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Thomas Ziehe „Post- Enttraditionalisierung“ Beobachtungen zu einer veränderten Stimmungslage heutiger Jugendlicher Die Enttraditionalisierung ist erfolgreich – und entzaubert Jede nachwachsende Generation muss sich mit den kulturellen Sinnvorgaben und den Formen von sozialer Regelung und Kontrolle auseinandersetzen, die sie vorfindet. Jede bisherige Jugendgeneration der Moderne wurde auf „Traditionen“ verwiesen, und jugendliche Sehnsüchte speisten sich aus den brennenden, aber weitgehend diffusen Wünschen, etwas zu bekommen, das einem bislang als unerreichbar oder unaussprechlich vorenthalten worden war. Und wenn sich diese Sehnsüchte von Zeit zu Zeit kollektiv bündelten, entstanden „Jugendbewegungen“, die als Impulsgeber für das Umformen und Überschreiten der vorgegebenen Lebensformen fungierten. Auf diese Weise formte sich ein Mythos jugendbewegten Lebensgefühls aus, der die individuelle Entwicklungskrise der Adoleszenz geradezu geschichtsphilosophisch überhöhte. Überkommenes und Zukünftiges wurden in einen grell ausgeleuchteten Kontrast zueinander gebracht. Jungsein in diesem pathetisch-utopischen Sinne hieß in kulturelles Neuland vorzustoßen und „das Alte“ ein für alle mal abzustoßen. Jim Morrison sang 1970 mit betörender lapidarer Eindringlichkeit - „Break on through - to the other side!” Das ist gestern gewesen. Und ich möchte hier der Frage nachgehen, inwieweit sich dieses Lebensgefühl für heutige Jugendliche kaum noch einstellt. Das Überkommene zu verabscheuen und von dem „Neuen“ verzaubert zu sein – das kann man nicht mehr als Glutkern heutigen Jugendgefühls bezeichnen. Die enge motivationale Koppelung von Jugend und Enttraditionalisierung scheint mir heute so nicht mehr gegeben. Vielmehr haben sich - als Ergebnis einer lang andauernden Enttraditionalisierung - nun Erfahrungsverhältnisse durchgesetzt, die künftige Enttraditionalisierungen zwar keineswegs verlangsamen oder gar anhalten, aber die ebendiese Enttraditionalisierungen entzaubert haben. Sie sind kein 1

Thomas Ziehe „Post-Enttraditionalisierung“ Beobachtungen zu einer veränderten Stimmungslage heutiger Jugendlicher

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Discussing cultural developments among young people in the new millennium. Congress in Oslo 2005

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Thomas Ziehe

Thomas Ziehe Post-Enttraditionalisierung Beobachtungen zu einer vernderten Stimmungslage heutiger Jugendlicher

Die Enttraditionalisierung ist erfolgreich und entzaubert

Jede nachwachsende Generation muss sich mit den kulturellen Sinnvorgaben und den Formen von sozialer Regelung und Kontrolle auseinandersetzen, die sie vorfindet. Jede bisherige Jugendgeneration der Moderne wurde auf Traditionen verwiesen, und jugendliche Sehnschte speisten sich aus den brennenden, aber weitgehend diffusen Wnschen, etwas zu bekommen, das einem bislang als unerreichbar oder unaussprechlich vorenthalten worden war. Und wenn sich diese Sehnschte von Zeit zu Zeit kollektiv bndelten, entstanden Jugendbewegungen, die als Impulsgeber fr das Umformen und berschreiten der vorgegebenen Lebensformen fungierten. Auf diese Weise formte sich ein Mythos jugendbewegten Lebensgefhls aus, der die individuelle Entwicklungskrise der Adoleszenz geradezu geschichtsphilosophisch berhhte. berkommenes und Zuknftiges wurden in einen grell ausgeleuchteten Kontrast zueinander gebracht. Jungsein in diesem pathetisch-utopischen Sinne hie in kulturelles Neuland vorzustoen und das Alte ein fr alle mal abzustoen. Jim Morrison sang 1970 mit betrender lapidarer Eindringlichkeit - Break on through - to the other side!

Das ist gestern gewesen. Und ich mchte hier der Frage nachgehen, inwieweit sich dieses Lebensgefhl fr heutige Jugendliche kaum noch einstellt. Das berkommene zu verabscheuen und von dem Neuen verzaubert zu sein das kann man nicht mehr als Glutkern heutigen Jugendgefhls bezeichnen. Die enge motivationale Koppelung von Jugend und Enttraditionalisierung scheint mir heute so nicht mehr gegeben. Vielmehr haben sich - als Ergebnis einer lang andauernden Enttraditionalisierung - nun Erfahrungsverhltnisse durchgesetzt, die knftige Enttraditionalisierungen zwar keineswegs verlangsamen oder gar anhalten, aber die ebendiese Enttraditionalisierungen entzaubert haben. Sie sind kein biographisches oder kollektives Versprechen mehr, sie stehen nicht mehr fr sozialimaginres Neuland.

Der Begriff Enttraditionalisierung kann missverstanden werden. Er wird nmlich gemeinhin zusammen mit dem Begriff posttraditionale Gesellschaft verwendet[footnoteRef:1]; und das knnte man dann so missverstehen, als sei die gegenwrtige Gesellschaftsformation direkte Nachfolgerin der traditionalen Gesellschaft. Wre dem so, dann htten wir es nmlich bis in unsere Gegenwart hinein vor allem mit dem Abbau vor-moderner Sozialstrukturen und Sinnkonstruktionen zu tun. Das ist aber nicht ganz richtig. Es ist angemessener, sich den skularen Prozess von Enttraditionalisierung zweistufig vorstellen: erst als Abbau vor-moderner und spter als Abbau eigener selbst geschaffener Strukturen. [1: Vgl. Giddens (1993).]

