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1 Dieses Themenheft wird gefördert durch das Niedersächsische Ministerium für Sozi- ales, Gesundheit und Gleichstellung Themenheft 3/2018 Gelungener Einstieg in den Arbeitsmarkt Kompetenzen – Bewerbung – Anforderungen Inhalt 1. Einleitung 1 2. Ausbildungsmarkt gestal- ten, Chancen ermöglichen – Interview mit Harald Schomburg 3 3. Achtung Kompetenz! Martin Koch 8 4. Manchmal irren wir uns, wenn wir glauben, andere hätten keine Ziele Maurice Mwizerwa/ Florian Steenken 18 5. Zugewinne für Jugendli- che durch Reflexion im Bewerbungsprozess Frank Elster 24 BEST PRACTICE 6. Bewerbung? Hab ich schon! PACE Cloppen- burg, Christiane Hüls 32 7. In Dir steckt mehr, als du denkst! SINA Hannover, Kerstin Hitzemann 35 8. Potenzial Assessment Center JuWe Gifhorn, Daniela Schilling 39 9. Bewerbung – kein Plan? JuWe Leewerk Wisa, Leer, Sarah Löffel 46 10. Links und Empfehlun- gen 49 Impressum 50 1. Einleitung Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen, liebe Leser, zur Lösung alltäglicher Aufgaben werden üblicherweise Rou- tinen entwickelt, die eine gute, schnelle Bewältigung dieser Angelegenheiten ermöglichen. In der Jugendberufshilfe wer- den solche Routinen häufig durch Anforderungen in individu- ellen Lebenslagen oder durch daraus resultierenden Schwie- rigkeiten in Ämtern oder Betrieben verunmöglicht. Bei den vielfältigen Herausforderungen, die an die Fachkräfte der Jugendberufshilfe gestellt werden, braucht es einen inneren Kompass, der bei der Aufgabenbewältigung hilft und zur Un- terstützung der Jugendlichen befähigt. So soll dieses Heft Anregungen bieten, um den eigenen Kompass zu überden- ken und zu erweitern. Zusätzlich müssen neue Anforderungen beachtet werden, die dem politischen und gesellschaftlichen Wandel unterworfen sind. So gibt es neben dem Aspekt der Digitalisierung weitere hoch aktuelle Faktoren, wie den Fachkräftemangel und den Bildungs- und Teilhabemöglichkeiten von Geflüchteten, die bei der Schaffung von Ausbildungs- und Beschäftigungs- chancen für junge benachteiligte Menschen eine Rolle spie- len. Gleichzeitig sind Akteur/innen, die an den Diskursen zu den benannten Themen beteiligt sind, dazu aufgerufen, ihre Grundüberlegungen zu überprüfen: Was bedeutet heute der Begriff Kompetenz? Welche Auswirkungen hat dies auf mög- liche Teilhabechancen derer, die als wenig kompetent gelten? Was kann zu einer Verände- rung dieser Auswirkungen beitragen? Und wie können wir junge Menschen darin konstruktiv unterstützen, sich mit diesen äußeren Bedingungen zu arrangieren? Neben der praxisnahen Begegnung einiger Aspekte dieses Katalogs von Randbedingungen, steht in diesem Heft auch der Austausch über positive Erfahrungen im Mittelpunkt, der wie üblich in Form von Best-Practice-Artikeln gefördert werden soll. Im Weiteren lassen sich fol- gende Inhalte erwarten: Zum Einstieg werden in Form eines Interviews die Handlungsmöglichkeiten von Unterneh- men zur Förderung des Ausbildungsmarktes beleuchtet. Im Vordergrund steht dabei der diesbezügliche Dialog mit der Jugendsozialarbeit. Der Interviewte, Harald Schomburg, arbei- tet freiberuflich als Coach für Führungskräfte und für Arbeitssuchende.

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1 Dieses Themenheft wird gefördert durch das Niedersächsische Ministerium für Sozi-ales, Gesundheit und Gleichstellung

Themenheft 3/2018 Gelungener Einstieg in den Arbeitsmarkt Kompetenzen – Bewerbung – Anforderungen

Inhalt 1. Einleitung 1 2. Ausbildungsmarkt gestal-ten, Chancen ermöglichen – Interview mit Harald Schomburg 3 3. Achtung Kompetenz! Martin Koch 8 4. Manchmal irren wir uns, wenn wir glauben, andere hätten keine Ziele Maurice Mwizerwa/ Florian Steenken 18 5. Zugewinne für Jugendli-che durch Reflexion im Bewerbungsprozess Frank Elster 24 BEST PRACTICE 6. Bewerbung? Hab ich schon! PACE Cloppen-burg, Christiane Hüls 32 7. In Dir steckt mehr, als du denkst! SINA Hannover, Kerstin Hitzemann 35 8. Potenzial Assessment Center JuWe Gifhorn, Daniela Schilling 39 9. Bewerbung – kein Plan? JuWe Leewerk Wisa, Leer, Sarah Löffel 46 10. Links und Empfehlun- gen 49 Impressum 50

1. Einleitung Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen, liebe Leser, zur Lösung alltäglicher Aufgaben werden üblicherweise Rou-tinen entwickelt, die eine gute, schnelle Bewältigung dieser Angelegenheiten ermöglichen. In der Jugendberufshilfe wer-den solche Routinen häufig durch Anforderungen in individu-ellen Lebenslagen oder durch daraus resultierenden Schwie-rigkeiten in Ämtern oder Betrieben verunmöglicht. Bei den vielfältigen Herausforderungen, die an die Fachkräfte der Jugendberufshilfe gestellt werden, braucht es einen inneren Kompass, der bei der Aufgabenbewältigung hilft und zur Un-terstützung der Jugendlichen befähigt. So soll dieses Heft Anregungen bieten, um den eigenen Kompass zu überden-ken und zu erweitern. Zusätzlich müssen neue Anforderungen beachtet werden, die dem politischen und gesellschaftlichen Wandel unterworfen sind. So gibt es neben dem Aspekt der Digitalisierung weitere hoch aktuelle Faktoren, wie den Fachkräftemangel und den Bildungs- und Teilhabemöglichkeiten von Geflüchteten, die bei der Schaffung von Ausbildungs- und Beschäftigungs-chancen für junge benachteiligte Menschen eine Rolle spie-len. Gleichzeitig sind Akteur/innen, die an den Diskursen zu den benannten Themen beteiligt sind, dazu aufgerufen, ihre Grundüberlegungen zu überprüfen: Was bedeutet heute der Begriff Kompetenz? Welche Auswirkungen hat dies auf mög-liche Teilhabechancen derer, die als wenig kompetent gelten? Was kann zu einer Verände-rung dieser Auswirkungen beitragen? Und wie können wir junge Menschen darin konstruktiv unterstützen, sich mit diesen äußeren Bedingungen zu arrangieren? Neben der praxisnahen Begegnung einiger Aspekte dieses Katalogs von Randbedingungen, steht in diesem Heft auch der Austausch über positive Erfahrungen im Mittelpunkt, der wie üblich in Form von Best-Practice-Artikeln gefördert werden soll. Im Weiteren lassen sich fol-gende Inhalte erwarten: Zum Einstieg werden in Form eines Interviews die Handlungsmöglichkeiten von Unterneh-men zur Förderung des Ausbildungsmarktes beleuchtet. Im Vordergrund steht dabei der diesbezügliche Dialog mit der Jugendsozialarbeit. Der Interviewte, Harald Schomburg, arbei-tet freiberuflich als Coach für Führungskräfte und für Arbeitssuchende.

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Themenheft 3/2018 Gelungener Einstieg in den Arbeitsmarkt Kompetenzen – Bewerbung – Anforderungen

Martin Koch von der Universität Hannover erläutert in seinem Essay ergänzend den Kompe-tenzbegriff und den sozialen Rahmen, in dem dieser genutzt wird. Dabei gibt der Autor Ori-entierung, was zur erfolgreichen Anwendung von Kompetenzfeststellung reflektiert werden sollte. Der Flüchtlingssozialarbeiter Maurice Mwizerwa gibt zusammen mit Florian Steenken einen sehr persönlichen Einblick darin, was für Widrigkeiten und Möglichkeiten zur Selbstmotivati-on insbesondere für junge Arbeitsmarkteinsteiger/innen mit Fluchthintergrund bestehen und wie diese von der Fachstelle Zukunft in Niedersachsen gefördert werden. Prof. Frank Elster, Vorsitzender der BAG ÖRT, beschäftigt sich schließlich mit der sozialen Anerkennung von Jugendlichen. Er zeigt diese als Grundlage von Persönlichkeits- und Inte-ressenbildung auf, ohne die ein Zugang zum Arbeitsmarkt kaum denkbar ist. Möglichkeiten der fördernden Begleitung in dieser persönlichen Entwicklung werden ebenfalls skizziert. Die hervorstechende Rolle, die Bewerbungsprozesse in den Jugendwerkstätten und Pro-Aktiv-Centren spielen, spiegeln sich ebenso wie die Vielzahl der Wege zum Erfolg in den Best Practice Artikeln wider. Christiane Hüls vom PACE Cloppenburg schildert, wie Jugendli-chen in ihrer Einrichtung zu einem Bewusstsein über ihre persönlichen Stärken verholfen wird. Wie wichtig es ist, Jugendlichen Zeit für persönliche Entwicklung zu geben, um eigene Stärken ausleben zu können, zeigt Kerstin Hitzemann von der Jugendwerkstatt SINA in Hannover. Heinz Friedel und Daniela Schilling von der Jugendwerkstatt Gifhorn stellt das dort entwickelte Potenzial Assessment Center und dessen lange Erfolgs- und Herausforde-rungsgeschichte vor. Simone Düfer von der Jugendwerkstatt Holzwurm in Helmstedt gibt einen Überblick, mit welchen Mitteln die Jugendlichen bei der Aufwertung ihrer Bewerbungs-unterlagen unterstützt werden. Einen breiten Überblick über Schwierigkeiten und Möglichkei-ten zum Umgang damit, die die Arbeit in der Jugendwerkstatt Leewerk Wisa kennzeichnen, geben Sarah Löffel und Heike Leemhuis-Lübsen. Am Ende dieser Ausgabe finden Sie hilfreiche Links und Empfehlungen zu den Themen Ausbildungsmarkt, Übergang Schule – Beruf und Jugendberufshilfe. Wir hoffen, dass Sie einige Aspekte für sich und Ihre Arbeit aus diesem Themenheft nutzen können und wün-schen Ihnen aufschlussreiche Anregungen beim Lesen. Das Referat Pro-Aktiv-Centren und Jugendwerkstätten der LAG JAW dankt allen Autorinnen und Autoren herzlich für ihre Beiträge.

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2. Ausbildungsmarkt gestalten, Chancen ermögli-chen – Ein Interview mit Harald Schomburg Harald Schomburg ist als Lehrer für Mathematik und Physik seit fast 35 Jahren in der Wirtschaft tätig: Zuerst als Ausbil-der/Trainer im Bankenbereich und dann als Trainer und Bera-ter für Führungskräfte in deutschen und europäischen Unter-nehmen. Seit ca. 5 Jahren berät er auch Arbeitssuchende im Bewer-bungsprozess bei der Euro Schulen Hannover GmbH Das Interview mit Harald Schomburg führte Florian Steenken (LAG JAW). Steenken: Worauf wird seitens der Betriebe bei der Auswahl zukünftiger Auszubildender Wert gelegt? Gibt es bestimmte Lernbedarfe die häufig bei jungen Auszubildenden vor oder nach Beginn der Ausbildung bemängelt werden? Schomburg: Unternehmen haben allein aufgrund ihrer unterschiedlichen Größen voneinan-der abweichende Ansprüche. Dazu kommen noch andere Faktoren, auf die ich später zu sprechen komme, die ebenso eine pauschale Antwort schwierig machen. Was man aber sieht, ist, dass Betriebe hinsichtlich der Schulausbildung ihrer Auszubildenden und Bewer-ber/innen immer wieder Mängel feststellen. Diese kommen z.B. im kaufmännischen Bereich anders zur Geltung, als im handwerklichen Bereich. Während im Verkauf gute Deutsch-kenntnisse erforderlich sind, sind es in der Tischlerei die mathematischen Kenntnisse oder das fehlende handwerkliche Geschick, das von Betrieben bemängelt wird. Laut einer Umfrage der Deutschen Industrie- und Handwerkskammer vom August 2014 kriti-sieren insgesamt 48 % aller Ausbildungsbetriebe fehlende Mathematikkenntnisse bei ihren Auszubildenden. Bezüglich der Deutschkenntnisse sind es 56 %. Ebenso in der Kritik steht die fehlende Einsatzbereitschaft (32 %). Auch höre ich häufiger von Unternehmen, dass der Umgang und das Verhalten der Jugendlichen im Arbeitsalltag zu verbessern ist. Hier geht es besonders um die Thematik „Teamverhalten“. Welche Ansprüche die Unternehmen an den Nachwuchs zu Recht stellen und welche davon überzogen sind, kann hinterfragt werden. Steenken: Wie unterscheiden sich gerechtfertigte Ansprüche der Unternehmen von Überzo-genen? Schomburg: Sicherlich sind Forderungen nach Deutsch- und Mathematikkenntnissen ge-rechtfertigte Ansprüche. Auf der anderen Seite sollten Unternehmen bzw. deren Führungs-kräfte und Ausbilder/innen bezüglich ihrer Erwartungen an Verhalten und Einsatzbereitschaft die Messlatte bei Auszubildenden nicht so hoch anlegen, wie bei festangestellten Mitarbei-ter/innen. Es heißt ja „Ausbildung“, weil neben der Vermittlung von Fachkenntnissen und –fertigkeiten dort genau solche Softskills wie auch innere Einstellungen trainiert und geübt werden. Außerdem kann man Rahmenbedingungen im Unternehmen schaffen, die die Ei-genmotivation der Azubis steigern. Zum Beispiel durch interessante Aufgaben, positive Un-terstützung durch Lob und Anerkennung sowie durch ein gewisses Maß an Eigenverantwor-

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Themenheft 3/2018 Gelungener Einstieg in den Arbeitsmarkt Kompetenzen – Bewerbung – Anforderungen

tung. Gerade bei weniger beliebten Aufgaben, wie dem Halle fegen, helfen sachliche Erklä-rungen für dessen Notwendigkeit in Verbindung mit einem Lob weiter. Steenken: Ein beachtlicher Teil der von Ihnen vorgestellten Kritik seitens der Unternehmen wendet sich gegen die Schule, die scheinbar zu wenige Fachkenntnisse vermittelt. Die Ver-mittlung handwerklichen Geschicks lässt sich aber nicht eindeutig als Aufgabe allgemeinbil-dender Schulen formulieren. Schomburg: Klar. Zum Handwerk braucht es auch eine gewisse Affinität. Diese zu entwi-ckeln und zu fördern, beispielsweise in dem sie ihr Kind dazu anregen Fahrräder oder kaput-te Spielsachen und Haushaltsgegenstände zu reparieren, ist auch Aufgabe der Eltern. Diese nehmen diese Aufgabe häufig nicht mehr wahr. Steenken: Das Lernen von sozialem Verhalten sowie von Belastbarkeit gehören ebenso zu den Entwicklungsaufgaben, bei denen neben Schule und Elternhaus auch weitere Ak-teur/innen zur Unterstützung und Begleitung von Jugendlichen angehalten sind. Schomburg: Natürlich. Diese Lernfelder eindeutig einer Institution zuzuschreiben halte ich für schwierig. Da können auch die Betriebe etwas machen. Ebenso kann im Vorfeld einer Ausbildung viel gemacht werden. Im Bereich Gastronomie und Hotelfach gibt es beispiels-weise hohe Abbrecher/innenquoten. Da ließen sich die Jugendlichen im Vorfeld sensibilisie-ren, was am Wochenende arbeiten und viele Überstunden machen bedeutet. Damit kommen schließlich nicht alle Menschen zurecht. Zur Klärung der Frage, ob sie diese Arbeitsbedin-gungen wollen, brauchen junge Menschen Gesprächspartner/innen, die ihnen Bedürfnisse und Fähigkeiten reflektieren helfen. Praktika, in denen sich die Jugendlichen ausprobieren können, sind ebenfalls ein bekanntes und gutes Lernfeld. Gleichzeitig ist der Umgangston am Arbeitsplatz Küche nicht so einfach. Da sind die Betriebe in der Verantwortung, ihr Betriebsklima zu gestalten – was analog auch für Unternehmen anderer Branchen gilt. Steenken: Bei der Entwicklung welchen Wissens oder Gespürs können Jugendliche unter-stützt werden, um Abbruchquoten in der Ausbildung zu minimieren? Schomburg: Auch hier möchte ich auf Praktika als Lernmöglichkeit verweisen. Zudem kön-nen Unternehmen parallel zur Ausbildung Schulungen bzw. Nachhilfe anbieten, um ihren Nachwuchs zu unterstützen. Hierfür können diese nach meinem Kenntnisstand durch die Bundesagentur für Arbeit finanzielle Unterstützung bekommen. Ebenfalls kann die Bunde-sagentur Dienstleistungen über Institute anbieten, die Jugendliche mit Firmen in Kontakt bringen. Hier lassen sich Vermittlungschancen und -erfolge deutlich erhöhen, da die Institute ein Matching persönlicher Stärken mit betrieblichen Anforderungen durchführen. Es ist durchaus möglich, dass viele Unternehmen von diesen Möglichkeiten nichts wissen. Große Unternehmen geben bereits Workshops, in denen Sie ihre Auszubildenden zum Thema sozialem Umgang im Arbeitsalltag schulen. Insbesondere kleine Unternehmen könn-ten hier profitieren, gerade bei diesen sinkt aber grundsätzlich die Ausbildungsbereitschaft. Ich verweise hier gerne auf die Studie „Entwicklung der Berufsausbildung in Klein- und Mit-telbetrieben“, die im Juli 2017 von der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht wurde (Anm. d. Red.: Die Studie findet sich unter „Links und Empfehlungen“).

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Themenheft 3/2018 Gelungener Einstieg in den Arbeitsmarkt Kompetenzen – Bewerbung – Anforderungen

Steenken: Wovon hängt die Ausbildungsbereitschaft eines Betriebes ab? Schomburg: Diese hängt sowohl von der Größe des Unternehmens ab, als auch von der Wettbewerbsfähigkeit bzw. dem wirtschaftlichen Erfolg der gerade in der Branche und im Unternehmen vorherrscht. Bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten wird zwar versucht, weiterhin den Ausbildungsbetrieb aufrechtzuerhalten. Spätestens aber wenn Mitarbeiter/innen entlas-sen werden müssen, wird es schwer zu argumentieren, weshalb finanzielle Einsparungen nicht den Nachwuchs und ihre Schulung betreffen, während Fachkräfte und langjährige Mit-arbeiter/innen ihre Arbeit verlieren. In größeren Unternehmen gibt es Ausbildungsabteilungen, deren Mitarbeiter/innen sich aus-schließlich um die Planung und Durchführung des Ausbildungsbetriebes kümmern. Diese Kräfte sind entsprechend für die Auszubildenden Ansprechpartner/innen, wenn diese Fragen oder Schwierigkeiten haben. Darüber hinaus können die Mitarbeiter/innen einer Ausbil-dungsabteilung auch die schulischen Leistungen ihrer Azubis im Blick haben und ggf. Unter-stützung anbieten. Daher findet sich in solchen Unternehmen entsprechendes pädagogi-sches Know-How. Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) beschäftigen zwar in vielen Fäl-len eine/n Meister/in, der/die mit der bestandenen Meister/innenprüfung i.d.R. eine Ausbil-der/inneneignungsprüfung erfolgreich absolviert hat. Dennoch können diese Betriebe keinen derartigen Aufwand für ihre Auszubildenden leisten, wie es in den großen Betrieben möglich ist. Dafür fehlen die zeitlichen und personellen Ressourcen – was ein Grund dafür sein kann, dass die Ausbildungsquote bei kleinen Betrieben stark zurückgegangen ist. Zeit ist hier ein weiterer großer Faktor, weil Azubis keine vollwertigen Arbeitskräfte sind und Betreuung brauchen, die zusätzlich zu den regulären Aufträgen bewältigt wird. Andererseits haben die ausbildenden Betriebe durch Investition dieser Zeit den Vorteil, dass sie ihren Nachwuchs bereits sicherstellen. Sie können die Kompetenz-, Fertigkeiten- und Wissensqualität zukünf-tiger Fachkräfte mitgestalten und ihnen die Weiterbeschäftigung bei ihnen schmackhaft ma-chen. Steenken: Laut eines Artikels in der Welt bietet jedes dritte Unternehmen in Deutschland Nachhilfe für seine Auszubildenden an. Jedes Vierte nutzt die ausbildungsbegleitenden Hil-fen der Arbeitsagentur, während etwa jedes zweite Unternehmen mangelnde Kenntnisse bei seinen Auszubildenden kritisiert. Wäre es denkbar, für die Nutzung der von Ihnen beschrie-benen Fördermöglichkeiten durch die Arbeitsagentur zu werben? Schomburg: Ja, sicherlich durch wiederholte Erinnerungen an diese Programme durch Un-ternehmerverbände, Kammern und der Agentur für Arbeit. Grundsätzlich halte ich das Appellieren an wirtschaftliche, wie auch staatliche oder anderwei-tige Akteur/innen für wichtig und richtig. Insbesondere gilt es hierbei die Bedürfnislagen der Jugendlichen aber auch der Unternehmen zu prüfen und Nachteile oder Kosten in beiden Fällen zu minimieren. Steenken: Benachteiligte Jugendliche scheinen im ersten Moment einen Mehraufwand für Ausbildungs- oder Praktikumsbetriebe zu bedeuten. Sehen Sie konkrete Möglichkeiten an Firmenleitungen, Personaler/innen und Ausbilder/innen zu appellieren, um diese Jugendli-chen in Ausbildung unterzubringen?

