ein-gesetzt.

Damit setzt Beratung immer dort an, wo der Patient/Kli-ent jetzt steht. Manchmal reichen Impulse aus, um eigeneKompetenzen zu mobilisieren. Oft bedarf es dabei eineretwas längeren Hilfestellung, um Lebensbereiche neu zuordnen und zu strukturieren. Die Beratungstätigkeit hat da-durch eine Nähe zur Kurzzeittherapie.

Beratung erfolgt also unter zwei Fragestellungen:- “Was steht an?“ - Damit wird die Problemstellung und

die situative Anfrage erfaßt.- “Was ist als nächstes zu tun?“ - Unter dieser Frage er-

folgt die Zuwendung zu Lösungsschritten und einemsinnorientierten Weg (Wertestrukturierung).

Beratung will letztlich, daß der Patient/Klient lernt, zuneh-mend besser mit seiner Persönlichkeit umzugehen. Es gehtum einen Kompetenzgewinn im Umgang mit sich und derWelt, um ein Entwickeln des intentionalen Fühlens derPerson auf Welt hin. Dies stärkt rückwirkend wiederum diePerson. Die Minimalanforderung von Beratung ist, Verhal-tensweisen zu erweitern und andere Gewichtungen im Le-ben vornehmen zu können.

Der Berater soll ein Gespür dafür haben, wann dieGrenze zur Therapie erreicht ist. Dies ist jedenfalls dannder Fall, wenn sich das lösungsorientierte Vorgehen alsnicht wirkungsvoll erweist und in der Folge das Problemimmer wieder störend auftritt. Wenn also mögliche Lösun-gen nicht aufgegriffen werden können oder neue Sicht-weisen nicht greifen, kommt die Persönlichkeitsebene mitins Spiel. Hier ist die Schnittstelle zur Psychotherapie, andie dann die Beratung abzugeben ist.

Neben diesen inhaltlichen Beschreibungen der Bera-tungstätigkeit soll auf die selbstverständliche Haltung des

Beraters nicht vergessen werden. Sie ist gekennzeichnetdurch ein empathisches Einfühlungsvermögen und einphänomenologisches Erfassen dessen, worum es dem Pati-enten/Klienten geht.

Die Kunst des Vorgehens besteht unter anderem auchdarin, die Schritte so klein zu wählen, daß der Patient/Klient die Veränderungen eigenständig vornehmen kann.

Dies läßt sich zusammenfassend in folgende De-finition bringen:

Beratung arbeitet lösungsorientiert auf derHandlungsebene an einer Aufgabe oder an einemThema.

Existenzanalytische Begleitung

Von existenzanalytischer Begleitung ist dann zu sprechen,wenn kein zu lösendes oder zu bearbeitendes Problem vor-liegt, sondern eine unausweichliche und unabänderlicheLebenssituation durchzustehen ist. Wir haben daher die Be-gleitung folgendermaßen definiert:

Begleitung ist die annehmende, mittragende Anwe-senheit, die den Menschen aushält und mit ihm inseiner Situation angemessen verweilen kann. DieHaltung des Begleiters ist raumgebend, anteilneh-mend und von Respekt vor der Würde der Persongeprägt.

Das fordert vom Begleiter die Kompetenz, dem Abgrün-digen der menschlichen Existenz standhalten zu können,wie auch offen zu sein für das Staunen vor der Größe desMenschen, die in der Haltung zum Schicksal zum Aus-druck kommen kann.

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EXISTENZANALYSE 1/96 39

F O R U M

Religion und/oder Psychotherapie ich sagen, warum ich es für michwichtig finde, von meinem Wahlrechtund der damit verbundenen Entschei-dungsmöglichkeit Gebrauch zu ma-chen. Ich antworte persönlich, werdeaber nicht privat.

Frage 4/5:

Im vorliegenden Falle gab mir die Kli-entin durchaus den Auftrag, auch wenndies in der Arbeit nicht wörtlich er-wähnt wird. Sie spürte, daß ihr Gottes-bild mitverursachend für ihr Leidenwar, es ging also nicht um eine „Mei-nungsverschiedenheit“, sondern um einexistentielles Problem der Klientin, dieBearbeitung der Thematik war somitfür den Therapieerfolg kausal wichtig.Ich habe dabei nicht „meinen Glaubendazugegeben“, sondern ihrem Bildmeine Erfahrungen gegenübergestelltund damit den Horizont des Möglichenerweitert.

Sicher ist „Meinung“ als ein Be-griff aus dem rationalen Bereich über-haupt kein treffendes Wort, wenn esum Glauben geht. Hier geht es dochvielmehr um Erleben, Erspüren, Erfah-ren. Wo Meinungen ausgetauscht wer-den, wird der existentielle Bereich ver-lassen.

Frage 6:

Ihr sprecht bei diesem Thema viel vonProblemen, von Angst - sind es EureÄngste, die Ihr in dieser Frage auf die„gläubigen Therapeuten“ projiziert?

Ich jedenfalls habe keine Angstum meinen Glauben und brauche den„beruflichen Kontext“ nicht, um ihmBedeutung zu verleihen.

Es verhält sich genau umgekehrt:Meine Arbeit würde an Bedeutung

verlieren ohne meinen Glauben - ist erdoch ihr Grund in zweifacher Hinsicht:

Mein Glaube ist der Boden, aufdem für mich die Wahrhaftigkeit desMenschen basiert. Diese Wahrhaftig-keit des Menschen wiederum ist fürmich die Motivation für meine Arbeit.

Brigitte Kalies

Lieber Alfried, liebe Silvia,

sind’s wirklich Fragen an mich per-sönlich oder eher Diskussions-(zünd)stoff bzw. Statements zu einemanscheinend brisanten Thema? Wiedem auch sei, ich möchte persönlichantworten auf das, was mich berührtbzw. angreift:

Frage 1:

Patienten kommen - so sagt es schondas Wort - weil sie leiden, an ihremLeben, an ihren Beziehungen und zumTeil auch an ihrem Glauben.

Seelsorger schicken Menschenzum Therapeuten (hoffentlich, wennsie merken, daß diesem Leiden mitgeistlichem Rat allein nicht beizukom-men ist).

Etliche gläubige Menschen gehenzum Seelsorger, weil sie meinen, ihrLeiden müßte eine Folge ihres „unzu-reichenden Glaubens“ sein - solltedoch mit der Bekehrung „alles neu“werden...

Neurotische Menschen werdenmit Sicherheit auch Glaubensproblemehaben, wenn man unter „Glauben“nicht das intellektuelle „für-wahr-hal-ten von etwas“ versteht, sondern eineLiebes- und Vertrauensbeziehung zueinem personalen Gegenüber, sprichGott.

Insofern gibt es kein Entweder -Oder im Sinne Eurer Frage.

In der letzten Ausgabe von EXISTENZANALYSE (3/95) wurde einArtikel von B. Kalies zum Thema “Existenzanalyse als Therapieekklesiogener Neurosen” veröffentlicht. A. und S. Längle hatten demArtikel einige kritische Anfragen hinzugefügt, die zu den folgendenReaktionen führten. Eingelangte Leserbriefe von B. Kalies, S.Brookmann und R. Hefti und eine Antwort von A. Längle werden hierwiedergegeben.

Ein brisantes ThemaEine Antwort von B. Kalies auf Anfragen zu ihrem Artikel

Frage 2:

Ich teile Klienten keine Überzeugun-gen mit. Ich lasse sie teilhaben anmeiner Erfahrung bzw. meinem Erle-ben - dies tun wir als Therapeuten si-cher alle, sei’s auch „nur“ an unsererGrundwerterfahrung.

Daß es Therapeuten gibt, die be-wußt oder häufiger unbewußt ihreKlienten durch ihre Überzeugung be-einflussen, ist natürlich ein großesProblem, das es mit hohen Aus-bildungsstandards, besonders im Be-reich der Selbsterfahrung, zu bekämp-fen gilt.

Frage 3:

Ich hoffe, niemand von uns gibt Ant-worten, ohne sich die Mühe zu ma-chen herauszufinden, wonach einMensch fragt....

Fragt er, weil er unter seinemGlauben leidet, so ist dies sein unddamit auch mein Thema.

Ich verstehe die von Euch gezo-gene Parallele nicht. Als Therapeutinwerde ich mich da verweigern, wo einKlient mich zum „Erfüllungsobjekt“seiner Bedürnisse machen will, seiensie erotischer, emotionaler oder reli-giöser Natur. Meine Aufgabe liegtdarin, ihm zu helfen, für sich einen(besseren) Weg zu finden, seine Be-dürfnisse zu befriedigen.

Als Wählende angefragt würde

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Glauben nicht” (ebd. S. 374). Die ra-tionale Ebene ist persönlich (existen-tiell und emotional) freilassend. Mitdiesem Sachverhalt möchte ich auf diein der Einleitung der Anfrage an B.Kalies gestellte Frage antworten, wiees möglich sein soll, den Widerstandgegen die einmal bewußt gewordeneReligiosität durch Widerlegung zu be-heben, ohne weltanschaulich zu beein-flussen (Längle, Existenzanalyse 3/95).

Die Nähe zur Religion ist also sobeschaffen, daß sie eine Möglichkeitdarstellt, die zu ergreifen der persön-lichen Entscheidung vorbehaltenbleibt. Meiner Ansicht nach ist welt-anschauliche Neutralität gegeben,wenn alles möglich, aber nichts zwin-gend ist. Und zwingend, sowie in sichwidersprüchlich erscheint es mir, Neu-tralität durch Ausschluß erreichen zuwollen. Sollte eine psychotherapeuti-sche Gesinnung, die auch die geistigeDimension des Menschen umfassenwill, nicht den Mut aufbringen, füreine mögliche (nicht für eine zwingen-de!) Nähe zur Religion einzustehen.Kann sie ihrem Anspruch überhauptnoch gerecht werden, wenn sie dieseÖffenheit verläßt? Ich denke nicht.Existenzanalytisch stellt sich mir dieFrage, warum etwas nicht sein darf?

2. Die Trennung von existenti-ellem und ontologischem Sinn-Definition des existentiellenSinns

Die zu Beginn von Punkt 1 geschilder-te Problematik löst A. Längle durchdie Neudefinition der Sinnkategorien.Für den psychologischen Bereich giltder existentielle Sinn, der mit demAbsoluten in keinerlei Verbindungmehr steht. Er “erwächst einzig ausder Relation Subjekt - Situation”(Längle, Existenzanalyse 1/95) undrückt die Emotionalität ins Zentrum.

Worin gründet aber das Subjekti-ve, bzw. die Emotionalität? Franklspricht von einem Wertmaßstab, der ineben dieser Relation zum Tragenkommt: “Nur sind die Werte, auf dieer (der Wertmaßstab) geeicht ist, in ei-ner solchen Tiefenschicht unserer

fallstor der Transzendenz” (A. Längle,Bull. 2/94) und damit als Mittler zurAbsolutheit. Wie ist aber nach Frankldiese Verbindung beschaffen? Siekann, aber sie muß nicht religiös ge-färbt sein. An dieser entscheidendenStelle bleiben Logotherapie und Exi-stenzanalyse meines Erachtens gänz-lich freilassend. Frankl: “So ist so-wohl die Existenz Gottes als auch sei-ne Nicht-Existenz je eine Denk-möglichkeit.... nicht aber eine Denk-notwendigkeit.” (ebd. S. 374). “...lo-gisch spricht ebensoviel für wie gegendie eine bzw. die andere Deutung.”(ebd. S. 197).

Ob der durch das Gewissen auf-gefundene Wert seine Werthaftigkeitaus einer persönlichen Resonanz miteinem religiösen oder atheistischenBezugsrahmen empfängt, bleibt demintimsten Bereich vorbehalten: derpersönlichen Entscheidung. Religiosi-tät stellt somit eine Möglichkeit per-sönlicher Antwort dar, die atheisti-sche Haltung eine andere. In diesemFall spricht sich durch das Gewissendie Bezogenheit auf das schlichteGegebensein von Lebendigkeit aus(Existentialismus).

Zwar sollen Logotherpie und Exi-stenzanalyse die unbewußte Religiosi-tät bewußt machen, aber nicht durchÜbertragung, sondern durch argumen-tative Widerlegung, um weltanschau-liche Beeinflussung zu vermeiden,denn zum Glauben kann man ebennicht durch Wissen gelangen, sondernnur durch “persönlichen Einsatz” inForm einer Entscheidung (ebd. S.197).

