1
Langenbecks Arch Chir (1993) 378:65 Langenbecks A chiv f rChirurgie © Springer-Verlag 1993 Therapie des fortgeschrittenen Magenkarzinoms: Multiviszeral oder multimodal? J. R. Siewert Chirurgische Klinik und Poliklinik, Technische Universit/it Miinchen, Klinikum rechts der Isar, Ismaninger StraBe 22, W-8000 M/inchen 80 Zu den wenigen zweifetsfrei belegten Fakten in der Chir- urgie des Magenkarzinoms geh6rt, dab ein operativer Eingriff nur dann ffir den Patienten einen prognostischen Gewinn bringt, wenn er zur lokalen Tumorfreiheit ffihrt. Diese Aussage gilt im Prinzip gleichermagen ffir frfihe und ffir fortgeschrittene Magenkarzinome. Dieser Situa- tion wird in der hoffentlich bald verbindlichen Nomen- klatur der UICC als ,,no residual tumor= RO" Rech- nung getragen; der Begriff kurativ wird bewuBt vermie- den, denn nicht Heilung, sondern lediglich Prognose- verbesserung ist erreicht. RO im Sinne der UICC meint lokale Tumorfreiheit in allen 3 Dimensionen (oral, aboral und in der Tiefe), sollte abet auch die Tumorfreiheit in den Lymphabflul3wegen (freie Grenzlymphknoten) beinhalten. Um dieses Ziel der lokalen Tumorfreiheit zu erreichen, ist auch eine Opera- tionserweiterung vertretbar - oder anders herum ausge- drfickt: Nur wenn dieses Ziel erreicht wird, ist eine Opera- tionserweiterung vertretbar. Dies gilt sowohl ffir die radi- kale Lymphknotendissektion als auch ffir die multivisze- rale Resektion [3]. Will man Argumente fiir multivisze- tale Resektionen vorlegen, mfissen diese Fakten klar auf- gezeigt werden. Entschliel3t man sich zu einer multiviszeralen Resek- tion, gilt es natfirlich sorgf/iltig das Risiko und den Nut- zen eines derartigen Eingriffs gegeneinander abzuw/igen. Der zu erreichende Prognosegewinn, d.h. also der Nut- zen, ist um so geringer, je fortgeschrittener das Tumorsta- dium ist. Dies bezieht sich nicht nut auf die T-Kategorie, sondern insbesondere auf die N-Kategorie, die die Pro- gnose des Patienten am nachhaltigsten beeinflul3t [1]. Das bedeutet, dab eine multiviszerale Resektion bei einem T4- Tumor mit beginnender oder wenig fortgeschrittener Lymphknotenmetastasierung (N1 -N2) mehr erreicht als bei weit fortgeschrittener Lymphknotenmetastasierung (mehr als N2) [3]. Die Tatsache sollte sorgf/iltig bei der Indikationsstellung bedacht werden. Konsequenterweise ist ein intraoperatives Staging ffir die Indikation zur mul- tiviszeralen Resektion hilfreich. Die postoperative Morbidit/it wird in erster Linie durch eine etwaige Pankreasresektion - in der Regel han- delt es sich um eine Pankreaslinksresektion - gepr/igt. Korrespondenz an. Prof. Dr. J.R. Siewert Diese Erweiterung des Eingriffs sollte deshalb, wenn ir- gend m6glich, vermieden werdenl Hohe intramediasti- hale Anastomosen haben dagegen dank der modernen Nahttechniken ihre Schrecken praktisch verloren. Ein Verlust an Lebensqualitfit fiber 6-8 Monate nach einer totalen Gastrektomie ist wiederholt aufgezeigt worden [2, 4]. Der zu erwartende Prognosegewinn sollte diesen Zeit- raum deshalb deutlich/ibertreffen. Insgesamt gesehen haben die modern gewordenen multiviszeralen Resektionen - modern, weil man sie mit vertretbarem Risiko ausfiihren kann - auch beim Magen- karzinom durchaus ihre Berechtigung. Die Indikation sollte aber gut abgewogen werden. Sic haben nur dann Sinn, wenn sie zur belegten lokalen Tumorfreiheit fiihren. Dabei ist nicht die T-Kategorie die Herausforderung, sondern die Lymphknotenmetastasierung. Nur wenn auch bier Tumorfreiheit erreicht wird, ffihren derartige erwei- terte Resektionen zu dem erhofften Prognosegewinn. Die Bewfihrungsprobe mfissen die multiviszeralen Re- sektionen allerdings erst noch bestehen. Nicht der Ver- gleich mit nichtresezierten Patienten ist interessant, son- dern der kontrollierte Vergleich mit multimodalen Thera- pieprinzipien. Es ist derzeit noch offen, ob erweiterte Ga- strektomien mit dem Ergebnis einer knappen R0-Resek- tion die Prognose von Patienten gfinstiger beeinflussen als eine pr/ioperative Chemotherapie mit nachfolgender- vielleicht sogar weniger radikalen - Resektion. Die Be- antwortung der Frage ,,multiviszeral oder multimodal?" steht somit noch offen, sic sollte bald beantwortet werden. Literatur 1. B6ttcher K, Becker K, Busch R, Roder JD, Siewert JR (1992) Prognosefaktoren beim Magenkarcinom - Ergebnisse einer uni- und multivariaten Analyse. Chirurg 63:656-661 2. Roder JD, Herschbach P, Henrich G, B6ttcher K, Siewert JR (1992) Lebensqualit/it nach totaler Gastrektomie wegen Magen- karzinom- Oesophagojejunoplicatio mit Pouch versus Oesopha- gojejunostomie ohne Pouch. Dtsch Med Wochenschr 117:241-247 3. Siewert JR, B6ttcher K, Roder JD, Fink U (1992) Prognostic value of systematic lymph node dissection - German Gastric Cancer Study '92 (GGCS). Br J Surg (submitted) 4. Troidl H, Kusche J, Vestweber KH, Eypasch E, Maul U (1987) Pouch versus esophagojejunostomy after total gastrectomy: a randomized clinical trial. World J Surg 11:699-712