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Schomburg: Unabhängig von Benachteiligungen geht es aus Sicht der Betriebe grundsätz-lich darum, die Stärken des/der jeweiligen Jugendlichen herauszufinden. Diese zu fördern und diesen Menschen entsprechend einzusetzen. Da wie gesagt in den großen Unterneh-men das pädagogische Know-How zur Bewältigung dieser Aufgabe vorhanden ist, gibt es dort dahingehend wenig Schwierigkeiten. Problematisch wird es eher in den KMU. Dort wäre sicher denkbar, dass diese Betriebe im Sinne ihrer sozialen Verantwortung zu ihrer Aufgabe der Nachwuchsförderung herangezogen werden, gleichzeitig aber auch Unterstützung durch die Agentur für Arbeit bekommen können, damit diese Betriebe überhaupt die finanzielle und strukturelle Benachteiligung gegenüber den großen Betrieben ausgleichen können. Mir ist aber unklar, was in diese Richtung bereits seitens der Agentur, der KMU oder anderer Ak-teur/innen unternommen wird und inwiefern ein Ausbau entsprechender Maßnahmen konkret wünschenswert und vorstellbar ist. Ebenso ist auch Schule in der Verantwortung, Schulabgänger/innen allgemein einen kon-struktiven und produktiven Übergang in das Ausbildungs- bzw. Berufsleben zu ermöglichen. Neben dem Ziel, ihren Schüler/innen gute Noten und gute Abschlüsse zu ermöglichen, soll-ten Lehrer/innen auch aktiv Kontakt zu Firmen suchen, was ja an vielen Stellen bereits pas-siert. Gleichzeitig höre ich seitens der Ausbildungsunternehmen immer wieder, dass auch die begleitende Berufsschule nach überholten und nicht praxisrelevanten Konzepten arbeitet. Hier ist eine Reform nötig. Steenken: Sie haben angedeutet, dass neben der Größe des Betriebes auch andere Fakto-ren in dessen Ausbildungsbereitschaft hineinspielen. Gerade hinsichtlich des Faktors Wett-bewerb fällt es mir schwer zu glauben, dass die Förderung von Auszubildenden in den gro-ßen Betrieben auch benachteiligte Jugendliche einschließt. Bilden große Betriebe nicht lieber Jugendliche mit formal hohen Bildungsabschlüssen aus, da ihnen das größere Vorteile am Markt verspricht? Schomburg: Sicherlich freuen sich insbesondere die großen Unternehmen über kontinuier-lich hohe Absatzzahlen sowie auch über eingesparte Kosten, um nicht zuletzt international wettbewerbsfähig zu bleiben. Kreative und innovative Köpfe, die zudem basale Kompeten-zen und Verhaltensweisen bereits zu Beginn der Ausbildung mitbringen, erleichtern in die-sem Zuge die Nachwuchsförderung. Gleichzeitig betonen viele dieser Unternehmen ihre so-ziale Verantwortung und investieren entsprechend finanzielle Mittel – auch zur Förderung sozial benachteiligter Auszubildender. Wirtschaftlich sieht es in Deutschland gerade sehr gut aus. Gleichzeitig ist unsere Ökonomie mit einem Fachkräftemangel konfrontiert. Deshalb werden insbesondere vor dem Hinter-grund der aktuellen Flüchtlingssituation in den Unternehmen Überlegungen angestellt und umgesetzt: „Was können wir tun, um zukünftige Fachkräfte zu qualifizieren?“ So kommen zum Beispiel für qualifizierte Flüchtlinge Ausbildungsprogramme zustande, die parallel zur betrieblichen Ausbildung zusätzliche Deutschkurse beinhalten. Ähnliche Programme wären für andere Zielgruppen, wie sozial benachteiligte Jugendliche, genauso vorstellbar.

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Themenheft 3/2018 Gelungener Einstieg in den Arbeitsmarkt Kompetenzen – Bewerbung – Anforderungen

Steenken: Was brauchen kleine Betriebe, um benachteiligte Jugendliche ausbilden zu kön-nen? Schomburg: Was das A und O ist, ist die Analyse der Rahmenbedingungen des Betriebs. Mir ist unklar, ob solche Analysen in ausreichendem Maß gemacht werden. Sobald aber die Frage „Was hat der Betrieb für Rahmenbedingungen? Was kann er leisten und was braucht er?“ beantwortet ist, kann beispielsweise mit Jugendwerkstatt, Jugendberufs- oder Ar-beitsagentur gemeinsam an Lösungen gearbeitet werden, die alle Beteiligten zufrieden stel-len. Diese analytische Aufgabe trifft nicht ausschließlich das Wirtschaftsministerium. Die Fra-ge „Was braucht der/die andere?“ steht in jedem Dialog im Mittelpunkt. Wer dann aufeinan-der zugeht und miteinander spricht, kann auch gemeinsame Ideen entwickeln und bessere Wahl- und Handlungsmöglichkeiten gestalten, sei es im Austausch zwischen Institutionen oder zwischen Personen. Steenken: Kommt Pädagogen/innen eine Vermittler/innenrolle zu, die im Interessenkonflikt zwischen jungen Menschen und der Arbeitswelt beide Seiten zu Zugeständnissen bewegen muss? Schomburg: Ich halte die Vermittler/innenrolle der Pädagogik oder der Jugendberufshilfe für sehr zentral. Und zwar aus folgendem Grund. Ein Personalleiter aus dem Norden Nieder-sachsens sagte zu mir, sein Unternehmen suche sich seine Azubis bereits sehr früh aus. Ein Jahr bevor deren neuen Auszubildenden überhaupt ihren Schulabschluss machen, haben diese bereits den Ausbildungsvertrag unterschrieben. Dafür nötige Kontakte entstehen häu-fig über Praktika, womit die Bedeutung der Kommunikation sichtbar wird. Im Falle sozial be-nachteiligter Jugendlicher kommt diese Kontaktaufgabe häufig Sozialpädagog/innen oder Anleiter/innen aus den Jugendwerkstätten zu. Ohne der Vermittlung zwischen dem Betrieb und dem/der Jugendlichen würden zuletzt genannte einige Entwicklungsaufgaben kaum be-wältigen können, weil sie sich nicht aus eigener Kraft die Chance erarbeiten können, sich selbst zu erproben und aus Fehlern zu lernen. Bedenken wir zusätzlich den gerade diskutierten Aspekt der Aufmerksamkeit gegenüber den Bedürfnissen anderer, lässt sich die Rolle von Pädagogen/innen nicht nur als vermittelnd beschreiben, sondern geradezu als jene des Katalysators, die sowohl den Ausbilder/innen und Personaler/innen, als auch den Jugendlichen erst ein ernsthaftes Nachdenken, darüber was das Gegenüber braucht und wie sie einander helfen können, ermöglicht. Steenken: Wer übernimmt die Aufgabe die Jugendlichen dabei zu begleiten die Reflexion darüber zu erlernen, was sie sich vorstellen können oder zutrauen wollen, wenn es die Eltern nicht tun? Schomburg: Ideal ist eine Unterstützung der Ausbildungsphase durch Dritte wie Jugendbe-rufshilfe, soziale Einrichtungen und Bildungsträger. Von der Agentur für Arbeit werden ja schon ausbildungsbegleitende Hilfen (abH) und Berufsvorbereitende Begleitung (BvB) finan-ziert diese Angebote sind einfach zu gering. Steenken: Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch! Schomburg: Sehr gern, auch Ihnen vielen Dank!

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Themenheft 3/2018 Gelungener Einstieg in den Arbeitsmarkt Kompetenzen – Bewerbung – Anforderungen

3. Achtung Kompetenz! Ein Essay zu Gefahren und Möglichkeiten ei-ner widersprüchlichen Perspektive in der be-ruflichen Benachteiligtenförderung1 Autor: Dr. Martin Koch ist Lehrkraft für besondere Aufga-ben am Institut für Berufspädagogik und Erwachsenen-bildung der Leibniz Universität Hannover. Er ist in For-schung und Lehre mit dem Komplex benachteiligter Ju-gendlicher im Übergang Schule-Beruf befasst. Kompetenz als verändertes Anforderungs- und Begutachtungskriterium beherrscht die Bil-dungsdebatte seit bereits mehreren Jahrzehnten. Insbesondere im beruflichen Bildungssys-tem wird darunter die Fokussierung eines erweiterten Bewältigungsvermögens verstanden, mit dem offen gestaltete Anforderungssituationen eigenständig und aufgrund selbst erarbei-teter Zielsetzungen bearbeitet werden. Dies erscheint einerseits wie eine Erwartungsauswei-tung. Für bildungsbenachteiligte Zielgruppen verbindet sich damit aber andererseits auch der Anspruch, Bewältigungsstrategien jenseits formeller Bildungsanforderungen wertzuschätzen und als Ausgangspunkte für ein weitergehendes Lernen zu erkennen. Damit erhalten Kom-petenzen und Kompetenzfeststellungsverfahren ein emanzipatives Image. Scheinen sich auf diesem Wege doch die Ansprüche einer Reformpädagogik zu erfüllen, nach denen eben nicht extern formulierte Anforderungen, sondern ein gegebenes Interesse und die damit ent-wickelte Aktivität jedes Menschen zum Ausgangspunkt allen Lernens gemacht werden sol-len. Doch einer solchen subjektorientierten Perspektive können in diesen Verfahren auch Gren-zen gesetzt sein, die einen solchen emanzipativen Anspruch in sein stigmatisierendes Ge-genteil umkehren. Denn das Kompetenzparadigma enthält die latente Gefahr, Anforderun-gen für allgemeingültig zu erklären, was seinem Wesen nach normativ sein muss. So kann es passieren, dass die Erfahrungen und Motive eines begutachteten Menschen mit den defi-nierten Vorgaben eines Feststellungsverfahrens gleichgesetzt werden. Diesen Widerspruch versucht dieser Essay in der Weise darzustellen, dass er mögliche Divergenzen von subjek-tiven Motiven gegenüber Verfahrensvorgaben illustriert und gleichzeitig pädagogische Mög-lichkeiten umreißt, mit denen diese Widersprüche begradigt werden können. Grundlegende Kompetenzen bezeichnen die sozialen Eigenschaften eines Menschen Der Begriff der Kompetenz taucht im jüngeren geisteswissenschaftlichen Diskurs zunächst in den 1960er Jahren im Rahmen der von Noam Chomsky (1973b) entwickelten generativen Grammatik auf, die er zunächst auf das grundsätzliche menschliche Vermögen zur Erzeu-gung von Sprache bezieht. Seine wesentliche Entdeckung besteht darin, dass jeder Mensch, 1 Der Beitrag stellt eine umfassende Aktualisierung und Überarbeitung des Textes „Wozu braucht Jugendberufshilfe Kompetenzfeststellung?“, der 2009 in der von Landesarbeitsgemeinschaft der Jugendsozialarbeit in Niedersachsen herausgegebenen Broschüre „Kompetenzfeststellung im Übergang Schule-Beruf als fester Bestandteil des regionalen Übergangsmanagements“ veröffentlicht wurde, dar.

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9 Dieses Themenheft wird gefördert durch das Niedersächsische Ministerium für Sozi-ales, Gesundheit und Gleichstellung

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sofern er nicht durch etwas Besonderes daran gehindert wird, aus dem Moment heraus in der Lage ist, mehr sprachliche Variationen im Sinne sinngerichteter Wortkombinationen her-vorzubringen, als sein ganzes Leben an Sekunden umfasst (vgl. Chomsky 1973a, 27). Dabei bezieht er sich auf Theoretiker der Aufklärung wie Descartes und Wilhelm von Humboldt. Auf dieser Grundlage bezeichnen Kompetenzen eine grundsätzliche Fähigkeit, die dem Men-schen angeboren ist und über die er unter allen Umständen verfügt. Doch Kompetenzen haben eben auch spezifische Inhalte und enthalten Motive, die auf die besondere Lebensgeschichte jedes kompetenten Menschen zurückgehen. Denn so wie die Worte jeder Sprache erlernt werden müssen, so verbinden sich mit Ihnen auch Bedeutungs-erfahrungen, die Menschen in jeweils besonderer Weise gemacht haben. Mit dieser Vorstel-lung schließt Pierre Bourdieu mit dem Begriff des Habitus implizit an den der Kompetenz an. Er definiert ihn ebenfalls als kreativen Motor menschlichen Handels, dessen Motive und Möglichkeiten aber durch die sozialen Erfahrungen jedes Menschen begrenzt sind: „Da er ein erworbenes System von Erzeugungsschemata ist, können mit dem Habitus alle Gedan-ken, Wahrnehmungen und Handlungen, und nur diese, frei hervorgebracht werden, die in-nerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen seiner eigenen Hervorbringung liegen.“ (Bourdieu 1987, 102) Damit lässt sich Kompetenz in ihrer individuellen Ausprägung also als etwas verstehen, was sich im Laufe eines menschlichen Lebens in spezifischer Weise entwickelt und ausgeprägt hat und das nur auf der Grundlage dieser besonderen Lebensgeschichte verstanden werden kann. Kompetenz ist also jenseits des rein sprachlichen Bezugsfelds von Chomskys Analy-se, der unumgängliche Ausdruck von Erfahrung und Lebensgeschichte. Sie bezeichnet in jedem Moment unseres Lebens die besondere Weise, mit der wir die Welt und uns selbst wahrnehmen, aus der heraus wir zu handeln gelernt haben und mit deren Hilfe wir im Sinn einer individuell eingeschränkten, dennoch aber unendlichen Vielfalt unsere Lebens- und Handlungsstrategien entwerfen. Diese Art und Weise bezeichnet gewissermaßen den Lern-, Erlebnis- und Verhaltensstil eines Menschen. Ihm sind keine grundsätzlichen Grenzen ge-setzt. Er bestimmt im Wesentlichen die Form, in der wir zu handeln und zu lernen vermögen. Es lässt sich schlussfolgern: Jeder Mensch, der schon eine Weile gelebt hat, hat gelernt, sich und die Welt als etwas Bestimmtes zu erfahren. Der daraus entstandene Stil prädesti-niert ihn zu einer besonderen Form von Kompetenz. Diese Kompetenz ist individuell einzig-artig und lässt sich nicht qualitativ, sondern allein nach der Form unterscheiden. In ihren grundlegenden Formen stellen Kompetenzen darum Ausgangspunkte allen weiteren Lernens dar. Berufliche Handlungskompetenz bezieht sich zwar auf konkrete Aufgabenstellungen, die mit spezifischen Handlungswissen angereichert sein muss und welches z.B. erst durch ein „Lernen im Prozess der Arbeit“ (Dehnbostel et al. 2010, 87ff.) erlangt werden kann. Grundle-gende Kompetenzen, wie sie i.d.R. für Feststellungsverfahren in der Benachteiligtenförde-rung maßgeblich sind, stellen dennoch die unumgängliche Voraussetzung für jedes weitere Lernen und für jede weitere Eigenständigkeit dar.

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Emanzipative Möglichkeiten und strukturelle Widersprüche von Kompetenzorientie-rung Dass der Kompetenzbegriff heute so entscheidenden Einfluss auf die Bildungsdebatte hat, mutet darum zunächst wie ein Befreiungsschlag in einer Zeit anhaltender Bildungsbenachtei-ligung an. Denn wenn ein Mensch nicht mehr allein danach beurteilt wird, was er sich in sei-nem Leben an formalisiertem Wissen hat aneignen können, sondern vielmehr sein besonde-rer Stil gewürdigt wird, entsteht die Möglichkeit, ihn nicht mehr in ein bewertendes Verhältnis zu anderen zu setzen. Er könnte tatsächlich so wahrgenommen werden wie er ist, als das wertgeschätzt werden, was er bis hierhin geworden ist. Mit ihm gemeinsam können Päda-gog/innen dann die Form finden, in der er am besten zu lernen und sich auf seine besondere Weise zu entwickeln vermag. Der Lernende kann erkannt ohne klassifiziert zu werden, so-dass er gleichsam aus dem Stigma einer Bildungsbenachteiligung hinausgetragen wird. Kompetenzorientierung wäre somit sogar geeignet, ein erweitertes Inklusionskonzept zu be-fördern, dass über eine räumliche Barrierefreiheit hinaus auch eine soziale Barrierefreiheit ermöglicht. Denn wenn es gelänge, die Erfahrungen eines Menschen nicht vergleichend zu klassifizieren, sondern aus ihrem subjektiven Entstehungskontext heraus zu verstehen, dann könnte sich auch der Widerspruch einer umfassenden Teilhabeorientierung in einer konkur-renzbestimmten Arbeitsgesellschaft abmildern. Aber ist dem auch so? Eine unter zahllosen zeitgenössischen Kompetenzdefinitionen viel zitierte bezeichnet Kom-petenzen als „geistige oder physische Selbstorganisationsdispositionen, sie umfassen Fä-higkeiten, selbstorganisiert und kreativ zu handeln und mit unscharfen oder fehlenden Ziel-vorstellungen und Unbestimmtheit umzugehen.“ (Erpenbeck, Grote, Sauter 2018, XII) Dem schließt sich die Frage an, wer eigentlich die Ziele einer kompetenten Handlungsweise defi-niert und ob also das, was eine Kompetenzfeststellung voraussetzt, tatsächlich mit den Zie-len und Dispositionen der/des Kompetenzkandidat/in übereinstimmt. Denn das ist durchaus nicht zwangsläufig der Fall, wie folgendes Gedankenexperiment deutlich macht: In einem Projekt der beruflichen Benachteiligtenförderung nimmt eine Lerngruppe an einer Unter-richtseinheit teil. Dort sitzt ein Jugendlicher, der diesen Unterricht torpediert: Keine halbe Minute bleibt er auf seinem Platz sitzen, er läuft durch die Klasse, bewirft und prügelt andere Jugendliche, kommentiert mit unflätigen Worten den Unterricht und schreckt schließlich nicht einmal davor zurück, lauthals ein obszönes Lied vorzutragen. Wie würde die Sozialkompe-tenz dieses jungen Menschen dann wohl eingeschätzt? Könnte es sein, dass in seiner Beur-teilung steht, er sei nicht in der Lage, zielgerichtet in einem Gruppenkontext zu arbeiten, ja, er könne sich nicht einmal über kürzeste Zeiträume hinweg konzentrieren? Angenommen, diese Diagnose würde so gestellt, so wäre doch eins offensichtlich: Es würde zeitgleich un-terstellt, dass es das eigentliche Ziel dieses Jugendlichen ist, im Unterricht zuzuhören und die von Einrichtungsseite definierten Lernziele produktiv nachzuvollziehen. Im Rahmen die-ses Gedankenexperiments kann aber auch das entgegengesetzte Motiv unterstellt werden: Nämlich, dass sich dieser Jugendliche mit all seinem Ehrgeiz vorgenommen hat, den Unter-richt zu behindern, zu demontieren und letzten Endes komplett zu zerstören. Hier offenbart sich das Dilemma jeder Form von Kompetenzfeststellung: Nun müsste nämlich eingeräumt werden, dass dieser Jugendliche sein Ziel mit Bravour erreicht und dabei eine Kompetenz unter Beweis gestellt hat, die Pädagog/innen vielleicht niemals zu mobilisieren vermöchten.

