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werbewoche 11 | 08.06.2012 22 Theorie versus Praxis Die Abschlüsse der Hochschulen haben enorm zu- genommen. Ihr Vorteil ist, dass sie weltweit unisono Bachelor und Master heissen. Die Titel der schwei- zerischen Abschlüsse müssen im Ausland oder Aus- ländern erklärt werden. Ein grosser Unterschied spricht für die höhere Berufsbildung, besonders wenn sich Absolventen im Berufsalltag als Genera- listen beweisen wollen: Sie ist praxisnah. «Die höhe- re Berufsbildung legt weniger Wert auf Wissen- schaft, dafür spielen Praxisnähe und Praktikabilität des Gelernten eine viel grössere Rolle», erklärt Peter Petrin, Vizepräsident und Ressortleiter/Bildungsex- perte im Zentralvorstand von Swiss Marketing. In der höheren Berufsbildung profitieren Arbeitgeber und Studierende von der bestehenden Berufspraxis und von der Tatsache, dass sie auch während der Weiterbildung voll im Berufsleben stehen. In Voll- zeitausbildungen dagegen müssen Laborsituationen geschaffen werden. Diese kommen aber nicht an die Realität heran. Ähnlich sieht es Bruno Zanella, Head of Human Resources der Flughafen Zürich AG: «Absolventen von höheren Berufsbildungen bringen Praxiserfah- rung mit und kennen die Berufswelt bereits. Das ist ein Vorteil, denn diese Absolventen können die im Arbeitsleben an sie gestellten Erwartungen besser einschätzen.» Kandidaten ohne Praxiserfahrungen hätten sicherlich eine gute Ausbildung, kennen das Berufsleben aber nur aus der eorie. In der Praxis werden die Jobprofile anhand der Anforderungen definiert. Wird gewünscht, dass Jobanwärter Be- Bachelor, Master oder eine höhere Berufsbildung? Ein Vollzeitstudium ist umfassender. In der Regel fehlt aber die Praxis. Und mit dieser besticht die höhere Berufsbildung. rufserfahrung mitbringen, werden Absolventen ei- ner höheren Berufsbildung bevorzugt. «Sie sind in der Regel auch etwas ‹ausdauernder› bezüglich der Arbeitsbereitschaft», stellt Zanella vorsichtig fest. Augenschein im Klassenzimmer Blicken wir in die Praxis, genauer genommen in den beliebten Studiengang «dipl. Marketingmanager/-in HF». Wer diesen Studiengang belegt, verfügt einer- seits seit dem Lehrabschluss über mindestens zwei Jahre Berufserfahrung in Marketing und Verkauf bzw. in marketing- und verkaufsnahen Berufen. An- dererseits müssen die Absolventen während der Weiterbildung mindestens 50 Prozent arbeiten. Der von Swiss Marketing entwickelte und vom Bundes- amt für Berufsbildung und Technologie BBT geneh- migte Rahmenlehrplan begünstigt innovatives und sehr handlungsorientiertes Lernen und Prüfen. «Das bedeutet, dass der Hauptfokus nicht auf das Wissen, sondern auf die Anwendung gelegt werden kann», erklärt Peter Petrin. Und nachdem das Lösen von Prüfungen nicht berufsrelevant ist, reduziert man es auf ein erforderliches Minimum. «Viel be- deutender ist, dass der Transfer in die reale Arbeits- welt in den Mittelpunkt gesetzt wird. Es ist span- nender, lehrreicher und auch nützlicher, wenn Stu- dierende die Aufgabe erhalten, in einigen Tagen für ein echtes Unternehmen zum Beispiel ein Marke- tingkonzept zu schreiben, als wenn sie in einer oder wenigen Stunden aufgrund einer Fallstudie ein sol- ches Konzept schreiben müssen», so Petrin weiter. Dipl. Marketingmanager/-innen HF geniessen nebst den Kernfächern Marketing, Verkauf und Kommunikation eine breite Ausbildung: Sie kennen die Unternehmensführung, Personal- und Quali- tätsmanagement, Informatik, Produktion, Beschaf- fung und Logistik u. a. Das macht sie zu idealen Ansprechpartnern innerhalb des Betriebs. «Was auf den ersten Blick als Marketingproblem daher- kommt, ist auf den zweiten Blick oft ein gesamtun- ternehmerisches Problem mit Anknüpfungspunk- ten zu vielen anderen Funktionen und Bereichen», weiss der Bildungsexperte. Die Leistung zählt Und wie sieht die Zukunft der höheren Berufsbil- dung aus? Peter Petrin wagt eine Progonse: «Wenn die Analyse anderer Länder etwas zeigt, dann das: Länder mit hohen Akademikerquoten haben mar- kant höhere Arbeitslosenquoten, eine wesentlich tiefere Innovationskraft und eine geringere Wettbe- werbsfähigkeit. Die ‹Bachelor-Hysterie› in unserem Land wird abflauen in dem Mass, wie sich dieser Abschluss abwertet.» Die Abschlüsse der höheren Berufsbildung würden kraft ihrer inneren Stärke eine sichere Position behalten. Im Berufsleben setze sich langfristig nicht die Schönheit des Titels, son- dern die Leistung der Berufsleute durch. Schon der berühmte französische Lyriker, Philosoph und Es- sayist Paul Valéry stellte vor über 75 Jahren fest: «Je wichtiger Diplome geworden sind, desto mehr wur- de der Nutzen des Bildungswesens geschwächt.» Win-Win-Situation: Mitarbeiter mit höherer Berufsbildung sind dank Praxiserfahrung und fundierter Ausbildung ein Gewinn für die Wirtschaft. Foto: Keystone