Die erste Stufe besteht im Umbruch einer vormodern-stndischen zu einer industriegesellschaftlichen Sozialstruktur. Dieser Prozess (seit Ende des 18.Jahrhunderts) zeitigt gewaltige und gewaltsame Enttraditionalisierungsschbe im Gefolge politischen, konomischen, technischen und geistigen Erneuerungsdrucks. Aber diese quasi primren Enttraditionalisierungen der noch jungen Moderne wurden kompensatorisch ausgeglichen, indem neue Traditionen erfunden wurden.[footnoteRef:2] Diese erfundenen Traditionen pufferten die noch instabilen Selbstbeschreibungen der neu formierten Gesellschaft sozialintegrativ und legitimatorisch ab. Man kann sie als neue Semantiken verstehen, die die Funktion von stabilisierenden bergangskonstruktionen[footnoteRef:3] bernahmen und die Schockeffekte der sozialen und kulturellen Umbrche abfederten. Obwohl neu, erlangen die bergangskonstruktionen in vergleichsweise kurzer Zeit den Status alltagskultureller Gewissheiten, die ihre Neuheit rasch vergessen machte und sie zu quasi-natrlichen Festigkeiten gerinnen lie: Es bilden sich z.B. rigorosere Festlegungen der Geschlechterdifferenz, verschrfte Trennungen zwischen huslich-privater und ffentlicher Sphre, brgerliche Gemeinschaftsrituale wie Salonleben oder Weihnachtsfeier, Anfnge einer Unterhaltungskultur fr die stdtischen Unterschichten, eine rekonstruktive Wiederentdeckung der Volkskultur. Neuerfundene Traditionen bezogen sich des weiteren auf kollektive Groorientierungen und Zukunftsmythen, wie z.B. die Utopien von lckenloser Steuerbarkeit der Welt und von linearem wissenschaftsgeleiteten Fortschritt. Und es muss hinzugefgt werden, dass diese Semantiken dort besonders brisante Mentalittsvernderungen untersttzten, wo sie ihre Integrationsfunktion durch die Ethnisierung von Konflikten und die Diskriminierung von Minderheiten erkauften, wie im modernen Nationalismus, Imperialismus, Antisemitismus und kolonialen Rassismus. [2: Hobsbawm/Ranger (1983).] [3: Nassehi (1999).]

So hoch problematisch also diese bergangskonstruktionen zum Teil zweifellos waren, so hatten sie doch einen durchschlagenden funktionalen Effekt, nmlich die frhen Modernisierungserfahrungen so abzufedern, dass sie nicht direkt auf alle Lebensformen durchschlugen. Die Enttraditionalisierung erster Stufe ermglichte zwar frhmoderne Individualisierungsprozesse, aber diese Individualisierung war lediglich in halbierter Weise wirksam. Kollektive Einbindungen blieben nmlich trotzdem unabdingbar fr die Identittsentwicklung.[footnoteRef:4] Kurzum: vieles was in unserer heutigen Perspektive als Tradition erscheint, ist selbst bereits Resultat von Modernisierungsprozessen.[footnoteRef:5] Aber auch wenn diese Traditionen im Grunde Neukonstruktionen waren, vermochten sie doch neue, mental fest verankerte Kontinuitten zu stiften. Die Erfahrungsumbrche konnten mit ihrer Hilfe gefiltert und mental umgedeutet werden. Dieser Abbau vor-moderner Traditionen und deren Kompensation durch bergangskonstruktionen kann also als eine Enttraditionalisierung erster Stufe konzeptualisiert werden. [4: Keupp (2001), 163f.] [5: Giddens (1993), 474.]

Eine Enttraditionalisierung zweiter Stufe tritt nun dann ein, wenn diese bergangskonstruktionen und ihre vermeintlichen Gewissheiten, die ber weite Strecken des 19. und 20. Jahrhunderts die industriegesellschaftlichen Groorientierungen bestimmten, in den Hintergrundberzeugungen der Individuen und im Alltag abgeschleift und delegitimiert werden. Dies scheint ab den 1970er-Jahren der Fall zu sein, und fr diese modernisierungsgeschichtliche Stufe ist die Bezeichnung Zweite Moderne vorgeschlagen worden.[footnoteRef:6] Als Kernmerkmal dieser zweiten Moderne wird gesehen, dass ihr zunehmend die selbstverursachten Folgewirkungen und -risiken von Modernisierungen und Enttraditionalisierungen in den Blick kommen, ohne dass es die Mglichkeit einer zentral gesteuerten Umkehr oder eines Halts geben kann. Das verschafft dieser Gesellschaftsformation (im Unterschied zur Ersten Moderne) einen hohen Grad an nicht endender Selbstbeobachtung, Kontingenzbewusstsein und Desillusioniertheit. Man hat diese Tendenz auch als Ende der Zuversicht gekennzeichnet. [6: Beck/Giddens/Lash (1996), 64. ]

Da die Gewissheitsversprechen der klassisch-modernen bergangskonstruktionen nicht mehr tragen, tritt die Wahrnehmung des modernen Dauerzweifels immer unverhllter hervor, und sie bezieht sich nicht mehr nur auf Groorientierungen im berbau der Gesellschaft, sondern zunehmend auf die kleinen Gewissheiten und Selbstverstndlichkeiten im Alltagsleben selbst. Der Punkt ist nicht nur, dass ... alles in Zweifel gezogen werden kann, sondern, dass dieser Zweifel sich nicht mehr nur auf intellektuelle Untersuchungen beschrnkt, sondern sich auf den Bereich der Bedingungen des Alltagslebens in der Moderne ausgedehnt hat.[footnoteRef:7] Mit dem Abschmelzen der klassisch-modernen, industriegesellschaftlichen Kollektivorientierungen und Zukunftsmythen schlagen Ungewissheits- und Kontingenzerfahrungen nun unmittelbar und ungefiltert auf die Lebensformen durch. Es entstehen hierdurch neue Belastungszonen, aber auch neue individuelle Deutungsspielrume, denn diese jngsten Enttraditionalisierungsschbe haben auch die Wirkung von enormen Freisetzungen. [7: Giddens (1993), 469.]

Dies ist die alltagskulturelle Stimmungslage, in die heutige Jugendliche von Anbeginn an hin-einwachsen. Ich mchte zunchst anhand dreier kultureller Wandlungsphnomene beschreiben, wie sich der Abbau frherer, klassisch-moderner Groorientierungen und die damit verbundenen Freisetzungseffekte im Alltagsleben niederschlagen: (1) Die Individuen knnen ihren Eigenwelten mehr Relevanz zuschreiben; (2) der bislang traditionsverhaftete gesellschaftliche Mainstream hat sich normativ liberalisiert; (3) Lebensstil-Elemente der Vergan-genheit werden recycelbar .

Diese drei Wandlungsphnomene stellen nach meinem Eindruck einen Erfahrungskontext dar, der das Verhltnis heutiger Jugendlicher zum Motiv der Enttraditionalisierung verndert hat. Ich bezeichne diese vernderte alltagskulturelle Stimmungslage als Post-Enttraditionalisie-rung.

