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„Theater, Theater – einfach wunderbar!“ Ethnografische Studien im Kontext von Theater und Migration in Deutschland und der Türkei Es begann 2006: Das Theater der Erfahrungen hatte sein 25jähriges Jubiläum gefeiert und in den Jahren über die Grenzen Berlins hin- aus eine spezielle Kultur geprägt, die von dem künstlerischem Potential und den Erfahrungen älterer Menschen lebte. Mit dem Mittel der Improvisation unter fachkundiger theaterpädagogischer Leitung entstanden hier Produktionen, die sich mit gesellschaftlich brisanten The- men auseinandersetzten und als Wandertheater die Stadtteile, die Altenheime, aber auch Schulen und Jugendeinrichtungen beglückten. Insbesondere im intergenerativen Bereich mischten sich nicht nur die Erfahrungshorizonte oder Themen, sondern auch die Sprachen, Lieder, Formen – immer deutlicher zeichnete sich ein transkultureller Anteil ab 1 . So entstand die Idee, auch eine Altentheaterpro- duktion in dieser neuen Konstellation zu erarbeiten. Die Idee transkultureller Altentheaterarbeit SpielerInnen unterschiedlicher Herkunft und Spra- chen wurden gesucht, um mit den „Grauen Zellen“, einer der drei kontinuierlich arbeitenden Altenthea- tergruppen des Theaters der Erfahrungen, ein inter- kulturelles Projekt zu verwirklichen. In Kooperati- on mit dem türkischen Frauenladen „Kidöb“ gelang es, eine Gruppe von fünf Frauen und Männern türkischer Herkunft im Alter von 58 bis 78 Jahren für das Projekt zu gewinnen. Gemeinsam mit den „Grauen Zellen“ sollte in drei Monaten ein Stück entwickelt werden. Endlich kamen die ersehnten Gäste in den Theaterprobensaal und die Spielleitung versuchte, eine Probensituation herzustellen, in der über Improvisation ein Stück erarbeitet werden sollte. Doch dazu kam es zunächst nicht: Die sonst so spiellustigen „Grauen Zellen“, die jede Schulklasse zum Improvisieren brachten, saßen neben den Gästen - und Sprachlosigkeit breitete sich aus. Zu fremd war die ers- te Begegnung dieser älteren Männer und Frauen, die Jahrzehnte z.T. nebeneinander her gelebt hatten. Das Medium des TheaterSpiels – in intergenerativen Begegnungen im interkulturellen Kontext der Joker schlechthin – hatte vorerst nicht die gewohnte Zugkraft. Ethnografische Interviews als dialogisches Verfahren zur ‚Materialsammlung‘ Es brauchte eine andere Form, die einerseits die Lebenswelt der TeilnehmerInnen erforschte, aber auch speziell auf die individuel- len Erfahrungspotentiale abzielte. Es sollte Raum für Differenz ge- schaffen werden, doch auch Erkenntnismöglichkeiten für Gemein- samkeiten beispielsweise bezüglich des Alters, dem Alltagsleben im gleichen räumlichen Umfeld usw., sollten entstehen. Ethnografische Interviews im Sinne von Interviews mit Men- schen, die aus unterschiedlich geprägten Kulturzusammenhän- gen stammen 2 , schienen ein geeignetes Mittel, um eine auf Res- pekt und Vertrauen entwickelte Sammlung von Geschichten zu ermitteln. Diese sollte wiederum der Grundstein für die Theater- arbeit sein. Nach gezielter Vorbereitung (genaue Recherche über u.a. Phänomene der Migration) wurde das Ziel, eine öffentliche Präsentation aus den über die Interviews erforschten Materialien zu erarbeiten, umrissen. Signifikantes Merkmal der ethnografi- schen Feldforschung ist, dass Interviews nicht nur als Methode der Datenerhebung gesehen werden, sondern auch als ‚sich in Bezie- hung zum Feld setzen‘ verstanden werden. Diese Forschung war diesbezüglich ungewöhnlich, es gab For- scherInnen und Feld auf beiden Seiten, es gab eine gegenseitige Erforschung dieser alten Menschen unterschiedlicher Herkunft. Aufgrund des kollektiven Theateransatzes des Theaters der Er- fahrungen 3 kam eine ethnografische Arbeit, die von einem/einer InterviewerIn ausgeht, der/die selbst als Person außerhalb jegli- cher eigener Befragung steht, nicht in Frage. Die Erstellung einer sich aus Erfahrungen gespeisten Geschichtensammlung - mögli- che Grundlage für eine gemeinsame Narration auf der Bühne – konnte nur von den deutsch-deutschen und türkisch-deutschen älteren Menschen selbst und in Gegenseitigkeit gemacht werden. Nur so konnte eine Annäherung stattfinden, sich Vertrauen ent- wickeln und letztlich eine Produktion erarbeitet werden, die von allen gleichermaßen vertreten werden konnte. Wir gestalteten ein Setting, in dem immer drei bis vier, manch- mal auch nur zwei TeilnehmerInnen verschiedener Herkunft zusam- Abstract / Das Wichtigste in Kürze Der Beitrag fußt auf einem semiotischen Kulturverständnis. Im interdisziplinären Fokus wird das ethnografische Interview als Methode der Sozialen Kulturarbeit im Kontext von interkulturellem Theater vorgestellt. Im Setting spielt der dialogische Prozess eine große Rolle. Kultur schafft Anlässe. Anlass zur Kontaktaufnahme, zu Diskussion, zu Annäherung - im internationalen und transkulturellen Kontext. Keywords / Stichworte Kulturarbeit im Kontext des demographischen Wandels, transnationaler Kulturaustausch, Migration, Transkulturalität, Altentheater, deutsch-türkisches Theater, Migration Johanna Kaiser *1960 Professorin für sozi- ale Kulturarbeit mit Schwerpunkt Thea- ter an der Alice Salo- mon Hochschule Berlin. Mit Eva Bittner Leiterin und Gründerin des The- aters der Erfahrungen. Johanna.Kaiser@ ash-berlin.eu 27 Sozial Extra 11|12 2013: 27-30 DOI 10.1007/s12054-013-1087-x Praxis aktuell Ethnografie

