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The Creation of Wing Chun Fallstudie Deutschland Swen Krner, Benjamin N. Judkins & Mario S. Staller
1. Ausgangspunkt Wing Chun1 ist populr. Einem greren Publikum bekannt geworden ist Wing Chun
sptestens seit den Ip Man Filmen der letzten Jahre. Der Popularitt des Wing Chun
gegenber stehen Forschungsdefizite was wir bislang ber Wing Chun wussten,
haben wir vor allem den Folkloristen dieses Kampfstils selbst entnommen. Mit ihrer
Studie The Creation of Wing Chun legen Judkins und Nielson 2015 einen Meilenstein
der Erforschung vor. Die Entstehung und Verbreitung des Wing Chun erklren die
Autoren aus gesellschaftlichen Transformationen heraus. Im Ergebnis erscheint
Wing Chun als Effekt globalisierter Kommunikationsstrme (Judkins & Nielson, 2015,
S. 270ff.): Im Jahr 1949 auf der Flucht vor den Kommunisten nach Honkong
immigriert, wirft der Wing Chun Lehrer Ip Man bisherige berzeugungen ber den
Haufen. Er bentigt Geld, also unterrichtet er ffentlich (ebd. S. 226). Seine Kunden,
junge Mnner, bentigen Handwerkszeug fr die Strae (bzw. fr Roof Top Fights).
Ip Man ndert seinen Lehrstil in einer Weise, die den spter nachreisenden Sohn
sehr verblffen wird (ebd., S. 256).
Analyseeinheit fr Judkins und Nielson ist vor allem Kommunikation. Dabei
unterscheiden sie zwei Modi (ebd., S. 277ff.): Im Modus transzendenter
Kommunikation (1) nimmt Wing Chun Rekurs auf Fragen der Tradition, der Herkunft
und Identitt, vor allem der nationalen Identitt. Transzendente Wing Chun-
Kommunikation dient kollektiver Identittsbildung. Im Modus immanenter
Kommunikation (2) nimmt Wing Chun zugleich auf typische Eigenwerte moderner
Gesellschaften Bezug. Wing Chun ist gesund und macht verteidigungsfhig. Beides
Bedarfe der Zeit. Immanenz steht somit fr dessen lebensweltlich sozialen und
individuellen Nutzen. Im Epilog formulieren die Autoren die These, dass die globale
Verbreitung entlang der Unterscheidung immanent/transzendent beschrieben und
erklrt werden knne. Man msste damit also zeigen knnen, dass Wing Chun auch
andernorts als Einheit der Differenz von kollektiver Identitt und gesellschaftlicher
1 Im Folgenden whlen wir die international bliche Schreibweise Wing Chun als Oberbegriff. Bekannte Bezeichnungsvarianten wie Wing Tsun, Ving Tsun etc. sind in der Regel bereits Teil stilbezogener Distinktionsbemhungen.
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Problembearbeitung, von Tradition und Innovation die Bhne betritt. Das erschien
uns mit Blick auf die Situation in Deutschland intuitiv mglich. Im Ausgang 1970er
Jahre drfte in Deutschland vermutlich die weltweit grte Wing Chun Enklave
auerhalb Hongkongs und Festland Chinas entstanden sein. Der Beitrag fragt nach
den Erfolgsbedingungen und skizziert Verlaufsfiguren dieser Karriere. Welche
Konstellationen und Orientierungsmuster sind mageblich?
Theoretisch greifen wir auf differenz- und systemtheoretische berlegungen zurck,
nach denen sich die Verbreitung des Wing Chun auch hierzulande als Karriere
differenzbasierter Kommunikation beschreiben lsst. Analyseeinheit ist hierbei
Kommunikation. Kommunikation definieren wir im Anschluss an die Systemtheorie
formal: als Mitteilung von Information, die sozial Anschluss findet (Luhmann, 1984;
Krner, 2008). Der Zugriff erfolgt auf zwei Ebenen: Auf der ersten Ebene nehmen wir
Bezug auf Wing Chun als Kommunikation (1). Bezeichnet ist damit die
Interaktionspraxis kmpfender Krper. Die zweite analytisch relevante Ebene bildet
Kommunikation ber Wing Chun (2). Bezeichnet ist damit jene Beitragspraxis, die
Wing Chun zum Thema macht. Die Kommunikation beider Ebenen beziehen wir auf
ihr Anschlusspotenzial, wobei wir zwischen Selbst- und Fremdbezgen
unterscheiden. Erstere leisten eine interne Schlieung des Wing Chun, letztere
dessen ffnung gegenber gesellschaftlichen Bedarfen. Den Korpus unserer
Analyse bilden Ereignisse und Publikationen, die sich grob auf das
Grndungsjahrzehnt beziehen, das Mitte der 1970er beginnt. Die Analyse ist
demnach weder vollstndig noch abgerundet, sondern bewusst reduktiv und selektiv
angelegt. Sie nimmt in den Blick, was die in Anschlag gebrachten Unterscheidungen
zu sehen erlauben. Dabei sparen wir mehr aus, als wir hier behandeln knnen.2 Im
Ausblick kommen wir darauf zurck.
Verstanden als Kommunikationsform, hat Wing Chun mit den blichen
Unwahrscheinlichkeitsschwellen von Kommunikation zu rechnen (Luhmann, 1984).