Therapie des fortgeschrittenen Magenkarzinoms: Multiviszeral oder multimodal?

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Therapie des fortgeschrittenen Magenkarzinoms: Multiviszeral oder multimodal?

Langenbecks Arch Chir (1993) 378:65

Langenbecks A chiv f rChirurgie © Springer-Verlag 1993

Therapie des fortgeschrittenen Magenkarzinoms: Multiviszeral oder multimodal? J. R. Siewert

Chirurgische Klinik und Poliklinik, Technische Universit/it Miinchen, Klinikum rechts der Isar, Ismaninger StraBe 22, W-8000 M/inchen 80

Zu den wenigen zweifetsfrei belegten Fakten in der Chir- urgie des Magenkarzinoms geh6rt, dab ein operativer Eingriff nur dann ffir den Patienten einen prognostischen Gewinn bringt, wenn er zur lokalen Tumorfreiheit ffihrt. Diese Aussage gilt im Prinzip gleichermagen ffir frfihe und ffir fortgeschrittene Magenkarzinome. Dieser Situa- tion wird in der hoffentlich bald verbindlichen Nomen- klatur der UICC als ,,no residual tumor= RO" Rech- nung getragen; der Begriff kurativ wird bewuBt vermie- den, denn nicht Heilung, sondern lediglich Prognose- verbesserung ist erreicht.

RO im Sinne der UICC meint lokale Tumorfreiheit in allen 3 Dimensionen (oral, aboral und in der Tiefe), sollte abet auch die Tumorfreiheit in den Lymphabflul3wegen (freie Grenzlymphknoten) beinhalten. Um dieses Ziel der lokalen Tumorfreiheit zu erreichen, ist auch eine Opera- tionserweiterung vertretbar - oder anders herum ausge- drfickt: Nur wenn dieses Ziel erreicht wird, ist eine Opera- tionserweiterung vertretbar. Dies gilt sowohl ffir die radi- kale Lymphknotendissektion als auch ffir die multivisze- rale Resektion [3]. Will man Argumente fiir multivisze- tale Resektionen vorlegen, mfissen diese Fakten klar auf- gezeigt werden.