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Page 1: „Theater, Theater — einfach wunderbar!“

„Theater, Theater – einfach wunderbar!“ Ethnografische Studien im Kontext von Theater und Migration in Deutschland und der Türkei

Es begann 2006: Das Theater der Erfahrungen hatte sein 25jähriges Jubiläum gefeiert und in den Jahren über die Grenzen Berlins hin-aus eine spezielle Kultur geprägt, die von dem künstlerischem Potential und den Erfahrungen älterer Menschen lebte. Mit dem Mittel der Improvisation unter fachkundiger theaterpädagogischer Leitung entstanden hier Produktionen, die sich mit gesellschaftlich brisanten The-men auseinandersetzten und als Wandertheater die Stadtteile, die Altenheime, aber auch Schulen und Jugendeinrichtungen beglückten.

Insbesondere im intergenerativen Bereich mischten sich nicht nur die Erfahrungshorizonte oder Themen, sondern auch die Sprachen, Lieder, Formen – immer deutlicher zeichnete sich ein transkultureller Anteil ab1. So entstand die Idee, auch eine Altentheaterpro-duktion in dieser neuen Konstellation zu erarbeiten.

Die Idee transkultureller AltentheaterarbeitSpielerInnen unterschiedlicher Herkunft und Spra-

chen wurden gesucht, um mit den „Grauen Zellen“, einer der drei kontinuierlich arbeitenden Altenthea-tergruppen des Theaters der Erfahrungen, ein inter-kulturelles Projekt zu verwirklichen. In Kooperati-on mit dem türkischen Frauenladen „Kidöb“ gelang

es, eine Gruppe von fünf Frauen und Männern türkischer Herkunft im Alter von 58 bis 78 Jahren für das Projekt zu gewinnen. Gemeinsam mit den „Grauen Zellen“ sollte in drei Monaten ein Stück entwickelt werden. Endlich kamen die ersehnten Gäste in den Theaterprobensaal und

die Spielleitung versuchte, eine Probensituation herzustellen, in der über Improvisation ein Stück erarbeitet werden sollte. Doch dazu kam es zunächst nicht: Die sonst so spiellustigen „Grauen Zellen“, die jede Schulklasse zum Improvisieren brachten, saßen neben den Gästen - und Sprachlosigkeit breitete sich aus. Zu fremd war die ers-te Begegnung dieser älteren Männer und Frauen, die Jahrzehnte z.T. nebeneinander her gelebt hatten. Das Medium des TheaterSpiels – in intergenerativen Begegnungen im interkulturellen Kontext der Joker schlechthin – hatte vorerst nicht die gewohnte Zugkraft.