Meine Kernthese ist folgende: Die radikalisierte Selbstbezglichkeit schlgt heute auf das Verhltnis zur Enttraditionalisierung selbst durch. Das Pathos eines sich stetig berbietenden Zaubers der Neuheit verblasst. Der jugendliche Habitus eines heroischen Antitraditionalismus verliert ab den 90er-Jahren zusehends seinen Gegenstand und wird entzaubert. Der heroische Antitraditionalismus hat damit seine identittsprofilierende und euphorisierende Kraft verloren. Die heutige junge Generation wchst in dieser Hinsicht in vllig andere Hintergrundberzeugungen hinein, als die, die ihre Vorgnger ausgebildet hatten. Dies schlgt sich auch in einem vernderten Verhltnis der Generationen nieder.[footnoteRef:8] Man knnte es so auf eine Formel bringen: Die Entzauberung des Traditionalismus ist weitgehend erfolgreich gewesen und hat sich nun erschpft und nun hat die Enttraditionalisierung ihrerseits ihren Zauber verloren. Und dies nenne ich Post-Enttraditionalisierung. [8: Eine gewichtige Einschrnkung dieser These muss ich an dieser Stelle vornehmen: Meine Ausfhrungen lassen sich nicht ohne weites auf die Lebensmilieus von Migrantenfamilien bertragen. Hier kommt der Auseinandersetzung um Traditionsbestnde und um Enttraditionalisierungen oft weiterhin eine Schlsselrolle zu. Eher zeichnen sich hier Konstellationsunterschiede zwischen der ersten, der zweiten und der dritten Einwanderergeneration ab. Whrend die zweite Generation durchweg modernisierungsorientiert ist und sich damit in scharfer Konfrontation mit ihren Eltern (also mit der ersten Generation) befand, setzt sich die dritte Generation oft wiederum von ihren modernisierungsorientierten Eltern ab und wird im Gegenzug traditionsgeneigter. Dies muss nicht, aber kann sich im Effekt als Reethnisierung der eigenen Identittsformation innerhalb der dritten Generation niederschlagen. Vgl. hierzu Nassehi (1999), 120.]

Die Individuen knnen ihren Eigenwelten mehr Relevanz zuerkennen

Ein Folgephnomen der zweiten Enttraditionalisierung sehe ich im Verhltnis von Allgemeinkultur und den Eigenwelten der Individuen. So gibt es keine fraglose Geltung von Hochkultur mehr - sei es in Form von Wissenschaft, von Kunst oder von Religion; die Hochkultur ist sozial selbst zu einer Teilkultur zurckgestuft worden. Zwar wird sie weiterhin (relativ) geachtet und gesellschaftlich gefrdert, aber sie wird dennoch nur mehr als ein Teilbereich der Gesellschaft wahrgenommen, so dass es auch viele Lebensbereiche gibt, in denen die Geltung hochkultureller Mastbe nicht mehr anerkannt wird. Auch kulturelle Werte, die frher durch Tradition, berlieferung und Religion gedeckt waren, sowie soziale Bruche und Konventionen des Alltagslebens sind relativiert worden.

Eine Alltagskultur, angereichert durch Populrkultur und Medien, wird selbst zur vorherrschende Allgemeinkultur, whrend Hochkultur und berlieferung eher zu Spezialkulturen geworden sind, auf die man sich nur noch in partikularen Lebens- und Handlungssituationen bezieht. Einen Dimension solcher Mastabsverschiebung stellt die Erlebnisorientierung dar.[footnoteRef:9] Damit ist eine bestimmte Zuspitzung des Mastabs der subjektiven Geltung gemeint. Im Lichte einer Erlebnisorientierung werden die Welt und das Selbst in der Dauererwartung bewertet, an sich selbst einen bestimmten Erlebniszustand erfahren zu wollen. Die Wahrnehmung der Umwelt und die Erwartungen an Handlungssituationen folgen einem inneren Radarschirm, auf dem vor allem das erscheint, was subjektive Befriedigungs- und Besttigungsmglichkeiten verspricht. Situationen werden danach abgetastet, ob sie dies hervorrufen knnten. Dies ist nicht lediglich die Ausrichtung an einem gewissen Unterhaltungsinteresse, und es bezieht sich keineswegs nur auf entsprechende Stimmungslagen in Freizeitsituationen. Vielmehr verweist dieses Orientierungsmuster auf ein verndertes Gewichtsverhltnis zwischen erlebendem Ich und erlebter Welt. berpointiert gesagt: die Welt wird dann vorrangig dafr genutzt, dem eigenen Ich den angestrebten Selbstzustand zu gewhrleisten. Der objektive Gehalt von Welt verschwindet hinter der weit entgrenzten subjektiven Wahrnehmung. [9: Schulze (1992).]

Das Soziale ist dann keine umfassende Bestimmung der Wirklichkeit mehr, sondern es hat selbst Konkurrenz bekommen und ist selbst zurckgestuft worden zu einem Teilbereich unter anderen Wirklichkeitsbereichen. Das hat die gravierende Folge, dass Wahrheit in einem festen Sinne nicht mehr zu haben ist, sondern dass unterschiedliche Bereichswahrheiten entstehen. Als Folge ergibt sich, dass sich der Pool von Grnden, d.h. der Bewertungsstandards und der Entscheidungskriterien, auf die ein Individuum heute anerkanntermaen zugreifen kann, heute breiter geworden ist. Die subjektive Wirklichkeit hat einen Platz als legitimer Bereich neben Hochkultur und sozialer Konvention bekommen. Die individuellen Vorstellungen, Wnsche, Vorlieben und ngste, haben mentalittsgeschichtlich eine enorme Aufwertung bekommen. Sie ermchtigt die Individuen, eigene subjektive Haltungen einzunehmen, also ihre Eigenwelt von Hochkultur und anderen sozialen Regelsystemen abzugrenzen und immer auch nein oder eher nicht sagen zu knnen. Die Mitglieder einer modernen Gesellschaft knnen den kulturellen und sozialen Erwartungen entsprechen, sie knnen sie aber ebenso mit Hilfe eigener Sinnstiftungen und Wertsetzungen durchkreuzen, ohne dass das noch wie frher sozial streng sanktioniert wird.

Die Deutungsspielrume fr den einzelnen nehmen zu, die kulturell und sozial verbindlichen Fahrplne werden weniger. Dies bedingt, dass immer mehr Wahlentscheidungen getroffen werden mssen. Die Mastbe wiederum, nach denen solche Entscheidungen getroffen werden, verndern sich - sie werden zunehmend subjektzentrierter. Mgliche Grnde, sich so oder so zu entscheiden, gehen somit vorher gewissermaen durch den selektiven Filter eigener Prferenzen. Es gibt, so knnte man es ausdrcken, eine Verlagerung von einem normenregulierten zu einem prferenzbezogenem Alltagsmuster. Die kognitiven und motivationalen Mglichkeiten, zu den Konventionen und blichkeiten auf Abstand zu gehen, stehen im Grundsatz jedem Individuum offen. Ein Hauch von Das kann man aber auch anders sehen! liegt immer in der Luft. Auf diese Weise haben die Lesarten der Welt grundstzlich an Varianz gewonnen.