Frankl spricht mit größtem Re-spekt vom Freiraum dieser Entschei-dung: “Bei der von uns abverlangtenEntscheidung stehen wir unter keiner-lei logischem Zwang.” “Nur zu einemWissen kann ich gezwungen sein, zum

Als Existenzanalytikerin in Ausbil-dung (Therapiekurs Göppingen/Mün-chen) habe ich die Weiterentwicklungder Existenzanalyse stets mit Inter-esse verfolgt. Im Zuge der Kontrover-se “Sinn-Glaube Sinn-Gespür” hat dieDiskussion nun, im speziellen durchdie Anfragen an Brigitte Kalies, einenStand erreicht, an dem ich meine Be-denken und Fragen auch aussprechenmöchte. Zunächst möchte ich betonen,daß ich die Vertiefung und Ausweitungder Existenzanalyse zur PersonalenExistenzanalyse als einen wesentli-chen und notwendigen Schritt mit-vollziehe. Ich teile die Auffassung,daß die Emotionalität im FranklschenKonzept noch nicht den ihr gebühren-den Stellenwert einnimmt. Das Hebenund Bergen der Emotionalität, die bio-graphische Arbeit und die Selbsterfah-rung als Element der Ausbildung hal-te ich für unumgänglich. Meine Be-denken betreffen im wesentlichen zweiBereiche:

1. Die Kritik der Nähe zurReligion

A. Längle beanstandet die Zweideutig-keit des Franklschen Sinnbegriffes, diedamit verbundene Unmöglichkeit, denSinnbegriff vom Absoluten zu trennenund die sich daraus ergebende Un-schärfe in der Abgrenzung zwischenPsychotherapie und Religion.

Frankl selbst siedelt seinen“Übersinn” jenseits der Zuständigkeitdes therapeutischen Rahmens undselbst der konkreten alltäglichenHandlungsebene an. “Meinen Glaubenan den Übersinn muß ich im Augen-blick meines Handelns, um überhaupthandeln zu können, abblenden.” (Derleidende Mensch: 1990, S. 321). Sobleibt die im “situativen Sinn” ver-nehmbare Gewissensstimme als “Ein-

Was bleibtvon der Existenzanalyse?Bedenken infolge der Definition des existentiellen Sinns

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EXISTENZANALYSE 1/96 41

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selbst verankert, daß wir, wofern wiruns selbst nicht untreu werden,... garnicht anders können als ihnen zu fol-gen..., weil wir sie schon immer“sind” (ebd. S. 91).

Die Trennung der Sinnkategorienund das Herauslösen der Intentio-nalität aus dem existentiellen Sinn un-terbindet auch die Hinwendung zudiesem Ursprung in uns selbst, in demdoch letztlich das Geheimnis der Indi-vidualität geborgen ist. Wie soll denndie Emotionalität noch ihren Platz inder Anthropologie der Existenzanaly-se erhalten, wenn ihr für ein dem“Willen zum Sinn” vorausgehendesStadium ihre latente Intentionalität ab-gesprochen wird? Wenn ich nichtmehr in jedem Augenblick des thera-peutischen Prozesses darauf hinarbei-te, ein Verschüttetes, aber im GrundeVorhandenes freizulegen, sondern vomtherapeutischen Prozeß erwarte, die-sen Grund als solchen erst einmal zuerstellen, drängt sich mir die Gefahreines bedrohlichen Machtanspruchsauf. Frankls “psychiatrisches Credo”des “unbedingten Glaubens an den

personalen Geist” scheint mir verletzt.Kann nicht aus dem heilsamen In-

Berührung-Kommen mit der eigenenEmotionalität nur deshalb die Mög-lichkeit zur anschließenden Stellung-nahme und Entscheidung erwachsen,weil ich in meiner Emotionalität auchmeiner unbewußten Geistigkeit inForm des intentionalen Fühlens begeg-ne? - Als einem Ausdruck von Gewis-sen und Eros, wurzelnd im irrationa-len, nur intuitiv zugänglichen Bereichdes geistig Unbewußten?

Im Zuge der Kontroverse wurdedie Frage gestellt, was durch die Tren-nung der Sinnkategorien verlorengin-ge. Die Konsequenzen der Auf-trennung und Zuordnung erscheinenmir aber so schwerwiegend, daß ichgegenläufig anfragen möchte, was ei-gentlich nach diesem Schritt von derExistenzanalyse noch bleibt?

Aus vielen Richtungen nähernsich psychologische und psychothera-peutische Ansätze der geistigen Di-mension des Menschen an. “Menschensind partiell frei. Sie können ihre künf-tigen Bedingungen dadurch beeinflus-

nicht die Existenz eines der beidenInhalte. Durch ihre Benennung werdendie Themen sogar noch markanter. Einreligiöser Sinn hat neben dem situati-ven Sinn einen neu zugewiesenenPlatz im System der Sinnlehre; er wür-de der Kategorie des ontologischenSinns zuzurechnen sein.

Die Trennung der Begriffe besagtim Grunde ja nur, daß der existentiel-le Sinn (z. B. für mich jetzt: dieseAntwort zu verfassen) nicht notwendi-ger Weise und zwingend mit demontologischen Sinn ident ist (der könn-te z. B. sein: das Verfassen einer Ant-wort als einen Auftrag Gottes anzuse-hen; oder zu glauben, daß das zu mei-ner Bestimmung gehöre, wofür ichglaube, auf der Welt zu sein). Sie wer-den zu Recht einwenden: das kanndoch zusammenfallen! - Ja, der exi-stentielle Sinn kann im ontologischenSinn enthalten sein - aber muß er es?Es ist nicht ausgeschlossen, daß derexistentielle Sinn der Situation mitdem ontologischen in Beziehung steht.Möglicherweise steht der existentielleSinn sogar immer mit einem absolu-

Keine LebensbereicheausschließenAntwort von A. Längle auf S. Brookmans Bedenken

sen, daß sie ihr eigenes Verhalten steu-ern” (A. Bandura: Sozial-kognitiveLerntheorie: 1979, S. 202). “Hat derMensch nicht das Glück einer positi-ven Bindung in der frühen Kindheitgehabt, so ist er für den Start ins Le-ben benachteiligt. Aber weder im po-sitiven noch im negativen Fall ist derMensch durch seine frühen Erlebnis-se determiniert.” (B. Kendell über die“Bindungstheorie” von J. Bowlby, FUBerlin. PI, 1986)

Die Existenzanalyse verfügt überdie notwendige Anthropologie, demPhänomen menschlicher Freiheit zubegegnen. Da mir diese anthropologi-schen Grundlagen durch die jüngsteEntwicklung bedroht erscheinen, istmir die Beantwortung der genanntenFragen ein wesentliches Anliegen.

Es gibt viele Ausbildungskurse.Wie geht es Euch anderen zu dieserThematik? Bin ich die einzige, dersich diese Problematik darstellt?

Susanne Brookmann

Liebe Frau Brookmann,

ich glaube, ich habe das Anliegen, dasSie in Ihrem Artikel vorbringen, gutverstehen können. Sie haben Sorge,daß die Existenzanalyse durch ihrejüngste Entwicklung die Religiositätdes Menschen ausklammern könnte,wodurch den Menschen und nichtzueletzt der Existenzanalyse/Logo-therapie viel verloren ginge. Eine sol-che Entwicklung würde auch mich mitSorge erfüllen. Ich teile Ihr Anliegenaus persönlichen und ebenso berufli-chen Gründen, und wir sollten daraufachten, daß nicht Lebensbereiche desMenschen in unserer Psychotherapie-

richtung ausgeschlossen werden - hiereben die Religiosität des Menschenund sein freier Glaube an Gott.

Raum für religiöse Dimension

Wir unterscheiden uns möglicherwei-se darin, daß ich nicht sehen kann, daßeine solche Entwicklung in der GLEstattfände. Durch die Trennung desSinnbegriffes in einen ontologischenund einen existentiellen ist meinerMeinung nach sogar noch mehr Raumfür die religiöse Dimension des Men-schen entstanden, für Gläubige eben-so wie für Ungläubige. Eine Auf-trennung der Begriffe bestreitet ja

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ten Sinn in Verbindung. Das wäre erstnoch eine weitere Debatte.

Existentieller undontologischer Sinn

Nun stellt sich aber die Frage, warumder existentielle Sinn mit demontologischen nicht zwingend zusam-menfällt? Der Grund liegt in einerqualitativen Differenz zwischen bei-den. Sie ist vergleichbar mit derontologischen Differenz zwischen Seinund Seiendem bei Heidegger. Es istdaher zwischen dem existentiellen unddem ontologischen Sinn ein Schritt ineine neue Ebene zu tun. Ich möchtedas erklären.

Bei einem existentiellen Sinn istnoch nicht von vornherein klar undkeineswegs ausgemacht, daß sich dersituativ erkannte Sinn mit demontologischen Sinn der Situation unddem ontologischen Sinn meiner selbstals handelnder Person deckt. Der exi-stentielle Sinn ist eine subjektive, per-spektivische Wahrnehmung der Situa-tion, in der ich aus meiner Wahrneh-mung heraus hoffentlich einen Teil desontologischen Sinns der Situation undmeiner selbst erfaßt habe. Wenn ichIhnen z.B. auf Ihre Anfrage antwor-te, so antworte ich auf das, was ich alsden Sinn ihrer Anfrage verstehe. Ichweiß aber nicht, ob ich den ganzenSinn, den ihre Anfrage hat, erfaßthabe und erfassen konnte. Ihre Anfra-ge hat vielleicht einen Sinn für Sieselbst, um den ich nicht weiß, undvielleicht hat sie einen Sinn für diehistorische Entwicklung der Existenz-analyse, um den wir beide noch nichtwissen können usw.

Zur Evidenz des ontologischenSinns

Was ich meine ist, daß derontologische Sinn grundsätzlich mehrund weiter ist als der existentielle Sinnund daß wir für die Art der Anbindungdes existentiellen Sinns an denontologischen Sinn wahrscheinlich niejene Evidenz erhalten können, wie wirsie für den situativen Sinn (manchmal)haben. Wie der existentielle Sinn mitdem ontologischen Sinn verbunden ist,

darüber stellen wir im Alltag mancheVermutung und Spekulation an. DieseFrage ist darüber hinaus eine Frageder philosophischen Reflexion undeine Frage der Haltung, die sich imGlauben und Hoffen manifestiert. Derexistentielle Schritt ist eben das Wag-nis in die Unbestimmtheit! Wäre füruns Menschen alles durch denontologischen Sinn abgesichert, dannwäre der existentielle Sinn nur nochein Rückschritt. Wir bräuchten ihnnicht und könnten auf ihn verzichten.Ich meine, mit dem Gesagten wärewahrscheinlich auch Frankl einver-standen. Nur die begriffliche Trennunghat Frankl nicht vollzogen. Leider hat-te ich nicht mehr die Gelegenheit, mitihm darüber diskutieren zu können,worum er diese begriffliche Trennungnicht gemacht hat. Denn implizit habeich in seinem Werk beide Sinnbegriffevorgefunden. Mir scheint, daß ich mitder begrifflichen Trennung keine neu-en Inhalte geschaffen habe, sondernmich nur um eine definitorische Klar-stellung bemüht habe.

Einiges zur Haltung Frankls

Frankl hat, wie Sie schreiben, tatsäch-lich viele Textstellen, in denen er denMenschen in religiöser Hinsicht gänz-lich freiläßt. Daneben gibt es aber im-mer wieder andere Denkversuche phi-losophischer oder theologischer Art,wo er doch der Idee nachhängt, daßder situative Sinn vielleicht doch soetwas wie eine Art Gottesbeweis lie-fern könnte. Hinter all diesen Bemü-hungen steht der geniale Denkansatz,den er in Anlehnung an Descartes äu-ßerst knapp in dem Satz faßte: Amo,ergo est. - Liebe als Beweis für dieExistenz des Anderen. Im übertrage-nen Sinn: Liebe für Gott als Beweisfür seine Existenz. Liebe für den Sinnals Beweis für einen Sinn an sich. Unddieser mißt sich an einem Übersinn,an einem absoluten Sinn, ohne den esgar nicht möglich wäre, daß der rela-tiv-situative Sinn erkennbar wäre.Hätten wir nicht schon das Göttlichein uns, könnten wir es nie entdecken.Der aus der Geschichte übernommeneVersuch, mit Hilfe der Extrapolationdes goldenen Schnittes auf eine Exi-

stenz Gottes zu schließen, ist hier ein-zureihen. Ebenso die Analogie mitdem Affen, der den Sinn seines Lei-dens nicht verstehen kann, wenn ihndie Menschen für die (für den Men-schen sinnvolle) Gewinnung einesImpfserums infizieren.

Der Schritt in die Praxis

Ich kann diesen Gedankengängen vielabgewinnen und habe großen Respektvor der Haltung, die dahinter steht.Durch meine praktische Arbeit habeich aber gemerkt, daß diese religiös-philosophischen Überlegungen dieMenschen in ihrer Situation oft nichterreichen. Viele Menschen wehrensich gegen solche Gedankengänge. Ih-nen geht es um die - meines Erachtensnotwendige und legitime - Befähigungzur Existenz, zur Authentizität, zurBefreiung ihrer eigenen Ursprünglich-keit (Gewissen) usw., und sie wehrensich gegen Einengungen, wie siez.B.eine falsch verstandene Religiondarstellt. Für diese praktische Arbeitist die begriffliche Trennung des Sinn-begriffs dann hilfreich, weil die Leutesonst gleich hinter der Sinnlehre wie-der eine verkappte Religion witternund damit der Sinnthematik gegenübervon vornherein verschlossen sind.