Ethnografische Interviews als dialogisches Verfahren zur ‚Materialsammlung‘Es brauchte eine andere Form, die einerseits die Lebenswelt der

TeilnehmerInnen erforschte, aber auch speziell auf die individuel-

len Erfahrungspotentiale abzielte. Es sollte Raum für Di�erenz ge-scha�en werden, doch auch Erkenntnismöglichkeiten für Gemein-samkeiten beispielsweise bezüglich des Alters, dem Alltagsleben im gleichen räumlichen Umfeld usw., sollten entstehen. Ethnogra�sche Interviews im Sinne von Interviews mit Men-

schen, die aus unterschiedlich geprägten Kulturzusammenhän-gen stammen2, schienen ein geeignetes Mittel, um eine auf Res-pekt und Vertrauen entwickelte Sammlung von Geschichten zu ermitteln. Diese sollte wiederum der Grundstein für die Theater-arbeit sein. Nach gezielter Vorbereitung (genaue Recherche über u.a. Phänomene der Migration) wurde das Ziel, eine ö�entliche Präsentation aus den über die Interviews erforschten Materialien zu erarbeiten, umrissen. Signi�kantes Merkmal der ethnogra�-schen Feldforschung ist, dass Interviews nicht nur als Methode der Datenerhebung gesehen werden, sondern auch als ‚sich in Bezie-hung zum Feld setzen‘ verstanden werden. Diese Forschung war diesbezüglich ungewöhnlich, es gab For-

scherInnen und Feld auf beiden Seiten, es gab eine gegenseitige Erforschung dieser alten Menschen unterschiedlicher Herkunft. Aufgrund des kollektiven Theateransatzes des Theaters der Er-fahrungen3 kam eine ethnogra�sche Arbeit, die von einem/einer InterviewerIn ausgeht, der/die selbst als Person außerhalb jegli-cher eigener Befragung steht, nicht in Frage. Die Erstellung einer sich aus Erfahrungen gespeisten Geschichtensammlung - mögli-che Grundlage für eine gemeinsame Narration auf der Bühne – konnte nur von den deutsch-deutschen und türkisch-deutschen älteren Menschen selbst und in Gegenseitigkeit gemacht werden. Nur so konnte eine Annäherung statt�nden, sich Vertrauen ent-wickeln und letztlich eine Produktion erarbeitet werden, die von allen gleichermaßen vertreten werden konnte. Wir gestalteten ein Setting, in dem immer drei bis vier, manch-

mal auch nur zwei TeilnehmerInnen verschiedener Herkunft zusam-

Abstract / Das Wichtigste in Kürze Der Beitrag fußt auf einem semiotischen Kulturverständnis. Im interdisziplinären Fokus wird das ethnogra�sche Interview als Methode der Sozialen Kulturarbeit im Kontext von interkulturellem Theater vorgestellt. Im Setting spielt der dialogische Prozess eine große Rolle. Kultur scha�t Anlässe. Anlass zur Kontaktaufnahme, zu Diskussion, zu Annäherung - im internationalen und transkulturellen Kontext.

Keywords / Stichworte Kulturarbeit im Kontext des demographischen Wandels, transnationaler Kulturaustausch, Migration, Transkulturalität, Altentheater, deutsch-türkisches Theater, Migration

Johanna Kaiser *1960

Professorin für sozi-ale Kulturarbeit mit Schwerpunkt Thea-ter an der Alice Salo-mon Hochschule Berlin. Mit Eva Bittner Leiterin und Gründerin des The-aters der Erfahrungen.