Dies stellt fr die Individuen durchaus eine Spielraumerweiterung und einen Liberalisierungsgewinn dar. Und es ist insbesondere fr Jugendliche - ein Baustein fr den neu entstehenden Erfahrungskontext der Post-Enttraditionalisierung. Wenn die Individuen sozial und kulturell ermchtigt sind, sich vermehrt auf ihre Eigenwelt zu beziehen, ist der Druck, der von der Erwachsenenwelt und von den Institutionen ausgeht, subjektiv enorm gefiltert. Dies verringert den subjektiven Belastungsgehalt von Konventionen, Regelsystemen, sozialen Kontrollmechanismen, da diese sozialisatorisch eine viel weniger durchschlagende Wirkung haben. Das frhere Feindbild Tradition lst sich damit zunehmend auf, und die Haltung eines Antitraditionalismus wird aus Sicht der Jugendlichen gegenstandslos.

Der bislang traditionsverhaftete gesellschaftliche Mainstream hat sich normativ liberalisiert

Als zweite Freisetzung - und wiederum als Folgephnomen von Enttraditionalisierung - mchte ich eine Vernderung der Sozialmilieus beschreiben. Dies steht in engem Zusammenhang mit Prozessen einer sozialen sthetisierung. sthetisierung bedeutet hier nicht einfach Verschnerung, sondern eine Distanznahme zum Gegebenen. Das bezieht die Erwartung einer gewissen Machbarkeit des eigenen Lebensstils mit ein.

Der Konstruktcharakter sozialer Wirklichkeit wird sichtbar, und der eigene Lebensstil wird damit zu einem Handlungsfeld, in dem ich mich durch geschickte Wahlentscheidungen bewhren muss. Durch die Einbeziehung der alltglichen Lebenswelt in die gesellschaftliche Beobachtung ber Medien und Thematisierungen wird die Gewhnung an das Beobachten und Beobachtetwerden selbstverstndlich. Indem alles beobachtbar geworden ist, auch die Beobachtung selbst, ist die Gesellschaft auf dem Wege, eine strikte Geheimnislosigkeit durchzusetzen. Die frher abgeschotteten Hinterwelten von Institutionen und lebensweltlichen Interaktionen sind nun in der Gnze den Suchscheinwerfern der gesellschaftlichen Beobachtung ausgesetzt. Das fhrt zu einer enormen Steigerung von Transparenz, und durch sie werden die beobachteten Lebensbereiche selbst in ihrem Status verndert.[footnoteRef:10] Es entsteht eine Wahrnehmungsweise, die man als intuitive Reflexivitt bezeichnen knnte; d.h. eine Wahrnehmungsweise, die nicht diskursiv-begrifflicher Art ist, sondern in der das Beobachten der Beobachtung ganz selbstverstndlich immer gleich miterlebt wird und auf diese Weise habituell geworden ist. [10: Auf diese Weise hat das Fernsehpublikum lngst schonungslose mediale Einblicke in das private Familien-leben bekommen. Im deutschen Fernsehen ist 2005 eine Sendung namens Super-Nanny sehr populr geworden. Die Super-Nanny ist eine professionelle Erziehungsberaterin. Zusammen mit einem Kamerateam begibt sie sich in Familien, in denen die Eltern extreme Erziehungsprobleme mit ihren Kleinkindern haben. Die Konflikt-Szenen zum Beispiel der gnadenlose Kampf um das abendliche Ins-Bett-gehen werden hautnah abgefilmt, und die Eltern bekommen von der Super-Nanny Verhaltensregeln gegenber dem Kind auferlegt, die sie alltglich einben sollen. Das Fernsehpublikum soll nun verfolgen, ob sich die abgefilmten Eltern als pdagogisch lernfhig erweisen. (Pointe dieser Regeln ist brigens stets das ganz hohe Gewicht, das auf klare und feste Situationsstrukturierungen gelegt wird. Auf dieses aktuelle Bedrfnis nach deutlichen Orientierungsregeln komme ich noch einmal zu sprechen.)]

Das schrft den Blick fr Differenzen. Formal verndert dies die symbolischen Verhltnisse in (fast) allen Sozialmilieus; inhaltlich entstehen aber durchaus unterschiedliche, nicht selten auch gegenstzliche Gruppenmastbe dafr, zu welchen konkreten Stilrichtungen und Lebensstilmodellen man sich zugehrig fhlen mchte. Das heit, parallel zum identifikatorischen Motiv der Zugehrigkeit verstrkt sich auch ein negatorisches Motiv, unterschiedlich sein zu wollen, sei es im Groen oder im Kleinen. Auf diese Weise segmentieren sich frhere Gromilieus zunehmend in einen kaum noch bersehbaren Flickenteppich von Spezialkulturen. Diese Spezialkulturen umgreifen ihrerseits nicht mehr ganze Lebensformen, sondern nehmen nur noch einen Teilbereich heraus, der dann stilisiert und mit Bedeutung aufgeladen werden kann. Diese Bedeutungsaufladung ist ber die Einzelbedeutung von Gegenstnden nicht mehr hinreichend erklrlich, sondern nur verstehbar ber die Bedeutungsberschsse, die in Lebensstilen erzeugt werden, und durch welche Gruppen, die hnliche Lebensstilvorstellungen miteinander teilen, sich symbolisch zusammenbinden.

Skater, Modellschiffbauer, Funsport-Aktive, Motorradfetischisten, Turniertanzinteressenten, Oldtimerfans, New-Age-Anhnger und Techno-Fans bilden jeweils unterscheidbare symbolische Codes aus, die ihren Anhngern Identifikation und Auenabgrenzung zugleich bieten. Es werden unentwegt Zugehrigkeitssignale ausgesendet und aufgegriffen. Es sind Lebensstil-Enklaven auf Zeit, denen man sich zugehrig fhlt, die man aber auch wieder verlassen kann. Der kulturelle Flickenteppich ist durchsetzt von Anteilen aus der Populrkultur und aus den Medien. Diese bieten sich sozusagen als Bauksten an. Aber das Gewebe der Alltagskultur wird von den Menschen in eigener Regie weitergesponnen, selbstverstndlich in Bindung an Bezugsgruppen und soziale Milieus, denen sie sich zugehrig fhlen.

Im Unterschied zur Autoritt frherer traditioneller Werte und Orientierungen sind die modernen Angebote, die die Alltagskultur fr uns bereitstellt, nicht mehr umstandslos prskriptiv; einen vorschreibenden Charakter haben sie in weit geringerem Mae als frher. Eher kann die moderne mediale und konsumistische Alltagskultur mit einer Schaufensterauslage verglichen werden, deren Angebot die Menschen sich anschauen und durchmustern - aber dabei besteht (um bei der Metapher zu bleiben) keine Verpflichtung zum Kauf.[footnoteRef:11] [11: Vgl. Luhmann (1996), 112.]