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Soziale Verhältnismäßigkeiten von Kompetenzfeststellungen Allein dieses Problem der Verständigung über das in der Feststellungssituation zu errei-chende Ziel deutet an, dass sich darin im Wesentlichen ein Verhältnis zwischen Kompetenz-kandidat/in, feststellender Person und feststellendem Verfahren ausdrückt. Bereits auf dieser Ebene handelt es sich um ein Verhältnis der Verteilung von Macht. Denn nicht nur, dass die Möglichkeiten des/der Kompetenzkandidat/in, solche Ziele zu bestimmen, stark einge-schränkt sein müssen; es kann auch nicht als ausgemacht gelten, dass sie/er sich darüber im Klaren sein kann, was eigentlich das Ziel ist und was von ihrem/ seinem Verhalten in wel-cher Weise gemessen wird. Denn in zumindest teilweiser Übereinstimmung zu dem hier entwickelten Kompetenzverständnis wird bei vielen Feststellungsverfahren nicht nur das letztendliche Ergebnis, sondern auch der dahin führende Weg, der Stil der Bewegung, be-gutachtet. Es wird z.B. darauf geguckt, wie selbständig, verantwortungsvoll, teamorientiert oder durchsetzungsfähig sich eine Person bei der Bewältigung einer Aufgabe gibt. An dieser Stelle bereits unterscheidet sich die Kompetenzfeststellung entscheidend vom Verfahren einer Prüfung. Denn in einer Schule oder in einem Betrieb lernen Schüler/innen oder Auszu-bildende unter Bedingungen, die mit denen der Prüfung vergleichbar sind. Sie können sich bereits im Vorfeld auf die Zielvorstellungen der Prüfenden einstellen, denn sie erfahren schon während des Unterrichts oder der Arbeit, was man in etwa von ihnen erwartet. Bei einer von extern durchgeführten Kompetenzfeststellung – etwa bei einem Assessment-Center – können sie das nicht wissen. Sie müssen aus dem Moment heraus intuitiv ausloten, welches Verhalten von ihnen verlangt und am besten beurteilt werden wird. In diesem Mo-ment aber treffen unausweichlich zwei unterschiedliche Bedeutungswelten aufeinander: Dies sind zum einen die „Kompetenzvorstellungen“ der Kompetenzkandidat/innen, als der spezifi-schen Weise, in der diese die an sie gestellten Anforderungen interpretieren und auf dieser Grundlage – wie in jeder anderen sozialen Handlungssituation auch – ein nach ihren Ein-schätzungen jeweils adäquates Verhalten inszenieren. Zum anderen aber sind es die „Kom-petenzerwartungen“, die durch das Verfahren selbst definiert sind und durch die feststellende Person in damit mehr oder weniger übereinstimmender Weise repräsentiert werden (vgl. Koch, Hagedorn 2017, 13ff.). Und sollte eine Jugendliche vor dem Hintergrund eines solchen Widerspruchs eine schlechte Bewertung erhalten, kann sie dies im Gegensatz zu einer Ma-thematikarbeit schlecht reklamieren. Um es überspitzt zu formulieren, befindet sie sich in einer ähnlichen Situation wie Josef K. in Franz Kafkas Roman ‚Der Prozess’: »Dieses Gesetz kenne ich nicht«, sagte K. »Desto schlimmer für Sie«, sagte der Wächter. »Es besteht wohl auch nur in Ihren Köpfen«, sagte K., er wollte sich irgendwie in die Gedanken der Wächter einschleichen, sie zu seinen Gunsten wenden oder sich dort einbürgern. Aber der Wächter sagte nur abweisend: »Sie werden es zu fühlen bekommen.« Franz mischte sich ein und sagte: »Sieh, Willem, er gibt zu, er kenne das Gesetz nicht, und behauptet gleichzeitig, schuldlos zu sein.« »Du hast ganz recht, aber ihm kann man nichts begreiflich machen« (Kafka, F. 1994, 11) Der Protagonist sieht sich hier mit einem Gesetz konfrontiert, dessen innere Regeln ihm un-bekannt sind und dem er ohne diese Kenntnis trotzdem entsprechen soll. Und wenn auch das Urteil in diesem Fall längst gesprochen wurde, wären seine Gestaltungsmöglichkeiten,

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selbst wenn es noch ausstünde, eingeschränkt und allenfalls durch eine spontane Intuition zu erweitern. Nun nehmen einige Feststellungsverfahren explizit oder zumindest implizit für sich in An-spruch, das Verhalten der Kompetenzkandidat/innen wertfrei oder sogar objektiv beurteilen zu können. Ein gefährlicher Irrtum, denn zunächst ist die Wahrnehmung jedes Menschen immer eine sozialisatorisch Besondere. Auch unsere Beurteilung der Dinge beruht auf einem Oben und Unten, einem Besser und Schlechter, mit dem wir uns selbst und alles andere abschätzen. Dies sind unsere Kompetenzvorstellungen, mit denen wir uns in der Welt bewe-gen und gerade der Blick auf Benachteiligte enthält bei Angehörigen pädagogischer Berufe höchst unterschiedliche normative Setzungen. Es bleibt darum immer offen und fraglich, ob unser Blick oder ein bestimmtes Feststellungsinstrument dazu geeignet sein können, die Gestalt einer aufgeführten Kompetenz zu erfassen. Denn ganz gleich, ob wir unserer Subjek-tivität freien Lauf lassen oder uns an dem Definitionskatalog eines bestimmten Verfahrens orientieren: Kompetenzvorstellungen müssen unumgänglich subjektiv und in diesem Sinne auch normativ sein. Denn allein die Vorstellung, dass eine bestimmte Aufgabe in einer be-stimmten Weise ausgeführt werden soll, schließt die Vernünftigkeit jeder anderen Interpreta-tionsmöglichkeit aus. Mit welcher Form vorauseilender Freundlichkeit Kund/innen in einem Dienstleistungsunternehmen entgegenzukommen ist und mit welchem Ausmaß an Eigen-ständigkeit in spezifischen Betriebshierarchien zu handeln ist, stellt eine sehr spezifische Standardisierung dar, die nicht nur für Migrant/innen und sozial Benachteiligte schwer nach-vollziehbar sein dürfte. Was aber wissen Beurteilende andererseits von den Beweggründen und hinterlegten Strate-gien, den Kompetenzvorstellungen, der/des Kompetenzkandidat/in? Es kann sein, dass die betreffende Person unter für den Wertenden nicht klaren Voraussetzungen handelt. Etwa wenn es sich um eine/n von Abschiebung bedrohte/n Geflüchtete/n handelt, die/der sich von einem positiven Abschneiden den Zugang zu einer Ausbildung und damit den Status einer verlängerten Ausbildungsduldung verspricht oder wenn die begutachtete Person ihre berufli-che Zukunft in einer theoriegeminderten Ausbildung sieht. Ein Ziel, dass diese Person mit einer zu positiven Kompetenzbewertung nicht glaubt erreichen zu können. Aber was genau kann im Rahmen einer Kompetenzfeststellung überhaupt sichtbar werden? Zur Beantwortung dieser Frage soll mit der Unterscheidung von Kompetenz und Performanz (vgl. Chomsky 1973b, 14f.) noch eine kurze Definition eingeführt werden: Kompetenz stellt die Möglichkeit dar, etwas unter bestimmten Bedingungen in bestimmter Weise tun zu kön-nen. Wenn z.B. eine Person grundsätzlich dazu in der Lage wäre, einen eloquenten Vortrag zu halten, das Auditorium ihn aber durch ein rhythmisches Klatschen, durch höhnisches La-chen oder das entnervte Verlassen des Raumes verunsicherte, so könnte dies dazu führen, dass sie keinen oder nur noch sehr zaghafte Töne hervorbringt. Dann wäre ihr die Auffüh-rung dieser Kompetenz in dieser Situation nicht mehr möglich. Trotzdem bestünde sie weiter als bloße Ressource, die unter anderen Bedingungen als kompetentes Handeln aufgeführt, an diesem besonderen Ort allein aber nicht umgesetzt werden kann. Wenn diese widrigen Begleitumstände jedoch nicht eintreten sollten, die Beispielperson also durchaus in der Lage

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wäre, einen anständigen Vortrag zu halten, so wäre die Kompetenz zwar vorhanden, es blie-be aber immer noch fraglich, ob die Zuhörer/innen etwas davon zu sehen bekommen. Denn die Person könnte ja auch ganz einfach nicht wollen. Was das Auditorium zu sehen bekäme, wäre im eigentlichen Sinne nicht Kompetenz, son-dern ihre situative Umsetzung, die Performanz, aus der Zuhörende nur bedingt auf die Kom-petenz der Beispielperson rückschließen können. Die Gestalt dieser Performanz ist aber offensichtlich von dem besonderen Verhältnis abhängig, in dem sie aufgeführt wird. Dieses Verhältnis wird bestimmt durch den Grad der Kenntnis der Kompetenzkanditat/innen über die in der Feststellungssituation hinterlegten Bewertungsmaßstäbe, die Sicherheit und den Spielraum, von dem sie annehmen, dass ihnen diese in diesem Verhältnis zugestanden werden sowie schließlich der Fähigkeit der/des Feststellenden, den Stil der Bewegungen der zu Beurteilenden einschätzen zu können. Dieses Verhältnis ereignet sich jedoch nicht im luftleeren Raum, sondern findet statt im Rahmen sozialer Hierarchien und unterschiedlicher Positionen. Hierzu ein weiteres Gedankenexperiment zum Vergleich: Eine Lehrerin in der gymnasialen Oberstufe führt eine jahrgangsübergreifende Kompetenzfeststellung in ihrer Schule durch, bei der ein Unterprimaner besonders schlecht abschneidet. Sie gibt die Fest-stellungsergebnisse zurück und bereits am nächsten Tag erreicht sie ein Brief von dem Vater dieses Schülers, der, von Haus aus Jurist, die Durchführungsweise der Feststellung eloquent anfechtet und der Lehrerin im Falle, dass sie deren Ergebnisse nicht für ungültig erklärt, die Einleitung rechtlicher Schritte und eine Dienstaufsichtsbeschwerde in Aussicht stellt. Die da-raus resultierenden Fragen sind: Würde die Lehrerin dieses Schreiben in Ihrem Handeln be-einflussen? Und übertragen auf die Leser/innen: Haben Sie einen vergleichbaren Brief schon einmal von einem Elternteil einer/s der Ihnen anbefohlenen benachteiligten Jugendlichen erhalten? Was mit diesen Fragen verdeutlicht werden soll, ist der besondere Autoritätshintergrund, der jede Tätigkeit in der beruflichen Benachteiligtenförderung determiniert und jeder/n Professio-nellen zu besonderer Reflexion und Verantwortung anhält. Und gerade vor diesem Hinter-grund erweist sich Kompetenzfeststellung immer auch als ein Machtverhältnis, dessen Re-sultate einzig das abzubilden vermögen, was die/der Kompetenzkandidat/in unter den gege-benen Bedingungen und gemäß den Erwartungen von Verfahren und Feststellender/m um-setzen kann oder will. Sie sagen jedoch nicht unbedingt etwas darüber aus, was sie/er grundsätzlich und unter anderen Bedingungen aufführen könnte. Kompetenzen sollten vor ihrer Feststellung verstanden werden Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass Kompetenzfeststellungen grundsätzlich sinnlos seien und man mit ihren Ergebnissen nichts anfangen könnte. Es braucht aber Klarheit dar-über, unter welchen Bedingungen ihre Resultate entstehen und wie sinnführend und verant-wortungsvoll mit ihnen umgegangen werden kann. Dafür ist es grundsätzlich notwendig, dass wir selbst unsere Wahrnehmungen reflektieren, die Jugendlichen die Situation aktiv mitgestalten lassen und vor allem Struktur und Beweggründe ihres Verhaltens zu verstehen versuchen. Auf diese Weise kann ein Verhältnis erwachsen, in dem sich Feststellende, Kan-didat/innen und vor allem auch Pädagog/innen aufeinander beziehen und sich wechselseitig

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in ihrem realen und normativen Verhalten annähern. Denn wenn Kompetenz etwas mit Ge-staltung zu tun hat, dann kann sie ausschließlich umgesetzt werden, wenn sie im Sinne des jeweils subjektiven Stils entfaltet wird. Einen Stil zu entfalten heißt aber immer auch, dass er wahrgenommen wird und ein soziales Gegenüber darauf reagiert. Folgt jemand allein der Bewertungserwartung der/s Feststellenden, so übernimmt diese Person eine nicht von ihr selbst gestaltete Rolle. Das Ergebnis kann nur eine Kompetenzpose sein, die, desto geringer der selbst gestaltende Anteil ausfällt, einen umso verschwindenderen Teil der eigentlichen Möglichkeiten der/des Beurteilten abbildet. Versuchen feststellende oder pädagogisch han-delnde Personen aber die Beweggründe des von der/dem Betrachteten gezeigten Verhal-tens zu verstehen, so beginnt ein Prozess mit für beide Seiten offenem Ausgang, dessen Ergebnisse keiner vorab erstellten Skala zugeordnet werden können. Denn Kompetenzverständnisse entstehen ebenso wie gelungene Lehr-/Lern- und Bildungs-prozesse am besten durch Prozesse der Aushandlung: Wenn Lernende ihre eigene Welt-sicht und ihr besonderes Verständnis zu einer bestimmten Thematik formulieren, so kann dies in Verbindung zu diesbezüglichen Bildungsinhalten gesetzt werden. Sie unterbreiten mit ihrer Sichtweise gewissermaßen ihrerseits ein didaktisches Angebot, indem sich Lehrende nun in ihren Erklärungen auf diese vorhandene Einschätzung beziehen können. Und ebenso wie Menschen ein grundsätzliches Interesse daran haben, die Welt, in der sie leben und die sie in ihrem täglichen Handeln erfahren, zu verstehen, so können auch Kompetenzen am besten realisiert werden, wenn hier Sichtweisen artikuliert und wechselseitig nachvollzogen werden. Ein solcher Prozess der „Kompetenzverhandlung“ (Bode 2013) kann aber auch nur entstehen, wenn zunächst Lehrende Verständnisse dafür entwickeln, warum und vor wel-chen Erfahrungshintergründen junge Menschen bestimmte Bewältigungsweisen herausge-bildet haben und was sie dazu antreibt, in bestimmten Situationen in bestimmter Weise zu handeln. Ein solches Verständnis kann zunächst in biografieorientierten Einzelgesprächen entstehen und weitergehend im Unterricht umgesetzt werden. Dabei käme es darauf an, be-stehende Vorstellungen und Strategien auf gegebene Anforderungen zu beziehen und dabei danach zu fragen, wie und aus welchen Gründen einzelne Betroffene in bestimmten Situati-onen handeln würden oder tatsächlich gehandelt haben. Darauf aufbauend kann ein verste-hendes Lernen von Verhaltensstandards in Gang gesetzt werden, dass sich durch die Defini-tion von Kompetenzen zu wesentlichen Teilen abbildet. Kompetenzfeststellungsverfahren, die später kontrolliert die Bewältigung vergleichbarer, aber keineswegs identischer Aufgaben beobachten lassen, erhalten so die Funktion einer Prüfung sozialer Lernentwicklungen. Sie würden einzelne Personen nicht auf bestimmte Kompetenzniveaus festlegen, sondern ledig-lich abbilden, inwieweit es gelingt, eigene Vorstellungen und Bewältigungsstrategien mit den Formaten z.B. betrieblicher Handlungsanforderungen zu verbinden. Weitergehend stellt sich gerade hier auch die Frage nach der Möglichkeit des benannten Lernens im Prozess der Arbeit. Denn insbesondere betriebliche Kompetenzerwartungen können meist erst am Ort ihrer Umsetzung erfahren und mit eigenen Vorstellungen verknüpft werden. Insofern kann z.B. die Diagnose unzureichender Ausbildungsreife unter Umständen nichts anderes darstel-len, als die Unzugänglichkeit des Erfahrungsortes, an dem die Reife erlangt werden sollte.

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Mit dieser Sichtweise wird den Jugendlichen nicht die alleinige Definition des zu erreichen-den Ziels überlassen. Es wird ihnen aber die Möglichkeit eröffnet, sich in ihrem Stil bewegen, einbringen und zur Entfaltung dieser Bewegungen - dem Erreichen des Zieles - entschließen zu können (vgl. Koch/ Straßer 2008, 41ff.). Dies setzt aber zunächst voraus, dass dies frei-willig stattfindet (der Hintergrund von Sanktionen, wie sie das SGB II vorsieht, ist hier sicher-lich wenig kompetenzförderlich). Und es setzt in diesem Sinn auch voraus, dass wir zumin-dest den Versuch unternehmen, die zweifelsohne vorhandenen Machtkonstellationen, vor deren sozialem Hintergrund sich ein Kompetenzverhältnis ereignet, außer Kraft zu setzen. Ein im Grunde unmögliches, trotzdem aber unumgängliches pädagogisches Ziel, dessen Erfolg wie bei jedem Verstehen stets allein in der immer wiederkehrenden Herausforderung des Misserfolgs liegen kann. Wie aber sehen die sozialen Verhältnisse aus, in denen sich diese Herausforderungen ereignen? Gefahr einer Individualisierung sozialer Verantwortung Der Einzug des Kompetenzparadigmas in den berufspädagogischen Diskurs geht zurück auf die frühen 1990er Jahre. Nachdem der Qualifizierungsbegriff bereits in den 1970er Jahren durch den der Schlüsselqualifikationen abgelöst worden war (vgl. Vonken 2005, 48f), bricht sich der Kompetenzbegriff seither mit einer immer weiter gesteigerten Intensität Bahn. Be-gründet wird dieser Durchmarsch mit flexibleren, auf mehr Eigeninitiative ausgerichteten Ar-beitsanforderungen in einer dynamischen Arbeitswelt (ebd. 83ff.). Dabei ist allerdings danach zu fragen, inwieweit Lern- und Arbeitsbedingungen, die durch solche Paradigmen entstehen, überhaupt auf benachteiligte Zielgruppen angewandt werden können. Es erscheint schwer vorstellbar, dass benachteiligte Jugendliche überwiegend in Berufen mit hohem Eigenstän-digkeitsanteil wie etwa im Rahmen einer digitalisierten vierten industriellen Revolution einge-setzt werden. So waren 2016 nach Daten des Mikrozensus 2,13 Mio. junge Erwachsene zwischen 20 und 34 Jahren ohne Berufsausbildung geblieben (BiBB 2018, 314), von denen in der Vergangenheit mit Sicherheit ein erheblicher Teil Bildungsgänge des Übergangssys-tems besucht hat. Die Arbeitslosenquote von Personen ohne Berufsabschluss hat sich in der Zeit von 1979 bis 2013 auf 20 % vervierfacht und beträgt damit fast das Dreifache des Ge-samtdurchschnitts (vgl. Hausner et al. 2016, 2). Altersunabhängig gingen 2017 40 % der abhängig Beschäftigten ohne abgeschlossene Ausbildung einer atypischen Beschäftigung (Zeitarbeit, befristete, geringfügige oder Teilzeitbeschäftigung) nach (eigene Berechnung anhand StBA 2018); 43,6 % hatten ein Einkommen unterhalb der Niedriglohnschwelle (Kali-na, Weinkopf 2017, 5). Unter Jüngeren zwischen 25 und 35 Jahren machten die Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung im Jahre 2012 fast die Hälfte aller Arbeitslosen, aber nur ein Neuntel der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aus (vgl. BA 2013, 8). Gerade für diese Kernklientel der Benachteiligtenförderung erscheinen also eher unregel-mäßige Folgen prekärer Arbeits- und Förderverhältnisse wahrscheinlich: Eine Anstellung im Schnellrestaurant, eine Episode in einer Leiharbeitsfirma, eine Zeit der Arbeitslosigkeit, eine EingliederungsmaßnahmeV Das sind die leider nach wie vor maßgeblichen Berufsperspek-tiven eines benachteiligten Klientels, die von der Tendenz eigentlich eher an die Verhältnisse der norddeutschen Landarbeiter gegen Ende des 19. Jahrhunderts erinnern – die diese Le-benssituation allerdings ohne Kompetenzfeststellungen bewältigen mussten.

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Offensichtlich stehen diesen veränderten Anforderungen auf dem Arbeits- und Ausbildungs-markt also noch andere Begleittendenzen gegenüber. Dies ist zunächst ein Mangel an Aus-bildungsplätzen bei einem bis auf weiteres gleichzeitigen demografischen Übergewicht an Bewerber/innen. Denn entgegen aller Proklamationen von Fachkräftemangel, unbesetzbaren Ausbildungsstellen und demografischem Wandel ist der Anteil an erfolglosen Ausbildungs-bewerber/innen in den vergangen Jahren stabil geblieben. Gerad einmal 61,2 % der instituti-onell erfassten Ausbildungsinteressierten mündeten 2017 in Niedersachsen in eine Ausbil-dungsstelle ein (Matthes et al. 2018, 40) – die unbekannte Größe an Personen ohne zuer-kannte Ausbildungsreife, der Resignierten und informell Gescheiterten ist darin nicht enthal-ten. Dafür soll nun der Kompetenzbegriff Abhilfe schaffen. Und tatsächlich häufen sich seit-her die Stimmen, die parallel zu einer abnehmenden Ausbildungsquote eine Zunahme man-gelnder Basiskompetenzen und nicht gegebener Ausbildungsreife der jugendlichen Ausbil-dungsinteressierten beklagen. Auch wenn das Konstrukt Ausbildungsreife nicht mit dem der Kompetenz gleich gesetzt wer-den sollte, tritt doch die Gefahr des damit verbundenen Diskurses zu Tage: Denn letztlich sind es die erfolglosen Jugendlichen selbst, die für ihren ausgebliebenen Bildungserfolg zur Verantwortung gezogen werden. Und in genau diesem Kontext offenbart sich auch bildungs-politisch die latente Brisanz des Kompetenzparadigmas: Während der Bildungs- und der Qualifikationsbegriff Menge und Form eines zu lernenden Inputs als Gründe für mangelnde Berufseignung ausmachten und damit immer auch eine Kritik an den Bildungsverhältnissen selbst implizierten, enthält das Kompetenzparadigma die latente Gefahr, die Substanz von Persönlichkeiten direkt anzugreifen. Fazit Doch trotz alledem können Kompetenzfeststellungen durchaus sinnvolle Ergänzungen einer beziehungsorientierten Förderung darstellen. Denn der Sinn aller Benachteiligtenpädagogik kann allein in dem Ziel und der Fähigkeit liegen, das Großartige in jedem teilnehmenden Ju-gendlichen zu entdecken. Kompetenzfeststellung kann zu dieser Berufung beitragen, sofern verantwortungsvoll mit ihr umgegangen wird und in jedem Moment ihrer Anwendung den Beteiligten gegenwärtig ist, was Kompetenzfeststellung ihrem Wesen nach eigentlich ist. Sie ist kein Ersatz für einen Mangel an Ausbildungsplätzen und sagt nur bedingt und meist indi-rekt etwas über die Möglichkeiten der mit ihr Vermessenen aus. Trotzdem kann sie, sofern sie in den Kontext einer verständnisorientierten Pädagogik eingebettet ist, etwas hervorbrin-gen, was in den ritualisierten Beziehungsabläufen des Förderalltags vielleicht sonst nicht wahrnehmbar ist und was damit Anhaltspunkte für weitere pädagogische Strategien geben kann. Sie enthält die Möglichkeit einer kontrollierten Subjektivität und kann damit neue Per-spektiven und Sichtweisen öffnen. Sie kann aber eben keine pädagogischen Beziehungen ersetzen. Sie kann Impulse geben, sollte aber niemals ein pädagogisches Verhältnis domi-nieren. Im Rahmen einer Feststellung sollte das dadurch konstruierte Verhältnis sowie die reflektiert und seine Gestaltbarkeit durch die Jugendlichen eingefordert werden. Kompetenz-orientierung sollte dazu beitragen, die Kompetenzen der Jugendlichen gegen Stigmatisie-rungen – und sei es durch die Feststellung selbst – zu verteidigen.