[email protected]

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Sozial Extra 11|12 2013: 27-30 DOI 10.1007/s12054-013-1087-x

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mensaßen und sich über Wochen beispielsweise zu folgenden Fra-gen gegenseitig interviewten4: „Kannst Du Dich an Deine Schulzeit erinnern?“ „Gab es etwas, was für Dich sehr entscheidend gewesen ist? Ein Lehrer, die Wahl der Schule, ein Mitglied aus deiner Fami-lie?“ „Wenn du an Dein Arbeitsleben zurückdenkst, welche Erleb-nisse sind Dir besonders im Gedächtnis haften geblieben?“ „Kannst du dich an deinen ersten Arbeitstag erinnern?“5

Dabei spielte die theoretische Grundannahme der Spielleitung, dass die TeilnehmerInnen trotz unterschiedlicher Ursprungsländer ähn-liche Erfahrungsprozesse durchlebt haben, eine wesentliche Rolle. Dem gesellschaftlichen Diskurs, in dem Di�erenzerfahrung und die Problematisierung von Migrationsbewegungen im Fokus standen, wurde ebenfalls sehr viel Bedeutung zugemessen. Hier wurde in der Erforschung bewusst nach gegenläu�gen Tendenzen gesucht, die auf eine gemeinsame Narration abzielte. Die Interpretation des gesam-melten Materials hatte im Gegensatz zu dem erklärenden Ansatz ei-nen höheren Stellenwert. Dies entspricht Cli�ord Geertz Vorstellun-gen, der die Feldforschungssituation mit einem literarischen Text ver-gleicht, der grundsätzlich eher interpretierbar statt erklärbar ist6.Entsprechend schlug die Spielleitung für die Interviews Themen vor,

die weniger auf Di�erenzerfahrungen abzielten, um der persönlichen Wahrnehmung der Beteiligten zunächst ‚einen anderen Raum‘ zu erö�-nen. Obwohl das Augenmerk aller Beteiligten zunächst zwar auch auf den unterschiedlichen kulturellen Kontext (Herkunftsländer) gerichtet war, wurde dadurch versucht, die im Diskurs verwurzelte Grundan-nahme von Fremdheit zu unterlaufen oder zumindest abzuschwächen. Der Fokus auf Bühnenwirksamkeit bezüglich der künstlerischen

Umsetzung �el zunächst weg. Für die Mitglieder des Altentheaters wurde dies zunächst als Bruch in der Gruppenarbeit erlebt: „Wir reden ja nur, wir spielen gar nicht? Wie soll daraus ein Stück wer-den?“ Diese ‚Bewertung‘ änderte sich jedoch nach den ersten Pro-ben und es konnte eher ein Gefühl von Erleichterung beobachtet werden. Davon zeugen Äußerungen wie: „Endlich kann man mal reden, kann sich mal was fragen, hat mal Kontakt! Bei meinem tür-kischen Nachbarn hab ich mich nie getraut, einfach mal zu fragen…“ Unter imagologischen7 Gesichtspunkten könnte man die Reaktio-

nen auch als Bruch stereotyper Wahrnehmungen interpretieren. In dem künstlich hergestellten Raum, im Theaterprobenraum, weit ab von der Lebenswelt der einzelnen, begann man einen klar um-grenzten Austausch, konnte Fragen stellen, zuhören, reden… – und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Davon zeugen Bemerkun-gen wie: „Die haben die Kinder wegen der Arbeit in Deutschland bei Verwandten gelassen, wir mussten zu Verwandten, wegen der Bomben in Berlin – manches ist ja wirklich irgendwie ähnlich…“Die deutsch-türkischen TeilnehmerInnen genossen es sichtlich, nicht

ausschließlich als ExpertInnen von Migration zu fungieren, sondern sich über allgemeinere Themen auszutauschen sowie sehr viel über Binnenmigration von ihren KollegInnen in Deutschland zu erfahren.

Geschichten, die den Weg zur Bühne fandenIm Anschluss an die Partnerinterviews konnten die TeilnehmerInnen

einzelne Ergebnisse auswählen und der gesamten Gruppe vorstellen.

Ähnlichkeiten sowie Di�erenzen schlugen sich in dieser Auswahl nieder, die zur Grundlage der Theaterproduktion wurde. Dazu ein Beispiel: M. musste bei ihrem Opa darum kämpfen, als Mädchen auf dem Lande in der Türkei in die Schule geschickt zu werden. Ihr Bruder, kleiner und wesentlich verspielter als sie, wurde eingeschult, bekam vom Opa mit dem Tage der Einschulung Taschengeld, ein Heft, ein Buch und einen Stift geschenkt. M. konnte nur aufgrund einer geheimen Abmachung mit ihrer Mutter die Schule besuchen, teilte sich - ebenfalls vor dem Opa verborgen - das Heft und den Stift mit ihrem Bruder und half dem wenig interessierten kleinem Jungen bei seinen schulischen P�ichten. In der weiteren gegenseitigen Befragung erfuhren wir von E. aus