Die Ausdifferenzierung von Bedeutungsrumen spiegelt sich analog in der Pluralisierung von Werten. Insbesondere kognitiv-wissenschaftliche Kriterien haben sich abgelst von praktisch-moralischen und sthetischen. Etwas kann wahr sein, ohne schn zu sein. Etwas kann schn sein, ohne moralisch zu sein. Die meisten Werte sind auch nur noch bereichsgebundene Werte, die nicht mehr lebensform-bergreifende Autoritt beanspruchen knnen. Der Aushandlungsbedarf bei Wertkontroversen und bei Entscheidungsdissens nimmt deshalb zu. Die Werte knnen und mssen verhandelt werden. Aber sie sind kontext- und situationsabhngig geworden; in jeder Situation muss ein Individuum, selbst als Kind oder Jugendlicher, einschtzen lernen, ob und in welcher Weise ein Wert hier gilt. Der Regelfall ist darber hinaus, dass es im Alltagsleben zumeist nicht um einen Wert in Reinform geht, sondern dass mehrere Werte in den Blick kommen, die miteinander sogar im Streit liegen knnen und sich gegenseitig widersprechen. Typisch wird heutzutage der Konflikt mehrerer Werte, deren jeder einzelne uns als durchaus legitim und nachvollziehbar erscheint, die sich aber untereinander widersprechen und die dann abgewogen werden mssen. In der Moderne gehrt das Dilemma von Wertkonflikten, die uns in mehrere Richtungen gleichzeitig ziehen, zur Normalerfahrung.

Diese Situation ist durchaus unbersichtlich. Sie ist aber nicht so sehr, wie Kulturpessimisten beklagen, ein Wertverlust, sondern eher eine Wertedifferenzierung. Daraus ergibt sich, dass die Frage der Wertauslegung gesellschaftlich strittig wird. Die Werte an sich finden einen recht hohen Konsens, auch bei jungen Leuten. Werte wie Ehrlichkeit, Zugewandtheit, Verlsslichkeit werden kaum bestritten. Strittig sind vielmehr die Kriterien, die darauf Antwort geben, wann und wodurch ein Wert sich in Handeln verwirklicht.

Natrlich gibt es weiterhin moralische Normen, die unbedingt und fr jeden gelten mssen. Aber der Zustndigkeitsbereich von Moral ist viel eingeschrnkter als frher; eine Flle von Situationen, in denen frher nach moralischen Kriterien geurteilt wurde, definieren wir heute nicht mehr als moral-relevante. (Alle Fragen von Sexualitt, Beziehungen, aber auch das Einhalten von Kleidungs- und Verhaltenskonventionen wurden ja frher als moralische Fragen von Sitte und Anstand behandelt.). Heute hinterlsst eine ansprchliche, aber zustndigkeitsbegrenzte Moral ein weites Gelnde von Themen und Fragen, bei denen es zwar um Werte gehen mag, nicht immer aber um moralische Normen mit unbedingter Sollgeltung.

Ein Gewebe von Orientierungen, Themen, Bildern und Praxen formt eine Alltagskultur, die fr die Individuen enorm an Gewicht gewonnen hat. Diese Gewichtsverlagerung verndert dabei auch das Verhltnis der Menschen zur Normalitt. Normalitt verliert deskriptiv wie normativ an Bedeutung: deskriptiv insoweit, als ein Mainstream der Minderheiten[footnoteRef:12] entstanden ist, der die Stelle des frheren Blocks der Mehrheitskultur einnimmt; normativ insoweit, als das Recht auf eine Variation im Alltag, auf ein Andersmachen-im-kleinen[footnoteRef:13], nicht nur kulturell zugelassen ist, sondern als Wille zur Unterscheidung sozial sogar erwnscht. Der Normalbrger gewhnt sich in Maen daran, dass sich die kulturellen Selbstverstndlichkeiten kontinuierlich verndern. Und wenn diese Erfahrung in die Hintergrundberzeugungen der Menschen eingeht, hat dies durchaus liberalisierende Effekte. [12: Holert/Terkessidis (1996).] [13: Beck (1986), 156.]

Auch aus diesem Freisetzungseffekt kann man das Fazit ziehen, dass er den Erfahrungskontext einer Post-Enttraditionalisierung frdert. Die liberalisierende Entnormativierung bildet eine Gesellschaftstextur, die dem frheren Bild eines traditionsverhafteten Mainstream-Blocks keineswegs mehr so entspricht. Dadurch gibt es auch weniger Anlass, sich als Jngerer hiervon nach Mglichkeit maximal abzugrenzen. Auf keinen Fall spieig zu sein taugt als Richtschnur der eigenen Alltagsgestaltung immer weniger.[footnoteRef:14] [14: Eine Werbekampagne fr Immobilien-Sparen bringt dies ganz witzig auf den Punkt und ist deshalb in Deutschland rasch populr geworden. Ein Vater fhrt zusammen mit seiner kleiner Tochter im Auto durch ein Wohnviertel. Die Tochter zeigt kindlich-bewundernd auf ein Haus mit lauter schnen Eigentumswohnungen. Der Vater sagt verchtlich: Das ist fr Spieer. Kurz danach zeigt sich die Tochter von einem Penthouse beeindruckt. Der Vater sagt wieder: Fr Spieer. Schlielich bewundert sie eine Villa. Der Vater: Fr Spieer. Am Schluss sagt das Mdchen zum Papa: Wenn ich einmal gro bin, mchte ich auch Spieer sein!]

Lebensstil-Elemente der Vergangenheit werden recycelbar

Das dritte Folgephnomen von Enttraditionalisierung und gleichzeitiger Freisetzung knnte man liee sich als Vernderung der Beobachtungsverhltnisse kennzeichnen. Allgemein meine ich damit eine beschleunigte Verselbstndigung von Semantiken, Bildern, Zeichen, die zunehmend aus ihren bisherigen Bedeutungskontexten herausgelst werden knnen und dann fr vernderte Bedeutungszuschreibungen freigesetzt sind.

Und dies wirkt sich auch aus auf das Verhltnis zur Vergangenheit, zum lteren, zur Tradition. Die Vergangenheiten rcken einerseits weiter weg, weil sie vor den Mastben der Eigenwelt recht fremdartig wirken. Sie rcken aber auch auf eigentmliche Weise insoweit nher, als durch die Freisetzung der Zeichen so gut wie alles Frhere zitierbar geworden. Dadurch ist man immer weniger berrascht, in Design, Mode, Architektur und Musik pltzlich vergangenen Zeichenwelten zu begegnen, die offenbar von nun an auf immer als Zitat verfgbar sind. Das Verhltnis zu frheren Epochen und Dekaden wird auf diese Weise entnormativiert. Die frher bliche moderne Verachtung der gerade zurckliegenden Zeitstile weicht einem neuen Historismus, der jeder sthetischen Stilepoche ein relatives Eigenrecht zubilligt. Und das Verhltnis zu frheren Epochen und Dekaden wird sthetisiert, es kann Irritation, Erhabenheit, Gruseln oder Amsiertheit hervorrufen. Vergangenheiten knne so ganz unvermittelt vergegenwrtigt werden. Sie knnen besucht werden, hnlich wie im Welttourismus, dem mittlerweile so gut wie alle Regionen dieser Erde offenstehen.