Was die Offenheit der EA/LT undder mit ihr arbeitenden Therapeutenund Berater für religiöse Themen an-langt, das braucht hier meines Erach-tens nicht eigens Thema zu sein. Es istselbstverständlich, daß wir jedem An-liegen und Problem unserer Patienten/Klienten mit einer offenen und um einVerstehen bemühte Haltung begegnen.Eine religiöse Problematik, die einLeid verursacht, soll Thema sein, undwenn der Patient sie nicht ansprichtoder findet, und es dem Therapeutenals eine Ursache des Leides vor-kommt, soll der Therapeut die Proble-matik bzw. den Konflikt aussprechen.Wir wollen ja Probleme lösen helfenund nicht Tabus aufbauen - aber dasgilt ja generall für alle Themen, nichtnur für die religiösen.

Dabei geht es in der Psychothera-pie und Beratung meines Erachtens inerster Linie darum, zu verstehen undzu klären, warum ein religiöses The-

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wertvoll geworden war, darin auchPlatz haben wird. Eine erste positiveErfahrung diesbezüglich war dasAufnahmegespräch, wo ich dieseGlaubenserfahrungen, die zu einemessentiellen Bestandteil meiner Le-bensgeschichte geworden sind, erzäh-len konnte und mich damit angenom-men fühlte. Es hatte Platz, und es durf-te sein, wenn auch die Gesprächspart-nerin mir einige Rückfragen stellte.Auch im Rahmen unserer Aus-bildungsgruppe war es immer wiedermöglich, Glaubenserfahrungen einzu-bringen. Dabei wurde deutlich, daßandere Ausbildungsteilnehmer aufGrund gewisser kirchlicher Traditio-nen auch schmerz- und leidvolle Er-fahrungen gemacht hatten.

Die Selbsterfahrung wurde dann

ma (Inhalt, Haltung, Umgang) sich soleidvoll auswirken kann. Welcher Hin-tergrund liegt diesem Verständnis zu-grunde, welche Erfahrungen sind ge-macht worden, welche Einstellungenzum Leben und zu sich selbst habensich daraus entwickelt und wie geht esdem Patienten damit? Was sagt seinGewissen dazu? Wie will er/sie es le-ben?

Zur Intentionalität

Eine Unklarheit scheint mir bezüglichder Intentionalität vorzuliegen.Intentionalität meint Gegenstands-bezogenheit, also ausgerichet-sein aufein Objekt. Sie ist somit in der Selbst-transzendenz enthalten, und natürlichin jedem Sinn, weil sich hier derMensch auf ein Gegenüber bezieht. Eskann daher auch keinen “Willen zum

Sinn” geben, ohne daß darin eineIntentionalität enthalten wäre.Intentionalität ist aber nicht gleich zusetzen mit einer religiösen Haltung -daß der Mensch also mit seinerIntentionalität Gott meine. Damit kei-ne Mißverständnisse entstehen:Intentionalität kann auch auf Gott ge-richtet sein - aber Intentionalität meintnicht in jedem Fall ein (unbewußtes)Ausgerichtetsein auf Gott.

Was Sie dann über das „in Berüh-rung kommen mit der eigenen Emotio-nalität“ schreiben, halte ich für einesehr geglückte Formulierung.Aber vielleicht werden auch noch an-dere Ihrer Anfrage folgen und zu die-ser Thematik Sorgenvolles oder Bestä-tigendes, Gedanken und Erfahrungenschreiben?

A. Längle

für mich zunehmend zu einem Instru-ment der Echtheitsprüfung meiner Exi-stenz und auch meines Glaubens. Ichmußte und wollte mich der Frage stel-len: Wie ist das bei mir wirklich? Wasbewegt mich wirklich? Habe ich Halt,und was gibt mir Halt? Es ging alsoimmer wieder um die Frage: existen-tieller Glaube versus „funktionaler“Glaube, echter Glaube versus Schein-glaube, realer Glaube versusgeglaubter Glaube? Beides kam zumVorschein: Einerseits spürte ich, daßich wirklich diesen Halt im Glaubenhatte, dieses innere Fundament, dasmir eine Basis gab, mich dem Leben(und auch der Logotherapieaus-bildung) zu stellen. Diese Erfahrungbeglückte und stärkte mich. Anderer-seits wurde mir klar, wie meinGrundwertempfinden und noch vielmehr mein Selbstwert auf wackeligenFüßen standen, obwohl ich ja vomGlauben her genügend Grund hatte,mich wert zu fühlen und mein Eigeneszu schätzen. Ich merkte, wie mich andiesen Punkt Gottes Zusagen nicht er-reichten, da auf Grund meiner persön-lichen Biographie mein Selbstbezugund damit auch mein Glaubensvollzugblockiert war. Und genau da erlebteund erlebe ich nun, wie mir die Logo-therapieausbildung hilft, meinen Glau-ben existentiell zu verankern, ihn inmeiner Existenz noch umfassenderfruchtbar werden zu lassen.

Somit würde ich abschließendpostulieren, daß Religion und Psycho-therapie, Lebens- und Glaubensvoll-zug in einem unauflösbaren, wechsel-seitigen Verhältnis zueinander stehenund höchstens formal voneinander ab-gegrenzt werden können. Ich bin auchzunehmend der Überzeugung, daß siesich gegenseitig in positiver Weisebeeinflussen und befruchten können,wie ich das versucht habe darzulegen(sicherlich ist auch das Gegenteilmöglich). Voraussetzung dazu scheintmir die Bereitschaft zu einer konse-quenten phänomenologischen Haltungauf beiden Seiten zu sein. Dies wün-sche ich mir persönlich für meine wei-tere Ausbildung, und dies wünsche ichder GLE für ihre weitere Entwicklung.

Dr. Rene Hefti

Da mich die Thematik „Religion undPsychotherapie“ schon seit Beginnmeiner Logotherapieausbildung be-schäftigt, möchte ich es wagen, einigeErfahrungen und Gedanken dazu hierzu äußern. Anstelle des Begriffes „Re-ligion“ möchte ich die Begriffe „Glau-be“ und „Glaubensvollzug“ einsetzen,da diese, so scheint mir, den inneren,personalen Anteil des Phänomens (umden es mir hier hauptsächlich geht)besser erfassen und ausdrücken.

Mein Leben war in den letzten 10Jahren von tiefen Glaubenserfah-rungen geprägt, und diese brachte ichauch in die Logotherapieausbildungmit hinein. So bewegte mich die Fra-ge, inwieweit ich mich auf die Ausbil-dung einlassen und mich hineingebenkönnte, und inwieweit das, was mir so

Persönliche ErfahrungenExistenzanalyse als Echtheitsprüfung des Glaubens undLogotherapie als Hilfestellung zu existentiellemGlaubensvollzug

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Diskussion zu einem Fallbeispiel

Ein “Fallbeispiel” von Dr. Wolfslehner zum Thema ontologischer undexistentieller Sinn birgt weiterhin Stoff für eine inhaltliche Diskussi-on, die unterschiedliche Verständnis- und Umgangsweisen mit existenz-analytischer Anthropologie verdeutlicht.

Wir unterscheiden uns sehr

Frau Dr. Freitag!

Ich danke Ihnen für die Möglichkeit,zu Ihrer Stellungnahme meines Arti-kels etwas sagen zu können:

Sie schreiben, daß der entschei-dende Irrtum meinerseits darin besteht,daß ich viel zu schnell bereit war,„dieser jungen Frau zu attestieren, daßsie das eigene Werten und Wollenauch vertreten kann“. Sie fragen mich,woran ich das gesehen habe. Dazumöchte ich Ihnen eine Gegenfragestellen: Woher wissen Sie, daß ich zuschnell bereit war...., daß ich attestierthätte. Den existenzanalytisch/thera-peutischen Prozeß habe ich mit keinerSilbe beschrieben, deshalb meine gro-ße Verwunderung darüber, wie riskantSie ohne Informationen Interpretatio-nen wagen. So wurde dann aus: „Inder Therapie war es bald möglich“(ohne nähere Zeitangabe) Ihrerseitsein „viel zu schnell bereit“. Dies isteine eindeutige Bewertung. Ich habeweiters gesagt, daß die Klientin zwi-schen den Ansprüchen und Wünschender Eltern und dem eigenen Wertenund Wollen unterscheiden konnte.Nun: Vom „unterscheiden“ bis zum„Handeln“ war noch ein breiter Weg,den ich in meinem Artikel nicht zubeschreiben beabsichtigte. Aber:Könnte es sein, daß Sie zwischem demwahrnehmenden „Unterscheiden“ unddem umsetzenden „Handeln“ nichtausreichend unterschieden haben?

Ich habe versucht, deutlich zumachen, daß die Klientin Gott als dennahen und zugleich fernen Gott erlebthat, bis hin zur bangen Frage, ob all

dies Göttliche nichts weiter sei, alseine Projektion des eigenen schlechtenGewissens. Sie haben tendenziös alldie vielen Fragen reduziert auf dieStelle, die Ihnen in Ihr Bewertungs-system paßt, nämlich auf: „Diese jun-ge Frau fragt instinktiv richtig, obdenn nicht all das Göttliche nichtsweiter als eine Projektion des schlech-ten Gewissens sei.“ Indem Sie nun-mehr feststellen, welche Frage dierichtige ist, und außerdem genau wis-sen, daß diese Frage instinktiv gestelltist, laufen Sie in einen bedauerlichenReduktionismus samt ständiger Be-wertungen. Theologisch gesehen wohldeshalb, weil Ihnen methodologischkein adäquates Instrument für Religiö-ses und kein angemessener Gebrauchgegenwärtiger begrifflicher Ansätze inreligionswissenschaftlicher Forschungzur Verfügung steht.

Zwei weitere Textpassagen IhrerStellungnahme können meiner Mei-nung nach dies untermauern. Sie spre-chen und wissen automatisch von„nicht wie ein fremd empfundenerGott es vielleicht wollen könnte....“Und weiter unten stellen Sie klar fest,daß von Gott kommende unangeneh-me, bedrohliche Fragen selbstver-ständlich nichts anderes sein können,als ein „Über-Ich.“

In der Tat, wir unterscheiden unssehr. Wo Sie von unmißverständlichemÜber-Ich sprechen, denke ich an einmögliches Über-Ich. Wenn Gott demMenschen eine unangenehme Fragestellt, ist dies Ihrer Meinung nach eingesichertes Zeichen für ein Über-Ich.Wenn Gott dem Menschen eine ange-

nehme Frage stellt, - gibt es ihn auchnicht. Ist es das, was Sie eigentlichsagen wollten?

Frankl hat gesagt: „Hinter demÜber-Ich des Menschen steht nicht dasIch eines Übermenschen, sondern dasDu Gottes, denn nie und nimmer könn-te das Gewissen ein Machtwort sein inder Immanenz, wäre es nicht das Du-Wort der Transzendenz.“ (Frankl, Derunbewußte Gott, S. 85)

Dem kann ich sowohl als Theolo-ge als auch als ein an Gott glaubenderMensch zustimmen. Nur: Nicht prinzi-piell und immer schon steht hinter demÜber-Ich des Menschen das Du Got-tes. Es kann sowohl das Du Gottes,aber unter Umständen auch eineÜber-Ich Struktur sein. Therapeutischhabe ich nunmehr die Aufgabe, imkonkreten Einzelfall alle Möglichkei-ten auszuschöpfen, um es herauszufin-den. Schnelles Attestieren ist, da hatFr. Dr. Freitag recht, äußerst proble-matisch.

Vielleicht könnte es auch so sein:Gott kann auch anders erlebt werdenals das Objektive (Längle), ist wirkli-cher als ein Über-Ich (Freitag) undmitunter weniger als das DU Gottes(Frankl). Den Vorwurf, viel zu schnellattestiert zu haben, gebe ich mit eini-ger Gelassenheit zurück.

Johannes Wolfslehner

Sehr geehrter Herr Dr. Wolfslehner!

Ich bedaure persönlich sehr, daß kei-ne inhaltliche Diskussion über Ihr„Fallbeispiel“ möglich war. Mein Ge-fühl beim Lesen Ihres Antwortschrei-bens war eher eines, das sagte, hierfindet ein Schlagabtausch statt. War-um eigentlich? Ich hätte mir eine sach-liche Antwort gewünscht, die ohnePolemik Bezug nimmt auf gestellteFragen, sodaß eine inhaltliche Ausein-andersetzung möglich wird.

Mit freundlichen Grüßen Patricia Freitag

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Zum Verhältnis Person zu Existenz

Diese erste Fragestellung (ist die PEAmehr Frankl oder mehr Heidegger)führt logischerweise zur nächsten Fra-ge, die Espinosa aufwirft: „Wie ver-hält sich die Person zur Existenz?“ Istdie Person etwas „in“ der Existenz?Hängt die Existenz von der Person ab?Bewirkt die Person die Existenz? WirdLeben erst durch die Person zur Exi-stenz?

An dieser Stelle orientiert sichEspinosa am HeideggerschenExistenzbegriff und stellt auf diesemHintergrund das Wechselverhältnisvon Person und Existenz, wie es in derPEA gedacht ist, in Frage. Wenn Exi-stenz das Wesen des Daseins sei, kön-ne niemand zum Wesen erst werden,sondern er sei es immer schon. Inso-fern wäre die Theorie der Existenz inder PEA eine Unmöglichkeit. Die Per-son könne die Existenz nicht bewir-ken, weil der Mensch immer schon inder Existenz sei. Es gäbe daher füreinen Menschen keine andere Daseins-form, als die des Existierens, was vonder Person nicht erst kausal hervorge-bracht werden müsse.