Berlin, dass er, durch den Krieg verwaist, von dem Onkel in ein Internat geschickt wurde, um dort das Abitur zu machen. Seine Schwester, die sehr gute schulische Leistungen zeigte und sehr wissbegierig gewesen sei, durfte keine weitere Schule besuchen. Sie musste eine Lehre bei einer strengen Schneiderin antreten. Die Geschwister waren in ihrer Lage äußerst unglücklich und fühlten sich jeweils in ihrer Situation überfordert.Während in der ethnogra�schen Forschung das systematische

Anlegen und Ausarbeiten von Feldnotizen für die Auswertung der Datenerhebung folgt, schloss sich in der Theaterarbeit die weite-re Auswertung unter dramaturgischen Gesichtspunkten an. Die-se und andere Geschichten waren die Basis für die weitere The-aterarbeit, die auf eine verdichtete Umsetzung der persönlichen Erfahrungen abzielte. In einer Parallelmontage dramaturgisch be-arbeitet, wurden die entsprechenden Aspekte eingefangen. „Allet janz anders, aber soo anders nu oooch wieder nicht“, hieß das Er-gebnis und wird bis heute in Berlin und bundesweit gezeigt. Aus-landsgastspielen in Griechenland, Polen, der Schweiz und Frank-reich folgten teilweise interessante Diskussionen, in denen unter-schiedlichste Migrationserfahrungen ausgetauscht wurden. Die türkisch-deutsche Konstellation der Gruppe, eigentlich als tem-poräres Modell gedacht, hält bis heute an und transkulturelle The-aterarbeit setzt sich hier mit weiteren Produktionen fort8.Ethnogra�sche Interviews als Basis für transkulturelle Theater-

arbeit kann in diesem Fall als Erfolgsmodell bewertet werden. Sie schufen in der Gruppe eine Atmosphäre der respektvollen Aufmerk-samkeit, vorsichtiger Neugier und nicht selten großer Empathie.

Ethnografische Interviews im transkulturellen und intergenerativen Kontext Mit Mitteln des DAAD wurde ein Projekt an der Alice-Salomon-

Hochschule initiiert, das zum Ziel hatte, u.a. Studierende mit Mi-grationshintergrund speziell zu fördern9. In diesem Zusammen-hang entstand die Idee, Studierende mit Migrationshintergrund für eine ethnogra�sche Forschung zu gewinnen, die einerseits die Rolle des Theaters im Kontext von (Post-) Migration thematisiert, andererseits aber auch innerhalb dieser Arbeit Möglichkeiten für die Studierenden selbst bietet, eigene Ressourcen zu erleben oder neu zu entdecken. Im Rahmen des Seminars ‚Kultur Ästhetik Me-dien‘ konnte eine kleine Gruppe türkisch- und kurdischsprachiger Studierender zu dieser speziellen Studienarbeit gewonnen werden.

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Ethnografische Interviews von Studierenden mit den SpielerInen der „Bunten Zellen“ 2012 hatte die mittlerweile in „Bunte Zellen“ umbenannte Thea-

tergruppe in sechs Jahren viele Erfahrungen sammeln können. The-aterarbeit im Sinne von Körperübungen, Dialoggestaltung oder Bühnenpräsenz war mittlerweile kein unbekanntes Terrain mehr und das anfängliche Staunen über die vielen Gemeinsamkeiten ge-hörte der Vergangenheit an. Der Gruppenprozess hatte schon di-verse Höhen und Tiefen erlebt, transkulturelles Aushandeln gehör-te zum Programm. Das verlief nicht immer reibungslos – der ‚ganz normale Wahnsinn‘ einer äußerst lebhaften Theatergruppe setzte ein, ein interessantes Forschungsfeld für die Studierenden.Folgende Fragen wurden den deutsch-türkischen SpielerInnen