Der Besuch frherer Zeichenwelten kann auf unterschiedliche Weise goutiert werden. Oldie-Paraden im Radio stiften imaginre Erinnerungsgemeinschaften; eine Museumsausstellung ber Jugendzimmer der 60er-Jahre mag bestimmte ltere Jahrgnge melancholisch stimmen; die Mdchen vom Immenhof, ein Heimatfilm von 1955, anzuschauen mag bei Jngeren Kitsch- und Geborgenheitsgenuss bewirken. Die Phnomene von Retro-Wellen und das Etikett kultig fr ganz spezifische Rezeptionsgenres sind mittlerweile eingebrgert. In Deutschland hat das seit ca. 2004 zu einem neuen populren Fernseh-Genre gefhrt, in dem Elemente von Dokumentarfilm und Fiktionalitt gemischt werden (sogenannte Docu-Fictions): Laiendarsteller, die ber Castingverfahren ausgewhlt worden sind, bernehmen realistische Rollen in historisch penibel nachkonstruierten Lebenswelten. Es gibt die 37kpfige Besatzung eines Auswandererschiffs von 1855, das unter echten Bedingungen wirklich den Atlantik berquert; einen Gutshof um 1900, auf dem die Teilnehmer Herrschaft, Hauspersonal und Knechte nachspielen; und die Harte Schule der 50er-Jahre eine Doku-Fiction-Serie, in der 16jhrige dabei abgefilmt werden, wie sie eine streng bewachte vierwchige Klausursituation in einem alten Internatsschloss durchleben.

Das Verhltnis zur Vergangenheit wird umgestellt. Vergangenheit mutet keineswegs mehr unbedingt negativ an. Die Sehnsucht und imaginre Wertschtzung von Heimat nimmt zu, und Heimat kann nun auch in Form vergangener Zeichenwelten aufgesucht werden; sie hat nur einen zeitlichen Index bekommen anstelle eines rtlichen. Altes und Neues stehen in keiner klaren Bewertungshierarchie mehr, sondern sind gewissermaen horizontalisiert worden. Es ist politisch, sozial, kologisch, kulturell keineswegs mehr ausgemacht, was zur Recht als vorne oder als zurck eingeordnet werden kann. Eine, wenn auch diffuse, Akzeptanz freigesetzter Zeichenwelten ist Allgemeingut geworden.

Boten die Nachkriegsdekaden bis zu den 1980ern noch ein Bewertungsschema, in dem klar absehbar Progressivisten gegen Traditionalisten standen, so ist heute der eindeutige normative Richtungssinn verloren gegangen. Ich denke etwa an die Abgeklrtheit gegenber zeitgenssischer Kunst. Die mit dem avantgardistischen Selbstverstndnis geradezu sprichwrtlich verbundene Provokation von ffentlichkeit stellt sich dort kaum mehr ein. Mit Emprung reagieren eigentlich nur noch die ganz Ahnungslosen, die zu verstren fr keinen heutigen Knstler mehr ein Selbstwertgewinn sein kann. Je mehr Kennerschaft im Normalpublikum vorhanden ist, um so weniger Emprung entsteht. Das Kernprinzip der sthetischen Avantgarde -Verortung in der Zeit - taugt nicht mehr der Mastab fr Progressivitt.

Die Jugendkulturen haben sich in unterschiedliche Stilrichtungen pluralisiert. Sie behaupten von sich nicht mehr, selbst ein Modell fr die Zukunft und damit fr alle anderen zu sein, wie es z.B. frher die Hippiebewegung tat. Der Missionierungsdrang ist heute abhanden gekommen. Die Selbstverortung erfolgt nicht mehr in einer Zeitachse (Wir reprsentieren die Zukunft und halten der Gesellschaft einen Spiegel vor!), sondern die Selbstverordnung hat sich horizontalisiert.

Auch dieses andere Verhltnis zum Kode Altes/Neues betrachte ich als einen Baustein fr den Erfahrungskontext der Post-Enttraditionalisierung. Die fast schon geschichtsphilosophische Aufgeladenheit alles Neuen, die frher sowohl fasziniert hat als auch scharfe Gereiztheit und Kulturkmpfe hervorrief, sie ist ermattet. Neuheit ist kein alles berragendes Versprechen mehr, wie zu Zeiten der klassischen Avantgarde oder zu Zeiten der antitraditionalistischen Jugendbewegungen.

Um es noch einmal kurz zusammenzufassen: an die Stelle der bisher mit Jugend konnotierten antitraditionellen Disposition tritt der Erfahrungskontext einer Post-Enttraditionalisie-rung: - lebensweltliche Regeln und Strukturen werden von jungen Leuten nicht mehr in erster Linie als illegitime Einengungen empfunden (1); - das Muster maximaler Abgrenzung von einem spieigen Mainstream hat an Plausibilitt verloren (2); - manchen Lebensstil-Elemente der Vergangenheit knnen nun auch positive Seiten abgewon- nen werden (3).

Gegenbedrfnisse zur den kulturellen Freisetzungen

Die Rezeptionsmuster und Resonanzbden fr die Verarbeitung der Enttraditionalisierungseffekte haben sich also im Verlauf der Zeitgeist-Kontexte gewandelt.

Fr die heute mittlere Generation bedeuten die beschriebenen Freisetzungen eine positive Kontrasterfahrung zur eigenen Schul- und Jugendzeit, eine Kontrasterfahrung, die viele hiervon durchaus als biografischen Spielraumerweiterung und als Gewinn an Alltagsliberalitt beschreiben knnten. Die Teilhabe an den kulturellen Freisetzungsprozessen wird von dieser Generationskohorte positiver bilanziert als von der jungen Generation. Aber auch fr diese lteren Kohorten, die ber biographische Kontrasterfahrung verfgen, kann der frhere Faszinationsgehalt der Enttraditionalisierungen nach und nach in Gewhnung und Entzauberung umschlagen.[footnoteRef:15] [15: Vgl. Hirschman (1988) zu periodischen Zyklen kollektiver Enttuschungserfahrung und Schulze (1992), 70, zu einer Krise der Freude.]

Fr die jetzige junge Generation kann das lebensgeschichtliche Vergleichsmotiv verstndlicherweise keine Rolle spielen. Bei den jungen Leuten knnen die Enttraditionalisierungen gar nicht als Gewinn gegenber einer noch ganz anderen Kindheits- und Jugenderfahrung erlebt werden. Sondern der Entstrukturierungskontext war in ihrer ganzen erinnerbaren Lebensgeschichte von Anfang an da. Und so ist ihr Verhltnis zu den Freisetzungen eher affektiv zurckhaltend. Fr sie sind die kulturellen Freisetzungen triviale Selbstverstndlichkeit. Und gleichwohl gewinnen nach meiner Einschtzung Belastungsgefhle und Gegenbedrfnisse an Gewicht, die sich den Freisetzungstendenzen gegenber distanziert verhalten oder nach kompensatorischen Gegengewichten suchen. Einige solcher Belastungsgefhle und Gegenbedrfnisse mchte ich zumindest kurz nennen.