Hier nun hätte ich einzuwenden,daß es sich in der PEA ja eben nichtum den Existenzbegriff Heideggershandelt, so daß die PEA auch nicht aufihn bezogen werden kann. Darüberaber schreibt Espinosa in seinem Ant-wortbrief selbst Genaueres. In meinemVerständnis „existiert“ der Mensch,sofern er sich der Welt, der„Andersheit“ hingibt. Im Umgang mitsich selbst bleibt er in der Intimität desPersonseins, in einer Innenwelt, aufdie hin er sich aber nicht entwerfenkann, weil er sie selbst ist. Wenn wirExistenz so verstehen, dann ist dasPersonsein (mit seiner Entschieden-heit, Einwilligung, Authentizität undVerantwortung) eine notwendige Be-dingung für die Verwirklichung vonExistenz. Ebenso gehört dann natür-lich zum Zustandekommen ontischerExistenz der Leib und die psychischeEnergie - also alle drei Dimensionender Franklschen Anthropologie. Undnotwendigerweise als vierte Dimensi-on des „Woraufhin“ des Existierens,die Welt, von der der Anruf stammt,

Die PEA - eine späte Antwort aufN. Espinosas kritische Anmerkungen

Sind Existenz und Person identisch?A. Längle

Schon lange bin ich Nolberto Espinosaeine Antwort auf seinen kritischenKommentar zur Personalen Existenz-analyse (im Bulletin 2/93, 15-19)schuldig. Er schrieb damals eine phi-losophische Kritik auf hohem, profes-sionellem Niveau, und es war mir alsNichtphilosophen nicht ganz leicht,darauf zu antworten. Dieser Umstandwurde noch dadurch erschwert, daßich glaubte, die Kritik träfe nur be-dingt auf die PEA zu. Ich hätte michdaher genötigt gefühlt, nicht nur zurKritik Stellung zu beziehen, sondernmeine eigenen Gedanken erneut zu ex-plizieren. Letztlich wäre vieles aufeine Auseinandersetzung mit der Phi-losophie Heideggers hinausgelaufen,für die ich aber nicht gerüstet war undauch die Zeit für entsprechende Stu-dien nicht aufbrachte. Aber was wirgetan haben, war, daß wir miteinanderkorrespondiert haben, diskutiert haben,gelesen haben, und ich habe immermehr von Espinosa gelernt, wie dieBegriffe der Person, der Existenz, derOntologie in der abendländischen Tra-dition positioniert sind und fühlte michauch umgekehrt immer besser vonEspinosa verstanden.

Nun schickt Espinosa einen Brief,der gesprächsweise noch einmal aufdie „Anmerkungen auf die PersonaleExistenzanalyse (PEA)“ vom Jahre1993 zurückkommt. Dieser Brief istmir nun Anlaß, auf den kritischenKommentar zurückzukäme. Wegen desgroßen Zeitabstandes zur veröffent-lichten Kritik denke ich, daß es demLeser entgegenkommt, wenn ich hiernoch einmal die wichtigsten Kritik-punkte wiederhole und dann kurz aufsie eingehe. Im Anschluß daran möch-te ich den letzten Teil des Briefes vonEspinosa, der auf die PEA Bezugnimmt, wiedergeben. Ich möchte

Nolberto Espinosa für diesen Briefund für die Druckerlaubnis herzlichdanken. In diesen Zeilen sind einigeErklärungen zur PEA enthalten, diedie Zentralbegriffe „Person“ und„Existenz“ gut beleuchten, wodurchnicht nur die Bezeichnung „PersonaleExistenzanalyse“ in einen erweitertenZusammenhang gestellt wird, sondernauch die Bedeutung der PEA für diePraxis deutlich wird.

PEA und die Franklsche Tradition

Espinosa warf in seinem Artikel zu-nächst die Frage auf, inwieweit diePEA eine Ergänzung und eine metho-dische Weiterentwicklung derFranklschen Logotherapie und Exi-stenzanalyse darstelle? Er fand imVerlauf der Untersuchung, daß derExistenzbegriff der PEA auf jenemvon Frankl basiere, welcher Existenzim wesentlichen als Selbst-transzendenz sehe. Dadurch würdensich sowohl der Franklsche Existenz-begriff sowie jener der PEA, bei demdie Existenz in der stellungnehmendenVorbereitung und dann insbesondereim Antwortverhalten angesiedelt ist,vom Existenzbegriff Heideggers unter-scheiden. Bei Heidegger ist derMensch immer Existenz, sein Wesenist Existenz, ist „in der Welt sein“,„außer sich sein“.

Diesem Teil des kritischen Kom-mentars Espinosas kann ich ganz zu-stimmen. Auch ich bin der Meinung,daß die PEA den FranklschenExistenzbegriff zur Grundlage hat, dergleichsam eine Eingrenzung desHeideggerschen Universalbegriffesdarstellt und die Existenz im Grundeaus einer personalistischen Sicht ver-standen hat.

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der den Menschen erreicht. Existenzhat somit vier Voraussetzungen. Fehlteine, so ist sie nicht „ganz“, ist z.B.bloß psychodynamisch und nicht welt-offen, oder bloß gedacht und nichtleibhaftig gelebt. Die personale (noe-tische) Dimension des Menschen ver-mag die anthropologischen Gegeben-heiten der subjektiven Wirklichkeit(Leib, Psyche) dank ihres Charakteri-stikums des Offenseins ebenso zu fas-sen, wie sie die Welt in ihrerLogoshaftigkeit zu erfassen versteht.Daher ist „personale Existenz“ inmeinem Verständnis die größte, weilvollständige Verdichtung des Existie-ren-Könnens des Menschen.

Ich möchte hier auch noch anmer-ken, daß es mir keineswegs so klar ist,daß das Wesen des Menschen so sta-tisch gesehen werden muß, wie esHeidegger tut. Ist der Mensch schondas Wesen, das er ist, hätte ich zu fra-gen? Gehört es nicht zum Wesen desMenschen, sich in einem Werden zubefinden, so daß der Mensch eigent-lich erst zu dem wird, der er ist? Danngehörte es auch zu seinem Wesen, daßsein Wesentliches letztlich noch aus-ständig ist; anders gesagt: daß seineEssenz im „Werden“ liegt. Diese dy-namische Diskussion sei hier nur ne-benbei erwähnt, weil ich sie für einePsychotherapie für besonders span-nend halte.

Sind Person und Existenz in derPEA gleichbedeutend?

Die Kritik Espinosas kulminierte dannin der Frage, ob Person und Existenzin der PEA gleichbedeutend seien. „IstPerson ein anderer Name für Exi-stenz?“, frägt Espinosa. Diese wichti-ge Frage ist entscheidend für die Be-zeichnung der Methode - darf von ei-ner „Personalen“ Existenzanalyse ge-sprochen werden, oder ist diese Be-zeichnung tautologisch? Die Frage istauch wichtig für die Theorie der Exi-stenz bzw. der Person und sie ist na-türlich wichtig für die Praxis: Gibt esin der Theorie der PEA eine „nicht-personale” Existenz?

Espinosa hat zu diesem zentralenPunkt in seinem letzten Brief selbsteine Antwort gegeben, die für mich

sehr aufschlußreich war. Sie finden sieim Anschluß an diesen Artikel. Ichmöchte hier die praktische Erfahrungals ein für mich gewichtiges Argumentzu Espinosas Ausführungen dazuge-ben. Nach dem Franklschen Person-konzept kann tatsächlich vonpersonaler und nicht-personaler Exi-stenz gesprochen werden (Frankl ge-braucht den Begriff „personale Exi-stenz“ übrigens selbst). Espinosa führtim Gefolge von Heidegger dagegen an,daß auch der Kranke „in der Weltsei“. Die Offenheit zur Welt sei keinPrivileg des gesunden, freien, entwik-kelten Menschen. Nur sei die Welt derKranken kleiner, dunkler, beängstigen-der als die der Gesunden. Wenn alsoEspinosa meinte, auch der (seelisch)Kranke führe eine „personale“ Exi-stenz, so würde ich sagen: Er fühltsich seelisch gerade deshalb krank,weil er spürt und erfährt, daß seineExistenz eben nicht-“personal“ ist,sondern fremd, „neurotisch“ oder„psychotisch“. Er ist nicht mehr „Herrim eigenen Hause“ (Freud), seine Exi-stenz ist nicht mehr von ihm“personiert”, und das spürt er selbst.Dort also, wo die personalen Grund-begriffe wie Freiheit, Verantwortung,Sinn nicht (mehr) gelebt werden (kön-nen), wo die Binnenhaftigkeit des See-lenlebens (Lersch) die grundsätzlicheWeltoffenheit des Menschen verstellthat und der Zwang, die Verstimmungdes Gemütes, die Angst usw. die Exi-stenz beherrschen und die Person inFesseln legen, dort spreche ich für-wahr von einer „apersonalen Exi-stenz“. “Personal” ist Existenz inmeinem Verständnis dann, wenn siegewissenhaft in Verantwortung undFreiheit und subjektiv sinnvoll gelebtwerden kann.

Existenzanalyse - eine Theorie?

Ein weiterer Kritikpunkt war dannmehr wissenschaftstheoretischer Na-tur: Espinosa vertrat (mit Heidegger)die Ansicht, daß die Existenzanalyseals Phänomenologie nicht (wie eineTheorie) methodisch zur „Anwen-dung“ gebracht werden könne, weileine Phänomenologie nie von allge-meinen Sätzen oder Erkenntnissen auf

Konkretes und Einzelnes gehe, son-dern immer umgekehrt beim Konkre-ten und Einzelnen anfange. Er wiesnach, daß in der PEA aber tatsächlichein solches Anwendungsdenken einerTheorie vorkomme und auch von einerempirischen Überprüfbarkeit der Exi-stenzanalyse gesprochen werde, diedurch die PEA erreicht werden könne.Ein solches Anwendungsdenken seiaber irreführend, weil es den Glaubenvermittle, daß die PEA die Anwen-dung einer Theorie für die Praxis dar-stelle und eine empirische Überprüf-barkeit der Existenzanalyse mit demWesen einer Existenzanalyse unver-einbar sei.

Dies ist sicherlich ein philoso-phisch sehr grundsätzlicher und über-legenswerter Punkt. Tatsächlich gibtdie PEA die Grundelemente für dasGelingen personaler Existenz an: denVollzug von Eindruck, Stellungnahmeund Ausdruck. Damit ist offenkundig,daß die PEA auch eine Theorie ist.Nur im ersten Teil (Eindrucksebene)fordert die PEA ein rein phänomenolo-gisches Vorgehen. Im weiteren Verlaufist ihre Vorgehensweise auf konkret zuvollziehende Schritte hin angelegt, wo-bei die Phänomenologie stets im Hin-tergrund anwesend bleibt. Vielleichtist hier ein Unterschied zur Daseins-analyse zu sehen, die sich als reinphänomenologische Methode versteht.Espinosas Kritik könnte daher derdaseinsanalytischen Kritik an der PEAentsprechen. Sie geht jedoch fälschli-cherweise von der Vorstellung aus,daß die PEA unter dem Anspruchstünde, eine rein phänomenologischeMethode zu sein.

In diesem Zusammenhang kriti-sierte Espinosa, daß der Begriff Per-son in der PEA ungleichmäßig ver-wendet werde. Einmal würde Personim üblichen Sinn als der konkreteMensch verstanden, an dem die Me-thode „zur Anwendung“ gelange, dannaber sei Person mit Existenz gleichbe-deutend verwendet.

Ich kann dieser Kritik nur dieFrage entgegenstellen, ob die Verwen-dung eines Wortes mit zwei verschie-denen Semantiken, wie es in der Spra-che gang und gebe ist, hier Anlaß zurVerwirrung darstellt? Dann allerdings

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müßte eine begriffliche Trennungdurchgeführt werden.

Das psychologisierte Person-verständnis

Ein letzter Kritikpunkt Espinosas be-zog sich auf eine befürchtete Psycho-logisierung des Personverständnisses.Er befürchtete, daß durch die Schema-tisierung der Person in der Gestalt ei-nes Dreiecks der Person und ihrerExistenz ein Rhythmus des Existierensunterstellt werde, der die Bewegungvon außen nach innen und dann wie-der von innen nach außen habe. Die-se Vorstellung sei in der Psychologiegeläufig, die eben meine, daß das Le-ben mit einem Stimulus, einem Reizoder einem Eindruck anfange, auf dendas Lebendige antworte. Hier böte diePhilosophie eine tiefere Sichtweise desMenschen. Tiefer betrachtet werde dieWelt erst durch das Existieren konsti-tuiert. Und das Entziffern dieser Zu-sammenhänge sei genau das Hauptan-liegen der Existenzanalyse.