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dungsmarktes im Jahr 2016, https://www.bibb.de/dokumente/pdf/a21_beitrag_naa309-2017.pdf, 01.06.2018. • StBA (Statistisches Bundesamt) (2018): Atypische Beschäftigung, https://www.destatis.de/ DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/TabellenArbeitskraefteerhebung/AtypischeBeschaeftigung.html, 21.12.2016. • Vonken, M. (2005): Handlung und Kompetenz, Wiesbaden. 4. Manchmal irren wir uns, wenn wir glauben, andere hätten keine Ziele Autoren: Maurice Mwizerwa, Flüchtlingssozialar-beiter, Ansprechpartner für Angelegenheiten der Flüchtlingssozialarbeit bei der Stadt Garbsen. Bildungsreferent bei Zukunft in Niedersachen (ZiN) Florian Steenken (LAG JAW), hat den Artikel ge-meinsam mit Maurice Mwizerwa auf der Basis eines Interviews verfasst. In meiner Arbeit als Flüchtlingssozialarbeiter und als Bildungsreferent habe ich die Erfahrung gemacht, wie wichtig und wie schwer es ist, jungen Menschen zu helfen, an sich zu glauben. Dazu gehört für mich, sie auf ihrem Weg zur Einsicht zu begleiten, dass sie etwas erreichen können sowie sie zu unterstützen, für sich ein Ziel zu formulieren und es zu verfolgen. Erfah-rungen in diesem Bereich sammele ich seit etwa acht Jahren. Mein eigener Bildungsweg spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Daher möchte ich zunächst aus meiner eigenen Geschichte berichten, um dann zu meiner Arbeit mit Jugendlichen, ihren Benachtei-ligungen und Bedürfnissen zu kommen. Zum Schluss möchte ich näher auf meine Perspekti-ve auf die Jugendlichen eingehen und darauf, wie diese mir hilft, diese jungen Menschen hinsichtlich ihrer Anschlussfähigkeit an den Arbeitsmarkt zu unterstützen. Diese stellt einen wichtigen Baustein subjektiver Autonomie im Rahmen der Gesellschaft dar und bietet somit die Möglichkeit, eigene Persönlichkeit zu entfalten und auszuleben.

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Meine eigene Bildungsgeschichte: Lange bevor ich mein Studium abgeschlossen habe, habe ich in meinem Minijob im Flücht-lingsrat Niedersachsen sowie durch mein ehrenamtliches Engagement für Bleiberecht Erfah-rungen in der Zusammenarbeit mit Geflüchteten gemacht. Diese Arbeit hat mir viel Hoffnung und Kraft gegeben, denn ich konnte mich mit meinen Kenntnissen und meinem Erleben in einer Gemeinschaft einbringen. Diese Erfahrungen haben mir bei der Verarbeitung meiner eigenen Fluchtgeschichte geholfen. So konnte ich mir eine eigene Rolle in der Gesellschaft, ein Zugehörigkeitsgefühl und Freundschaften erkämpfen. Nach dem Abschluss meines Ba-chelors im Jahr 2015 habe ich als Flüchtlingssozialarbeiter zunächst für ein Jahr beim DRK Soziale Dienste der Region Hannover in verschiedenen Notunterkünften gearbeitet und bin nun seit 2016 bei der Stadt Garbsen beschäftigt. Auch hier arbeite ich mit Geflüchteten zu-sammen und bin zusätzlich der Ansprechpartner für Angelegenheiten von Flüchtlingssozial-arbeiter/innen in Einrichtungen im Stadtgebiet. Darüber hinaus bin ich als Bildungsreferent für Zukunft in Niedersachsen (ZiN) tätig, einer Fachstelle für unbegleitete minderjährige Jun-gen sowie für Multiplikator/innen, die mit diesen Jungen zusammenarbeiten. In sowie neben meiner Arbeit setze ich mein Engagement fort. Was hilft mir dabei, den Jugendlichen in der Zusammenarbeit mit ihnen eine Hilfe zu sein, sodass sie eine Perspektive für sich entwickeln, die sie dann auszufüllen im Stande sind? Die Antwort auf diese Frage liegt einerseits in der Erkenntnis, die viele mit mir teilen werden, dass wir als Menschen alle die gleichen Bedürfnisse nach Anerkennung, Zugehörigkeit und Selbstverwirklichung haben. Andererseits darin, dass ich selbst einmal in dieser Gesellschaft überhört und übersehen worden bin und von den Jugendlichen als ein Vorbild gesehen wer-den kann, von dem sie lernen können, wie auch sie ihren Platz in der Gesellschaft finden sowie an ihr teilhaben können. Wir finden einander in unseren Geschichten wieder. Um in bestärkender Weise mit diesen Jugendlichen zusammenarbeiten, braucht es aber nicht zwangsläufig diesen geteilten Erfahrungshintergrund. Ein Verständnis für diesen sowie die Bereitschaft über die jeweils eigene Wahrnehmung zu sprechen und einander anzuerkennen sowie offen in den Dialog zu gehen – das ist vielmehr das, was ich als Grundlage für eine produktive Zusammenarbeit und Förderung dieser Jugendlichen beschreiben möchte. Entsprechend sinnvoll ist es, unterschiedliche Geschichten erfolgreicher Integration in Ar-beitsmarkt und Gesellschaft zu kennen. Diese geben uns ein Gespür dafür, dass Einzelne unterschiedliche Wahrnehmungen und Teilhabemöglichkeiten haben;2 sie führen ebenso vor Augen, was bestimmte Personen mehr leisten müssen, um Teil der Gesellschaft sein zu können. Deshalb berichte ich nun von meiner Geschichte. Mein Abitur und zwei Jahre Studium in den Fächern Sozialwissenschaft und ländliche Ent-wicklung habe ich in Ruanda absolviert. Eine Reihe persönlicher Gründe haben mich dazu bewegt meine Heimat zu verlassen und eine neue Lebensperspektive in Deutschland zu suchen. Als ich 2009 in Deutschland angekommen bin, musste ich mit den Erlebnissen, die ich aus der Heimat mitbrachte in der neuen Umgebung zurechtkommen. Mir fehlte der Über- 2 Das gilt grundsätzlich herkunftsunabhängig, da auch gebürtige Deutsche unterschiedliche soziale Hintergründe haben. Gleichzeitig sind Geflüchtete in besonderer Weise von diesem Phänomen betroffen.

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blick und die Kenntnis, um mir eine langfristige Bleibeperspektive zu sichern und ich wusste nicht, wie ich verlässliche und vertrauliche Beratung bekomme. All dieses unübersichtliche Neue kam zu meinen bestehenden Schwierigkeiten, die Sprache nicht zu kennen und mich mit meinen Erlebnissen alleine zu fühlen, hinzu. Das war für mich eine lange, sehr schwere Zeit. Um mit meiner Situation zurecht zu kommen war es für mich unabdingbar, eine Be-schäftigung zu finden, damit ich anstelle ständig zu grübeln meine Themen und Aufgaben nacheinander bewältige und mich gleichzeitig zugehörig fühle. So erlebte ich die Ausländer-gesetze als Belastung: Ich habe ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in Hildesheim angefan-gen und musste dies wegen meiner Residenzpflicht abbrechen. Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Für eine kurze Zeit hatte ich im FSJ die Chance, etwas zu leisten und Menschen kennen zu lernen – das war dann einfach weg. Zum Glück konnte ich mich zeitgleich in Bleiberechtskampagnen engagieren, die ich gemeinsam mit einigen Unterstüt-zer/innen organisiert und durchgeführt habe. Das hat mir trotz allem Mut und Kraft zum Durchhalten gegeben. Die Unterstützer/innen kennen zu lernen war für mich ein großes Glück. Zum Teil haben sich Freundschaften entwickelt, die es mir ermöglicht haben nach Hannover in eine Wohngemeinschaft (WG) zu ziehen. Die Bleiberechtskämpfe sowie die erfolgreiche Kampagne gegen das Gutschein-System, welches Geflüchteten keinen Zugang zu Bargeld erlaubte und als bevormundend erlebt wurde, ließen mich Bestärkung und Anteil-nahme erfahren; ebenso unser Engagement gegen miserable Lebensbedingungen in Ge-meinschaftsunterkünften. Gleichzeitig ermöglichte mir das WG-Leben ein selbstbestimmtes Lernen der deutschen Sprache sowie den gemeinsamen Besuch der Bibliothek mit meinen Freund/innen. In dieser Zeit wollte ich gerne Lehrer werden und habe bereits nach einem Studienplatz gesucht, den ich aufgrund des fehlenden C1-Zertifikats sowie wegen Finanzie-rungsschwierigkeiten nicht bekommen habe. Doch das Dolmetschen und mein soziales En-gagement haben mir so viel Durchhaltevermögen gegeben, dass ich mich immer weiter be-werben konnte. Zusätzlich habe ich in dieser Zeit im Kontakt mit all den Menschen eine an-dere Seite an mir entdeckt. So hat sich mein Berufswunsch in Richtung des Feldes sozialer Arbeit verändert. Mein ehrenamtliches Engagement hat mir außerdem die Möglichkeit gegeben, allmählich einen konkreten Weg in Richtung finanzielle Unabhängigkeit zu finden. Ich sprach zu dieser Zeit zwar noch nicht viel Deutsch, konnte aber einen Minijob beim Flüchtlingsrat Niedersach-sen ausüben und Flüchtlinge auf Französisch, Englisch und in verschiedenen ostafrikani-schen Sprachen beraten sowie für sie im Gespräch mit Ärzt/innen, Therapeut/innen und bei Behördengängen dolmetschen. Während mein Verfahren um einen Aufenthaltstitel noch immer lief, habe ich begonnen, deutsch zu lernen. Meinen ersten Sprachkurs (B1) habe ich von meinem eigenen Geld be-zahlt, weil ich noch keinen Anspruch auf einen Kurs hatte. Als ich dann einen Aufenthaltstitel bekommen habe und zunächst in den SGB II-Bezug gekommen bin, war ich zwar der Finan-zierbarkeit eines Studiums nicht näher gekommen – mir wurde allerdings ein B2-Sprachkurs bezahlt. Leider hatte das Jobcenter andere Vorstellungen von meinem Werdegang, als ich selbst. Das Jobcenter wollte, dass ich eine Maßnahme antrete, die nicht meinen Interessen, Fähigkeiten und Bedarfen entspricht. Es war eine Herausforderung zu vermitteln, dass mir in diesem Kurs keine Inhalte vermittelt werden würden, die mir in meiner Situation weiterhelfen.

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Schließlich konnte ich aushandeln, dass ich stattdessen einen Sprachkurs besuchen konnte, der mich für ein Studium befähigt. Gleichzeitig habe ich gejobbt. Nach einem Jahr habe ich ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung bekommen – musste neben dem Studium aber trotzdem weiterarbeiten. Mein Studium begann schließlich an der Hochschule Rhein-Waal. Das war die Einzige, die mich angenommen hat. Deshalb habe ich mich dafür entschieden, mehrmals pro Woche fünf Stunden je Richtung zu pendeln – was ich drei Semester lang durchgehalten habe. Wenn-gleich ich die Zeit im Zug zum Studieren nutzen konnte, hat es mir das Fahren und das ne-benher Arbeiten sehr schwer gemacht, mich auf das Uni-Leben zu konzentrieren. Mein sozi-ales Engagement, das mir so viel Kraft gegeben hat, musste ich einschränken. Für das Stu-dium Referate, Hausarbeiten oder ähnliches mit anderen zusammen zu erarbeiten war ent-sprechend erst ab dem zweiten Semester möglich, wenn ich über Nacht in Kleve bleiben konnte. Zusätzlich schwierig war mein Studienstart nach wie vor, weil ich mich sprachlich noch einfinden und Deutsch nicht nur im Alltag, sondern auch als neue Bildungssprache nut-zen lernen musste. Über mehrere Umwege habe ich schließlich an der Universität Oldenburg meinen Bachelor in Interkultureller Bildung und Beratung abgeschlossen. Menschen kennen zu lernen, mit denen ich mich verbunden fühle; die Chance zu haben, mich auszuprobieren, Lebensräume und Orte für mich zu entdecken, aktiv zu sein – also meinen eigenen Platz finden zu können und Traumata verarbeiten zu können – das hat mir am meisten geholfen, über Jahre meine Lebenssituation auszuhalten. Mittlerweile bin ich in meinem Berufsleben gut angekommen. Ich werde im kommenden Semester meinen Master in internationale Migration und interkulturelle Beziehungen an der Universität Osnabrück ab-schließen. Die Zeit, in der Verzweiflung und Ohnmacht so dicht neben Mut, Motivation und Eigenaktivität gelegen haben, erstreckte sich über Jahre. Und das gilt auch für Jugendliche, die sich jetzt gerade in Deutschland neu orientieren und sich eine Perspektive und Zugehö-rigkeit erarbeiten müssen. Den eigenen Platz zu suchen erfordert viel Mut und Unterstützung durch Dritte. Meine Arbeit mit Jugendlichen Für Jugendliche, die nach einer Flucht hier angekommen sind, kommen zusätzlich zu all den Belastungen, die ich oben an meinem Beispiel beschrieben habe, die Wirren und Auseinan-dersetzungen der Pubertät hinzu. Sie wissen noch nicht, wer sie sind, was sie sein können. Sie stellen sich selbst viele Fragen: „Was will ich?“ „Wo sind meine Eltern?“ „Warum ist das Leben so schwer?“ „Wie ist das mit der Sexualität?“ „Was passiert mit meinem Körper?“ „Auf wen oder was stehe ich und wie lerne ich eine/n Partner/in kennen?“ Sie stehen bezüglich unterschiedlicher Lebensbereiche vor großen Entwicklungsaufgaben und brauchen Achtung und Zeit, um sich zu orientieren. Sie brauchen ebenso Vorbilder und Eltern. Bei ZiN und Mannigfaltig unterstütze ich in meiner Honorartätigkeit Jugendliche pädago-gisch, um gemeinsam Orientierung und Ziele für das eigene Leben zu finden. Wir gehen da-bei weit über das Thema Ausbildung hinaus, weil das für die Jungen meist einen anderen Stellenwert hat, als es aus unserer Erwachsenen-Sicht haben. Ein Grund dafür, dass für die

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Jugendlichen andere Themen deutlich wichtiger sind, ist, dass insbesondere bei Fluchtbio-grafien andere große Themen auf eine emotionale Verarbeitung drängen. Im Falle der unbe-gleiteten minderjährigen Geflüchteten suchen wir deshalb beispielsweise zusammen Mittel, mit dem Schmerz, ohne Eltern und Geschwister zu leben, zurecht zu kommen. Ebenso gibt es Fälle, in denen Jungen drei Jahre lang unbegleitet in Deutschland gelebt haben und nun mit ihren Eltern zusammengeführt werden. Die Eltern erkennen dann oft ihr Kind nicht mehr wieder, weil es sich stark verändert hat, sodass innerfamiliäre Wertekollisionen zum Alltag werden. Statt Verständnis für und Unterstützung in seiner Situation, die der Junge braucht, erfährt er Ablehnung von seinen Eltern. Die psychischen Belastungen, mit denen sich der Jugendliche alleine fühlt, werden mehr, statt weniger. Wir suchen dann, wenn der Junge ein-verstanden ist, mit seinen Eltern das Gespräch und moderieren einen Dialog in der Familie. Im Vergleich zu der Zeit, in der ich selbst geflüchtet bin, gibt es einen Aspekt ein, der einen sehr positiven Effekt hat: Die Möglichkeit, Bildungsangebote in Anspruch zu nehmen gilt nun auch für Menschen, die (noch) keinen Aufenthaltsstatus haben, denen aber eine sogenannte Bleibeperspektive zugesprochen wird. Das spielt vor allem für die Personen eine Rolle, de-ren Schulpflicht als erfüllt gilt. Dafür besteht nun die Herausforderung, Jugendlichen zu ver-mitteln, weshalb sie jahrelang zur Schule gehen sollen, statt zu arbeiten. Über eine Schul-pflichterfüllung hinaus besteht nun also die Möglichkeit, je nach Bildungsstand vergleichs-weise schnelle und leichte Zugänge zu Bildung, Ausbildung und Arbeit zu bekommen. Ent-sprechend wichtig ist es, auch den jungen Menschen, denen letztlich kein dauerhafter Auf-enthalt in Deutschland gewährt wird, eine produktive pädagogische Begleitung zu bieten und ihnen klar zu machen, dass sie im Falle einer Abschiebung wertvolle Erfahrungen aus Deutschland mitnehmen können: Dieser Aspekt kann Jugendlichen die „Notwendigkeit“ oder vielmehr die Vorzüge vor Augen führen, sich auf eventuell eintretende Ereignisse einzustel-len. In einem Gedankenexperiment oder Rollenspiel können sie spüren, dass ein Schulbe-such für sie von Vorteil sein kann. Deutsche Freunde finden, um neue Perspektiven auf das Thema zu gewinnen und Rückhalt zu erfahren, kommt auch hier wieder als wichtiger Punkt auf. Interessant wäre diesbezüglich in den Einrichtungen zu überlegen, wie Räume eröffnet werden können, um Geflüchtete und deutsche Jugendliche darin zu bestärken, einander kennen zu lernen. Mit dem in Deutschland aufgenommenen Wissen, den gewonnenen Kompetenzen und Er-fahrungen haben sie in ihrem Herkunftsland die Möglichkeit, sich eine neue und nachhaltige Existenz aufzubauen. Diese Menschen haben auf diese Weise trotz der Abschiebung nicht nur etwas für sich gewonnen, sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Wirt-schaftsstruktur in ihrem Herkunftsland. Welche Haltung mir in meiner Arbeit hilft Im Falle der Jugendlichen, die zu uns kommen, ist oft viel Vorarbeit zu leisten, bevor Fragen nach einer Ausbildung und nach beruflicher Zukunft aus Sicht der Jugendlichen wichtig wer-den. Gleichzeitig ist die Vermittlung in Beschäftigungsverhältnisse nicht das Ziel unserer Ar-beit, sondern die Arbeit an den Themen, die die Jungen gerade bewegen sowie eine Vermitt-lung von Verantwortungsbewusstsein wie auch von Kompetenzen, eigene Gefühle und

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Wünsche wahrzunehmen und für alle Lebensbereiche realistische Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Nicht zuletzt wegen sprachlicher Schwierigkeiten oder einfach aufgrund unterschiedlicher Wahrnehmungen und Gewohnheiten ist es für uns Pädagog/innen eine schwere Aufgabe, zuzuhören und zu verstehen, was Jugendliche meinen. Einen realistischen Weg zur Erfül-lung eines Bedürfnisses aufzeigen können wir nur, wenn wir dieses Bedürfnis verstanden haben. Ist ein Jugendlicher beispielsweise von der Idee überzeugt, den Sprachkurs abbre-chen zu wollen, da er eine Stelle als ungelernte Hilfskraft in seinem Traum-Berufszweig ge-funden hat, können wir lediglich nach dem Beweggrund fragen und Konsequenzen dieser Entscheidung spiegeln, um andere Entscheidungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Der Ent-schluss für eine Option obliegt dennoch dem Jugendlichen, der lernen muss, die Reichweite seiner Entscheidung sowie Verantwortlichkeit zu lernen. Dies gilt analog, wenn wir das Ver-halten des Jugendlichen uns gegenüber als respektlos wahrnehmen – wenngleich eine offe-ne Haltung in einer solchen Situation zu bewahren ungleich schwieriger ist. Positiv gewendet bedeutet diese Art zu arbeiten, jungen Menschen dabei zu helfen, an sich zu glauben und dabei zu begreifen, was für sie möglich ist und was sie erreichen wollen. Da Jugendliche insbesondere dann, wenn sie einen Fluchthintergrund haben, häufig große Machtlosigkeitsgefühle und Traumata mitbringen, brauchen sie Rückzugsmöglichkeiten ge-nauso wie eine verlässliche Begleitung, die für sie und mit ihnen kämpft. Um den Brücken-bau verlässlich leisten zu können und dabei sowohl produktiv mit den Jugendlichen, als auch mit Ämtern und anderen Institutionen zusammenarbeiten zu können, ist Expertise und Rück-halt durch Fachberatung oft unerlässlich. Für essentiell an dieser Stelle halte ich die Einsicht, dass sich die Jugendlichen grundsätzlich immer und herkunftsunabhängig darum bemühen, ihre Lebenssituation zu gestalten. Wenn diese jungen Menschen Gefahr laufen, durch bestimmte Ereignisse den Mut zu verlieren, sind sie auf sozialen Rückhalt angewiesen, um persönliche Kompetenzen entwickeln oder formale Bildung annehmen zu können. Ohne Rückhalt und ohne Spiegel eigener Gedanken besteht für wenig erfahrene und emotional ungefestigte Personen das Risiko zu fehlgeleite-ten Überzeugungen und aus unseren Augen seltsamen Bemühungen zu gelangen. Geringe Dialogbereitschaft wird bei wachsender Frustration die Folge sein. Die Betroffenen allein können daran nichts ändern, umso wichtiger ist an dieser Stelle unsere pädagogische Arbeit.