- Der Freisetzung der Eigenwelten werden Bedrfnisse nach Beziehungsstabilitt, Eingebundenheit und intimer Nahgeselligkeit gegenbergestellt.

- Auf die normative Pluralisierung antworten Gegenbedrfnisse nach normativer bersichtlichkeit, nach deutlichen Orientierungsregeln, nach Gewissheiten, nach einer Aura des Nichtrelativen und Unberschreitbaren.[footnoteRef:16] [16: Die hohe Aufmerksamkeit und Wertschtzung, die das Dahinscheiden des letzten Papstes und die Inauguration des neuen im Frhjahr 2005 gerade auch bei jungen Leuten gefunden hat, knnte man meines Erachtens als ein Anzeichen hierfr deuten.]

- Die gesellschaftliche Steigerung des Beobachtwerdens macht Gefhlslagen der psychischen Schamhaftigkeit aktuell[footnoteRef:17], ein Unbehagen daran, von Beobachtungsinstanzen immerfort durchleuchtet zu werden. Hieraus entstehen Gegenbedrfnisse nach Sichtschutz, nach romantischer Intransparenz und Geheimnishaftigkeit.[footnoteRef:18] [17: Vgl. Ehrenberg 2004.- Aufschlussreich zum Problem der Selbstkrisen auch Skarderud (2000). ] [18: Es knnte sein, dass der Genuss der Harry-Potter-Bnde oder mythologisierender Filme wie Lord of the Rings und Star Wars von dieser Gefhlslage grundiert ist.]

- Die Dynamik des Auf- und Abtauchens immer neuer Zeichenwelten und Umcodierungen kann in den Individuen das Gefhl der Erschpfung hervorrufen, ein Leiden am Verlust einer semiotischem Heimat. Ein Schriftsteller Anfang 30 erzhlt von einer Wiedertreffen mit Gleichaltrigen: Groes Thema ist, wer wann wo aufgewachsen ist, welches Spielzeug man als Kind besessen hat, spter, welche Musik, welche Klamotten, welche Partys.

Das Generationenverhltnis ist nicht mehr ein Kampffeld um Enttraditionalisierung

Die gesellschaftliche Umstellung von einem normenregulierten zu einem prferenzbezogenem Alltagsmuster ist ein langer und schmerzhafter Prozess gewesen. Typischerweise hat diese Auseinandersetzung die soziale Form eines scharfen Generationskonflikts gehabt, zumal in Deutschland mit seiner Geschichte wiederholter Legitimationsbrche. So spricht auch vieles dafr, das die antitraditionalistischen Normen, mit denen sich die jungen Leute der 60er/70er-Jahre identifizierten, rigoroser ausfielen als in anderen westlichen Gesellschaften. Auf dem Hhepunkt dieser Generationenkonstellation galten des Lebens der eigenen Eltern und die Erwachsenenwelt geradezu als Modelle des falschen Lebens. Eric Hobsbawm hat darauf hingewiesen, dass die Erfahrungen der vor 1925 und nach 1950 Geborenen so weit auseinander lagen wie nie zuvor zwischen zwei Generationen.[footnoteRef:19] . Die damalige Erwachsenengeneration der 60er/70erJahre stand sozial eher auf der Seite der noch recht neuen konomisch-konsumistischen Errungenschaften, die damalige Jugendwelt eher auf der Seite der Zivilisationskritik. Die damalige Erwachsenenwelt stand kulturell eher auf der Seite der Tradition, die damalige Jugendwelt eher auf der Seite eines allumfassenden Antitraditionalismus, der in manchem durchaus vergleichbar war mit der lebensknstlerischen Radikalitt der sthetischen Avantgarden der Zwischenkriegszeit. [19: Vgl. Hobsbawm (1995), 372ff. ]

Der subkulturelle Impuls gewann Lebensform-Prgnanz dadurch, dass die betreffenden jungen Leute es sich leisten konnten, ein familiales Kndigungsrecht wahrzunehmen und aus dem Elternhaus auszuziehen. Sie hatten danach eigenstndige Lebens- und Alltagsrume, eigene Zimmer und Wohngemeinschaften; bald auch Kneipen, Clubs, Lden und andere szeneorientierte Dienstleistungen. Das Fortziehen von Zuhause nahm der Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern nicht unbedingt die Schrfe, aber der kulturelle - und spter auch der politische - Konflikt konnte immerhin rumlich entzerrt ausgetragen werden. Das vordem innerfamiliale Konflikt weitete sich aus zu einem, der im hellen Scheinwerferlicht der ebenso emprten wie faszinierten ffentlichkeit ausgetragen wurde.[footnoteRef:20] [20: Vgl. Ziehe (1994).]

Kein Accessoire, das nicht zum Zeichen geworden wre. Alles - und wirklich alles - sollte offener, angstfreier, zwangloser, spontaner, emotionaler, phantasievoller und kommunikativer werden. Das war nicht nur Ausdruck eines geradezu explodierenden Lebensgefhls, sondern barg in sich ein vllig verndertes Welt- und Selbstbild, und dies in kognitiver, in moralischer und in sthetischer Hinsicht. Der Euphorisierungsgehalt dieser als Freisetzung von allen bisherigen kulturellen Selbstverstndlichkeiten imaginierten Jugendbewegung war enorm. Die 70er-Jahre waren eine phantasmagorische Internationale der Jugend.[footnoteRef:21] Die damalige junge Generation rieb sich an sozialen und kulturellen Regeln, die sie spielerisch oder kmpferisch durchbrach, indem sie schlielich Akteur und Nutznieer von historischen Liberalisierungen der Regeln und Konventionen wurde. [21: Koenen (2002), 67. Der Einfluss dieser Jugendbewegung auf die kollektive Imagination ist als viel hher einzuschtzen als die wirkliche, faktische Beteiligung damaliger junger Leute an dieser Bewegung. Die Subkulturen schafften es, das Zeitgeist-Bild ber dieses Jahrzehnt festzulegen und dieses Bild wirkt bei dieser betreffenden Generation bis heute nach. Auch wenn es sich also vielfach um eine blo nachtrgliche ex-post-Identifikation handelt, hat sie die Selbstartikulation dieser Generation bleibend geprgt.]