Ich meinerseits kann hier

Espinosa nur Recht geben. Ich seheden Menschen nicht nur bewegt durchEindrücke von außen, sondern sehe inihm eine ursprüngliche Lebendigkeitund Geistigkeit aus seiner eigenenMitte (und nicht aus der Welt) hervor-quellen, was ein simples mechanischesModell der Anthropologie nicht zuläßt.Diesen ursprünglichen, vitalen undgeistigen Kräften wird auch in derPEA Rechnung getragen. Dies ge-schieht in der durch die phänomenolo-gischen Analyse der primären Emoti-on, in der diese Kräfte schon enthal-ten sind. In der integrierten Emotion(Stellungnahme) kommen diese Kräf-te schließlich ganz zum Tragen, umsich dann in der Ausdrucksebene wie-der mit den Umweltinformationen zuvermengen.

Zum Schluß möchte ich NolbertoEspinosa für die Mühe danken, eineKritik an der PEA geschrieben zu ha-ben. Bestimmt läßt sich noch viel Kri-tisches sagen, aber das, was bereitsgesagt wurde, hat zu vielen fruchtba-ren Gesprächen geführt.

nicht “getroffen”. Ich muß zugestehen,daß mich etwas von Anfang an beiDeiner PEA schockiert hat: Das warnämlich der Titel, die Bezeichnungdieser Analyse, wobei zweierlei -“Existenz” und “Person” - zusammen-gebracht werden. Ich wollte wissen,warum Du beides unterscheiden woll-test, wie das klar zu lesen war beiDeinem Satz: die PEA richte sich “aufdas Personale in der Existenz”. Inmeinem Aufsatz bin ich davon ausge-gangen - und das war meine Position-, daß “Existenz” und “Person” bzw.das “Existenzielle” und das “Perso-nale” gleichbedeutend sind. Weil Dubeides unterschieden hast, wußte ichmich berechtigt zu schreiben, daß Dei-ne P.E.A. keine “Existenzanalyse”,sondern vielmehr eine psychotherapeu-tische Lehre “personalistischer” Prä-gung sei. Genau so hätte HeideggerDeine Position angesprochen. Ich er-wähne jetzt Heidegger, weil ich michin meiner Schrift vom Begriff der Exi-stenz Heideggers und von der Kritik,die er gegen den “Personalismus” (fürHeidegger gleich “Subjektivismus”,“Immanentismus”, “Bewußtseins-philosophie”, “Idealismus”) Husserls,Schelers und vieler anderer geübt hat,habe leiten lassen (siehe „Sein undZeit“ und „Zollikoner Seminare“,hrsg. v. Medard Boss, S. 3).

Vielleicht waren die Dinge, dieich im Kopf hatte, als ich so kritischDeine PEA-Abhandlung beurteilthabe, genau die Argumente vonHeidegger gegen die Bewußtseins-philosophie. Nun, was ich von DeinemBesuch in Mendoza gelernt habe, ist(wußte ich das nicht?), daß die Per-spektive der Philosophien, d.h. dieWeise, wie sie die Weltdinge, denMenschen, die Geschichte, die Kulturbetrachten, eine andere als die Per-spektive eines Psychotherapeuten ist.Das hervorzuheben ist sehr wichtig,was die Logotherapie und Existenz-analyse anbelangt, zumal in dieserPsychotherapie so viel “Philosophie”steckt. Beim Seminar hast Du uns mitRecht einige Male davor gewarnt, wirsollten nicht die Interessen, die Anlie-gen der Philosophie mit denen derPsychotherapie verwechseln. Und esist in der Tat so: Der Umgang mit den

Anmerkungen zur PersonalenExistenzanalyse (PEA) IIIm Bulletin Nr. 2/93, 15 hat Prof. Nolberto Espinosa zur PEA ausphilosophischer Sicht einen kritischen Kommentar veröffentlicht, aufden er in diesem Brief vom 13.6.95 an A. Längle noch einmal eingeht.

(...) Nach der Lektüre Deiner erstenPublikationen über die PEA konnteich andere Abhandlungen von Dir stu-dieren, in denen Du “die” Perspektive,aus der heraus Du Dich mit der Exi-stenzanalyse befassen willst, m.E.schon genug umrissen hast. Eines istdabei ganz klar: Dein Anliegen, dasDu in Deinem Umgang mit der Exi-stenzanalyse - und wir reden von ei-ner Sehweise einer psychotherapeuti-schen Praxis - zu vermitteln versuchst,ist das Sein, der Wert des Menschen“als Person”. Mir halfen sehr die Dis-kussionen über Deine Position, die inder letzten Zeit im Bulletin erschienen

sind, und besonders Dein Seminar inMendoza machte mir die Augen auf.

Da ich erst jetzt imstande bin, zusagen, daß ich “Deine” Blickweise inder Existenzanalyse “verstehe”, möch-te ich zu meinem Aufsatz “Anmer-kungen zur ´Personalen Existenzanaly-se´” (Bull. 93/2) wieder zurückkom-men und zu dem von mir Geschriebe-nen Stellung nehmen. Würde ich den-selben Aufsatz heute verfassen, nachdem, was ich von Dir gelesen und ge-hört habe, würde ich einige Sätzeumändern, mehr noch, die ganzeSchrift anders konzipieren: Einfachgesagt, in dieser Schrift habe ich Dich

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konkreten Menschen, mit den “Perso-nen” also, schützt einen Therapeutenvor der Gefahr, Dinge, Aspekte, Di-mensionen des Realen, die eng zusam-menhängen oder eine Einheit bilden,auseinanderzulegen. Diese Trennun-gen, Abstraktionen, Reduktionen voneinheitlichen Phänomenen werden vonden Philosophen ständig vorgenom-men, sicher aus “theoretischen” Grün-den. Psychotherapie aber - leider wirdes oft vergessen - ist keine “Theorie”,sie ist eine “Praxis”, die auf bestimm-ten theoretischen Grundlagen ruht.Heidegger hat sich darum bemüht -und ich ihm folgend -, den Begriff der“Existenz” von dem der “Person”bzw. von “Subjekt”, “Bewußtsein”,“Seele”, “Geist” sauber abzusetzen,weil er der Meinung war, man stellesich die Person - das “Ich” - wie eine“Kapsel” vor: Wir sind drinnen, indieser Kapsel, und von ihr gehen wirheraus in die Welt. Tatsächlich ist diePerson aber gar keine Kapsel! DeinVerständnis des “Personalen” läuft ineine ganz andere Richtung: Bei Dir

kommen “Existenz” und “Person”überein, aber Du nimmst in dieserEinheit eine Differenz vor, derart, daß“das Personale” etwas, ein Aspekt, einZug in der “Existenz” ist: Besagt“Existieren” „Offen-Sein zur Welt“,“Außer-sich-sein-bei den Dingen”,“Sich-selbst-transzendieren”, dannmeint “das Personale in der Existenz”einen anderen Aspekt, die andere Sei-te der Existenz, die so wichtig wie dasOffen-sein ist, nämlich gemäß der dieExistenz “bei ihr selbst” ist, indem sie“Distanz” zur Welt und Stellung zusich selbst und zu den Dingen in derWelt nimmt. Dieser Aspekt wurde inder Daseinsanalytik Heideggers ver-nachlässigt. Und das ist gerade das,was Du hervorzuheben versuchst. Ichglaube, Deine Position richtig verstan-den zu haben, wenn ich sage: Bei Dirist der Hauptbegriff die “Person”; diePerson erweist sich als eine solche aufGrund von zwei gleichwichtigen undunzertrennlichen Zügen: das Offen-sein zur Welt (das ist das “Existenzi-elle” in der Person, das, was eine Per-

son zur “Existenz” bringt) und dasBei-sich-selbst-Sein, Sich-selbst-Füh-len, Sich-selbst-Annehmen, Stellung-Nehmen, Aus-sich-selbst-sich-Ent-scheiden, Aus-sich-selbst-Handelnusw. (das ist das “Personale” in derPerson).

Die Berücksichtigung dieser Di-mension - das “Personale” bei uns - istin der Psychotherapie bei allen jenenFällen unerläßlich, die ganz klar zei-gen, daß die Menschen sich selbstnicht gefunden haben, von sich selbstnicht wissen, abhängige Personen, dieohne eigene Initiative leben usw. Nochauf andere schöne, wichtige Dingehast Du in dem Personbegriff hinge-wiesen: daß das Personale nicht nurder Grund unserer Freiheit ist, sonderndaß es der unberührbare “heilige”Raum bei uns ist - unsere “Intimität”- die eine respektvolle Achtung vonallen Menschen verlangt, sogar vonuns selbst. Denn darin sind wir zu-tiefst verletzbar. (...)

Nolberto Espinosa

Standpunkte in der Pädagogik

M. Probst hat in der letzten Nummer der Existenzanalyse einen Artikeldes Schweizer Psychologen Guggenbühl zusammengefaßt und ausexistenzanalytischer Sicht kommentiert. Guggenbühl selbst istJungianer (daher die Nähe zum mythischen Menschenverständnis) undein in der Schweiz renommierter Spezialist für Aggression in der Schule.

Begegnung und Normen in der SchuleGedanken zu „Personale Pädagogik - ein Geheimnis?“

und Erfahrungen im Umgang mit Er-wachsenen, besonders im Bereich derSchule.

Von meinem Wollen alleine herist dies Hineinschauen dürfen nichtmachbar. Es geschieht allmählich imgegenseitigen Vertrauen und Zutrauen,im Umgehen miteinander. In demMaß, in dem mich meine Schüler alsPerson erleben, als offen, stabil, au-thentisch und ihnen zugewandt, sievon mir eine Art Vertrauensvorschußerfahren, auch Grenzen erkennen - ei-gene und meine- trauen sie sich, jenach Erfahrung früher oder später(oder auch gar nicht) sich selbst zuzeigen.

Diese „Personale Begegnung“ istweder machbar noch konkret planbar.Sie setzt ein Gespür für den richtigenMoment voraus und Einfühlungsver-mögen. Von „Geheimwissen“ kannhier aber keine Rede sein.

2. „Sie brauchen Begleiter, die dieFähigkeit besitzen, vorurteilslos, ohnePrinzipien und Normen in die Kinderhineinzuhören..:“ (M. Probst)

1. „Menschen, die sich mit Jugendli-chen auseinandersetzen, brauchendazu eine Portion ‘Geheimwissen’-“.(M. Probst)

Ich bin seit fast 25 Jahren Haupt-schullehrerin in München und arbeitemit 12 bis 15jährigen Jugendlichen.Ich weiß um ihre Probleme und Nöte,vom einen mehr, vom anderen weni-ger, (von machen fast nichts), oft mehr

als ihre Eltern wissen, aber ein„Geheimwissen“ im und zum Umgangmit Jungendlichen habe ich bis heutenicht entwickelt. „Die Fähigkeit in dieSeele der Kinder zu schauen“ ist stetsbegrenzt durch meine Subjektivität,mein Wahrnehmungsvermögen, meinPerson-Sein, ebenso aber auch be-grenzt und eingegrenzt von Seiten derSchüler durch ihre Biographie, Ängste

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- Vorurteilsloses Hinhören und wert-freies Wahrnehmen dessen „Wasist“ (begrenzt durch eigene Subjek-tivität) machen personale Begeg-nung erst möglich.

- Ist aber ein Miteinander in derSchule ohne Prinzipien und Nor-men überhaupt möglich?

- Ist vorurteilsloses Hineinhörennicht bereits auch ein Prinzip?

- Ohne alle Prinzipien und Normenmit dem „Was ist“ umzugehen, hie-ße für mich, keine eigenen Wertezu haben, nach Lust und Laune zureagieren statt zu agieren, schlicht,eine chaotische Pädagogin zu sein.

- Vorurteilslos, ohne Prinzipien undNormen zu sein, auch dann, wenn:Hauptschüler rücksichtslose Gewaltin Szene setzen, Drogen nehmen,auf den Strich gehen, kriminellwerden, eigene und fremde Grenzennicht wahrgenommen werden?

3. „Personale Begegnung fordert unsimmer ganz, verlangt eine radikaleOffenheit und Kreativität, verlangt denLehrer mit ‘Leib und Seele’. Sie ent-lohnt dafür mit dem Gefül von Freu-de, Lebendigkeit und innerer Zufrie-denheit.“ (M. Probst)Für mich wird hier „Personale Begeg-nung“ zur Methode degradiert; Metho-de, statt wie ich es in der Ausbildunggelernt habe - innere Haltung zu sein.Wenn ich dieses Methode so wie be-schrieben anwende, dann ist „Freude,

innere Zufriedenheit und Lebendig-keit“ der Lohn. Wenn es so einfachwäre, wäre es doch ganz einfach Leh-rer/in zu sein - oder?- Meine Schüler durchschauen Me-

thoden ziemlich schnell, fühlen sichzum Objekt gemacht und verwei-gern erst recht - mit Recht!

- Meine Schüler sind nicht pflege-leicht; von 22 haben 5 eine massi-ve Grundwertstörung, 3 sind rela-tiv stabil, der Rest weist alle Varia-tionen von Selbstwertstörungenauf...

- Ich habe in der Schule kein thera-peutisches Setting, sondern „neben-bei“ auch noch Unterricht zu hal-ten...