u.a. gestellt: Welche Bedeutung hat das Theaterspiel für Dich? Welchen Stellenwert hat das Gruppenleben? Wie siehst du dich in dieser Gruppe? Was bringt den türkisch-deutschen SpielerInnen das Spiel in der Theatergruppe?10 Und was bringt diese neue Kon-stellation den deutsch-deutschen SpielerInnen? Hat sich durch die Veränderung etwas Neues ergeben und wenn ja, was ist es? Wie schlägt sich die Veränderung auf die Theaterarbeit, Theaterform, Themenwahl nieder, wie beein�usst sie die Au�ührungspraxis, das Gruppenleben und das eigene Erleben in der Mitarbeit in der Gruppe? Oder bleibt es ohne wesentliche Auswirkungen?11 Für diese ethnogra�sche Befragung der Studierenden mit SpielerIn-nen der Altentheatergruppe bot ein Gastspiel in die Türkei nach Bademler eine mögliche Erweiterung oder Vertiefung der Frage nach Bedeutung von Theater für Laien im Kontext von Migration.

Ethnografische Interviews mit TheaterspielerInnen aus dem Dorf Bademler12

Das Dorftheater in Bademler hat seinen Anfang in den 20er Jah-ren, als ein Lehrer begann, mit der ‚aufsässigen‘ Dorfjugend Thea-ter zu machen. Die Eltern mischten sich ein, auch sie wollten auf die Bühne! „Wir sind nicht lange zur Schule gegangen damals“, berich-tet ein alter Mann. „Wir lebten von der Hacke, von harter Arbeit. Aber da haben wir uns gedacht, wo können wir noch ein bisschen weiter lernen? Am besten im Theater!“ Von nun an gab es jährlich Premieren, das halbe Dorf beschäftigte sich mit Rollenarbeit, Stü-cke schreiben, Plakate malen, Kostüme nähen, die Faszination zu dem Medium wuchs von Jahr zu Jahr, ein richtiges Theater musste her. Und sie bauten es sich – bis auf das Dach. Ein Sponsor aus dem Nachbardorf half aus – und dann war auch das gescha�t. Mittlerweile organisiert das Dorf den nationalen Amateurtheater-

tag mit einem jährlichen Theatertre�en in Bademler, das nationale Jugendtheatertre�en �ndet in Bademler statt, es gibt Autoren, die extra für dieses Dorf ein Stück schreiben. Es gibt einen Kulturver-ein, der über Nachwuchsmangel nicht zu klagen hat und es spielen u.a. mittlerweile viele ehemalige ‚GastarbeiterInnen‘ aus Deutsch-land. Letztere Gruppe ist gefragt, an der ethnogra�schen Erfor-schung teilzunehmen, die die im Vorfeld benannten Studierenden der Alice Salomon Hochschule mit Gruppenmitgliedern der Bun-ten Zellen begonnen hatten und hier in Bademler mit �lmischen

Mitteln weiter fortführten. Das Gastspiel der Bunten Zellen bilde-te den Abschluss und Höhepunkt der fünftägigen Forschungsreise.Die Forschungsarbeit mit den Studierenden vor Ort wurde mit

entsprechendem Fragenkatalog vorbereitet, das Ziel der Reise war eine intensive �lmische Auseinandersetzung mit den Auswirkun-gen von Migration in den Biogra�en der Menschen sowie mit der Rolle des ausschließlich ehrenamtlich aufgebauten Theaters für die einzelnen. Dazu wurden u.a. folgende Fragen formuliert: Welche Bedeutung hat das Theaterspiel für Sie? Welche Rolle spielt das Theater im Kontext Ihrer Migration? Hat sich die Bedeutung des Theaters im Laufe der letzten Jahrzehnte im Dorf verändert? In-wieweit ist das Theater von der Migration betro�en? Die türkisch- und kurdischsprachigen Studierenden waren ge-

fragt, ihre Kompetenzen in den Interviews mit der theaterspielen-den Dorfbevölkerung in Bademler einzusetzen. In der ethnogra�-schen Forschung ist die De�nition der eigenen Rolle in Auseinan-dersetzung ‚mit dem Feld‘ äußerst wichtig. Die Studierenden als Angehörige der sogenannten ‚dritten Generation‘ waren als For-scherInnen in besonderer Weise involviert. Neben den Sprach-kenntnissen und den (inter-) kulturellen Kompetenzen liegen eige-ne Familiengeschichten thematisch sehr eng an denen der Befrag-ten. Die Kenntnis darüber spielt auch bei den Interviewten eine Rolle. Beides müsste gesondert untersucht werden.Mit der Kamera ausgerüstet, brauchten die Studierenden nicht

lange zu warten: Neugierig und o�en, aufgeschlossen und interes-siert gingen die Menschen auf der Straße oder im Café auf sie zu, voller Stolz präsentierten der Bürgermeister und der Theaterver-ein die Besonderheit dieses Dorfes und dessen Theatergeschichte.