Aus heutiger Perspektive erweist sich der Antitraditionalismus selbst als eine der groen Erzhlungen der Moderne, deren Verheiung heute nur noch schwer nachzuvollziehen sind. Eine Erschpfung des Steigerungswissens[footnoteRef:22] - des linearen Mehr-Mehr-Mehr! - zeigt sich eben auch in diesem thematischen Feld. Das Liberalisierungsmotiv setzt, zumindest im jetzigen politisch-sozialen Kontext, kein Pathos mehr frei. Generationsunterschiede lassen sich deshalb heute nicht mehr als unterschiedliche Haltungen im Hinblick auf Traditionsbewahrung bzw. Traditionsberschreitung charakterisieren. Die heutigen Jugendlichen sind zumeist schon von einer Elterngeneration erzogen worden, die selbst bereits die Enttraditionalisierungen mit durchgesetzt hat und dies als eigenen Erfolg betrachtet. Vermutlich ist - zumindest nach der durchstandenen Puberttszeit - die Bindungsintensitt von jungen Leuten zu ihren Eltern noch nie so stark gewesen wie heute. [22: Vgl. Schulze (2003), 152ff.]

- Die enttraditionalisierte Elterngeneration akzeptiert die starke Orientierung ihrer Kinder an deren Eigenwelten.

- Die enttraditionalisierte Elterngeneration ist bereit, die unvermeidlichen Auseinandersetzungen um Regeln des innerfamilialen Zusammenlebens wenn immer mglich von grundstzlichen Moralisierungen freizuhalten. Der Raum des Familie wird zum Verhandlungshaushalt.

- Die enttraditionalisierte Jugendgeneration entwickelt ihre Identitt nicht mehr in erster Linie konfrontativ und in maximaler Abgrenzung von den eigenen Eltern. Heutige Jugendliche bekunden mit bergroer Mehrheit, dass sie sich mit dem Erziehungsstil ihrer Eltern identifizieren knnen.

- Die enttraditionalisierte Jugendgeneration bewertet Lebensstilphnomene weniger anhand des Leitcodes traditionell/modern, sondern eher nach eigenweltbezogenen Prferenzen, die im Prinzip viele Zeichenwelten und Verhaltensmuster aus Gegenwart und Vergangenheit als jederzeit recycelbar erscheinen lassen. Das Steigerungspathos der frheren Avantgarden, die ja einen strengen Kanon verfochten, was alles als definitiv von gestern zu gelten habe, greift nicht mehr. Traditionelles ist nun wieder zitierbar geworden; teils weil es wieder interessant geworden ist, teils weil es in seiner Abwegigkeit geradezu exotisch wirkt. Nun sind es die Schler, die immer hufiger ihre Lehrer bitten, sich bei der Abschlussparty doch bitte festlich anzuziehen...

Das bedeutet nicht, das Enttraditionalisierung aufhrt; aber es bedeutet, dass sie kein aufregendes Leitmotiv der Epoche mehr ist. Die heroische Phase des Projekts der Enttraditionalisierung ist vorber. Jugendliche uern sich ber ihre Krisen und Belastungsrisiken nicht mehr in einer Semantik von Befreiungswnschen, sondern in Auseinandersetzung mit Entstrukturierungs- und Freisetzungseffekten. Im Zentrum der Identittsarbeit stehen fr heutige junge Leute nicht so sehr Repressionen der Erwachsenen, uneinsichtige Verbote und zu strenge Regelsysteme, sondern eher Bedrfnisse nach Orientierung, Plausibilitt und Aufgehobenheit. Die impliziten Dauerzweifel, die sich heute auf alle Bereiche des Alltagslebens ausgedehnt haben, empfinden sie weniger als Mglichkeitserweiterung, sondern eher als anstrengende Brde, auch hinsichtlich der eigenen Selbstverwirklichung.

In der bereits erwhnten Doku-Fiction Harte Schule der 50er-Jahre unterzogen sich 16jhrigen Jugendliche einer strapazisen Zeitreise. Sie hatten unter Hunderten von Mitbewerbern das Casting erfolgreich durchlaufen und wurden nun einer in allen Einzelheiten nachgestellten Internatswirklichkeit der 50er-Jahre ausgesetzt. Fr vier Wochen erlebten sie eine radikal andere Schulordnung, einen radikal anderen Lehrerhabitus, und mussten sich den mentalen und institutionellen Selbstverstndlichkeiten von 1954 anpassen. Interessant ist, dass die Jugendlichen auf vieles, was ihnen zugemutet wurde, geradezu bestrzt reagierten, dass sie sich aber am Schluss dieses Retro-Experiments recht positiv ber die Allgegenwart klarer Strukturen und Orientierungen uerten.

Die heroische Phase von Enttraditionalisierung ist demnach vorbei. Der fr lange Zeit mit Jugend assoziierte Antitraditionalismus ist bergegangen in einen sozialen Habitus von traditionsneutraler Unaufgeregtheit. Der Schweizer BoBo, ein DJ-Star der Techno-Szene, hat das plastisch auf den Punkt gebracht. In einem Interview zieht er einen Vergleich zwischen sich und einem Rockheroen wie Mick Jagger. Und er, BoBo, kommt zu dem Ergebnis: Warum soll ich bei jeder Tour eine Hotelsuite zertrmmern, wenn mir gar nicht danach ist? ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------Literatur:Beck, Ulrich: Risikogesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986.Beck, Ulrich /Giddens, Anthony /Lash, Scott: Reflexive Modernisierung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996.Ehrenberg, Alain: Das erschpfte Selbst, Frankfurt/Main: Campus 2004.Giddens, Anthony: Tradition in der posttraditionalen Gesellschaft, in: Soziale Welt, 4/1993.Hecht, Martin: Das Verschwinden der Heimat, Leipzig: Reclam 2000.Hirschman, Albert O.: Engagement und Enttuschung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988.Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme, Mnchen: Hanser 1995.Hobsbawm, Eric /Ranger,Terence (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge: Cambridge University Press 1983.Holert, Tom /Terkessidis, Mark (Hg.): Mainstream der Minderheiten, Berlin: Edition ID- Archiv 1996.Keupp, Heiner u.a., Soziale Landschaften in der Modernisierung, in: Beck, Ulrich /Bon, Wolfgang (Hg.): Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, 160.Koenen, Gerd: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967 - 1977, Frankfurt/Main: S. Fischer 2002.Luhmann, Niklas: Die Realitt der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.Nassehi, Armin: Differenzierungsfolgen. Beitrge zur Soziologie der Moderne, Opladen: Westdeutscher Verlag 1999.Skarderud, Finn: Unruhe. Eine Reise in das Selbst, Hamburg: Rogner & Bernhard bei Zwei tausendundeins 2000.Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/Main: Campus 1992.Schulze, Gerhard: Die beste aller Welten, Mnchen Wien: Hanser 2003.Ziehe, Thomas: Vom Lebensstandard zum Lebensstil, in: Welsch, Wolfgang u.a. (Hg.): Die Aktualitt des sthetischen, Fink: Mnchen 1993.-----------------------------------------------------------Previously unpublished. Copyright Ziehe 2005

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