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5. Bedingungsfaktoren gelingender Übergänge Autor: Dr. Frank Elster ist Professor für Allgemeine Soziale Arbeit an der Northern Business School, Geschäftsfüh-rer der Jugendbildung Hamburg gGmbH und Bundesvorsitzender der Bundesar-beitsgemeinschaft örtlich regionaler Trä-ger der Jugendsozialarbeit (BAG Ört e.V.) Fachkräften, die im Bereich Übergang Schule-Beruf mit so genannten benachteiligten jungen Menschen arbeiten, muss man eigentlich nicht erzählen, welche Schwierigkeiten es hier gibt. Doch auch die Statistik spricht immer noch eine eindeutige Sprache: Zwischen 2008 und 2017 stieg sowohl die Anzahl der unbe-setzten Ausbildungsplätze, als auch die Anzahl der „unversorgten Bewerber/innen“ kontinu-ierlich an (vgl. BMBF 2018, 26). Es scheint also eine andauernde Herausforderung zu sein, jungen Menschen, die vielleicht nicht die idealen Voraussetzungen mitbringen, erfolgreich einen beruflichen Weg zu ebnen. Dazu soll im Folgenden weder eine Strukturdebatte geführt werden, dies ist in der Vergan-genheit im Übermaß geschehen (vgl. für Viele: Bertelsmann Stiftung 2011). Noch geht es darum, die Defizite der Jugendlichen aufzuzählen, die es auszugleichen gelten müsste (vgl. bspw. Schmidt 2011). Auch der psychologische Blick ist nicht das Anliegen dieser Auseinan-dersetzung. Vielmehr soll in pädagogischer Hinsicht nachfragt werden, welche Bedingungs-faktoren gelingender Übergänge formuliert werden können. Was tun sozial benachteiligte Jugendliche, um ihre Persönlichkeit zu konstituieren? Wie kann ihr Tun pädagogisch beglei-tet werden, sodass sich die soziale Anschlussfähigkeit dieser Persönlichkeiten erhöht? Zwecks der Beantwortung dieser Fragen werden ausgehend vom Begriff der Anerkennung Eckpunkte solcher Bedingungsfaktoren skizziert (1). Dann exemplarisch anhand empirisch herausgearbeiteter versagter Anerkennung von Hauptschülerinnen und -schülern diskutiert (2) und im Anschluss einer soziologischen Analyse unterzogen (3). Dies zusammenfassend versuche ich dann, einige pädagogisch anschlussfähige bzw. pädagogisch wirkungsfähige Bedingungsfaktoren gelingender Übergänge zu formulieren (4). Anerkennung und elementare Solidarität Ute Clement hat in ihrer Publikation „Ehrbare Berufe für coole Jungs“ (2012) den in der Pä-dagogik ein wenig unüblichen Begriff der Ehre ins Zentrum ihrer Überlegungen gestellt. Sie kontrastiert den traditionellen Begriff der „Berufsehre“ (ebd., S. 17) mit denjenigen Vorstel-lungen, die Jugendliche von ihrer eigenen Ehre haben (vgl. ebd., S. 41ff.). Zwar gelingt es ihr dabei, pädagogische Strategien der Bezugnahme auf den Begriff der Ehre im Rahmen der Arbeit mit „schwachen Jugendlichen“ (ebd., S. 11; Herv. im Original) zu formulieren, ihr Re-sümee bleibt jedoch skeptisch: „Sind wir also zum Ende dieses Buches gerade so weit wie zu Beginn? Ist die Spannung zwischen Engagement für schwache Jugendliche und dem potenziellen Scheitern dieses Engagements nun zwar ein wenig besser erklärbar, aber letzt-lich ebenso wenig auflösbar wie zu Anfang? Ich fürchte: Manchmal ja.“ (Ebd., S. 129)

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Dieses skeptische Fazit ist vor allem der Engführung auf den Begriff der Ehre geschuldet. Durch die Analyse der Funktionsweise eines solchen Begriffes ergeben sich erweiterte pä-dagogische Handlungsspielräume. „Ehre“ ist eine Kategorie, die Anerkennung verleiht: Wer sich innerhalb eines beruflichen Zusammenhanges „ehrbar“ verhält, erlangt berufliche Aner-kennung; wer sich als Jugendliche/r „cool“ verhält und sich den Regelsystemen der Ehre beugt, die in der Peergroup vorherrschen, ist dort anerkannt. Nun ist „Ehre“ aber keineswegs die einzige Kategorie, die Anerkennung zu erwirken vermag. Bei Clement scheint „Ehre“ eine Art Chiffre zu sein für diejenigen Kategorien, die in bestimm-ten sozialen Handlungszusammenhängen Anerkennung herstellen und auf diesem Wege der Konstitution eines Selbst des Jugendlichen den Weg ebenen (vgl. ebd., S. 53ff.). Dass Anerkennung genau diese Funktion der Generierung von Identität und Selbst innehat, wird in der Sozialpsychologie und Subjektphilosophie breit diskutiert (vgl. Butler 2001, Hon-neth 1994). Auf die begriffliche Unterscheidung zwischen „Subjekt“, „Selbst“ und „Identität“ wird im Rahmen der vorliegenden Überlegungen aus Platzgründen nicht eingegangen; diese können in anderen Ausarbeitungen nachgelesen werden (vgl. Elster 2007, S. 161ff.). Für die weitere Argumentation ist diese begriffliche Unterscheidung jedoch von nachrangigem Inte-resse; entscheidend ist vielmehr die pädagogische Bedeutung von Anerkennung: Anerken-nung zu gewähren ist die Voraussetzung dafür, dass ein menschliches Individuum in sozia-len Zusammenhängen ein Selbst zu konstituieren und auf diesem Wege Handlungsfähigkeit zu erlangen vermag. Dementsprechend führt das Vorenthalten von Anerkennung in einem bestimmten sozialen Kontext dazu, dass genau hier Handlungsfähigkeit verunmöglicht und das Selbst prekär wird (vgl. Butler 2001 sowie Honneth 2003). Nun verweist Clement zurecht darauf, dass die soziale Welt inzwischen durch Pluralität, Be-grenztheit und Kontingenz geprägt sei: „Die Erosion der Rollenentwürfe bringt mehr Freiheit, zugleich aber mehr Risiko und Orientierungslosigkeit. Die Frage: Wer will ich sein heißt ja vor allem: Wohin und zu wem will ich gehören, und das ist heute nicht mehr so selbstverständ-lich und naheliegend vorgegeben. Wer wir sind, ist nicht stabil und nicht dauerhaft, sondern eher ein Projekt mit begrenztem Gültigkeitsanspruch.“ (Dies. 2012, S. 56; Herv. im Original) Das aber bedeutet, dass Jugendliche, die in dem durch Schule, Ausbildung und Beruf ge-prägten sozialen Geltungszusammenhang keine Anerkennung erlangen, sich andere soziale Zusammenhänge zur Generierung ihres Selbst suchen. So gesehen droht eine dauerhafte Exklusion aus dem dominanten, durch das Erwerbsleben geprägten sozialen System. An-ders gesagt: Jugendliche, die Schule, Ausbildung oder das „Übergangssystem“ als Medium des Scheiterns erfahren, weil ihnen dort Anerkennung versagt bleibt, „klinken“ sich aus die-sen Zusammenhängen aus und suchen sich andere Bereiche ihres Lebens, in denen sie Bestätigung und Anerkennung erfahren. Ist dieser Zustand erst einmal manifest, ist eine pä-dagogische Intervention zur Wieder-Inklusion in den Bereich des Erwerbslebens dauerhaft erschwert; es droht eine Zementierung der Exklusion. Die im folgenden Abschnitt referierte ethnografische Feldstudie bei Berliner Hauptschülern untermauert diese These eindrucks-voll.

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An dieser Stelle jedoch sind zunächst zwei Dinge entscheidend: Erstens ist zu fragen, an welchen Punkten der menschlichen Entwicklung Anerkennung eine besondere Bedeutung zukommt und somit eine nachhaltige pädagogische Wirksamkeit entfaltet. Es handelt sich gerade um krisenhafte Übergänge, also um Lebensphasen, an denen die bisherigen Katego-rien der Selbst- und Welterfahrung nicht mehr ausreichen und deshalb neue gefunden wer-den müssen, an denen also das bisherige Selbst überschritten und eine neue Form des Selbst- und Weltverhältnisses entwickelt werden muss. Helmut Peukert (1998) beispielswei-se beschreibt die Entwicklung des Kindes und Jugendlichen keineswegs als kontinuierlicher Prozess, sondern als Wechsel von stabilen Phasen mit der Ermöglichung von „krisenhaften Übergängen“ (ebd., S. 25). Den „Beginn solcher Umstrukturierungen“ verortet er in der „Er-fahrung, dass die bisher erworbene Handlungsfähigkeit bei der Begegnung mit neuen sozia-len und sachbezogenen Handlungsbereichen nicht mehr ausreicht“ (ebd.). Angesichts sol-cher Erfahrungen gehe es darum, sich „wie durch einen Bruch hindurch immer wieder in ein neues Verhältnis zum Gegebenen und zu sich selbst zu setzen und die [dem Subjekt] aufge-gebene Freiheit zu realisieren“ (ebd.). Mit Fug und Recht kann man diesen Prozess der Ge-nerierung eines neuen Selbst- und Weltverhältnisses als Bildungsprozess bezeichnen (so auch Koller 2012). Zweitens ist zu fragen, welche Form von Anerkennung diese Transformationsprozesse er-möglicht: „Von besonderem Gewicht für das Gelingen solcher Übergänge scheint zu sein, ob Personen und Institutionen bei der unter Umständen auch für andere schmerzlichen Selbst-überschreitung nicht die prinzipielle Anerkennung versagen, sondern vielmehr auf Basis ei-ner elementaren Solidarität Spielräume für die Selbsterprobung in alternativen Weisen des Umgangs mit Realität freigeben und paradigmatisch vorführen.“ (Peukert, a.a.O.) Peukert beschreibt hier eine Ausprägung von Anerkennung, die jede Anerkennung anhand beste-hender Kategorien und Formen überschreitet und die Anerkennung der Alterität, das heißt der genuinen Andersheit des Anderen zum Gegenstand hat (ähnlich argumentiert auch Wimmer 1996). Aus diesem Grund spricht Peukert von einer elementaren Anerkennung und Solidarität; „elementar“ in dem Sinne, dass diese Anerkennung jedem Kategorien- oder Krite-riensystem, welches üblicherweise in sozialen Kontexten die Anerkennung bestimmt, vor-hergeht, es transzendiert. Zweifellos ist auch der Übergang von der Schule in das Erwerbsleben als solch ein krisen-hafter Übergang anzusehen. Damit sind entscheidende Eckpunkte gelingender Übergänge benannt: Jugendliche stehen am Ende ihrer Schulzeit vor einer Schwelle, die ein neues Ver-hältnis zur sozialen Umwelt und zu sich selbst erfordert. Das gilt in besonderem Maße für die von Clement so benannten „schwachen“ Jugendlichen, also für jene jungen Menschen, die bereits in der Schule Erfahrungen von Missachtung gemacht haben. Damit das Überschrei-ten jener Schwelle gelingt, müssen diese Jugendlichen Anerkennung erfahren. Entscheidend ist nun die pädagogisch begründete Form der Anerkennung: Da es sich um einen potenziell krisenhaften Übergang handelt, bei dem das bisherige Selbst- und Weltverhältnis in Frage gestellt und ein neues gefunden werden muss, sind die am Übergang agierenden Personen und Institutionen angehalten, eine elementare Form von Anerkennung und Solidarität anzu-

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bieten, die für die verschiedenen Wegen der Selbsterprobung und des Umgangs mit der Re-alität Räume freigibt, Alternativen zulässt und Phasen des Versuchs und auch des Schei-terns sowie der Neu- und Umorientierung ermöglicht. Das bedeutet: Eine elementare Aner-kennung und Solidarität für alternative Wege des Seins und Spielräume für Selbsterprobung innerhalb des Systems von Schule, Ausbildung und Erwerbsarbeit ermöglicht den Übergang von Schule in Ausbildung und Arbeit auch für „schwache“ Jugendliche und verhindert die Exklusion aus diesem System. Hauptschule: Versagte Anerkennung Versuchen wir nun, diese abstrakt formulierte Skizze mit einem konkret-empirischen Beispiel zu untermauern. Stefan Wellgraf hat am Beispiel Berliner Hauptschulen die Formen von An-erkennung bzw. das Vorenthalten derselben einer „ethnographischen Feldforschung“ (ders. 2012, S. 13) unterzogen. Dabei knüpft er an die anerkennungstheoretischen Postulate an, die ich im vorigen Abschnitt skizziert hatte: „Nichtanerkennung kann in dieser Sichtweise als eine Form von Unterdrückung verstanden werden und zu Identitätsverletzungen führen.“ (Ebd. S. 29) Im Rahmen seiner Feldbeobachtungen und Interviews in verschiedenen Berliner Hauptschu-len stößt Wellgraf jedoch kaum auf Anerkennung. Vielmehr ist es die Missachtung von Hauptschülern, die er herausarbeitet: So empfänden viele Schüler bereits die „häufig unge-wollte Zuweisung zu diesem Schultyp als eine persönliche Niederlage.“ (Ebd., S. 21) Für viele Schüler beginne die Hauptschulzeit bereits „mit einem beschämenden Gefühl der De-gradierung“, welches zuweilen in einer „trotzigen Weigerung, sich am zeremoniellen Schul-jahresanfang zu beteiligen“, ihren Ausdruck finde (ebd.). Dieses Gefühl der Degradierung und der Mangel an Anerkennung führe zu einer „Beschämung“ der Hauptschüler (ebd.): „Ein soziales Schamgefühl entsteht (V) aus einem in sozialen Beziehungen erfahrenen geringen Maß an Anerkennung.“ (Ebd., S. 22) Wellgraf verallgemeinert diese Diagnose und betont die Wirksamkeit der von ihm beschrie-benen Problemkonstellation gerade auch für das Ende der Schulzeit: „Das Problem fehlen-der Anerkennung (V) kann als eine spezifische Ausdrucksform und gleichzeitig als ein ele-mentarer Baustein der gesellschaftlichen Verachtung von Hauptschülern begriffen werden. Anerkennungsdefizite entwickeln für die betroffenen Jugendlichen nicht nur am Beginn, son-dern vor allem am Ende ihrer Schulzeit eine besondere Wucht und Dynamik.“ (Ebd.) Denn, so sein Resümee, „Berliner Hauptschüler werden am Ende Ihrer Schulzeit massiv mit For-men gesellschaftlicher Ausgrenzung konfrontiert.“ (Ebd., S. 77) Es ist nach Wellgrafs Diagnose gerade die Diskrepanz zwischen den Wünschen und Zu-kunftsplänen der Berliner Hauptschüler einerseits, und dem, was die Gesellschaft an Zukunft für sie bereit hält andererseits, was den Kern der Erfahrung des Scheiterns ausmacht: „Sucht man nach den am häufigsten genannten verborgenen Wünschen in den Zukunftsträumen von Berliner Hauptschülern, wird man schnell fündig: sowohl ethnisch deutsche als auch migrantische Hauptschüler sehnen sich überwiegend nach familiärer Geborgenheit und be-ruflicher Sicherheit, nach einem Leben in Wohlstand frei von Existenzsorgen.“ (Ebd., S. 111)

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Sie träumen Wellgraf zufolge also angesichts der Wirklichkeit auf dem Ausbildungs- und Ar-beitsmarkt „vor allem von Dingen, die ihnen weitgehend vorenthalten werden.“ (Ebd.) Seinen Analysen zufolge warten statt Ausbildung und Arbeit vor allem typische, demotivie-rende Erfahrungen auf die Abgänger der Hauptschule: „Die Mehrzahl der Lichtenberger, Neuköllner und Weddinger Hauptschüler, die mir im Verlauf meiner Forschung begegneten, gingen jedoch einen solchen Weg, dessen außerschulische Wegmarken scheiternde Bewer-bungen, erfolglose Praktika und gefürchtete Termine im Jobcenter bildeten“ (ebd., S. 112). Wellgraf resümiert: „Die Zeit nach Verlassen der Schule ist für die Jugendlichen, welche uns in diesem Abschnitt begegneten, von Sorgen, Misserfolgen und Demütigungen geprägt. Be-reits in der Hauptschule wird ihnen lediglich eine Karriere als Hausfrau, Krimineller oder Harz-IV-Empfänger prophezeit, nach der Hauptschule scheitern sie in der Regel bei Bewer-bungsgesprächen, Einstellungstests oder dem Versuch, ihren Schulabschluss zu verbes-sern.“ (Ebd., S. 127) Unter diesen Voraussetzungen scheint, so Wellgraf, die „Aufrechterhal-tung eines positiven Selbstentwurfs (V) fraglich“ (ebd.). Die Folge seien „Identitätsverletzun-gen“, welche sich „im Modus des Denkens, des Fühlens und des Handelns artikulieren.“ (Ebd., S. 134) Welche Möglichkeiten haben Jugendliche, angesichts solch massiver Identitätsverletzungen überhaupt ein Bild von sich selbst zu entwickeln, welches nicht ausschließlich negative Kon-notationen in sich birgt? Im vorigen Abschnitt wurde auf einer analytischen Ebene herausge-arbeitet, dass Jugendliche sich in solchen Fällen alternative Felder der Anerkennung suchen. Wellgraf beschreibt denselben Vorgang am Beispiel der Neukölln Ghetto Boys und der Be-deutung, den diese oder ähnliche Jugendgangs für die von Missachtungserfahrungen ge-prägten Hauptschüler haben: „In Gruppenbeziehungen hergestellte Anerkennungsformen ermöglichen somit Jugendlichen wie Mohamad die Stärkung von Selbstwertgefühl, Selbst-vertrauen, Selbstachtung und Selbstrespekt und können demnach als wichtige Ressource im Prozess der Identitätsbildung verstanden werden.“ (Ebd., S. 31) Und das bedeute konkret für das Beispiel dieses migrantischen Hauptschülers: Die „Jugendbande bietet ihm Formen so-zialer Wertschätzung, die ihm in anderen Lebensbereichen weitgehend vorenthalten werden“ (ebd., S. 37). Auf diese Weise, so Wellgraf, zementiert sich die Exklusion der von ihm be-schriebenen Berliner Hauptschüler: „Der bei den Schülern zu beobachtende Wunsch nach positiver gesellschaftlicher Wertschätzung kann als Reaktion auf die Verachtung von Haupt-schülern verstanden werden. Das Problem der beschriebenen Anerkennungsstrategien be-steht darin, dass häufig gerade die Praktiken, die Statusaspiration erkennen lassen, zu Mar-kierungen von sozialer Randständigkeit werden.“ (Ebd., S. 304) Rechtliche Anerkennung und soziale Wertschätzung Nachdem anhand des Beispiels Berliner Hauptschulen die Folgen versagter Anerkennung skizziert wurden, versuche ich mich nun an einer soziologischen Analyse des Begriffs der Anerkennung. Honneth unterscheidet Anerkennung in rechtliche Anerkennung und soziale Wertschätzung. Recht begreift Honneth (1994, S. 174) als eine überindividuelle Form gesell-schaftlicher Anerkennung, der zufolge wir uns als „Rechtspersonen in dem Sinne verstehen“ können, „dass wir uns der sozialen Erfüllung bestimmter Ansprüche sicher sein dürfen“.