Beobachtungen und TendenzenDie Auswertung der Interviews in beiden Forschungsfeldern

steckt noch in den Kinderschuhen, doch einzelne Tendenzen sol-len hier verkürzt zusammengefasst dargestellt werden. Bei allen interviewten TeilnehmerInnen der Bunten Zellen zeichnet sich ab, dass die seit 2006 begonnene neue deutsch-türkische Kons-tellation eine Mischung ist, die die Mitglieder erhalten möchten. Die Veränderungen im Gruppenleben wurden sehr di�erenziert beschrieben, wobei au�ällig häu�g Worte wie ‚Freunde‘, ‚neue Freunde‘, ‚warme Gefühle‘ �elen. Dies fällt auf, da in den bishe-rigen Re�ektionen der Altentheatergruppen, die mittlerweile im

Johanna Kaiser: Allet janz anders

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Theater der Erfahrungen seit Jahrzehnten in Presseberichten oder �lmischen Dokumentationen entstanden sind, das Wort ‚Freund-schaft‘ so gut wie nie vorkommt. Meist wird im Gegenteil von den Betro�enen darauf Wert gelegt, dass zwischen den TeilnehmerIn-nen eher eine Art ‚Arbeitsverhältnis‘ innerhalb der Gruppen be-steht, denn es sollen gute Ergebnisse auf der Bühne erzielt werden.Das Phänomen der Bereicherung durch verschiedene Sprachen, Mu-

sikstile, Instrumente, Themen, Perspektiven wird ebenfalls von allen TeilnehmerInnen genannt, wobei der zwischenmenschliche Aspekt auch hier immer wieder in den Vordergrund gerückt wird. Es scheint, als ob es insgesamt als ‚seltene Gelegenheit‘ eingeschätzt wird, sich in deutsch-türkischer Verbindung so nahe kommen zu können, wie das durch die wöchentliche Probenarbeit, die Tournee-Erfahrungen und Auftrittspraxis mit anschließendem Ka�ee und Kuchen hier der Fall ist.In Bademler �el auf, dass der Bezug zwischen Theater und Raum

(Dorf) sehr wesentlich zu sein scheint. Der Stolz, mit eigener Kraft und wenig Unterstützung dieses Theater aufgebaut zu haben, ist of-fensichtlich. Entsprechend macht es den Eindruck, dass das Thea-terleben ein großer Bestandteil des Dor�ebens ist: Viele Menschen arbeiten mit, Vereine gruppieren sich um das Theater herum, hand-werkliche Unterstützung und künstlerische Mitarbeit bringt die Leute in Kontakt. Daneben ist es ein wesentlicher Bezugspunkt für Menschen, die lange in Deutschland gelebt haben: „Als ich nach 39 Jahren zurückkam, habe ich sofort wieder ein Stück inszeniert.“ Dies kann als Anknüpfungspunkt interpretiert werden, als eine Möglichkeit, wieder in der Gemeinschaft mitwirken zu können.Die ethnogra�sche Befragung durch die Studierenden wirkte außer-

gewöhnlich engagiert und empathisch. Es hatte den Anschein, dass Bezüge zu eigenen Biogra�en, denen der Eltern und Großeltern her-gestellt wurden. Dies betraf die Interviews mit den SpielerInnen der „Bunten Zellen“ ebenso wie die mit den DorfbewohnerInnen. Die Vermutung liegt nahe, dass auch bei StudentInnen der Sozialen Arbeit mit Migrationshintergrund die Migration als solche problembelastet konnotiert wahrgenommen wird. Kreativität, Theater, künstlerische und persönliche Entwicklung von älteren Menschen im Kontext von Migration rief vermehrt starke Anerkennung hervor. Neben dem Namen des Verstorbenen �ndet sich teilweise der Na-

me der Lieblingsrolle auf dem Grabstein auf dem Friedhof in Ba-demler. Leben und Sterben fürs Theater?

