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Ätiologie und Pathogenese von Dysgnathien von ULRIKE EHMER Inhaltsübersicht Einleitung 75 Komplexe Interaktionen 75 Beispiel: Schädeldeformation durch Bandagierung im Säuglings alter 75 Beispiel: Fehlbildungskomplex durch teratogene Wirkung von Thalidomid . . 76 Klinische Genetik 77 Allgemein 77 Zahl der Chromosomen des Menschen 78 Abweichungen der Chromosomenzahl (numerische Chromosomen- anomalien) 79 Anomalien der Chromosomenstruktur 84 Vererbung autosomaler Gene 84 Autosomal dominante Genwirkung (autosomal dominanter Erbgang) 84 Autosomal rezessive Genwirkung (autosomal rezessiver Erbgang) 86 Vererbung X-chromosomaler Gene 87 X-chromosomal dominante Genwirkung (X-chromosomal dominanter Erbgang) 87 X-chromosomal rezessive Genwirkung (X-chromosomal rezessiver Erbgang) . 87 Multifaktorielle Vererbung (additive Polygerne und Umweltfaktoren) 88 Zwillingsforschung 90 Familien-und Sippenforschung 91 Spezielle Ätiologie und Pathogenese 91 Emzelzahnabweichungen 92 Dysgnathien bei Syndromen 92 Dysgnathien bei Krankheiten 93 Akromegalie 93 Rachitis 94 Dysgnathien allgemein (Dysgnathien bei Gesunden) 94 Angle-Klasse I: Mißverhältnis zwischen Zahn- und Kiefergröße 94 Angle-Klasse II/1: mandibuläre Retrognathie 96 Angle-Klasse II/2: Deckbiß 97 Angle-Klasse III: Mandibuläre Prognathie („echte Progenie"), Maxilläre Retrognathie („unechte Progenie") 99 Frontal offener Biß: dentoalveolär, skelettal 102 Literatur 103

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Ätiologie und Pathogenese von Dysgnathien v o n U L R I K E E H M E R

Inhaltsübersicht

Einleitung 75 Komplexe Interaktionen 75

Beispiel: Schädeldeformation durch Bandagierung im Säuglings alter 75 Beispiel: Fehlbildungskomplex durch teratogene Wirkung von Thalidomid . . 76

Klinische Genetik 77 Allgemein 77 Zahl der Chromosomen des Menschen 78 Abweichungen der Chromosomenzahl (numerische Chromosomen-anomalien) 79 Anomalien der Chromosomenstruktur 84 Vererbung autosomaler Gene 84 Autosomal dominante Genwirkung (autosomal dominanter Erbgang) 84 Autosomal rezessive Genwirkung (autosomal rezessiver Erbgang) 86 Vererbung X-chromosomaler Gene 87 X-chromosomal dominante Genwirkung (X-chromosomal dominanter Erbgang) 87 X-chromosomal rezessive Genwirkung (X-chromosomal rezessiver Erbgang) . 87 Multifaktorielle Vererbung (additive Polygerne und Umweltfaktoren) 88 Zwillingsforschung 90 Familien-und Sippenforschung 91

Spezielle Ätiologie und Pathogenese 91 Emzelzahnabweichungen 92 Dysgnathien bei Syndromen 92 Dysgnathien bei Krankheiten 93 Akromegalie 93 Rachitis 94 Dysgnathien allgemein (Dysgnathien bei Gesunden) 94 Angle-Klasse I: Mißverhältnis zwischen Zahn- und Kiefergröße 94 Angle-Klasse II/1: mandibuläre Retrognathie 96 Angle-Klasse II/2: Deckbiß 97 Angle-Klasse III: Mandibuläre Prognathie („echte Progenie"), Maxilläre Retrognathie („unechte Progenie") 99 Frontal offener Biß: dentoalveolär, skelettal 102

Literatur 103

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Einleitung

Zur Realisation der Gesamtheit normaler Merk-male des Menschen und der Ursachen unterschied-licher Krankheiten sind einzeln oder kombiniert zwei Faktoren verantwortlich:

• Erbfaktoren (auch als endogene oder genetische bezeichnet)

• Umweltfaktoren (auch als exogene bezeichnet)

Die Erbfaktoren sind mit der Befruchtung, d.h. der Vereinigung der bei den Reifeteilungen halbierten (= haploiden) elterlichen Chromosomensätzen, fest-gelegt. Für die Zahnstellungs- und Bißlagefehler, die unter dem Oberbegriff Dysgnathien zusammenge-faßt sind, erfolgt zu diesem Zeitpunkt die geneti-sche Determination (Genotyp). Nach diesem Zeit-punkt wirken unmittelbar, d.h. bereits in der in-trauterinen Entwicklung, Umwelteinflüsse je nach Art der Erbanlage modifizierend ein.