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(Ebd.) Recht arbeite dabei ohne Ansehen der Person, es seien gerade nicht die individuellen Besonderheiten, sondern die Abstraktheit des Rechtssubjekts mit seinen anerkannten An-sprüchen, die das Recht anerkenne; Honneth versteht Rechte als „anonymisierte Zeichen einer gesellschaftlichen Achtung“ (ebd., S. 192). Soziale Wertschätzung sei demgegenüber gerade als Anerkennung individueller Besonderheiten eines Individuums anzusehen, als „graduelle Bewertung konkreter Eigenschaften und Fähigkeiten“ eines Individuums anhand gesellschaftlich allgemein anerkannter Normen und Werte (ebd., S. 183). Rechtliche Anerkennung im Bereich Schule und Beruf treffen wir in allen gesetzlich und tarif-lich geordneten Bereichen wieder. Jugendliche im Prozess des Übergangs werden so gese-hen vor allem dann rechtlich anerkannt, wenn sie über entsprechende Abschlüsse verfügen. Die Diskussion um zertifizierbare Teilqualifikationen, Module etc. (vgl. hierzu bspw. Severing 2006) hat genau an dieser Stelle ihren Ort: Indem Jugendliche ohne Schul- bzw. Berufsab-schluss – bspw. im „Überganssystem“ – solche zertifizierbaren Teilqualifikationen erwerben können, können auch sie rechtliche Anerkennung erlangen. Dieser Punkt ist in der aktuellen Debatte um den Übergang Schule-Beruf prominent vertreten; aus meiner Sicht ist jedoch die zweite, von Honneth formulierte Form der Anerkennung die entscheidende. Es ist nach Honneth die soziale Wertschätzung, die es Individuen ermöglicht, „sich auf ihre konkreten Eigenschaften und Fähigkeiten positiv zu beziehen“ (ders. 1994, S. 196). Das be-deutet, dass ihm zufolge erst die Erfahrung von sozialer Wertschätzung es einem menschli-chen Individuum erlaubt, sich positiv auf sich selbst als einzigartigen Menschen zu beziehen. Erst diese Erfahrung komplettiert so gesehen die Entwicklung einer personalen Identität und ist damit auch als Basis von individueller Handlungsfähigkeit anzusehen. Nun haben wir im vorigen Abschnitt Aspekte gesellschaftlicher sozialer Missachtung in der Hauptschule ken-nengelernt. Wenn aber menschlichen Individuen die soziale Wertschätzung verweigert wird, fehlt ihnen der Argumentation Honneth’s zufolge auch die Basis dafür, sich positiv auf sich selbst zu beziehen, eine tragfähige personale Identität auszubilden und somit Handlungsfä-higkeit zu erlangen. Es liegt auf der Hand, dass der erfolgreiche Übergang in Ausbildung somit erschwert, wenn nicht verunmöglicht wird. Bedeutet dies im Umkehrschluss, dass Jugendliche nur die entsprechende soziale Wert-schätzung erfahren müssen, damit der Übergang gelingt? Es ist etwas komplizierter. Hon-neth verortet die Kriterien, anhand derer soziale Wertschätzung sich bemisst, in einem in-tersubjektiv geteilten Wertehorizont: „Ego und Alter könne sich wechselseitig als individuelle Personen nur unter der Bedingung wertschätzen, dass sie die Orientierung an solchen Wer-ten und Zielen teilen, die ihnen reziprok die Bedeutung oder den Beitrag ihrer persönlichen Eigenschaften für das Leben des jeweils anderen signalisieren.“3 (Ebd.) So gesehen kann ein Jugendlicher im Übergang Schule-Beruf nur dann mit sozialer Wertschätzung rechnen, wenn seine persönlichen Eigenschaften als positiver Beitrag für gesellschaftlich allgemein geteilte Werte und Ziele angesehen werden. Ohne dies hier empirisch belegen zu können: Alle, die im Bereich des Übergangs Schule-Beruf mit „schwachen“ Jugendlichen arbeiten, 3 Mit „Ego“ und „Alter“ bezeichnet die Psychologie und Sozialpsychologie üblicherweise ein Ich („Ego“) und ein in Beziehung dazu stehenden Anderen, ein anderes Ich („Alter“).

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wissen, dass dies in aller Regel gerade nicht der Fall ist. Auch dies wurde bereits im vorigen Abschnitt erkennbar. Die soziologische Beschreibung Honneths verhilft also zu einer differenzierten Analyse der Anerkennung im Übergang Schule-Beruf; sie macht die Bedeutung ebenso wie die Grenzen rechtlicher Anerkennung sichtbar und verdeutlicht die negativen Folgen der Vorenthaltung sozialer Wertschätzung. Auf diese Weise wird erkennbar, wie sehr „schwache“ Jugendliche im Übergang Schule-Beruf auf eine pädagogisch begründete Form der Anerkennung ange-wiesen sind, wie sie im ersten Abschnitt skizziert wurde. Erst eine Anerkennung, die anders als die soziale Wertschätzung nach Honneth die konkreten Eigenschaften des Jugendlichen nicht anhand der vorherrschenden Werte und Normen bemisst, sondern dessen kreative Freiheit, das Ausprobieren eigener, neuer Wege (und Umwege) und die je individuelle Le-bensgestaltung anerkennt, vermag den Jugendlichen die positive Bezugnahme auf sich selbst zu ermöglichen und somit einer tragfähigen Identität als Basis für subjektive Hand-lungsfähigkeit den Weg zu ebnen. Pädagogisch wirkungsfähige Bedingungsfaktoren gelingender Übergänge Bei der Betrachtung pädagogisch wirksamer Bedingungsfaktorenmuss zunächst zwischen solchen unterschieden werden, die den Entscheidungen der in diesem Feld tätigen Päda-gog/innen zugänglich sind, und solchen, die eher struktureller, und das bedeutet vor allem auch politischer Natur sind. Was die konkrete Arbeit mit „schwachen“ Jugendlichen am Übergang Schule-Beruf angeht, so kann zunächst festgehalten werden, dass die im vorigen Abschnitt dargestellte Form pä-dagogischer Anerkennung eine entsprechende pädagogische Haltung der hier handelnden Akteur/innen (Pädagog/innen) erfordert. Was für viele Pädagog/innen eigentlich wie eine Selbstverständlichkeit klingt, ist hier in seiner gesamten Konsequenz zu durchmessen: Die dargelegte elementare Anerkennung bedeutet eben, den jungen Menschen mit seinem ge-samten eigenen, je spezifischen Wünschen, Vorstellungen und Eigenschaften als solchen anzuerkennen. Also keine Ideen, Vorstellungen und auch Ansprüche vor Vornherein auszu-schließen und sich von vorgegebenen Ansprüchen und Richtschnüren zu lösen. Das wird im Rahmen institutioneller Strukturen immer an Grenzen stoßen, hier ist der/die Pädagog/in aber aufgerufen, im Zweifel die elementare Anerkennung gegenüber institutionellen Grenzen in den Vordergrund zu stellen – das kann unter Umständen auch zu schwierigen Entschei-dungen führen, ist aber pädagogisch geboten. Auch bei abweichendem, gar delinquentem Verhalten darf diese elementare Anerkennung der Person nicht versagt werden; es ist dann streng zu unterscheiden zwischen nicht akzep-tablem Verhalten einerseits und der unbedingten Anerkennung der Person andererseits. Diese elementare Form von Anerkennung als pädagogische Haltung steht eindeutig im Zent-rum pädagogisch wirksamer Bedingungsfaktoren bei der Arbeit mit „schwachen“ Jugendli-chen. Daneben sollten die hier tätigen Akteur/innen die Angebote an die jungen Menschen daraufhin prüfen, inwieweit diese soziale Wertschätzung zu verleihen vermögen, wie diese

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Wertschätzung im dritten Abschnitt beschrieben ist. Je mehr dies möglich ist, desto eher werden diese Angebote die gewünschte Wirkung erzielen. Hier gilt es, vertragliche oder insti-tutionelle Grenzen möglichst weit auszulegen, um wirklich sinnvolle, soziale Wertschätzung verleihende Angebote zu installieren. Externe Kooperationspartner, Sportvereine, Betriebe, Musik, Theaterprojekte – der eigenen Kreativität sollten da wenig Grenzen gesetzt werden, die Möglichkeiten, soziale Wertschätzung zu verleihen, sind vielfältig, stehen aber leider oft-mals nicht im Zentrum der Angebote am Übergang Schule-Beruf. Elementare Anerkennung sowie Angebote, die soziale Wertschätzung verleihen, stehen oft im Widerspruch zu institutionellen Vorgaben. Hier sind Trägerverbünde, Wissenschaft, Wohl-fahrtsverbände etc. gefordert, ihr politisches Mandat anzunehmen, als „ideeller Träger“ zu agieren, und Politik und Verwaltung auf die Bedeutung von elementarer Anerkennung und sozialer Wertschätzung hinzuweisen. Die Übergänge „schwacher“ Jugendlicher in Ausbil-dung und Arbeit gelingen eben umso besser, je stärker auch kreative Freiheit anerkannt und unterstützt wird. Dazu gehört es, für die Jugendlichen Bedingungen zu ermöglichen, die von sozial Privilegierten als selbstverständlich wahrgenommen werden: Das Ausprobieren eige-ner, neuer Wege (und Umwege); die je individuelle Lebensgestaltung der jungen Menschen, eigene Wege der Selbsterprobung und des Umgangs mit der Realität; Phasen des Versuchs und auch des Scheiterns sowie der Neu- und Umorientierung. Literatur • Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) 2011. Übergänge mit System. Rahmenkonzept für eine Neuordnung des Übergangs von der Schule in den Beruf. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung. • Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2018: Berufsbildungsbericht 2018. Online im Internet, URL: https://www.bmbf.de/pub/Berufsbildungsbericht_2018.pdf (abgerufen am 09.10.2018). • Butler, J. 2001. Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt/M.: Suhr-kamp. • Clement, U. 2012. Ehrbare Berufe für coole Jungs. Wie Ausbildung für schwache Ju-gendliche gelingen kann. Weinheim und Basel: Belz Juventa. • Elster, F. 2007. Der Arbeitskraftunternehmer und seine Bildung. Zur (berufs-)pädagogischen Sicht auf die Paradoxien subjektivierter Arbeit. Bielefeld: transcript. • Honneth, A. 1994. Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflik-te. Frankfurt/M.: Suhrkamp. • Honneth, A. 2003. Unsichtbarkeit. Über die moralische Epistomologie von Anerkennung. In Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Honneth, A., 10-27. Frankfurt/M.: Suhrkamp. • Koller, H.-V. 2012. Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: W. Kohlhammer. • Peukert, H. 1998. Zur Neubestimmung des Bildungsbegriffs. In Bildungsgangdidaktik. Denkanstöße für eine pädagogische Forschung und schulische Praxis, hrsg. M. Meyer und A. Reinartz, 17-29. Opladen: Leske & Budrich.

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• Severing, E. 2006. Europäische Zertifizierungsstandards in der Berufsbildung. In: Zeit-schrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik Heft 1/2006, S. 15-29. • Schmidt, C. 2011. Krisensymptom Übergangssystem. Die nachlassende soziale Inklusi-onsfähigkeit beruflicher Bildung. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag. • Wellgraf, S. 2012. Hauptschüler. Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung. Bielefeld: transcript. • Wimmer, M. 1996. Intentionalität und Unentscheidbarkeit. Der Andere als Problem der Moderne. In Alterität, Pluralität, Gerechtigkeit, hrsg. Wimmer, M. und Masschelein, J., 59-85. Sankt Augustin und Leuven: Academia. BEST PRACTICE 6. Bewerbung? Hab ich schon! Autorin: Christiane Hüls, PACE Cloppenburg Diese Aussage ist mittlerweile zur Standardaussage bei der Arbeit mit jungen Menschen in Jugendwerkstätten oder Pro-Aktiv-Centren ge-worden. Im Pro-Aktiv-Center im Landkreis Clop-penburg wird dieser Reaktion grundsätzlich mit Humor begegnet, denn in den meisten Fällen ha-ben die gesammelten Bewerbungswerke wenig mit den Bewerbungsanforderungen gemeinsam. Oder die Bewerbungsunterlagen sind seit einigen Jahren oder Monaten gar nicht mehr überarbeitet worden, sodass aktuelle Bezugs-daten schlichtweg fehlen. Im Zeitalter digitaler Medien halten Jugendliche es für „out“, eine Bewerbung individuell zu formulieren und dann vermutlich noch postalisch an Unternehmen zu versenden. Die Freu-de, dass man die Bewerbung mittlerweile oft per Mail verschicken kann, versiegt in dem Moment, in dem die Bewerbungsunterlagen in PDF-Formate umgeformt und korrekt betitelt abge-speichert werden müssen. Diese Beispiele sind nur Auszüge aus der täglichen Arbeit mit jungen Menschen, die sich bewerben wollen oder müs-sen. Sicherlich wird jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter aus der Praxis eigene Eindrücke und Erfahrungen gemacht haben. Im PACE im Landkreis Cloppenburg haben junge Menschen seit 2004 die Möglichkeit ihre Bewerbungsunterlagen neu zu erstellen oder zu überarbeiten. Uns ist allerdings bewusst, dass wir die Jugendlichen nicht mit diesem Slogan anwerben können, da es aus ihrer Sicht

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eine lästige und sinnlose Arbeit ist. Diesem Angebot folgen nur junge Menschen, denen von Jobcenter auferlegt wurde, dass sie eine bestimmte Anzahl an Bewerbungen schreiben müssen. Es gibt ein Grundgerüst und Empfehlungen, wie Bewerbungsschreiben oder Lebensläufe auszusehen haben. Diese Vorgaben sind jedoch nicht in Stein gemeißelt. Insgesamt ist das für junge Leute vor dem Eintritt in das Berufsleben sehr irreführend und unverständlich. Sie sind das strikte System der Schule gewohnt, in dem exakt vorgegeben wurde, welche For-meln man für bestimmte Aufgabentypen anwenden muss oder welche Regeln bei einer Erör-terung gelten. Die jungen Menschen stehen hier vor einem schlichtweg unlösbaren Problem, denn im Prinzip existieren nur wenige „Regeln“ beim Schreiben in einer Bewerbung. Und die wichtigste davon ist: Schreibe so individuell, interessant und aufmerksamkeitserregend wie möglich, passe aber auf, dass du keine zu langen oder standardisierten Sätze verwendest, beschreibe dich und deine Fähigkeiten sehr genau und positiv, aber wirke dabei nicht über-heblich. Vist doch gar nicht so schwer, oder?! Wir setzen in unserer Beratung bereits einen Schritt vor der Bewerbung an. Wir suchen nicht nur nach den passenden Formulierungen der persönlichen Stärken, sondern füllen sie mit Leben. Mittlerweile sind Personaler gelangweilt von Aussagen wie „in mir finden sie einen zuverlässigen und teamfähigen Mitarbeiter“. Außerdem hebt man sich mit diesen Fähig-keiten auch nicht von der Masse ab, son-dern zählt eher Selbstverständlichkeiten auf. Chefs und Personaler legen besonde-ren Wert auf Fakten und Beispiele aus dem Alltag der Jugendlichen, die die Fähigkeiten unter Beweis stellen. Wir stellen immer wieder fest, dass junge Menschen große Probleme haben etwas Positives über sich selbst zu berichten. Durch die Schulzeit sind junge Menschen sehr dadurch geprägt, dass sie ihre Leistungen anhand eines Notensystems bewerten lassen. Lehrerinnen und Lehrer beurteilen Leistungen in Fächern wie Deutsch, Mathematik und Englisch mit einer Schulnote, die dann die formellen Fähigkeiten unter Beweis stellen. In einer Bewerbung ge-stalten sich Formulierungen um informelle Fähigkeiten (Beispiel: Vertrauenswürdigkeit) je-doch besonders schwer. Wir stellen hier immer wieder zwei Problematiken fest. Erstere ist, dass die jungen Menschen typische Begrifflichkeiten der Sozial-, Personal-, Fach- und Methodenkompetenzen gar nicht kennen. Eine Schülerin oder ein Schüler der Abgangsklasse kann oftmals nur schwierig eine Erklärung zu Wörtern wie Konfliktfähigkeit oder Lernbereitschaft abgeben. Diese Wörter ge-hören dabei noch zu den leichteren Ausdrücken, da man sie notfalls von den Inhalten (Kon-flikt oder Lernen und Bereitschaft) ableiten könnte. Wenn Jugendliche weder die Wörter, noch die Erklärung dazu kennen, können sie auch nicht für sich entscheiden, ob diese Kom-petenz nun auf sie zutrifft oder nicht. Die zweite Problematik ist, dass Schülerinnen und

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Schüler selten ihre informell angeeigneten Fähigkeiten und Kompetenzen benennen können. Sie bringen Erfahrungen und Erlerntes aus dem Alltag, Familienleben oder der Freizeit fast nie in Bezug zu einer daraus entstandenen Fähigkeit. Diese Fähigkeiten wurden, bis auf die sogenannten „Kopfnoten“ im Sozial- und Arbeitsverhalten, die viele einzelne Fähigkeiten zusammenfasst, in der Schule nicht bewertet. Eine Schülerin, die als Klassensprecherin tätig ist, in ihrer Freizeit Babysitting betreibt und eine Sportgruppe mit kleinen Kindern anleitet, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht schlussfolgern, dass „Vertrauenswürdigkeit“ eine ihrer Stärken ist. Aus den genannten Gründen machen wir uns bei PACE zur Aufgabe, gemeinsam mit den jungen Menschen herauszufinden, welche Fähigkeiten und Kompetenzen es gibt. Hier kann man sich selbst erstellte Übersichten oder andere Methoden zur Hilfe nehmen. Wir machen sehr positive Erfahrungen damit, wenn man diese oft schwierigen Begrifflichkeiten veran-schaulicht und vor allem darüber ins Gespräch kommt. Oftmals werden dabei schon Paralle-len festgestellt. Im Anschluss daran, sollen die Jugendlichen für sich entscheiden, über wel-che Fähigkeiten sie verfügen oder nicht. Ein absolut empfehlenswertes Hilfsmittel ist das Set der Stärkenkarten des Kreisjugendrings Esslingen e.V. Mit der Nutzung dieser Stärkenkarten haben wir durchweg positive Erfahrun-gen gemacht: In der Arbeit mit Häftlingen in der JVA bis hin zu den Teilnehmerinnen und Teilnehmern in der Einzelberatung. Jeder und jede Jugendliche hat, motiviert durch die ver-anschaulichte Erläuterung der Fähigkeiten, das Bedürfnis herauszufinden, was davon auf ihn/auf sie zutrifft. Die Stärkenkarten enthalten eine kurze Erklärung der genannten Fähigkeit und auf der Rückseite sind Beispiele aus dem Alltag erläutert. Die Jugendlichen sollen sich diese Erklärungen anschauen und danach entscheiden, ob es sich um eine „Stärke, die ich ganz sicher habe“, um eine „Stärke, bei der ich mir nicht sicher bin bzw. die ich nur manch-mal einsetze“ oder um eine „Stärke, die ich nicht habe“ handelt. Vorweg wird eingeleitet, dass es sich bei der Sortierung der Karten nicht um einen Schnelligkeits-Wettbewerb handelt und es auch nicht darum geht, die höchsten Stapel zu legen. Die Jugendlichen sollen ihre genannten Stärken am Ende auch individuell begründen können und sich darüber beim Ab-legen bereits Gedanken machen. Im zweiten Durchgang wird noch einmal dazu aufgefordert, ehrlich zu sich zu sein und den Stapel „Stärke, bei der ich mir nicht sicher bin bzw. die ich nur manchmal einsetze“ noch einmal auf die anderen beiden Möglichkeiten aufzuteilen. Im Anschluss an die Sortierarbeit gibt es viele weitere Arbeitsmaterialien und -methoden, um detailliert über Beispiele und Fähigkeiten ins Gespräch zu kommen. Das Ergebnis bestärkt sie durch die vielen Beispiele mehr als ein Ankreuztest. Nach unserer Meinung braucht ein Mensch, der sich in einem Unternehmen bewirbt genau diese Kenntnisse über sich, um „Werbung“ für sich zu machen. Als Pädagoginnen und Pädagogen macht es uns immer wieder Freude zu sehen, wie viel Spaß den Jugendlichen die Arbeit mit den Stärkenkarten macht. Der Großteil unseres Klien-tels hat keine Eltern oder Menschen um sich gehabt, die ihre Stärken betont oder sie gelobt haben. Der Moment, in dem sie bemerken, dass sie aber einige davon besitzen und diese auch mit Beispielen begründen können, ist unbeschreiblich. Die Arbeit ist sehr wertschät-zend, ressourcenorientiert und vor allem einfach. Ohne großen medialen oder materiellen Aufwand kann ein konstruktives Ergebnis für eine individuelle Bewerbung erzielt werden.

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7. In Dir steckt mehr als Du denkst! Autorin: Kerstin Hitzemann, Jugendwerk-statt SINA Hannover • „SINA half mir, mehr Selbstsicherheit & Selbstbewusstsein zu entwickeln, zielstrebig zu bleiben und niemals aufzugeben. Danke! SINA kann ich nur sehr empfehlen.“ • „SINA hat mir geholfen positiv in die Zukunft zu schauen und meine Ängste zu überwin-den.“ • „Sina hat mir gezeigt, dass man auch als alleinerziehende Mama alles schaffen kann.“ • „Ja, beruflich haben Sie immer hinter mir gestanden und mir somit Kraft gegeben, daran festzuhalten meinen Wunschberuf zu erlernen. Dafür bin ich sehr dankbar.“ Dies sind nur einige Aussagen von Teilnehmerinnen, die die Jugendwerkstatt „Büroservice“ bei SINA verlassen. Bei SINA unterstützen wir seit 1991 junge Frauen und Mütter, denen der Weg ins Ausbildungs- und Erwerbssystem bisher aus ganz unterschiedlichen Gründen noch nicht geglückt ist. Dabei begleiten wir die jungen Frauen individuell, je nach ihren persönli-chen und strukturellen Voraussetzungen, Wünschen, Bedürfnissen und Zielen. Sie lernen in den Berufsbereichen „Mediengestaltung“ und „Büromanagement“ spannende und praxisba-sierte Tätigkeiten kennen. So können sie sich selbst ausprobieren, ihre Fähigkeiten und Ta-lente entdecken, berufsrelevante Erfahrungen und Kenntnisse erwerben, ihr Bewerbungs-wissen optimieren und an ihrer Selbstpräsentation arbeiten, um sich entsprechend gestärkt auf den Ausbildungsmarkt zu begeben. Ein Spannungsfeld? Optimale Bewerbungsunterlagen vs. Nicht-optimale Lebensver-läufe Viele der jungen Frauen, die zu uns in die Jugendwerkstatt kommen, haben nicht optimale Lebensverläufe. Dies beeinflusst unter anderem das Selbstwertgefühl, den Glauben an die Selbstwirksamkeit, das Bewerbungsverhalten und insgesamt die eigene Handlungsfähigkeit. Im Bewerbungsprozess gilt es zahlreiche Herausforderungen zu meistern: Den eigenen Be-rufswunsch klar und ggf. auch einen „Plan B“ in der Tasche zu haben, mögliche Umbrüche und/oder Lücken im Lebenslauf gut erklären zu können (ohne zu „schummeln“!) und sich im entsprechenden Berufsfeld gut auszukennen. Das ist nötig, damit die Bewerberinnen wissen, welche Anforderungen auf sie zukommen und damit sie diese mit den eigenen Fähigkeiten abgleichen können. Ebenso wichtig ist eine gute „Psychohygiene“ um eventuelle Rückschlä-ge gut verarbeiten und als Erfahrung nutzen zu können. Der bisherige Lebens(ver)lauf, schwierige Zeugnisse und/oder Abbrüche, fehlende oder nicht ausreichende Schulabschlüs-se sowie eventuelle Therapieaufenthalte/-unterbrechungen müssen spätestens im Vorstel-lungsgespräch nachvollziehbar und authentisch erklärt werden können – die zu meisternden Herausforderungen sind in dem breiten Feld „Bewerbungen“ vielfältig und individuell ver-schieden.