Ich mag meine Schüler und meinenBeruf und bin bisher absolut nicht inder Alltagsroutine erstickt; nur, soleicht ist „das Gefühl von Freude, Le-bendigkeit und innerer Zufriedenheit“nicht „machbar“. Sonst könnten wiruns vor Lehrernachwuchs sicher nichtretten.Wenn ich meine innere Zufriedenheitund Freude von äußeren Erfolgen ab-hängig mache, dann bin ich tatsächlichabhängig, aber nicht „frei“ - und dassollte die „Person“ doch sein - oder?Ich wünsche Frau Probst, daß ihr diepositiven Schulerfahrungen noch lan-ge erhalten bleiben.

Claudia Possel

keit haben, als sie für die jeweilige Si-tuation als stimmig empfunden wer-den. Alles darüber hinausgehendeFesthalten an Normen und Prinzipienbringt die Gefahr mit sich, apersonalund damit ein die Begegnung behin-derndes Vorurteil zu sein. Es geht umdie Angst, daß der Person eben imGrunde nicht vertraut werden könnteund die Gesellschaft Gefahr laufe, inAnarchie und Chaos unterzugehen,wenn man der Person des einzelnenvertraut. Gerade mit diesem Vorurteilder Person gegenüber kann und willich mich nicht abfinden. Sie entsprichtauch nicht meinen Erfahrungen, dieich mit meinem Vertrauen auf die Ver-antwortlichkeit der Person in 16 Be-rufsjahren als Grundschullehrer ge-macht habe.

Die Befürchtung eine chaotischePädagogin zu werden, wenn ohne Nor-men und Prinzipien unterrichtet wird,drückt auch ein Vorurteil bzw. Miß-trauen gegen die Person aus.Frau Possel fragt, ob vorurteilslosesHineinhören nicht auch ein Prinzip sei.Diese Frage muß ich mit nein beant-worten, da es sich nicht um ein Prin-zip, sondern um eine Haltung der Per-son des Pädagogen handelt. Haltungunterscheidet sich von Normen undPrinzipien dadurch, daß sie im Erlebender Person des Pädagogen gründet.

Zum dritten Gedanken:In diesem Punkt verstehe ich die Stel-lungnahme Frau Possels nicht mehr.Indem „Personale Begegnung“ demLehrer mit Leib und Seele, somit ra-dikal die Person des Lehrers verlangt,kann sie aus meiner Sicht niemals zurMethode verkommen. Falls jemand„Personale Begegnung“ nur als „Me-thode“ ansieht, dann würde ich dieSorgen C. Possels auch teilen.

Zum Abschluß möchte ich FrauPossel für ihre Wünsche danken. Ichkann ihre Sorge verstehen, wenn sieaus meinem Text ableiten zu könnenglaubt, daß ich meine innere Zufrie-denheit und Freude von äußeren Erfol-gen abhängig mache. Ich gestehe, daßich mich auch über sichtbare äußereErfolge und meine positivenSchulerfahrungen freue. Aber abhän-gig davon erlebe ich mich nicht.

“Person” statt “Geheimwissen”Stellungnahme zum Brief C. Possels von M. Probst

beleuchten. Ich stimme mit C. Posselüberein, daß für die Existenzanalyseder Begriff “Geheimwissen” entbehr-lich ist.

Zum zweiten Gedanken:Normen und Prinzipien können für diePerson nur dann Gültigkeit haben,wenn sie von der Person zumindesteinmal grundsätzlich hinterfragt wer-den. Sie können nur solange Gültig-

Offenbar liegt dem ersten GedankenC. Possels zu meinem Artikel einMißverständnis zugrunde.

Der Begriff „Geheimwissen“wird von Guggenbühl verwendet, wasmeines Erachtens aus meinem Textklar hervorgeht. Mein Anliegen wares, in einer Reflexion überGuggenbühls Artikel mögliche Bezü-ge zur Existenzanalyse („Geheim-wissen“ - Personale Begegnung) zu

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Ch. Kolbe in Vorarlberg zumThema: Authentisch LebenGute Resonanz fanden die öffentlichen Präsentationen in Zusammen-arbeit mit dem ORF und die Vertiefung des Themas im Rahmen derLehrerfortbildung

Publikumsstudio folgten die Menschenmit gespannter Aufmerksamkeit undteilweiser tiefen Betroffenheit Dr.Kolbes Ausführungen. Anschließendmachten sie regen Gebrauch von derMöglichkeit, dazu Stellung zu nehmenund Fragen zu stellen.

Ca. 60 PädagogInnen aller Schul-typen nahmen an einer Lehrer-fortbildung zum Thema „Das Kind alsPerson“ teil. Auch hier wurde dieMöglichkeit zur Diskussion eifrig ge-nutzt. Dr. Kolbes Fähigkeiten, mit denLehrerInnen an konkreten (Schul-)Pro-blemen zu arbeiten, erwies sich alsgute Hilfe für die tägliche Arbeit.

Die Pädagogischen Institute sindbemüht, ihn auch in Zukunft für Fort-bildungsveranstaltungen zu gewinnenund so werden im Sommersemester1995/1996 zwei Kurse zum Thema„Authentisch Leben“ und zweiSupervisionskurse stattfinden.

Susanne Ammann

Im Jänner 1996 veranstaltete dasPädagogigsche Institut des LandesVorarlberg mit dem Pädagogischen In-stitut des Bundes und in Zusammenar-beit mit dem ORF eine dreiteiligeVortragsreihe im Rahmen des Projek-tes „LernWeltLeben“. Dazu wurdeunter anderem Dr. Christoph Kolbe(Hannover) eingeladen, der in Vorarl-berg durch Vorträge, als Ausbildungs-leiter für existenzanalytische Beratungund als Leiter von Lehrerfortbildungen

schon sehr bekannt ist.„Authentisch leben“ war das The-

ma, das am 18. Jänner im Rahmen desORF von Dr. Kolbe einer breiterenÖffentlichkeit präsentiert wurde. In dereinstündigen Livesendung „AktuellesThema“ konnten ihn die ZuhörerInnendirekt befragen, was sie mit erstaunli-cher Offenheit in Anspruch nahmen.Das große Interesse an authentischemLeben wurde auch im Abendvortragspürbar. Im ausgebuchten ORF-

AKTUELLES

Frankl an Haider:Verärgerung über den „Freund“„Keinerlei Verständnis“ für Auftritt vor Veteranen der Waffen-SS

Verwundert äußert sich derzeit der90jährige Professor Viktor Frankl,mehrfach ausgezeichneter Psychiaterund Psychotherapeut, über die dau-ernden Versuche Jörg Haiders, ihnpermanent als Freund und sich selbstdadurch als Antifaschist zu bezeich-nen. Frankl in einer vergangenenFreitag NEWS übermittelten Stel-lungnahme: „Herr Dr. Haider undich wurden einander im Frühjahr1995 vorgestellt. Im Sommer erlittich gelegentlich einer Abendgesell-schaft eine Blutdruckkrise und mußteins Spital gebracht werden. Herr Dr.Haider, der ebenfalls anwesend war,

hat sich damals in einer weit überdas notwendige Maß hinausgehen-den Weise um mich gekümmert. Ichbin ihm dafür zu Dank verpflichtet,und man muß verstehen, daß ich nunnicht öffentlich Wortklaubereiendarüber anstelle, ob es sich dabeinur um die Hilfsbereitschaft einesBekannten oder schon um einen Be-weis von Freundschaft handelte. Al-lerdings bin ich nicht erfreut dar-über, daß mein Name ausgerechnetim Zusammenhang mit der Diskussi-on um die Krumpendorf-Affäre insSpiel gebracht wird. Ich habe kei-nerlei Verständnis für Dr. Haiders

dortigen Auftritt.“ Frankl, der vieleVerwandte in nationalsozialistischenVernichtungslagern verloren hat, hatHaider ausrichten lassen, von ihmnicht mehr als Zeuge seiner politi-schen Unbedenklichkeit bezeichnetwerden zu wollen; nun ist er umsoverärgerter, daß ihn Haider bei dersonntäglichen TV-Sendung „Zur Sa-che“ neuerlich zitiert hat. Dabei istdie von Haider vorgelesene Wid-mung in einem Frankl-Buch anHaiders Gattin Claudia ergangen -und auch nicht direkt an sie, sondernüber einen Bekannten, der ihn dar-um gebeten hatte.

Obwohl V.E. Frankl zur GLEbekannterweise keine Beziehungmehr hält, wurden wir in derjüngsten Zeit wiederholt danachgefragt, wie Frankl zu Haiderstehe. Vor kurzem hat Frankl derPresse eine Information zukom-men lassen, die wir hier für un-sere Leser abdrucken. Sie stammtaus der Zeitschrift: „News 3/96“.

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A K T U E L L E S

Information und Anmeldung: TagungssekretariatICOS Congress Organisation Service GmbHJohannesgasse 14A-1010 WienTel.: +43/1/51280910Fax: +43/1/512809180

Die Teilnahme am Weltkongreß wird als Fortbildungsveranstaltung für die Ausbildung in Existenzanalyse angerechnet.

Ein interessantes Vorkongreßprogramm (29. und 30. Juni) sowie ein charmantes Rahmenprogramm er-gänzen den Kongreß und runden in ab.

1. Kongreß desWorld Council forPsychotherapy WCP30. Juni bis 4. Juli 1996 in Wien

Ca. 50 führende Repräsentanten der Psychotherapie (wie z.B. G. Condrau, E. Drewermann, H.J. Eysenck,G. Gendlin, M. Goulding, O. F. Kernberg, M. Mitscherlich, H. Petzold, T. Szasz, P. Watzlawick) sind anden Vormittagen zu Vorträgen geladen. V.E. Frankl wird am Sonntag dem 30. Juni 96 mit einer Gruß-adresse den Kongreß eröffnen. Am Nachmittag finden jeweils von 15.00 bis 18.00 Uhr Subsymposia stattzu den Bereichen psychotherapeutischen Schulen, Therapie als Wissenschaft und Kunst, Verständnis undHeilungsprozesse durch Psychotherapie in den Kulturen unserer Welt, Psychotherapie als Beruf und ihreRolle in unterschiedlichen Gesellschaftsformen, Psychotherapie und Medizin, Psychotherapie in speziel-len Bereichen.

Die Existenzanalyse und Logotherapie ist ebenfalls durch ein Subsymposion vertreten. Die GLE wirddurch Chr. und A.M. Furnica, Ch. Kolbe, A. Längle und Ch. Wurm Workshops anbieten.

Kongreßprogramm

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MITTEILUNGENInformationen aus den Reihen der Mitglieder und Nachrichten von allgemeinem Interesse

Da sich Abgrenzungsfragen der Verschwiegenheitspflichtder PsychotherapeutInnen im Praxisalltag immer wieder malstellen, versuchte Dr. Heiner Bartuska eine vorläufige Ein-schätzung der Rechtslage. Bislang liegen keine Entschei-dungen des Obersten Gerichtshofes vor, da diese Fragen bisjetzt nicht judiziert sind.

In der psychotherapeutischen Praxis sind einige typi-sche Problemstellungen erkennbar:

1. Aussagen eines/r behandelnden PsychotherapeutInzugunsten des/r PatientIn in einem Scheidungsverfah-ren.

Der/die PsychotherapeutIn darf nicht aussagen, um dieVerschwiegenheitspflicht zu wahren und nicht zu gefährden(§ 15 PthG). Dies gilt auch vor dem Scheidungsrichter undist als absolut zu sehen. Der § 15 PthG entspricht in sei-ner Formulierung dem Beichtgeheimnis der Geistlichen. Esgibt keine Entbindung davon. Der Patient könnte auch nachgegebenem Einverständnis zur Bekanntgabe von Details ausTherapiegesprächen auf mangelnde Einschätzungsfähigkeitder Folgen plädieren.

Für die Therapie wird in diesem Falle empfohlen, mitdem/der PatientIn durchzuarbeiten, was er/sie dem Anwalt/Scheidungsrichter sagen will, warum und welche möglichenKonsequenzen dies hätte.

2. Welche Inhalte darf ein Therapiebericht haben,und wie ist mit diesem umzugehen?

Inhaltlich dürfen nur Einschätzungen und fachliche Meinun-gen des/r PsychotherapeutIn aufscheinen. Im Zweifelsfalleist die Verschwiegenheitspflicht höher zu bewerten, als diePflicht zur interdisziplinären Zusammenarbeit (Ärzte-kollegInnen, Krankenhäuser, Krankenkassen).

ÄrztInnen haben eine wesentlich verringerte Ver-schwiegenheitspflicht; sie müssen im öffentlichen Inter-esseauf sämtliche Anfragen oder bei Entbindung durchPatientInnen auch vor Gericht aussagen. Daher wird dieseTherapeutengruppe aber Schwierigkeiten haben, die Ver-schwiegenheit nach dem PthG zu verstehen.

3. Wer trägt im Krankenhaus die Haftung für dieVerschwiegenheit: Krankenhaus oder TherapeutIn?

Dies ist eindeutig der/die PsychotherapeutIn, da die Ver-schwiegenheit eine persönliche Pflicht ist, die dem/der

Verschwiegenheitspflicht in derpsychotherapeutischen Praxis

TherapeutIn durch ein Spezialgesetz auferlegt ist.

4. Was ist, wenn die Polizei zwecks Inhaftierung desTäters ein schriftliches Gutachten des/der behandeln-den PsychotherapeutIn verlangt im Falle einesKindesmißbrauchs?