In einem langen Prozeß werden die geneti-schen Grundlagen von Dysgnathien als klini-sches Erscheinungsbild (Phänotyp) schließ-lich realisiert. „Aufgrund von Länge und Dif-ferenziertheit" der Gebißentwicklung beein-flussen Umwelteinflüsse ebenso wie auch ge-netisch programmierte benachbarte Struktu-ren und Funktionsabläufe regelmäßig, wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß, die genetische Determination der Kiefer- und Schädel entwicklung und prägen damit den Phänotyp der Dysgnathien [10].

Ät io log ie (griech.: aitia = Ursache und lögos = Lehre)

Die Lehre von den Krankheitsursachen und den krankheits-

auslösenden Faktoren

und von disharmonischer Merkmalskombination mit primären und sekundären krankheitsauslösenden Wirkungen

Pathogenese (griech.: päthos = Leiden und genesis = Entstehung)

Die Entwicklung und Formung einer Krankheit durch die Auseinandersetzung des

Organismus mit den ätiologischen Faktoren

wegen der Länge und Differenziertheit der Gebißentwicklung beeinflussen Umweltfaktoren

die Merkmalsexpression fast regelmäßig

Abb. 1 Definitionen von Ätiologie und Pathogenese, erweitert durch dysgnathiebezügliche Besonderheiten.

Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

Eine weitere Besonderheit stellt der Krankheitsbe-griff der Dysgnathien dar: Dieser kann als dyshar-monische Merkmalskombination mit primär krank-haften Dysfunktionen und sekundär krankheitsaus-lösenden Wirkungen umschrieben werden: So hat z.B. die gestörte Kau- und Abbißfunktion nicht nur unmittelbare Auswirkungen auf die Nahrungsauf-nahme, Muskelfunktion und Speichelsekretion, sondern weiterführend auf die Verdauungsfunktio-nen in der Magen-Darm-Passage.

Entsprechend können allgemein bekannte De-finitionen zu Ätiologie und Pathogenese durch dys-gnathiebezügliche Erweiterungen ergänzt werden (Abb. 1).

Komplexe Interaktionen

Anhand von Beispielen sollen komplexe Interaktio-nen zwischen Erb- und Umweltfaktoren beschrie-ben werden, wobei durch Umweltfaktoren in Form von Bandagierungen verursachte Schädel- oder auch Fußdeformierungen (chinesische Füße) zeitlebens stabil bleiben können [63], Der „alles entscheiden-de" Faktor des Einwirkungszeitpunkts dieser Um-welteinflüsse wird verdeutlicht. Es zeichnen sich Parallelen zur kieferorthopädischen Zielstellung ab.

Für die kieferorthopädische Therapie mit ihren umfassenden funktionellen und mecha-nischen Möglichkeiten gilt, daß zum richtigen Zeitpunkt eine erhebliche und bleibende Ein-flußnahme auf Form und Funktion möglich ist. Dysgnathiebezügliche Besonderheiten der Ätiologie und Pathogenese eröffnen solche Möglichkeiten.

Beispiel: Schädeldeformation durch Bandagierung im Säuglingsalter (Abb. 2) Eine lange, schmale Schädelform gilt als Schönheits-ideal bei bestimmten peruanischen Stämmen und wird durch frühzeitige mechanische Deformation mittels Kopfbandagen bei normaler Erbanlage reali-siert. Die erreichte mechanische Deformation bil-det sich in der weiteren Entwicklung unabhängig vom Genotyp nicht zurück und stellt ein Extrem-beispiel für mögliche Effekte von in einer frühen Schädelentwicklungsperiode einwirkenden „Um-weltfaktoren" dar. Bei Kraniostenosen entstehen durch syndrombedingte (also ätiologisch differente) frühzeitige Verknöcherungen von Schädelnähten ebenfalls Schädeldeformierungen (Abb. 3).

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

Abb. 2 Schädeldeformation durch Kopfbandagen: Laterale Fernröntgenaufnahme eines alten peruanischen Schädels (dan-kenswerterweise von Herrn Prof. F R A N K E L überlassen).