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Was brauchen nun junge Menschen, deren Lebenslauf möglicherweise nicht gradlinig verlief, auf diesem komplexen Weg? Es braucht Zeit F Eine individuelle Begleitung und Unterstützung braucht zunächst eines: Zeit! So individuell unsere Zielgruppe ist, so individuell muss auch unsere Arbeit auf die Bedürfnisse der Frauen angepasst sein: Es braucht Zeit für das gegenseitige Kennenlernen und Ermitteln der ganz persönlichen, fachlichen und biografischen Belange der Teilnehmerinnen. Es braucht Zeit für das Bearbeiten teilweise komplexer Themen- und Persönlichkeitsbereiche, die den Start in eine Ausbildung bisher verhindert haben. Und es braucht Zeit, um neue Lernfelder und - inte-ressen zu entdecken und sich im praktischen Tun im Sinne eines „Training on the Job“ darin auszuprobieren. Es braucht Mut F Viele junge Frauen, die in die Jugendwerkstatt kommen, sind hoch motiviert, sich eine solide berufliche Zukunft zu schaffen und den Weg in eine Berufsausbildung oder Arbeit zu gehen. Es braucht eine gewisse Portion an Mut, sich auf diesen Weg zu begeben. Mut, sich auf die Klärung belastender Themenbereiche einzulassen, diese anzugehen und entsprechende Schritte zu gehen, damit ein möglichst unbelasteter Start in eine Berufsausbildung gelingen kann. Es braucht Unterstützung F Viele der jungen Menschen in der Jugendwerkstatt bringen Belastungen mit, die es zuvor zu eruieren und nach Möglichkeit zu lösen gilt: Lange Arbeitslosigkeit nach der Schule, woraus häufig Lücken im Lebenslauf resultieren. Schlechte Zeugnisnoten/Kopfnoten, persönliche Schwierigkeiten, familiäre Probleme und sehr häufig auch Selbstwertproblematiken und feh-lender Glaube an die eigene Selbstwirksamkeit. Viele junge Frauen sind überfordert damit, wie sie sich auf dem Arbeitsmarkt bewerben und bewähren sollen. Bei SINA finden sie en-gagierte Beraterinnen und kompetente Unterstützung. Es braucht aussagekräftige, individuelle Bewerbungsunterlagen Arbeitgeber wollen wissen, wer sich wirklich hinter den Bewerbungsunterlagen verbirgt – mit Standardsätzen und Floskeln kann heute niemand mehr punkten. Daher erarbeiten wir mit unseren Teilnehmerinnen in einem individuellen Coachingprozess authentische, ehrliche und aussagekräftige Unterlagen, die wirklich etwas über die Bewerberin aussagen. Optimale Unterlagen für Nicht-optimale Lebensläufe Der Weg in eine Berufsausbildung bedeutet harte Arbeit. Vor allem, wenn der bisherige Weg nicht einem Bilderbuchverlauf entspricht. Generell lässt sich sagen, dass Bewerberinnen und Bewerber dann eine Einladung zu einem Gespräch bekommen, wenn sie mit ihren Unterla-gen bereits so viel Interesse erzeugen, dass der Wunsch geweckt wird, die Person hinter den Unterlagen kennen zu lernen. Eine Be-Werbung ist immer Werbung in eigener Sache - die Bewerberin wird so zur Marketingfachfrau ihrer eigenen Person. Die große Kunst besteht nun darin, die Unterlagen - allen voran das Anschreiben - so zu formulieren, dass deutlich

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wird, dass der Bewerberin/dem Bewerber eventuelle „Unpässlichkeiten im Lebenslauf“ be-wusst sind und zu verdeutlichen, was man aus dieser Zeit gelernt hat und wo man heute steht. So arbeiten wir mit den Teilnehmerinnen Bestandsaufnahme und Kompetenzfeststellung Im Einzelcoaching eruieren wir mit unseren Teilnehmerinnen zunächst, wo sie aktuell ste-hen. Hier fließen Methoden der Biografiearbeit ebenso ein wie andere, eigens dafür entwi-ckelte, Instrumente. Ebenso durchläuft die Teilnehmerin innerhalb der ersten 8 Wochen in der Jugendwerkstatt ein festgelegtes Verfahren zur Feststellung vorhandener Kompetenzen. Dieses schließt die Arbeit in den Fachbüros der Jugendwerkstatt ebenso ein, wie bestimmte Testverfahren, Aspekte, die sich aus Einzelsitzungen ergeben und Beobachtungen während ihrer bisherigen Teilnahme an der Maßnahme. Individuelle Förderung Nicht alle Teilnehmerinnen brauchen alles und nicht alle brauchen das Gleiche: Jede kommt mit ihren ganz individuellen Vorerfahrungen und ggf. Belastungen in die Jugendwerkstatt. Daher arbeiten wir sehr individualisiert und bedarfsorientiert mit den Teilnehmerinnen. Man-che wissen noch nicht genau, wo es beruflich langgehen soll, manche haben Berufswün-sche, die zur Zeit (noch) nicht realisierbar sind, andere haben Angst, sich dieser komplexen Thematik zu stellen, da sie den Glauben und das Wissen um die eigenen Fähigkeiten und Interessen nicht abrufbar haben. Der BewerbungsprozessF Vist somit ein sehr komplexer Vorgang, da häufig zunächst auch Ängste und Selbstzweifel bearbeitet werden müssen, neuer Mut muss gefasst werden und das Vertrauen in die eige-nen Fähigkeiten und Kenntnisse wiederentdeckt werden. Im Bewerbungstraining sowie dem individuellen Integrationscoaching lernen die Teilnehmerinnen • warum es wichtig ist, mit den Unterlagen eine „Brücke zum Betrieb“ zu bauen • dass eine Be-Werbung immer Werbung in eigener Sache ist • wie sie mit ihren Unterlagen Interesse wecken können (AIDA-Formel) • die Analyse von Stellenanzeigen und Internetauftritten von Unternehmen • wo und wie sie nach Stellenangeboten schauen • die Angebote nach ihren Belangen zu filtern (passt die ausgeschrieben Stelle zu mir?) • verschiedene Bewerbungsformen (Bewerbungsmappe, E-Mail-Bewerbung, Online-Bewerberprotale, Initiativbewerbung) • ihre Stärken und Fähigkeiten gezielt auf das Gesuchte abzustimmen und zu beschreiben – und zwar ohne, in die gängigen Floskeln wie „Teamfähigkeit“, „Zuverlässigkeit“, „Ver-antwortungsbewusstsein“ usw. zu verfallen • welche Anforderungen und Fähigkeiten in welchen Berufen gefordert sind (Berufskunde) • die Auseinandersetzung mit der Frage „was will ich werden“ (Berufsorientierung)

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• Formale Anforderungen an die Bewerbungsunterlagen sowie Gestaltungsbeispiele und letztlich auch • „Negatives im Lebenslauf“ so kurz und authentisch darzustellen, dass es auf der einen Seite nicht zu persönlich wird und andererseits deutlich wird, was man aus gewissen Dingen und Umständen gelernt hat („mir ist bewusst, dass V“) • Hier bietet es sich manchmal an, das Instrument der „Dritten Seite“ (auch „Motivations-schreiben“ genannt) in den Unterlagen zu nutzen und im Anschreiben den Fokus nur auf das Positive zu lenken. Hurra, eine Einladung zum Gespräch! Ziel erreicht: die Unterlagen haben so überzeugt, dass der Betrieb neugierig geworden ist, und die Person hinter dem Papier kennen lernen möchte. Neben der Freude über den ersten Erfolg (denn die Einladung ist die erste Rückmeldung über die Qualität der Unterlagen!), stellt sich an diesem Punkt bei vielen Teilnehmerinnen auch die erste Panik ein. „Was soll ich sagen?“, „Und wenn er mich auf mein Zeugnis anspricht?“, „und was sage ich zu meinen Stärken und Schwächen, wenn diese Frage kommt?“, sind nur einige der Befürchtungen. Damit beginnt die Vorbereitung auf das Vorstellungsgespräch: Auch dieses trainieren wir mit den Teilnehmenden mit verschiedenen Methoden und Übungen und spielen verschiedene Formen der Selbstpräsentation sowie Aspekte der Körpersprache, bestimmte Verhaltens-weisen und „Stolperfallen“ immer wieder durch. Hierdurch gewinnen die Teilnehmerinnen Sicherheit und gehen gut vorbereitet in das Gespräch. Fazit: Lebensverläufe sind nicht immer gradlinig und unabhängig von Alter, Geschlecht, kulturellem Hintergrund und Sozialisation können bestimmte Lebensumstände und -abschnitte nicht im-mer so vollzogen werden, wie es vielleicht gesellschaftlich gewünscht ist. In der Zielgruppe der Teilnehmenden in Jugendwerkstätten schlummert oft ein großes Potential, das häufig nur noch nicht entdeckt wurde – weder von den Teilnehmenden selbst, als auch von betrieb-licher Seite. Aufgabe der Mitarbeiten-den und der Teilnehmen-den in der Jugend-werkstatt ist es, diese Potentiale zu entdecken, zu erfor-schen und Handlungs-kompetenzen zu fördern. Aber ebenso auch, Betriebe von den Potentialen dieser Zielgruppe

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zu überzeugen, damit sich die jungen Menschen gestärkt und gut vorbereitet auf den Ar-beitsmarkt begeben zu können – denn dieses bedeutet letztlich auch, am sozialen, ökonomi-schen und kulturellen Leben teilhaben zu können und sich selbst ein sinnstiftendes Leben zu schaffen. 8. Zehn Jahre Potenzial-Assessment-Center (PAC) in der Jugendwerkstatt Gifhorn für Ju-gendliche und junge Erwachsene in der Berufsvorbereitung Autor/innen: Heinz Friedel und Daniela Schilling, Jugendwerkstatt Gifhorn „Nichts ist konstanter als der Wandel“ Im Kontext der neuen Modelle der Berufsorientie-rung in berufsvorbereitenden Maßnahmen wuchs das Interesse an konkreten, standardisierten, formalisierten, wiederholbaren und transparenten Kompetenzfeststellungsverfahren für Gruppen. Die Jugendwerkstatt Gifhorn (JWG) nahm diese Herausforderung an und entwickelte von 2006 bis 2008 mit (Sozial-)-Pädagog/innen und Ausbil-der/innen ein eigenes Assessment, das wir Po-tenzial-Assessment-Center (PAC) nennen. Wir arbeiteten an Modellen verschiedenen Umfanges, beginnend mit 10 Tagen, wie im Kontext der BvB-neu gefordert wurde, stellten jedoch fest, dass kürzere Formen durchaus hinreichend sind. Wir entschieden uns nach mehreren Probeläu-fen schließlich für das nachfolgend beschriebene 2-tägige Verfahren. Gleichzeitig entstand ein Personalqualifizierungsprozess. Denn: Wer wusste schon genau, was ein Kompetenzfeststellungsverfahren unter den gegebenen Bedingungen überhaupt ist, wie dieses standardisiert wird, wie wir systematisch beobachten und auswerten und wie ent-sprechende Übungen auszusehen hätten. Was sind unsere Ziele und mit welchen Methoden und Übungen, wollen wir diese erreichen? Wie und was beobachten wir und sehen wir, was wir sehen wollen? Sind kognitiv-soziale Kompetenzen überhaupt erkennbar? Wenn nicht: Wie können wir sie sichtbar werden lassen? Dabei integrierten wir von Anfang an auch Gen-der- und Nicht-Diskriminierungsaspekte. Insgesamt beschäftigten wir uns inklusive Beobach-ter/innenschulung knapp 2 Jahre mit der Entwicklung unseres PAC.

Abb.: FOTO aus der Praxis (TN im PAC)

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Seit 2008 setzten wir das PAC regelmäßig in unseren berufsvorbereitenden Maßnahmen ein. Das Potenzial-Assessmentcenter der Jugendwerkstatt Gifhorn entspricht den aktuellen Standards des Arbeitskreises Assessment Center e. V.; eine beständige Qualitätsprüfung des Instrumentes ist in diesem Zusammenhang zwingend, weil Lebensweltbezüge und Ziel-gruppen, aber auch Anforderungen der Arbeitswelt, sich in stetigem Wandel befinden. Die ursprünglich 2008 eingesetzte Version kommt also nicht mehr zum Einsatz. Wir wollen einige Entwicklungsschritte vorstellen, bevor wir näher auf das heute bestehende Verfahren einge-hen. Weiterentwicklungen seit 2012 • Das PAC beinhaltete ursprünglich Übungen aus unseren Werkstattbereichen Hauswirt-schaft, Tischlerei, Metall und Arbeiten am PC. Es dient seit 2012 ausschließlich zur Er-mittlung sozialer und kognitiver Kompetenzen. • Die bereichsspezifischen Übungen wurden ausgegliedert, um besser handwerklich-technische Fähigkeiten in Einzelarbeit sichtbar und Arbeitsergebnisse vergleichbar zu machen. Sie sind in weitere, von uns neu entwickelte Kompetenzfeststellungsverfahren eingeflossen, wie unsere berufstypischen Arbeitsproben, den Grundkurs jeder Werkstatt-abteilung (2016) und die werkstattspezifischen berufstypischen Arbeitsproben (2016/2017). Diese Verfahren liefern wichtige Einschätzungen zu beruflichen und hand-werklichen Eignungen. • Im selben Atemzug wurden die Kriterien zu den neun kognitiven und sozialen Kompeten-zen in den Beurteilungsbögen unter die Lupe genommen. Jede Kompetenz besteht aus drei Beobachtungsaspekten, die dazu passendes Verhalten beschreiben. Diese Be-schreibungen wurden überarbeitet hin zu einer unmissverständlichen, griffigen Formulie-rung. Die anfänglich drei Ausprägungsgrade der Beobachtungsaspekte wurden auf fünf erweitert, um eine differenzierte Beurteilung möglich zu machen. • 2014 haben wir die in Niedersachsen verwendeten Kopfnoten zur Beurteilung des Ar-beits- und Sozialverhaltens im Unterricht in unser Fähigkeitsprofil übernommen und die Klassifizierung ebenfalls von 3 auf 5 Dimensionen erweitert. • Wir veränderten den Beobachterschlüssel. Zuvor hat ein/e Beobachter/in pro Übung zwei Teilnehmende beobachtet (1:1) und es lag nur ein Beobachtungs- und Beurteilungsbo-gen pro Teilnehmer/in zu jeder Übung für die Auswertung vor. Aktuell ist der Schlüssel 2:1, also jeder Teilnehmende wird pro Übung von zwei Beobachtenden gesehen. Das hat den Personalaufwand zur Durchführung verdoppelt. Wir können maximal 10 Teilneh-mende pro Termin einplanen, die Mindestanzahl beträgt 6. Wenn diese Zahl nicht er-reicht wird, muss die Durchführung abgesagt werden, weil unsere Gruppenübungen nur ab dieser unteren Grenze Sinn machen. • 2017 führten wir ein digitales Rotationssystem ein, das für 6 bis 10 Teilnehmende vor-liegt. Dies ermöglicht es uns, dass jede/r Teilnehmende über alle Übungen hinweg von allen verfügbaren Beobachtenden mindestens ein Mal gesehen wird. Ebenfalls werden die Beobachtendenpaare in die Rotation mit einbezogen. Dies annähernd ohne dieses Werkzeug zu erreichen, war in den vergangenen Jahren durch die steigende Zahl zu be-rücksichtigender Faktoren immer komplizierter und zeitaufwändiger geworden. Diese Neuerung brachte eine große Erleichterung und Stressabbau für alle Beteiligten mit sich.

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• Außerdem stellten wir das Konstrukt aus 9 Übungen und den jeweils 3 zugeordneten Kompetenzen auf den Prüfstand. Die Beratungen fanden unter Mitwirkung des gesam-ten, am PAC beteiligten, Kollegiums statt. Es ergab sich daraus eine Neuzuordnung von Kompetenzen und Übungen mit dem Effekt, dass die Beobachtungsaspekte klarer zu Tage treten. • Selbstverständlich haben wir im Laufe der Jahre jede einzelne Übung unter die Lupe genommen, deren Ablauf, Bausteine, Zeitbedarf etc. kontinuierlich verändert und wech-selnden Bedingungen angepasst, um deutlicher beobachten zu können, was im An-schluss beurteilt werden soll. Aktuell haben wir das bei der Übung Metall/ Einspeichen umgesetzt und im Kollegium einen Probelauf durchgeführt, um beurteilen zu können, ob die Veränderungen wirklich eine Verbesserung darstellen. Die aktuelle Version Das PAC ist ein Verfahren zur Fest-stellung kognitiver und sozialer Merk-male sowie der Art der Arbeitsausfüh-rung. Diese stellen wichtige Kriterien in der Definition von Ausbildungsreife dar und erfüllen damit den Lebens- und Arbeitsweltbezug als Qualitäts-standard (vgl. dazu BIBB Qualitäts-standards für Verfahren zur Kompe-tenzfeststellung im Übergang Schule – Beruf, Bonn und Moers 2007 ). Ein weiterer wichtiger vom BIBB for-mulierter Standard ist der der Verhal-tensorientierung. Dieser fordert, dass wir nicht die Ergebnisse, sondern klar definierte, beobachtbare Verhaltens- weisen eines Teilnehmenden bewer-ten. Damit eng verknüpft ist der Kom-petenzansatz: Auch junge Erwachse-ne, deren bisherige Sozialisation überwiegend als ungesunde Verkettung psycho-sozialer Belastungen bezeichnet werden darf, die meist nur hörten, was sie alles vermeintlich nicht (gut) können, erfahren in diesem PAC Erfolgserlebnisse und nehmen ihre eigenen Stärken wahr. Wir wollen die bereits vor-handenen Kompetenzen wertschätzen und die Teilnehmenden dazu ermutigen, weiter an ihrer persönlichen Entwicklung und ihren Zielen zu feilen. Sie erhalten in der abschließenden Einzelbesprechung der Ergebnisse ein schriftliches Fähigkeitsprofil als aktuelles Zeugnis ihrer sichtbaren, erlebbaren Kompetenzen, die sie selbstbewusst bei Bewerbungen und Vor-stellungsgesprächen benennen können. Die Erkenntnisse unserer Potenzialanalyse münden außerdem in eine weitergehende, ressourcenorientierte, individuelle Förderplanung ein.