Dies ist aufgrund der Verschwiegenheitspflicht nicht mög-lich. Die Polizei müßte hierzu einen/e PsychotherapeutInals Gutachter beauftragen, wobei in diesem Falle die Ver-schwiegenheit dann nicht gilt.

5. Welche straf- bzw. zivilrechtlichen Folgen kann dieVerletzung der Verschwiegenheitspflicht haben?

Der/die aussagende oder berichtende und daher potentiellverratende PsychotherapeutIn trägt das volle Verwaltungs-strafrisiko von bis zu öS 50.000,- (§ 23 PthG) und zusätz-lich das volle Zivilprozeßrisiko über eventuell entstande-ne Schäden (sprich: nachteilige Folgen) auch dann, wennder/die PatientIn die Aussage geradezu verlangt. Dieextremste Folge einer zivilrechtlichen Haftung kann alslebenslängliche Unterhaltszahlung an Ehefrau, Ehemannund Kinder des/der PatientIn wegen des „Verrates“ ange-nommen werden.

Aus diesen Ausführungen folgt, daß es grundsätzlichkeine Entbindung von der psychotherapeutischen Schwei-gepflicht gibt. Entschuldbar kann der Bruch derVerschwiegenheitspflicht nur sein, wenn die Verletzungderselben eine gegenwärtige oder unmittelbare Gefahr vonsich selbst oder einem anderen abwendet, wobei der Ein-tritt des Schadens als sicher oder höchstwahrscheinlicherscheinen muß (=Parere-Einweisung).

P. Freitag

ÖBVP

Abschlußbericht zur Studie der Psychothera-peutInnen in Ausbildung in der 2. Übergangs-regelung des Psychotherapiegesetzes

Wie schon mehrmals berichtet wurde diese Studie zwischenOktober 1994 und März 1995 von Dr. Wolfgang Wladika,Vertreter der P.i.A., durchgeführt.Laut Psychotherapiegesetz gilt die zweite Übergangsrege-lung für all jene KollegInnen, die ihre Psychotherapieaus-bildung vor dem 1.1.1992 begonnen haben und diese ineiner anerkannten Ausbildungseinrichtung bis spätestens

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EXISTENZANALYSE 1/96 53

31.12.1997 abschließen werden. Ein wichtiger Schritt zurUmsetzung der 2. Übergangsregelung war die Definitiondes für den Ausbildungsabschluß erforderlichen Stunden-umfangs, zumals die meisten AusbildungskandidatInnen ur-sprünglich mit weniger umfangreichen Curricula gerechnethatten. Abgesehen von den insgesamt 1.900 Stunden Aus-bildung, muß das jeweilige Curriculum auch den Schwer-punkten der inhaltlichen Beschreibung des Fachspezifikumsfolgen:

1. Theorie (Umfang von 300 Stunden)2. Lehrtherapie, Lehranalyse, Einzel- oder Gruppen-

selbsterfahrung (Umfang von 200 Stunden)3. Praktikum in einer im psychotherapeutisch-

psychosozialen Feld bestehenden Einrichtung desGesundheits- und Sozialwesens (Dauer von zumindest550 Stunden)

4. begleitende Teilnahme an einer Praktikumssupervision(Dauer von zumindest 30 Stunden)

5. psychotherapeutische Tätigkeit mit verhaltensgestörtenoder leidenden Personen (in der Dauer von zumindest600 Stunden), sowie einer begleitenden Supervision (inder Dauer von zumindest 120 Stunden)

6. Schwerpunktbildung der Punkte 1-5 (100 Stunden)

So müssen die betroffenen P.i.A. ihr Ausbildungscurriculumzu den Bedingungen, unter denen es begonnen wurde, ab-schließen und für die Eintragung in die Psychotherapeuten-liste die Zusatzanforderungen (s.o.), die für jeden Vereinspeziell festgelegt wurden, erfüllen. Die Frist bis zum31.12.1997 scheint dazu äußerst knapp bemessen. Die Stu-die zur Situation der AusbildungskandidatInnen sollte hier-zu Klarheit schaffen.

Ein entsprechender Fragebogen wurde an 2.750KollegInnen (insgesamt 21 Ausbildungsinstitute, ausgenom-men Psychodramasektion des ÖAGG und der Wiener Ar-beitskreis für Psychoanalyse) ausgeschickt. Mit 1.151 Ant-worten betrug der Rücklauf ca. 40 %.

Zu der Studie nun der Abschlußkommentar vonDr. Wladika:

Überraschend war zunächst einmal die hohe Zahl anAusbildungskandidatInnen die im letzten Jahr vor Einfüh-rung des Psychotherapiegesetzes von den Aus-bildungseinrichtungen in die Ausbildung übernommen wur-den. Wenn man nun in Betracht zieht, daß auch die zweiteÜbergangsregelung die 1900 Stunden Ausbildungsumfangvorsieht, so ist die Zahlenverteilung bezüglich der Selbst-einschätzung des Endes der Psychotherapieausbildung inden Jahren 1997, bzw. später, nachvollziehbar. Entgegenden Erwartungen ist jedoch die Anzahl der Personen, dieihr Ausbildungsende mit Ende 1998 oder später erwarten,etwas kleiner ausgefallen als vermutet. Wenn jedoch dieRücklaufquote von 40% berücksichtigt wird und diese Zahlmit Rücksicht auf die Aussendungszahlen extrapoliert wird,ergeben sich die erwarteten Größenordnungen.

Was hat dies nun für politische Konsequenzen? Dererste und wichtigste Schritt muß von Seiten der Aus-

bildungseinrichtungen erfolgen. Es müssen die Vorausset-zungen geschaffen werden, um möglichst vieleAusbildungskandidatInnen die Möglichkeit zuteil werden zulassen, ihre Psychotherapieausbildung bis zum Ende derzweiten Übergangsregelung absolvieren zu können. Dasheißt weiters, daß in besonders prekären Ausbildungsab-schnitten eine noch deutlichere Unterstützung von Seitender Institutionen kommen muß. Nur wenige Aus-bildungseinrichtungen bieten nach Meinung derAusbildungskandidatInnen genügend Ausbildungsangeboteim Bereich Selbsterfahrung, Theorie und Supervision an.Hier sind noch wichtige Verbesserungen zu setzen. Daszentrale Problem scheint aber, um die Ausbildung fristge-recht abzuschließen, die selbständige psychotherapeutischeTätigkeit unter Supervision - die Praxis - zu sein.

Ein anderer Ansatzpunkt ist die legistische Verände-rung des Psychotherapiegesetzes im Hinblick auf das Endeder Frist am 31. Dezember 1997. Derzeit jedoch erscheintdie politische Umsetzung dieses Vorhabens noch nichtdurchführbar, da eine parlamentarische Mehrheit nicht ge-währleistet ist. Die Hoffnung der AusbildungskandidatInnenschon eine Lösung im Jahr 1995 erreichen zu können,mußte leider enttäuscht werden. Jedoch werden wir seitensder Berufsvertretung unsere Bemühungen noch intensivie-ren, um auch hier eine Lösung zu erzielen, die allen gerechtwird.

Auch wenn es zu keiner parlamentarischen Lösungkommt, müssen Überlegungen angestellt werden, welcheMöglichkeiten diejenigen KollegInnen erhalten, die ihreAusbildung nicht fristgerecht absolvieren können, denn dasGesetz kennt auch keinen Umgang mit Härtefällen (die dawären: Schwangerschaft, Krankheit, berufliche Auslands-aufenthalte, o.a.). Hier müssen in naher Zukunft gerechteLösungen gefunden werden, die nicht alleine zu Lasten derAusbildungskandidatInnen gehen dürfen.

In der Diskussion um die Folgen einer nicht fristge-rechten Absolvierung der zweiten Übergangsregelungtaucht immer wieder die Überlegung auf, die KollegInnensollten doch einfach nachträglich noch das Propädeutikumabsolvieren. Sie hätten dann keine Probleme mehr mit ei-ner regulären Eintragung, da sie auf die zweite Übergangs-regelung nicht angewiesen seien. Eine zusätzliche undnachträgliche Absolvierung des Propädeutikums kann sichernicht im Sinne einer qualitativen Verbesserung der Ausbil-dung gewertet werden. Es erscheint wenig sinnvoll, Grund-lagen, die nach dem Gesetz an den Beginn derPsychotherapieausbildung gestellt wurden, nach vielen Jah-ren Ausbildung und unter anderem auch psychotherapeuti-scher Tätigkeit diese auch noch absolvieren zu müssen.

Die Absolvierung des Praktikums dürfte ein kein zugroßes Hindernis darstellen. Nur mehr wenigenKollegInnen, die ein Praktikum absolvieren müssen, stehteine große Anzahl von Praktikumstellen gegenüber. Jedochwäre von Seiten der Ausbildungseinrichtungen zu wün-schen, daß sie hier, dem Gesetz entsprechend, einer Unter-stützung und Beratung beim Auffinden einer Praktikums-stelle nachkommen. Den AusbildungskandidatInnen sei ge-

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transzendentalgenetischer Monadologie als konkreter „Ge-schichte“ der Ego-Subjektivität das vorkonstituierendeWesen der „Passivität“ als Potentialität ein. Trieb bedeu-tet hierbei phänomenologisch ein ahnend-sorgendesGewecktwerden zur „Welt“ hin, die sich durch Hin-einnahme einer „vorgeschichtlichen Natur“ seitens deshyletisch-zeitlichen Vor-Ich konstituiert. Über die Leiblich-keit und Generativität (Kinästhesen, Mutter-Kind-Beziehung,elterliche Vergemeinschaftung innerhalb einerAll-Historie) ist diese „angeborene“ Triebintentionalitätvon Anfang an eine passiv-intersubjetive Kommunikation,welche die Voraussetzung in die eigentliche „Einfühlung“des Anderen in der Fremdwahrnehmung bildet. Die prak-tisch-theoretischen Korrelationen der Triebwirklichkeit alsoriginäres Streben wie wacher Erkenntniswille verschrän-ken sich hierbei ebenso wie absolute Subjektivität und Plu-ralität der Lebenswelt. Insofern bilden diese Analysen eineWeiterführung der „Krisis“-Schrift und erweisen sich alsProblematisierung des transzendental-phänomenologischen„Idealismus“ durch dessen Begründer selbst. Im Kontextheutiger philosophischer Vernunft- und phänomenologischerMethodendiskussion führen diese Analysen unserer origi-nären Passivität zur radikalisierten Selbstbesinnung desPhilosophierens als „Denken“ wie „Praxis“.

R. Kühn

raten, möglichst frühzeitig allfällige Unsicherheiten bezüg-lich der Anrechnung ihrer Praktikumszeiten auszuräumenund die Ausbildungseinrichtungen um eine Stellungnahe zubitten, damit nicht zum Ende der Ausbildung neuerlicheHindernisse auftauchen.

Die selbständige psychotherapeutische Tätigkeit unterSupervision scheint jedoch das eigentliche Problem zu sein,welches die fristgerechte Absolvierung der Ausbildung in-nerhalb der Übergangsfrist verhindert. Viele derKollegInnen beklagen die große Schwierigkeit, entspre-chende KlientInnen zu finden, mit denen sie psychothera-peutisch arbeiten können. Hoher Konkurrenzdruck, vor al-lem auch von seiten eingetragener PsychotherapeutInnenbzw. die äußerst niedrige Honorarabgeltung werden alsSchwierigkeiten genannt. Geringe Kontakte zu überweisen-den Einrichtungen wie Ärzten oder Instituten aus dempsychoso-zialem Feld am Beginn einer psychotherapeuti-schen Tätigkeit, wie auch nicht ausreichendes Wissen undKontakt mit potentiellen KlientInnen und Klientengruppenerschweren die Situation.

In diesem Zusammenhang muß auch die hohe Zahl der-jenigen PsychotherapeutInnen beachtet werden, die nochnicht oder erst bis zu 100 Stunden ihrer psychotherapeuti-schen Tätigkeit unter Supervision absolviert haben. Beson-ders in diesem Bereich sehen sich viele Ausbildungs-kandidatInnen von den Ausbildungseinrichtungen alleinge-lassen. Dies wird auch aus den Kommentaren zum Frage-bogen immer wieder deutlich. In diesem Bereich optimaleAusbildungsmöglichkeiten zu schaffen, kann nicht alleinAufgabe der Auszubildenden sein. Hier sind die Aus-bildungseinrichtungen, wie auch die Berufsvertreter aufge-rufen, konsequentere Unterstützung zu liefern, damit beisonst optimalen Voraussetzungen die KandidatInnen nichtalleine deswegen an der Übergangsfrist scheitern.