Abb. 3 Schädeldeformation durch vorzeiti-gen Verschluß von Schädelnähten: Aus dem Syndromkreis der Kraniostenosen mit typi-scher Wolkenschädelstruktur als Zeichen der erhöhten Drucksymptomatik.

Moss [43] führt in diesem Zusammenhang den Begriff der „ funktionellen Matrix" ein und VAN LIM-BORGH [73] umschreibt solche Interaktionen als „epi-genetische Kontrolle". Dabei handelt es sich nicht um einen neuen „epigenetischen Hauptfaktor", sondern um differenzierte Kontrollfunktionen auf jegliche Art von Umwelteinflüssen. So wird die Ent-wicklung des Hirnschädels durch die Größen- und Formentwicklung des Gehirns induziert. Den pri-mären Erbfaktor stellt das genetisch determinierte Wachstum des Gehirns dar. Um die Entwicklung dieses zentralen Organs komplex abzusichern, ist eine unterschiedliche Morphogenese des Hirnschä-dels abhängig von Umwelteinflüssen möglich.

Bei den bestehenden engen Beziehungen zwi-schen der Schädelentwicklung und der Ätiologie und Pathogenese von Dysgnathien gibt dieses Bei-

spiel einen Einblick in mögliche komplexe Interak-tionen von Erb- und Umweltfaktoren.

Beispiel: Fehlbildungskomplex durch teratogene Wirkung von Thalidomid Der unter dem Begriff „Thalidomidembryopathie" zusammengefaßte Fehlbildungskomplex dokumen-tiert den Einfluß eines isolierten Umweltfaktors in der intrauterinen Entwicklung. Zwischen 1959 und 1962 wurden in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Europa sehr viele Kinder mit Fehlbil-dungen der Gliedmaßen und unterschiedlichen Be-gleitmißbildungen geboren, die im Bereich des Ge-sichts als Thalidomidgesicht bezeichnet werden. Typische Dysgnathien wie überdurchschnittlich häufige Engstandsymptomatik und signifikant ver-stärkte Angle-Klasse-III-Dysgnathien werden aus-führlich beschrieben [62], Diese Untersuchungen er-scheinen für die Ätiologie von Interesse, da die kri-tische Determinationsperiode bekannt ist.

Die teratogene Wirkung von Thalidomid tritt nur bei Einnahme des Medikaments zwischen dem 35. und 50. Tag nach der letzten Regel auf, und es ent-steht der beschriebene Fehlbildungskomplex. Be-merkenswert ist, daß dieser Umweltfaktor regel-mäßig bei sieben verschiedenen Affenspezies und beim Menschen typische Mißbildungen erzeugte [1], wenn er während der Phase der Organentwick-lung in bestimmter Menge in den Embryo gelangte. Genetische Unterschiede innerhalb dieser Spezies haben offenbar keinerlei Einfluß darauf, ob Thalid-omid zu Mißbildungen führt. Wenn die Mutter nur am Anfang oder am Ende des genannten Zeitab-schnitts (35. bis 50. Tag) Thalidomid genommen hat und wenn ein Zwilling dem anderen in der Ent-wicklung um zwei bis drei Tage voraus ist, so kön-nen diskordant Mißbildungen auftreten, da einer der Zwillinge noch nicht oder nicht mehr in der sensi-blen Phase war [35].

Das epidemieartige Auftreten dieses Mißbil-dungskomplexes ließ einen Umwelteinfluß, und zwar einen Nahrungsmittelzusatz oder ein Medika-ment vermuten. 1961 wurde erstmals auf das Tha-lidomid als teratogen wirkende Noxe hingewiesen [35], Dieses Schlaf- und Beruhigungsmittel war un-ter zahlreichen Warenbezeichnungen im Handel, am bekanntesten ist Contergan. Nachdem das Me-dikament aus dem Handel gezogen war, konnte un-mittelbar eine starke Abnahme dieser Mißbildun-gen registriert werden.

Die Möglichkeit, daß gleichartige Mißbildungen auf Erbanlagen beruhen oder auf Umwelteinflüsse

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

zurückzuführen sind, die den Embryo treffen, wird als Phänokopie bezeichnet. Die thalidomidbeding-ten Fehlbildungen gleichen einem allerdings sehr selten vorkommenden genetisch bedingten Fehl-bildungskomplex (dem dominanten Holt-Oram-Syndrom) in vielen Einzelheiten.