Entschliel3t man sich zu einer multiviszeralen Resek- tion, gilt es natfirlich sorgf/iltig das Risiko und den Nut- zen eines derartigen Eingriffs gegeneinander abzuw/igen. Der zu erreichende Prognosegewinn, d.h. also der Nut- zen, ist um so geringer, je fortgeschrittener das Tumorsta- dium ist. Dies bezieht sich nicht nut auf die T-Kategorie, sondern insbesondere auf die N-Kategorie, die die Pro- gnose des Patienten am nachhaltigsten beeinflul3t [1]. Das bedeutet, dab eine multiviszerale Resektion bei einem T4- Tumor mit beginnender oder wenig fortgeschrittener Lymphknotenmetastasierung (N1 -N2) mehr erreicht als bei weit fortgeschrittener Lymphknotenmetastasierung (mehr als N2) [3]. Die Tatsache sollte sorgf/iltig bei der Indikationsstellung bedacht werden. Konsequenterweise ist ein intraoperatives Staging ffir die Indikation zur mul- tiviszeralen Resektion hilfreich.

Die postoperative Morbidit/it wird in erster Linie durch eine etwaige Pankreasresektion - in der Regel han- delt es sich um eine Pankreaslinksresektion - gepr/igt.

Korrespondenz an. Prof. Dr. J.R. Siewert

Diese Erweiterung des Eingriffs sollte deshalb, wenn ir- gend m6glich, vermieden werdenl Hohe intramediasti- hale Anastomosen haben dagegen dank der modernen Nahttechniken ihre Schrecken praktisch verloren. Ein Verlust an Lebensqualitfit fiber 6 -8 Monate nach einer totalen Gastrektomie ist wiederholt aufgezeigt worden [2, 4]. Der zu erwartende Prognosegewinn sollte diesen Zeit- raum deshalb deutlich/ibertreffen.

Insgesamt gesehen haben die modern gewordenen multiviszeralen Resektionen - modern, weil man sie mit vertretbarem Risiko ausfiihren kann - auch beim Magen- karzinom durchaus ihre Berechtigung. Die Indikation sollte aber gut abgewogen werden. Sic haben nur dann Sinn, wenn sie zur belegten lokalen Tumorfreiheit fiihren. Dabei ist nicht die T-Kategorie die Herausforderung, sondern die Lymphknotenmetastasierung. Nur wenn auch bier Tumorfreiheit erreicht wird, ffihren derartige erwei- terte Resektionen zu dem erhofften Prognosegewinn.

Die Bewfihrungsprobe mfissen die multiviszeralen Re- sektionen allerdings erst noch bestehen. Nicht der Ver- gleich mit nichtresezierten Patienten ist interessant, son- dern der kontrollierte Vergleich mit multimodalen Thera- pieprinzipien. Es ist derzeit noch offen, ob erweiterte Ga- strektomien mit dem Ergebnis einer knappen R0-Resek- tion die Prognose von Patienten gfinstiger beeinflussen als eine pr/ioperative Chemotherapie mit nachfolgender- vielleicht sogar weniger radikalen - Resektion. Die Be- antwortung der Frage ,,multiviszeral oder multimodal?" steht somit noch offen, sic sollte bald beantwortet werden.

Literatur

1. B6ttcher K, Becker K, Busch R, Roder JD, Siewert JR (1992) Prognosefaktoren beim Magenkarcinom - Ergebnisse einer uni- und multivariaten Analyse. Chirurg 63:656-661

2. Roder JD, Herschbach P, Henrich G, B6ttcher K, Siewert JR (1992) Lebensqualit/it nach totaler Gastrektomie wegen Magen- karzinom- Oesophagojejunoplicatio mit Pouch versus Oesopha- gojejunostomie ohne Pouch. Dtsch Med Wochenschr 117:241-247

3. Siewert JR, B6ttcher K, Roder JD, Fink U (1992) Prognostic value of systematic lymph node dissection - German Gastric Cancer Study '92 (GGCS). Br J Surg (submitted)

4. Troidl H, Kusche J, Vestweber KH, Eypasch E, Maul U (1987) Pouch versus esophagojejunostomy after total gastrectomy: a randomized clinical trial. World J Surg 11:699-712