Genaue Unterlagen zur Studie sind anforderbar bei:

Dr. Wolfgang WladikaVertreter der P.i.A. im PsychotherapiebeiratWiener Landesverband für PsychotherapieRosenbursenstraße 8/3/71010 Wien

P. Freitag

Zur Vorlesung von Rolf Kühn

„Passive Synthesen“ in der GenetischenPhänomenologie E. Husserls (Teil II):Potentialität, Triebintentionalität, Einfühlungund passive Intersubjektivität

Die Analyse Husserls in seinem Spätwerk zur Trieb- undInstinktintentionalität lösen auf dem Hintergrund

M I T T E I L U N G E N

Praxiseröffnungen

SALZBURG Doris PolasekPsychotherapeutin i.A.Fürstenallee 15020 SalzburgTel.: 0662/841515

WIEN Dr. Elisabeth DenkFacharzt für Psychiatrie und NeurologieOberarzt der Univ. Klinik für PsychiatrieArzt für psychosoziale und psychosomati-sche MedizinPsychotherapeutTelekygasse 4/71190 WienTel.: 0222/3681699(Praxisverlegung)

WIEN Dr. Alexander BremLindengassse 37/51070 WienTel.: 0222/5243676mit angeschlossenem Institut“Wendepunkt” (Qi Gong und Tai Qi)(Praxisverlegung)

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M I T T E I L U N G E N

FEICHTINGER TH. Ermutigung zur LebendigkeitKINAST R. Christlicher Glaube kann den psychotherapeu-

tischen Prozeß auch unterstützen... Erfahrungen ausder Sicht eines Existenzanalytikers.

MICHAELIS-BRAUN R. Eine phänomenologische Be-trachtung

RIEDMANN B. Tanz als erfahrbare Ebene der Existenz-analyse

Neu in unserer Bibliothek

BERGIN A.E., GARFIELD S.L. Handbook ofPsychotherapy and Behaviour Change. New York:John Wiley & Sons, Inc., 1986.

BERNAUER F., DONATI R., GRAWE K. Psychotherapieim Wandel. Von der Konfession zur Profession.Göttingen: Hogrefe, 1994.

BINSWANGER L. Traum und Existenz. Bern: Gachnang& Springer AG, 1992

BUCHHEIM P., CIERPKA M., SEIFERT TH. (Hrsg.)Neue Lebensformen - Zeitkrankheiten - und Psycho-therapie. Lindauer Psychotherapiewochen 1993. In:Lindauer Texte. Texte zur psychotherapeutischenFort- und Weiterbildung. Berlin-Heidelberg: Sprin-ger-Verlag, 1994

HENRY M. Die Barbarei. Eine phänomenologische Kultur-kritik. Freiburg/München: Verlag Karl AlberGmbH, 1994

KÜHN R., PETZOLD H. (Hrsg.) Psychotherapie & Philo-sophie. Philosophie als Psychotherapie? Paderborn:Junfermann Veralg, 1992

LAUCKEN U. Denkformen der Psychologie. Dargestellt amEntwurf einer Logographie der Gefühle. Bern: Ver-lag Hans Huber, 1989

MAHONEY M.J. Human Change Processes. The ScientificFoundations of Psychotherapy. USA: Basic Books

MOUSTAKAS C. Phenomenology Sience andPsychotherapy. Canadian Cataloguing in PublicationData, 1988

STRASSER ST. Understanding and Explanation. Basicideas concerning the Humanity of the HumanSciences. Pittsburgh, USA: Duquesne UniversityPress, 1985

Publikationen

GUTH E. Spielsucht. Salzburg: Amt der Salzburger Lan-desregierung 1995

HLADSCHIK B. et al.: Einstellungsänderungen von Studie-renden gegenüber Krebskranken nach einem Prakti-kum zur Betreuung onkologischer Patienten. In:Österr. Ges. f. Psychoonkologie (Hrsg.), Jahrbuchder Psychoonkologie 1995. Wien: Springer 1995

Abschlußarbeiten in Logotherapieund Existenzanalyse

EMGE S. Alkoholabusus und Belastungsverarbeitung vordem Hintergrund existenzanalytischer Betrachtun-gen (Diplomarbeit)

Neue Ausbildungsgruppen

SCHWEIZ/VORARLBERG - EXISTENZANALYTISCHEBERATUNG UND FACHSPEZIFIKUM

Leitung: Alfried Längle und Christine Wicki-Distelkamp

Beginn: 30./31. August 1996(Aufnahmewochenende)19.-21. September 1996(1. Ausbildungsblock)

Ort: voraussichtlich im Kanton ZugInformation: Sinnan, Institut für Existenzanalyse und

Logotherapie, Weststr. 87CH-6314 Unterägeri, Tel.: 042-725270

Neue Mitglieder

Frau Doris BACH, Wien (A)Frau Beate DIENST, Wien (A)Frau Barbara FRANKE, Wien (A)Frau Dr. Anna-Maria FURNICA, RumänienFrau Michaela GERNGROSS, Graz (A)Frau Marcela KOZLOVIC, Berlin (D)Frau Eleni PAPAMANOLI-AHLBORN, Winzenburg (D)Frau Werngard PFANNENSCHWARZ, Dolgenbrodt (D)Frau Dr. Joana POPESCU, RumänienFrau Dorli ROTHBUCHER, Salzburg (A)Frau Alexandra STUDER, Dornbirn (A)Frau Maria TISCHLER, Wien (A)Frau Helga WEISE, Burghausen (D)Frau Renate ZEINLINGER, Wien (A)Herr Karsten KÜMMEL. Ahnsbeck (D)Herr Jens LEMBERG, Essen (D)Herr Rolf SCHMITT, Freigericht (D)Herr Ingo ZIRKS, Berlin (D)

Ausgetretene Mitglieder:

Frau Sigrid THURNHOFER, Wien (A)Frau Ulrike FAHRNER, Bergheim (A)Frau Dr. Ingeborg VACHALEK, Wien (A)Frau Renate WEBER, Wien (A)Frau Vera WORM, Graz (A)Herr Roland KÖCKEIS, Wien (A)

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M I T T E I L U N G E N

Kontaktadressen der GLEDr. Christian Firus, Albertine-Assor-Straße 6a, D-22457 HamburgGünter Funke, Seelingstraße 29, D - 14059 Berlin (Tel.: 030/3226964)Dipl. theol. Erich Karp, Meisenweg 11, D - 73035 Göppingen (Tel.: 07161/641 - Klinik am Eichert)Dr. Krizo Katinic, Kneza Borne 1, 41000 Zagreb, Kroatien (Tel: 414839)Dr. Christoph Kolbe, Borchersstraße 21, D - 30559 Hannover (Tel.: 0511/5179000, Fax: 0511/521371)Dr. Milan Kosuta, Sermageoa 17, 41000 Zagreb, Kroatien, (Tel.: 41-239193)Univ.-Doz. Dr. Rolf Kühn, Kaiserstraße 37, D-78532 Tuttlingen (Tel.: 07461/77280)Dr. Heimo Langinvainio, Riihitje 3 A 1, SF - 00330 Helsinki 33Dr. Helka Makkonen, Topeliusksenk. 35/11, SF - 00250 Helsinki 25 (Tel.: 417247)Dr. Wilhelmine Popa, Unterratherstraße 44, D - 40468 Düsseldorf (Tel.: 0211/410292 oder 02102/470818 nach 20 Uhr)Univ. Prof. Dr. Heinz Rothbucher, Pädagogische Akademie, Akademiestraße 23, A-5020 Salzburg (Tel.: 0662/629591/12)Dr. Inge Schmidt, Pfeifferhofstraße 7, A-5020 Salzburg (Tel.: 0662/822158)Univ. Doz. Dr. Mircea Tiberiu, Str. Tarnave No. 2, 1900 Timisoara, RumänienDr. Beda Wicki, Weststraße 87, CH - 6314 Unterägeri (Tel.: 042/725270)Dr. Walter Winklhofer, Nymphenburgerstraße 139, D - 80636 München (Tel.: 089/181713)Stud. Dir. Wasiliki Winklhofer, Schleißheimerstraße 200, D - 80797 München (Tel.: 089/3087471)Dr. Christopher Wurm, Chatham House, 124 Stephen Terrace, Gilberton SA 5081, Australien (Tel.: 08/3448838, Fax: 08/3448697)Institut für Existenzanalyse und Logotherapie Graz, Neutorgasse 50, A - 8010 Graz (Tel.: 0316/815060)Gesellschaft f. Existenzanalyse u. Logotherapie in München e.V., Wertherstraße 9, D-80809 München (Tel./Fax: 089/3086253)Berliner Institut für Existenzanalyse und Logotherapie, Lietzenburger Straße 39, D - 10789 Berlin (Tel./Fax: 030/2177727)Norddeutsches Institut für Existenzanalyse Hannover, Borchersstr. 21, D-30559 Hannover (Tel.: 0511/5179000, Fax: 521371)SINNAN - Institut für Existenzanalyse und Logotherapie, Weststraße 87, CH-6314 Unterägeri (Tel.: 042/725270)

Bankverbindungen der GLE

Österreich: Konto Nr.: 040-33884, Erste Österr.Spar-Casse-Bank

Deutschland: Konto Nr.: 3135400, Bank für Sozial-wirtschaft GmbH., BerlinKonto Nr.: 902-127810, StadtsparkasseMünchen

Schweiz: Konto Nr. 80-5522-5, Schweiz. Kredit-anstalt, 6301 Zug

Finnland: Konto Nr.: 500001-524312, OKO-Bank,Helka Makkonen, Logotherapian GLE-keräily

Andere Länder: Wir bitten um Zahlung mittels Postan-weisung

TIROL - EXISTENZANALYTISCHE BERATUNG

Leitung: Günter FunkeBeginn: Juni/Juli 1996Information: Berliner Institut für Existenzanalyse und

Logotherapie, Lietzenburger Str. 39,D-10789 Berlin, Tel./Fax: 030/2177727

WIEN - EXISTENZANALYTISCHE BERATUNG

Leitung: N.N.Beginn: Herbst 1996Information: GLE Wien, 0222/9859566

Neue AusbildungsgruppenFortsetzung

MÜNSTER - EXISTENZANALYTISCHEBERATUNG

Leitung: Christoph KolbeBeginn: 14./15. September 1996 (Auswahlseminar)

15.-24. November 1996(1. Ausbildungseinheit)

Information: Norddeutsches Institut für ExistenzanalyseBorchersstr. 21D-30559 Hannover, Tel.: 0511/5179000

BERLIN - EXISTENZANALYTISCHE BERATUNG

Leitung: Günter FunkeBeginn: Herbst 1996Information: Berliner Institut für Existenzanalyse und

Logotherapie, Lietzenburger Str. 39D-10789 Berlin, Tel./Fax: 030-2177727

MÜNCHEN - EXISTENZANALYTISCHEBERATUNG

Leitung: Wasiliki WinklhoferBeginn: Herbst 1996Information: Wasiliki Winklhofer, D-80797 München,

Schleißheimerstraße 200Tel.: 089/3087471

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J A H R E S TA G U N G D E R G L E

Ich kann nicht...Behinderung als menschliches Phänomen

Ort: Rothenburg o.d. Tauber

Tagungsstätte Wildbad

Zeit: 3. - 5. Mai 1996

Beginn: Freitag 14.00 Uhr

Ende: Sonntag 13.00 Uhr

PROGRAMMVORSCHAUVORTRÄGE:

SILVIA LÄNGLE Behinderung und ExistenzanalyseELFE HOFER Behinderung phänomenologisch erschautBARBARA FORNEFELD Wahr-nehmen und Sinn-stiften des (behinderten) MenschenALFRIED LÄNGLE Leben als Schicksal. Bedingungen und Grenzen menschlicher Existenz (öffentl. Vortrag)KARL RÜHL Die Begegnung mit dem BehindertenALBERT LINGG Bleiben geistig behinderte Menschen Stiefkinder - auch in der Psychotherapie?GÜNTER FUNKE: Ethik und ExistenzanalyseGEORG THEUNISSEN Personenbegriff, Behindertenfeindlichkeit und neuere EuthanasiedebatteISOLDE BADELT Psychotherapie mit geistig BehindertenFEE CZISCH Kinder sehen die Welt naturgemäß anders als wir Erwachsenen

SEMINARE:

Anke Böttcher-Pötsch und Helga Müller - Was behindert mich zu leben? Uli Braun und Elisabeth Pankin - Einbehindertes Kind wird geboren Christa Chamoni - Wenn es meinem Angehörigen schlecht geht, geht es auch mirschlecht Daniela Grabner - Der psychisch behinderte Mensch Hans-Dieter Haas - Selbstbestimmung - eine Hal-tung des Geistes. Perspektivenwechsel im Umgang mit Behinderung Christoph Kolbe - Wenn Religion behindertAndrea Kunert - Jede/r mit den eigenen Möglichkeiten Rudolf Kunert - Ich will - ich will nicht - ich kann nicht.Ambivalenz als Behinderung Regina Mannitz - Wieso eigentlich „behindert“? - Wer behindert hier wen? Renate Resch- Das Erleben der Sinne wird zum Sinn des Lebens Birgitta Rennefeld und Ursula Peterstorfer - Behinderung - einHandikap für Psychotherapie? Elisabeth Walzl und Eduard Berdnik - Gleichberechtigt - gleichwertig - behindert;meine Lebensverhinderungen Wasiliki Winklhofer/K. Rückert - Das psychoorganische Syndrom (MCD) in der SchuleElisabeth Wurst - Ich finde keinen Weg zu Dir - ich kann Dich nicht erreichen

ANMELDUNG:

Sekretariat der GLE, Frau Reisenberger, Ed. Sueßgasse 10, A-1150 Wien, Tel.: 985 95 66, Fax: 982 48 45