Theorie versus Praxis - FH vs. HF

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Ein grosser Unterschied spricht für die höhere Berufsbildung, besonders wenn sich Absolventen im Berufsalltag als Generalisten beweisen wollen: Sie ist praxisnah. «Die höhere Berufsbildung legt weniger Wert auf Wissenschaft, dafür spielen Praxisnähe und Praktikabilität des Gelernten eine viel grössere Rolle», erklärt Peter Petrin, Vizepräsident und Ressortleiter/Bildungsexperte im Zentralvorstand von Swiss Marketing. In der höheren Berufsbildung profitieren Arbeitgeber und Studierende von der bestehenden Berufspraxis und von der Tatsache, dass sie auch während der Weiterbildung voll im Berufsleben stehen.

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Page 1: Theorie versus Praxis - FH vs. HF

werbewoche 11 | 08.06.201222

Theorie versus Praxis

Die Abschlüsse der Hochschulen haben enorm zu-

genommen. Ihr Vorteil ist, dass sie weltweit unisono

Bachelor und Master heissen. Die Titel der schwei-

zerischen Abschlüsse müssen im Ausland oder Aus-

ländern erklärt werden. Ein grosser Unterschied

spricht für die höhere Berufsbildung, besonders

wenn sich Absolventen im Berufsalltag als Genera-

listen beweisen wollen: Sie ist praxisnah. «Die höhe-

re Berufsbildung legt weniger Wert auf Wissen-

schaft, dafür spielen Praxisnähe und Praktikabilität

des Gelernten eine viel grössere Rolle», erklärt Peter

Petrin, Vizepräsident und Ressortleiter/Bildungsex-

perte im Zentralvorstand von Swiss Marketing. In

der höheren Berufsbildung profitieren Arbeitgeber

und Studierende von der bestehenden Berufspraxis

und von der Tatsache, dass sie auch während der

Weiterbildung voll im Berufsleben stehen. In Voll-

zeitausbildungen dagegen müssen Laborsituationen

geschaffen werden. Diese kommen aber nicht an die

Realität heran.