Klinische Genetik Allgemein

Humangenetik ist die Wissenschaft von den erbbe-dingten Unterschieden des Menschen. Als Teilge-biete werden klinische Genetik, Zytogenetik, bio-chemische und immunologische Genetik, Popula-tionsgenetik und andere genannt [35],

Die klinische Genetik forscht nach Unter-schieden von Merkmalen, Mißbildungen so-wie Krankheiten und überprüft den Einfluß von Erb- und Umweltfaktoren. Auch der Aus-schluß von Erbfaktoren gehört zum Aufga-benbereich der klinischen Genetik. Bei nach-weisbaren Erbfaktoren wird der Erbgang oder Erbtvp eines Merkmals durch Methoden der klinischen Genetik wie Zwillings- und Fami-lienforschung analysiert.

Die klinisch übliche Bezeichnung, Erbgang eines Merkmals, erscheint nicht ganz korrekt, da nicht die fertigen Merkmale (z.B. Dysgnathien) übertra-gen werden, sondern die auf den Chromosomen des Zellkerns lokalisierten Erbeinheiten (Gene). Gene sind Informationseinheiten, die aus Desoxyribonu-kleinsäure (DNS = DNA) bestehen. Weiterführende biochemische Grundlagen können in humangeneti-schen Standardwerken [69, 76] nachgelesen werden, da diese zu umfangreich und für das Verständnis der klinischen Genetik nicht unabdingbar notwendig sind.

Gene sind einer direkten biochemischen Analyse zugänglich geworden. Die Entwicklung von Gen-karten, d.h. die Lokalisation von Genen auf spezifi-schen Chromosomen und Chromosomsegmenten, stellt eine der größten Entwicklungspotentiale der Genetik dar. Doch ist die Ursachenkette zwischen Gen und Phän (sichtbares Merkmal) bisher nur teil-weise vollständig aufgeklärt. So geht die klinische Genetik i.d.R. noch von der Untersuchung des Phä-notyps aus. Gleiches gilt für die Methoden der kli-nischen Genetik, die in der Kieferorthopädie An-wendung finden. Hierzu gehört das Erheben der Fa-milienanamnese, ebenso wie die Definition des

Merkmals und die Methoden der Familien- und Zwillingsforschung zur Untersuchung von Erb- und Umweltfaktoren [16]. Je eindeutiger der Phänotyp zu definieren ist und ein monogener Erbgang vor-liegt, desto eher ist auf dem aktuellen Erkenntnis-stand der genetischen Forschung die Identifikation des verantwortlichen Gens möglich: So steht das Fehlen eines funktionierenden MSXl-Gens bei der Maus in Zusammenhang mit Zahnunterzahl [45]. Weiterführende Untersuchungen zeigen [75], daß bei autosomal dominantem Erbgang für die Nicht -anlage von zweiten Prämolaren und dritten Molaren in einer Familie ein Genlokus am Chromosom 4p (= Kurzer Arm des Chromosoms Nr. 4) identifiziert wurde, auf dem das menschliche MSXl-Gen liegen soll.

Die molekulargenetischen Mechanismen der normalen Kiefer und Zahnentwicklung sind noch weitgehend unbekannt. Man kann aller-dings davon ausgehen, daß auch hier während der embryonalen Entwicklung Transkrip-tionsfaktoren mit eine wichtige Rolle spielen, so z.B. die der PAX-Gene und andere wie z.B. MSX1, MSX2. Je komplexer sich der Phänotyp darstellt, wie dies bei Dysgnathien mit unter-schiedlichen Schweregraden bis hm zu kli-nisch nicht relevanten genetisch jedoch be-deutsamen Mikrosymptomen zutrifft, desto unwahrscheinlicher ist monogene Ätiologie und damit eine einfache Ursachenkette zwi-schen Gen und Phän.