Abb.: Übersicht PAC

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Die ausgewählten Übungen berücksichtigen verbale und nonverbale Interaktionen in Einzel-, Paar-, und Gruppenarbeit. In die Auswertung fließt neben der Fremdeinschätzung durch sys-tematische Beobachtung auch die Selbsteinschätzung der Teilnehmenden ein. Neun Kompetenzen werden jeweils in 5 Ausprägungen gemessen, so dass insgesamt 59 (=1.953.125) verschiedene Fähigkeitsprofile erstellt werden können. Jede der neun Kompe-tenzen wird in jeweils 3 verschiedenen Übungen beobachtet, jeder Kompetenz sind dabei 3 Beobachtungsaspekte und jeder Übung 3 Kompetenzen zugeordnet ( Siehe Schaubild „ Übersicht PAC“ ) Unter den Beobachter/innen sind sowohl Sozialpädagog/innen als auch Ausbilder/innen und Verwaltungsmitarbeiter/innen. Um die Qualität unseres Verfahrens zu sichern, ist eine zwei-tägige Basisschulung für die neu vorgesehenen Mitarbeiter/innen Pflicht. In der Basisschu-lung wird zunächst dahingehend sensibilisiert, was Daten sind, ob und wie sie messbar sind und wozu sie erhoben werden. Es wird auf die dringend notwendige Unterscheidung von Beobachtung und Bewertung/Interpretation hingewiesen und dieses geübt. Für nicht direkt messbare Kriterien werden beobachtbare Indikatoren vorgestellt. Beobachtungssettings und weitere Kriterien des PAC, wie z.B. die Rotation und der Schlüssel der Beobachter/innen, die Nutzung von Beobachtungs- und Beurteilungsbögen, sowie Sinn und Inhalt einer Beobach-ter/innenkonferenz werden vorgestellt und diskutiert. Außerdem werden die Übungen vorge-stellt, indem sie in verschiedenen Rollen (als Teilnehmer/in oder als Beobachter/in) erprobt und reflektiert werden. Im Turnus von zwei Jahren wird das Beobachtungswissen des bereits PAC-erfahrenen Kollegiums aufgefrischt und um neue Details erweitert. Zum Ablauf Bei einer Gruppengröße von 6-10 Teilnehmenden beobachten 6-10 Beobachter/innen mit einem Schlüssel von 2:1, d.h. ein/e Teilnehmer/in wird je Übung immer von 2 Beobachten-den gesehen. Dabei ist ein/e Beobachter/in jeweils nach dem oben erläuterten Rotations-prinip zwei Teilnehmenden zugeteilt. Die jungen Erwachsenen durchlaufen 9 Übungen an zwei Tagen. Weiterer Personalbedarf: Ein/e Moderator/in, der/die durch das gesamte PAC führt. Diese Person ist der/die feste Ansprechpartner/in für die Teilnehmenden. Weiter wird ein(e) Praxis-anleiter/in benötigt, der/die die übrigen Teilnehmenden betreut, die das PAC schon absolviert haben oder aktuell nicht berücksichtigt werden konnten. Durch die Betreuungsregelung kön-nen sich die im PAC eingesetzten Mitarbeiter/innen voll und ganz auf ihre Aufgaben konzent-rieren. Das PAC beginnt an beiden Tagen mit einer Vorstellungsrunde. Es wird Sinn und Zweck des PAC erläutert und ein Überblick über den inhaltlichen und zeitlichen Ablauf des Tages gege-ben. Diese morgendliche Aufwärmrunde bietet am zweiten Tag zusätzlich die Möglichkeit eines kurzen Rückblicks auf den vergangenen Tag. Ein Ablaufplan hängt für beide Tage zur Orientierung aus. Die Teilnehmenden werden ermuntert, Fragen zu stellen, um über Trans-parenz in allen Belangen Stress abzubauen, der durch Missverständnisse oder Leistungs-

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druck leicht zustande kommt. Danach startet die erste Übung des Tages. Das Beobach-tungsverfahren sieht folgendes vor: • Jede/r Mitarbeiter/in beobachtet nach den Vorgaben des Rotationsplanes verschiedene Teilnehmende, so dass jede/r Teilnehmende im Verlauf des PAC´s von allen Mitarbei-ter(inne)n beobachtet wird. • Die Beobachtenden tragen ihre Beobachtungen während der Übung in dafür entwickelte Beobachtungsbögen ein. Diese werten sie nach jeder Übung aus und übertragen ihr Er-gebnis in einen Beurteilungsbogen. • Am Ende jedes Tages werden die Teilnehmenden gebeten, sich selbst pro Übung in denselben Kompetenzen einzuschätzen, die die Mitarbeitenden beurteilt haben. Zusätz-lich füllen sie einen Fragebogen zur eigenen Zufriedenheit mit Ablauf und Inhalten des PAC aus. • Am Ende jeden Tages trifft sich das Kollegium in der Beobach-ter/innenkonferenz. Dort tragen die Mitarbeitenden ihre Ergebnisse zusam-men und tauschen sich zu strittigen Einzelfällen aus. Am zweiten Tag wird zu-sätzlich zur kollegialen Be-ratung bezüglich der Beur-teilungsbögen eine Ge-samtbewertung der aktuel-len PAC-Durchführung vorgenommen. Begründete Änderungsvorschläge sind erwünscht und können sich auf alle Bausteine beziehen, wie Planung, Moderation, Verlauf einzelner Übungen und Schwierigkeiten in der Beobachtung, Verhalten in Fällen von Überforde-rung, Abbruch oder Verweigerung seitens der Teilnehmenden, etc. Die Auswertung Für jede/n Teilnehmer/in wer-den zu jeder beurteilten Kom-petenz in gleicher Weise die Beobachtungs- und Beurtei-lungsbögen ausgewertet. Nach den einzelnen Kompe-tenzen unterteilt wiederholt sich dieser Vorgang neun Mal. Die ermittelten Werte werden sodann digital in das Fähig-keitsprofil und die grafisch aufbereitete Ergebnistabelle

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samt den Selbsteinschätzungen der/des Teilnehmer/in übertragen ( s.u. ). Aus sechs Ein-zeleinschätzungen zu einer Kompetenz (je 2 Beurteilungsbögen in 3 Übungen = 6) entsteht als summarischer Durchschnitt für eine/n Teilnehmer/in die Gesamteinschätzung für das Fähigkeitsprofil in Form einer aus 5 Ausprägungen vorliegenden Kopfnote. Die 3 Beobach-tungsaspekte werden ebenso auf diese Weise ausgewertet und finden sich, in Form von Textbausteinen ebenfalls in 5 Ausprägungen, in beschreibender Art zu jeder Kompetenz im Fähigkeitsprofil wieder. Die Gesamteinschätzung aus den Beobachtungen und die Selbsteinschätzung sind Grund-lage für das individuelle Auswertungsgespräch mit den Teilnehmenden. In diesem zeitnahen, ausführlichen Einzelgespräch mit der zuständigen pädagogischen Fachkraft (ca. 15-30 Minu-ten) haben die Teilnehmenden die Möglichkeit, alle sie betreffenden Unterlagen, inklusive der Beobachtungs- und Beurteilungsbögen, einzusehen. Ziel ist, einen verständlichen, diffe-renzierten und transparenten Einblick in die Bewertungsprozesse zu ermöglichen und die Erkenntnisse, sowie generell die Bereitschaft zur Teilnahme an einem neuen, möglicher Weise Stress erzeugendem Ereignis, entsprechend zu würdigen. Am Ende erhalten die Teilnehmenden ihr aus-formuliertes Fähigkeits-profil und ihre grafische Aufbereitung der Ergeb-nisse. Diese Dokumente liegen bereits einge-scannt vor und stehen im weiteren Bewer-bungsverlauf jederzeit als aktuelles Zeugnis zur Verfügung. Abb.: Fähigkeitsprofil - Text

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Abb.: Fähigkeitsprofil – grafisch aufbereitet Ausblick Wie schon zu Anfang betont wird auch die Zukunft unsere heutige Ver-sion des PAC nicht vor Veränderung schützen. Und das sehen wir positiv, denn eine Weiterentwicklung verur-sacht selten bleibende Schäden. Im Gegenteil! Die Schulungen schärfen unsere Wahrnehmungen auch in anderen Bereichen unseres Ar-beitsalltages. Sie können zu größerer Fairness im Kontakt mit unseren Teilnehmenden führen, den optimisti-schen Blick auf das halb volle Glas fördern und Vertrauen schaffen durch ein Annehmen der Person, so wie sie ist. Und nicht zu vergessen: Sowohl für unser Kollegi-um als auch für jeden einzelnen Mitarbeiter/in bieten sich Chancen für die Team- sowie per-sönliche Entwicklung! Konkrete Ideen und Ziele für die Weiterentwicklung unseres Werkzeuges gibt es neben der laufenden Anpassung der Übungen ebenfalls. Dies betrifft einerseits die Rolle der Moderati-on. Es steht zwar eine grobe Richtlinie zu Dauer, Erklärung der Aufgaben, Materialbedarf und Arbeitsplatzgestaltung für jede Übung zur Verfügung. Die berechtigte Frage ist aber, ob dies ausreicht, wenn ein noch nicht mit dieser Rolle vertrauter Mensch einspringen muss. Gleichzeitig aber entwickeln wir Übungen weiter. Wenn wir die Anleitungen zu eng fassen, stellen wir uns ein Bein im Hinblick auf unser QM-System und die vorgeschriebenen Verfah-ren bei Änderung von QM-Dokumenten. Wir werden den Spagat schaffen und eine gute Lö-sung finden.

Abb.: Beobachter/innen-Konferenz

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Andererseits werden wir auf Veränderungen in unserer Teilnehmendengruppe reagieren müssen. Dies betrifft die zukünftig vermutlich häufigere Zuweisung von geflüchteten Men-schen zu unsere Maßnahme, ebenfalls Analphabet/innen oder Legastheniker/innen jeglicher Herkunft. Unsere Aufgabe wird darin liegen, culture fairness – Kriterien in unsere Überlegun-gen mit einzubeziehen. Diese Begrifflichkeit tauchte in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in der Intelligenztestung auf. Raymond Bernard Cattell machte sich in der For-schung für und Entwicklung von culture fairen Testverfahren besonders verdient. Er brachte mit dem CFT-1 Anfang der 60er Jahre einen sprachfreien Intelligenztest für Kinder bis 11 Jahre auf den Markt. Hintergrund dieser Überlegungen war und ist, dass Menschen mit Mig-rationshintergrund systematisch von kulturell gebundenen Testverfahren diskriminiert wer-den. Dies wird ebenfalls bei den sogenannten bildungsfernen Menschen, verbunden mit niedrigem sozioökonomischem Status, untersucht und Zusammenhänge gefunden. Ebenfalls wichtig ist in diesem Zusammenhang, die Geschlechtszugehörigkeit nicht aus den Augen zu verlieren. Wir sehen es deshalb als unsere Aufgabe an, unser PAC am culture fairness-Kriterium zu messen und Parallelübungen zu entwickeln, die die entsprechenden, im Hinblick auf berufliche Integration wichtigen, Kompetenzen ähnlich sichtbar machen wie das aktuell unsere muttersprachlichen Übungen tun. 8. „Bewerbung – Kein Plan“? Autorinnen: Sarah Löffel und Heike Leemhuis-Lübsen, Pädagogische Fachkräfte im Pro-Aktiv-Center Leer des Landkreises Leer und der LeeWerk-WISA gGmbH Der klassische berufliche Einstieg, der nach neun- oder zehnjähriger Schulzeit in eine Aus-bildung führt, ist schon seit langer Zeit nur noch ein Modell von vielen. Für Absolventen der Sekundarstufe I heißt es stattdessen oft erstmal weiter die Schule zu besuchen oder „Stol-persteine“ aus dem Weg zu räumen, die den Übergang von der Schule in den Beruf er-schweren. So haben sich im Juli 2018 5,9% der Jugendlichen in Niedersachsen zwischen 15 und 25 Jahren arbeitslos gemeldet.4 Im Sommer bezieht sich diese Zahl auf einen nicht statt-findenden Übergang in das Ausbildungssystem, bzw. den Abschluss einer Ausbildung ohne eine betriebliche Übernahme. In der Arbeit des Pro-Aktiv-Centers (PACE) spiegelt sich verstärkt das Bild dieser „Stolper-steine“ auf dem Weg in eine Ausbildung wieder und hat sich deshalb zu einem ganz wesent-lichen Arbeitsfeld entwickelt. Vielfach fehlt den Teilnehmenden noch eine grundlegende Ori- 4 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/189105/umfrage/jugendarbeitslosenquote-nach- bundeslaendern/ [aufgerufen am 09.08.18 um 09:19 Uhr].

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entierung in der Einschätzung der eigenen Interessen und Stärken. Auf eine Frage nach den beruflichen Zielen und Wünschen kommen deshalb nicht selten Antworten wie „Kein Plan“ oder „Ich weiß noch nicht so genau was ich machen möchte – irgendwas Handwerkliches vielleicht“. Besonders prägnant sind ganz selbstbewusste Antworten wie „Pilot“, wie ein jun-ger Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss unlängst antwortete. In einem solchen Fall liegt es auf der Hand, dass die Selbsteinschätzung nicht zu den tatsächlichen beruflichen Möglichkeiten passt. Darum sind in der Beratung Einfühlungsvermögen und Fingerspitzenge-fühl gefragt, wenn es gilt, individuelle Ressourcen und berufliche Möglichkeiten zu synchro-nisieren und realistische Perspektiven zu entwickeln. In einem ersten Beratungsgespräch gilt es deshalb zunächst zu klären, wie persönliche, schulische und familiäre Ressourcen be-rücksichtigt werden können, denn eine universelle Bewerbung gibt es nicht. Dieses betrifft die Jugendlichen, die für sich noch keine (berufliche) Perspektive gefunden haben, genauso wie die dauerhaft Schulvermeidenden und Ausbildungsabbrechenden, die im PACE Unter-stützung suchen. Zunehmend mehr spielen im Übergang Schule-Beruf psychische Belastungsfaktoren der Hilfesuchenden eine maßgebende Rolle. Psychische und/oder psychosomatische Erkran-kungen machen beispielsweise im Vorfeld häufig eine persönliche Stabilisierung durch the-rapeutische Maßnahmen notwendig. In aller Regel sind deshalb auch Möglichkeiten wie ein freiwilliges soziales Jahr, ein Bundesfreiwilligendienst oder sogar ein Auslandsjahr zur beruf-lichen Orientierung keine Option in diesem Zusammenhang. Eine alternative Unterstüt-zungsmöglichkeit besteht zum Beispiel darin, die betroffenen Jugendlichen durch ein stun-denreduziertes Praktikum, mit langsamer Steigerungsmöglichkeit der Arbeitszeit, zu stabili-sieren und für eine anschließende Ausbildung zu sensibilisieren. Hier sind pädagogische Arbeit und Einfühlungsvermögen besonders entscheidend. Für die einzelnen Bewerbungsschritte selbst fehlt den meisten Teilnehmenden des PACE das praktische Handwerkszeug und so beginnt das entsprechende Coaching häufig mit einer gemeinsamen Organisation eines professionellen Bewerbungsfotos und endet frühestens mit dem Üben eines Bewerbungsgespräches. Im Zuge der allgemeinen Digitalisierung ist natür-lich auch das Erstellen von Online-Bewerbungen ein wichtiges Coaching-Thema. Sprachlich wird daran gearbeitet, dass es gilt, mit eigenen Stärken zu überzeugen und nicht mit Flos-keln wie „hiermit bewerbe ich mich auf die Stelle alsV“ oder „ich würde mich auf eine Einla-dung freuen“ zurückzugreifen. Häufig reichen die bislang erworbenen Grundkompetenzen nicht aus, um eine aussagekräftige Bewerbung zu formulieren. In mehreren Schritten werden im PACE gemeinsam mit den Teilnehmenden der Lebenslauf und das Anschreiben überar-beitet und ein Deckblatt erstellt. Falls keine Bewerbungsunterlagen vorhanden sind, greift das PACE auf eigens erstellte Muster zurück, die entsprechend der Zielgruppe formuliert sind, um eine Orientierung für die unerfahrenen Teilnehmer/innen zu geben. Ein praktischer Hinweis zur Kostenentlastung im Bewerbungsverfahren ist vielen Jugendlichen nicht be-kannt. Wer bei dem Jobcenter oder der Agentur für Arbeit gemeldet ist, kann sich hier auf Antrag, gegen Vorlage entsprechender Quittungen, Auslagen erstatten lassen. Dieses sollte in jedem Fall vor Ort geklärt werden. Als letzte Einheit im Prozess der Entstehung einer Be-werbung wird mit den Jugendlichen ein Bewerbungsgespräch durchgespielt. Häufig geben

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Teilnehmende die Rückmeldung, dieses als hilfreiche Vorbereitung empfunden zu haben. Diese Vorgehensweise hat im letzten Jahr im PACE des Landkreises Leer zu erfolgreichen Ausbildungsaufnahmen geführt. Im Bereich der Arbeit mit geflüchteten Ausbildungssuchenden haben sich die formalen Zu-gänge oft als problematisch erwiesen. Eine Ursache hierfür sind fehlerhafte oder nicht aner-kannte Abschlüsse oder die sprachliche Integration in Berufsschule und Betrieb, die sich häufig als schwerwiegendes Hemmnis im Bewerbungsverfahren gezeigt hat. Außerdem klaf-fen auch in diesem Bereich Selbsteinschätzung und tatsächliche Leistungsanforderungen nicht selten weit auseinander. Dadurch gibt es zielgruppenspezifische Hemmnisse, die es durch kleinschrittige Zielsetzungen im Coaching des PACE abgebaut werden müssen. Ganz allgemein gilt für die Arbeit des PACE im Übergang Schule-Beruf, dass der Ausbau und die Pflege eines stabilen Netzwerkes unerlässlich sind. Hilfreich sind dabei die Zusam-menarbeit mit dem Jobcenter und der Agentur für Arbeit (darunter das Berufsinformations-zentrum) oder die Berufsbildenden Schulen. Für eine erfolgreiche Begleitung in eine Ausbil-dung ist aber vor allem ein möglichst breitgefächertes Netzwerk zu örtlichen Betrieben wich-tig. Als hilfreiches Unterstützungsinstrument (besonders in ländlicher Region) wird hierfür die Erstellung eines Stichwortverzeichnisses aller vor Ort angebotener Ausbildungsberufe erar-beitet. Dieses kann für die Teilnehmenden des PACE eine Orientierung bieten, die bereits angesprochenen persönlichen Ressourcen mit den vor Ort angebotenen Möglichkeiten ab-zugleichen. Ein weiterer Vorteil ist die Anbindung an die LeeWerk-WISA gGmbH. Dadurch sind einzelne Fachbereiche für Teilnehmende zugänglich, die sich in diesen ausprobieren können, um ihren beruflichen Weg für sich zu finden. Hierunter fallen die folgende Bereiche: Metall/KFZ, Büro, Holz, Maler, Gastronomie/Küche/Service, Friseur/Kosmetik. Letztendlich profitieren durch die intensive, einzelfallbezogene Arbeit nicht nur Teilnehmen-de, sondern auch gesellschaftliche Strukturen und ebenso die ausbildenden Betriebe. Denn nur wenn potentielle Ausbildungssuchende in der Lage sind, Hemmnisse abzubauen und klare berufliche Ziele erfolgreich aufzubauen, ist eine erfolgreiche Vermittlung in Ausbildung möglich. Durch Praktikumserprobungen, die das PACE begleitet, sind ein gegenseitiges Kennenlernen des Betriebes und des Jugendlichen möglich. Hier kann das PACE bei Bedarf als vermittelnde Instanz agieren. Diese Handlungsmöglichkeit wird häufig bei Schulabsen-tismus in Anspruch genommen. Eine weitere Zielgruppe sind Ausbildungsabbrechende, die mit den bereits benannten Vorgehensweisen im Bewerbungsprozess entsprechend ihrer Bedarfe unterstützt werden. Für die Arbeit des Pro-Aktiv-Centers in Leer stehen die Teilnehmenden mit ihren individuel-len Problemlagen im Fokus und werden entsprechend ihres Bedarfes umfassend beraten. Von einer beruflichen Orientierung bis hin zur Ausbildungsaufnahme begleitet das PACE die Jugendlichen auf ihren Weg von der Schule in den Beruf. Maßgebend für die Arbeit ist es, sich auf individuelle Hemmnisse einzustellen und diese gemeinsam mit den Jugendlichen abzubauen, um ihnen letztendlich eine umsetzbare Perspektive zu eröffnen.

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9. Links und Empfehlungen Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit (Hrsg.): Alte Pfade, neue Wege, ein Ziel: Gelin-gende Übergänge in den Beruf; Zeitschrift für Jugendsozialarbeit dreizehn Nr. 16, November 2016 Fritsche, Tina (2014): Ein dickes Brett. Wie Bremen junge Flüchtlinge in Ausbildung bringt, in: dreizehn, Nr. 12/2014. Mathes, Stephanie (2015): Die demographische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf den Übergang Schule – Berufsausbildung, in: dreizehn, Nr. 13/2015. Wisser, Ulrike (2015): Ausbildungsmobiltiät in Europa. Europa will die berufliche Bildung stärken und der Jugendarbeitslosigkeit nachhaltig entgegentreten. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit und wachsende Ausbildungsmobilität können dazu beitragen, in: dreizehn, Nr. 13/2015. Bundesministerium für Bildung und Forschung (2018): Bildungsbericht 2018. Online ab-rufbar unter: https://www.bmbf.de/pub/Berufsbildungsbericht_2018.pdf Bundesinstitut für Berufsbildung (2018): Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2018. Online abrufbar unter: https://www.bibb.de/dokumente/pdf/bibb_datenreport_2018.pdf Bertelsmann Stiftung (2017): Entwicklung der Berufsausbildung in Klein- und Mittelbetrie-ben. Url: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/entwicklung-der-berufsausbildung-in-klein-und-mittelbetrieben/ Bundesministerium für Wirschaft und Technologie (2012): Fachkräfte sichern. Sozial benachteiligte Jugendliche in der Ausbildung. Online abrufbar unter: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Ausbildung-und-Beruf/fachkraefte-sichern-sozial-benachteiligte-jugendliche-in-der-ausbildung.pdf?__blob=publicationFile&v=1 von Borstel, Stefan; Wisdorf, Flora (2014): Mangelnde Reife bei Azubis. Url: https://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_wirtschaft/article131474994/Mangelnde-Reife-bei-Azubis.html# Bohlen, Elise (2017): Jugendberufshilfe ist Berufsförderung und Sozialpädagogik aus einer Hand. In: dreizehn, Nr. 17/2017.

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Themenheft 3/2018 Gelungener Einstieg in den Arbeitsmarkt Kompetenzen – Bewerbung – Anforderungen

Umbach, Klaus (2017): Warum man besser von arbeitsweltbezogener Jugendsozialarbeit sprechen sollte, wenn Jugendberufshilfe gemeint ist. In: dreizehn, Nr. 17/2017. Deutsches Jugendinstitut (2017): Angebote und Strukturen der Jugendberufshilfe. Eine Forschungsübersicht, online abrufbar unter: https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2017/64_Jugendberufshilfe.pdf

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