Ethnografische Interviews als Grundlage einer transnationalen Theaterproduktion Das Mittel der gegenseitigen ethnogra�schen Interviews war den Mit-

gliedern der Bunten Zellen aus den Anfängen ihrer Theaterarbeit be-kannt. In Bademler gri�en sie o�ensichtlich gerne darauf zurück. Die StudentInnen waren ihnen aus den Interviews ebenfalls vertraut. So kam es zu folgender Situation: Clemens von den Berliner Bunten Zel-len ließ sich mit Hassan, dem ehemaligen Bürgermeister von Badem-ler, mitten auf der Bühne auf einem Sofa nieder. Bei laufender Kamera versuchte Hassan, Clemens die Bedeutung des Theaters für das Dorf und für ihn persönlich zu beschreiben. Auch er war einige Jahre in Deutschland gewesen, sprach jedoch zunächst türkisch, eine Studentin

übersetzte. Plötzlich begann Hassan nach deutschen Worten zu suchen, denn er wollte seinen Gesprächspartner nun direkt ansprechen, um ihm sichtlich bewegt zu sagen: „Theater, Theater – einfach wunderbar!“ Eine transnationale Begegnung, die alles über die Bedeutung des

Theaters in diesem Kontext aussagt. So entstand der Wunsch, einen gemeinsamen Theaterworkshop über die Erfahrungen mit Migra-tion zu machen – gemeinsam mit deutsch-deutschen und deutsch-türkischen älteren Menschen aus Berlin und Bademler. Ethnogra-�sche Interviews würden dann wieder die Ausgangsbasis werden.

∑1. Vgl. Kaiser (2004)

2. Analog zum interpretatorischen Ansatz nach Gli�ord Geertz, siehe auch http://www.uni-vie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-47.html

3. Die Stücke werden in der Regel über Improvisation gemeinsam erarbeitet, der dramatur-gische Faden sowie die Regie erfolgt eher arbeitsteilig und werden stärker von der theaterpä-dagogischen Leitung übernommen. Vgl. Bittner/Kaiser (1996)

4. Hierbei sind die Übergänge zu biogra�schen und narrativen Interviews �ießend, per De-�nition kaum abzugrenzen.

5. Weitere Fragen verhandelten die Themen Liebe, Trennung, Abschied.

6. Vgl. Geertz (1997, 2003)

7. Vgl. Egger (2002)

8. Mittlerweile reist die Gruppe mit vier Produktionen durch die Lande. Weitere Infos: www.theater-der-erfahrungen.de

9. Co-operation matters, 2010-2013, vgl. Kaiser (2012)

10. Die Fragen stellen sich den deutschen SpielerInnen ebenso wie den türkischen, allerdings mit dem Unterschied, dass die deutschen SpielerInnen sich das Theater der Erfahrungen selbst nach ihrer Berentung gesucht hatten, während die türkischsprachigen Älteren umge-kehrt vom Theater gesucht und eingeladen wurden.

11. Hierbei handelt es sich um eine Auswahl von Fragen aus dem Katalog der Studierenden der Alice Salomon Hochschule.

12. Nähe Izmir, weitere Informationen s. englischsprachigen „Hürriyet“-Beitrag: http://ti-nyurl.com/bgst24d

Literatur

BITTNER, EVA/KAISER, JOHANNA (1996). Graue Stars. Freiburg: Lambertus.

DYSERINCK, HUGO (1966). Zum Problem der „images“ und „mirages“ und ihrer Untersuchung im Rahmen der Vergleichenden Literaturwissenschaft. In: arcadia. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft 1.

EGGER, SABINE (2002). „Komparatistische Imagologie“ im interkulturellen Literaturunterricht. http://www.spz.tu-darmstadt.de/projekt_ejournal/jg_06_3/beitrag/imagologie.htm

GEERTZ, CLIFFORD (1983,2003). „Dichte Beschreibung“. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Mai: Suhrkamp.

GEERTZ, CLIFFORD (1997). Spurenlesen Der Ethnologe und das Entgleiten der Fakten, München: C.H. Beck.

KAISER, JOHANNA (2013). Transnationaler Kulturaustausch Berlin-Bademler In: Alice - Hochschulzeitschrift der ASH. Heft Sommersemester (S. 37-39)

KAISER, JOHANNA (2012). Studentische Ressourcen im transkulturellen Kontext. In: Alice- Hochschulzeitschrift der ASH. Heft 24 (S.27-30)

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