Um Karriere zu machen, muss sie 1. ankommen (Erreichen), 2. verstehbar sein
(Verstehen), dabei nach Mglichkeit 3. Zustimmung hervorrufen sowie (Annehmen)
2 Neben jenen inzwischen zahlreichen Stilrichtungen, die sich direkt oder indirekt auf Ip Man berufen, existieren international (.......) und auch in Deutschland zahlreiche andere Wing Chun Linien (Hirneise & Pertl, 1988). Der Artikel konzentriert sich auf jene Variante, mit der die Verbreitung des Wing Chun in Deutschland begonnen hat.
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4. behalten werden (Binden). Die Unwahrscheinlichkeitsschwellen liefern die formale
Struktur fr die nun folgende Analyse und Darstellung.
2. Erreichen und Verstehen Um global erreichbar zu werden, bedurfte das originr in China beheimatete Wing
Chun der Vermittlung. Dass wir in Deutschland heute von Wing Chun wissen,
darber lesen und Wing Chun trainieren knnen, ist keine Selbstverstndlichkeit.
Whrend es einige direkte Schler Ip Mans in den 1950er und 1960er aus politischen
oder wirtschaftlichen Umstnden ins Ausland verschlug, darunter den spter
weltbekannten Bruce Lee an die Westkste der USA, sowie den vllig unbekannten
Lee Sing, der das Wing Chun 1956 als erster nach London und damit nach Europa
brachte, ist es in Deutschland ein individueller Akteur und Nicht-Chinese, der 1975
den Kontakt nach Hongkong herstellt und mit Leung Ting einen Wing Chun Meister
der letzten Schlergeneration Ip Mans als seinen Lehrer gewinnen kann.
Direkt im darauffolgenden Jahr grndet dieser Schler 1976 die European Wing
Tsun Organisation (EWTO) als Abteilung der Wing Tsun GmbH in Kiel und stellt den
Wing Chun Import aus dem fernen Hongkong damit auf das Fundament einer
Organisationsstruktur, die fortan nach deutschem Unternehmensrecht als
Dienstleister in Sachen Kampfkunst und Selbstverteidigung agiert. Das Wing Chun
der EWTO ist, wie im Fall von Ip Man, von Anfang eingespeist in den Kreislauf
wirtschaftlicher Kommunikation: Leistung gegen Zahlungsmittel. Die Person hinter
dieser Struktur ist der damals 31-jhrige Keith Kernspecht,3 der neben der
Erreichbarkeit buchstblich auch fr das Verstehen der Wing Chun Kommunikation
gesorgt hat.
Im hauseigenen Wu Shu Verlag West Germany wird 1976 mit Wing Tsun Kung Fu
das erste Buch ber Wing Chun in deutscher Sprache publiziert. Autoren sind Ting
und in bersetzender Funktion Kernspecht (Ting, 1989). Von Kernspecht selbst folgt
1977 Kung Fu praktische chinesische Selbstverteidigung, 1981 und 1982 dann
zwei bersetzungen von Tings Grundlagenwerk Wing Tsun Kuen, 1983 eine
bersetzung des Buches von Yip Chun, einem der Shne Ip Mans, zur
Holzpuppenform, sowie schlielich Kernspechts Vom Zweikampf, das bis heute 17 3 Der Grndung der EWTO voraus ging die Ernennung Kernspechts zum europischen Leiter der International WingTsun Leung Ting Martial Arts Association (IWTLTMAA) (Spang, 2001, S. 17).
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Auflagen erlebt hat und in vier Sprachen bersetzt ist (Wing Tsun Welt, Nr. 24, S. 3).
Die Distribution von Informationen ber Wing Chun durch bersetzungen vom
Chinesischen ins Deutsche, sowie die Produktion eigener Bcher und deren
Vermarktung auf der Drehscheibe eines unternehmenseigenen Verlags bilden einen
Zentralmechanismus zur Erhhung kommunikativer Erreichbarkeit. Die Sendung des
EWTO Wing Chun ist damit verfgbar. Sie dringt nach auen, kann irritierte und
faszinierte Anschlsse produzieren und lsst in zunehmendem Mae aus
Beobachtern engagierte Teilnehmer werden und bindet diese.
Mit dem 1982 erstmals publizierten Magazin Wing Tsun Welt, das fortan jhrlich
erscheint, erhht die EWTO die Schlieung nach innen. Zugnglich nur fr Mitglieder
der 1982 ber 60 Ortsgruppen bzw. Schulen (WT Welt Nr. 1, 1982, S. 25),
distribuiert Wing Tsun Welt bis heute Beschreibungen der EWTO in der EWTO -
gengend Stoff, um Mitglieder mit dem Zweck ihrer Mitgliedschaft in der Welt der
EWTO regelmig in Kontakt zu bringen. Anlass fr WT Welt sei im brigen das
zehnjhrige Jubilum unserer Kampfkunst in Deutschland (WT Welt Nr. 1, 1982).
Das Jubilum verdankt sich einer Aufrundung um die Jahre 1970-1975, in denen
Kernspecht vor Ting bei Joseph Cheng in London gelernt hatte, einem
Meisterschler des eben erwhnten, relativ unbekannten Wing Chun Pioniers in
Europa, Lee Sing (Kernspecht, 2013a, S. 91).
Halten wir fest: Die Karriere des Wing Chun in Deutschland ist vor allem ein
Organisationseffekt, die ETWO ihr Inaugurator. Modelliert man die EWTO als
Kommunikationsmaschine, besteht diese aus zwei Ebenen. Auf der ersten Ebene
wird Wing Chun als Kommunikation praktizierbar. Das ist das Training. Im Training
beziehen sich Bewegungen rekursiv auf Bewegungen, bis Schluss ist. ber diesem
Kommunikationstyp, der zugleich fr interne Schlieung sorgt und dies