Ähnlich sieht es Bruno Zanella, Head of Human

Resources der Flughafen Zürich AG: «Absolventen

von höheren Berufsbildungen bringen Praxiserfah-

rung mit und kennen die Berufswelt bereits. Das ist

ein Vorteil, denn diese Absolventen können die im

Arbeitsleben an sie gestellten Erwartungen besser

einschätzen.» Kandidaten ohne Praxiserfahrungen

hätten sicherlich eine gute Ausbildung, kennen das

Berufsleben aber nur aus der *eorie. In der Praxis

werden die Jobprofile anhand der Anforderungen

definiert. Wird gewünscht, dass Jobanwärter Be-

Bachelor, Master oder eine höhere Berufsbildung? Ein Vollzeitstudium ist umfassender. In der Regel fehlt aber die Praxis. Und mit dieser besticht die höhere Berufsbildung.

rufserfahrung mitbringen, werden Absolventen ei-

ner höheren Berufsbildung bevorzugt. «Sie sind in

der Regel auch etwas ‹ausdauernder› bezüglich der

Arbeitsbereitschaft», stellt Zanella vorsichtig fest.

Augenschein im Klassenzimmer

Blicken wir in die Praxis, genauer genommen in den

beliebten Studiengang «dipl. Marketingmanager/-in

HF». Wer diesen Studiengang belegt, verfügt einer-

seits seit dem Lehrabschluss über mindestens zwei

Jahre Berufserfahrung in Marketing und Verkauf

bzw. in marketing- und verkaufsnahen Berufen. An-

dererseits müssen die Absolventen während der

Weiterbildung mindestens 50 Prozent arbeiten. Der

von Swiss Marketing entwickelte und vom Bundes-

amt für Berufsbildung und Technologie BBT geneh-

migte Rahmenlehrplan begünstigt innovatives und

sehr handlungsorientiertes Lernen und Prüfen.

«Das bedeutet, dass der Hauptfokus nicht auf das

Wissen, sondern auf die Anwendung gelegt werden

kann», erklärt Peter Petrin. Und nachdem das Lösen

von Prüfungen nicht berufsrelevant ist, reduziert

man es auf ein erforderliches Minimum. «Viel be-

deutender ist, dass der Transfer in die reale Arbeits-

welt in den Mittelpunkt gesetzt wird. Es ist span-

nender, lehrreicher und auch nützlicher, wenn Stu-

dierende die Aufgabe erhalten, in einigen Tagen für

ein echtes Unternehmen zum Beispiel ein Marke-

tingkonzept zu schreiben, als wenn sie in einer oder

wenigen Stunden aufgrund einer Fallstudie ein sol-

ches Konzept schreiben müssen», so Petrin weiter.

Dipl. Marketingmanager/-innen HF geniessen

nebst den Kernfächern Marketing, Verkauf und

Kommunikation eine breite Ausbildung: Sie kennen

die Unternehmensführung, Personal- und Quali-

tätsmanagement, Informatik, Produktion, Beschaf-

fung und Logistik u. a. Das macht sie zu idealen

Ansprechpartnern innerhalb des Betriebs. «Was auf

den ersten Blick als Marketingproblem daher-

kommt, ist auf den zweiten Blick oft ein gesamtun-

ternehmerisches Problem mit Anknüpfungspunk-

ten zu vielen anderen Funktionen und Bereichen»,

weiss der Bildungsexperte.

Die Leistung zählt

Und wie sieht die Zukunft der höheren Berufsbil-

dung aus? Peter Petrin wagt eine Progonse: «Wenn

die Analyse anderer Länder etwas zeigt, dann das:

Länder mit hohen Akademikerquoten haben mar-

kant höhere Arbeitslosenquoten, eine wesentlich

tiefere Innovationskraft und eine geringere Wettbe-

werbsfähigkeit. Die ‹Bachelor-Hysterie› in unserem

Land wird abflauen in dem Mass, wie sich dieser

Abschluss abwertet.» Die Abschlüsse der höheren

Berufsbildung würden kraft ihrer inneren Stärke

eine sichere Position behalten. Im Berufsleben setze

sich langfristig nicht die Schönheit des Titels, son-

dern die Leistung der Berufsleute durch. Schon der

berühmte französische Lyriker, Philosoph und Es-

sayist Paul Valéry stellte vor über 75 Jahren fest: «Je

wichtiger Diplome geworden sind, desto mehr wur-

de der Nutzen des Bildungswesens geschwächt.»

Win-Win-Situation:

Mitarbeiter mit höherer

Berufsbildung sind dank

Praxiserfahrung und

fundierter Ausbildung ein

Gewinn für die Wirtschaft.

Foto

: Keyst

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