Allgemeine medizinische Beispiele zum Anteil un-terschiedlicher erb-und/oder umweltbedingter Ätio-logie bei Erkrankungen wie sie Abbildung 4 wie-dergibt, erscheinen aus klinisch/praktischer Sicht interessant. Für die komplexe Ätiologie der Dysgna-thien ist davon auszugehen, daß die Extrempositio-nen „Erbe" und „Umwelt" (Abb. 5) i.d.R. nicht be-setzt sind. So kann für Dysgnathien von vorwiegend genetisch und vorwiegend umweltbedingten For-men gesprochen werden. Zwei Beispiele sollen das weiter erläutern:

1. Bei vorwiegend genetisch bedingten Dysgnathien, z.B. der progressiven mandibularen Überentwicklung (Angle-Klas-se III, mandibuläre Prognathie) spielen im Verlauf der Gebiß-entwicklung und unter dem Einfluß der komplexen Weich-teilfunktionen, Umweltfaktoren eine wenn auch möglicher-weise nur geringe Rolle bei der Expression des klinischen Er-scheinungsbilds. Der Größe und Funktion der Zunge kommt in diesem Zusammenhang z.B. als „Umweltfaktor" (epigene-tischer Kontrollfaktor) besondere Bedeutung zu.

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

E r b f a k t o r e n

Krankheiten, die nur bei Menschen mit einer bestimmten genetischen Konstellation (einem charakteristischen Genotyp) - und bei diesen immer - auftreten, ohne Rück-sicht auf Umweltfaktoren (Erbkrankheiten im engen Sinn).

Krankheiten, die nur bei Menschen mit einer bestimmten genetischen Konstellation auftreten, jedoch erst dann oder .• ausgeprägter, wenn bestimmte Umweltfaktoren hinzu-kommen (Beispiel: Gicht, skelettale Angle Klasse III, Angle Klasse WZ). \

Krankheiten, die nur bei Menschen mit einer bestimmten genetischen Konstellation auftreten, jedoch in Häufigkeit und Schwere - je nach Konstitution und Umwelt - differieren Umweltfaktoren von wichtiger Bedeutung werden nur bei bestimmten Genotypen wirksam (Beispiel: Essentielle Hypertonie. Ulcus duodeni. Angle Klasse II/1).

Krankheiten, die sich bei jeder genetischen Konstellation des Menschen manifestieren können, deren Häufigkeit und Schwere aber von der Konstitution abhängig ist (Beispiel: Mehrzahl der Infektionskrankheiten, sekundärer Engstand)

Krankheiten, die bei jeder genetischen Konstellation vorkommen können und deren Häufigkeit und Schwere aus-schließlich von exogenen Faktoren abhängt (Beispiel Röntgenverbrennungen, Säuren- und Laugenverätzungen. Traumatisierung von Zähnen).

UrrJWsJifeiWo/srj

Abb. 4 Stufenweise Darstellung der Ätiologie von umweltbe-dingt bis erbbedingt anhand von Beispielen unterschiedlicher Erkrankungen. Umzeichnung [35], ergänzt durch Beispiele von Dysgnathieformen.

Abb. 5 Erb- und Umweltfaktoren: Grafische Darstellung der un-terschiedlichen Anteile mit für Dysgnathien eingegrenzten Ex-trempositionen.

2. Andererseits ist es vertretbar, auch „typisch" exogen ver-ursachte Formen wie den sekundären Engstand als vorwie-gend umweltbedingte Dysgnathien zu bezeichnen. Ein, wenn auch individuell möglicherweise nur geringer Anteil an gene-tischen Faktoren beeinflußt bekanntermaßen die Zahnwan-derung. Es sind weiterhin Wirkungsmechanismen der indi-rekten genetischen Kontrolle von Bedeutung: So manifestiert sich bei eugnather Gebißentwicklung und guter Interkuspida-

tion trotz vorzeitigem Milchzahnverlust ein sekundärer Eng-stand nicht, seltener oder in geringerem Ausmaß.

Für die kieferorthopädische Prophylaxe resultiert da-mit nicht nur die Einflußnahme durch Elimination von ungünstigen Umweltfaktoren, sondern es kann auch indirekt die Merkmalsexpression von geneti-schen Faktoren reduziert werden. Abbildung 6 zeigt schematisch, daß durch Prophylaxe auch genetische Faktoren „unterdrückt" werden, da diese für die kli-nische Ausprägung von Dysgnathiesymptomen oh-ne die Interaktion mit ungünstigen Umwelteinflüs-sen unwirksam werden. So lassen sich z.B. bei 1000 untersuchten Patienten 44,3% der gewichteten Ein-zelsymptome ätiologisch mit exogenen Faktoren in Zusammenhang bringen. Dominierend erscheinen dabei die Folgen von vorzeitigem Milchzahnverlust (Stützzoneneinbruch) und Habits [57].

kieferorthopädischer Prophylaxe.

Zahl der Chromosomen des Menschen

Die menschlichen Körperzellen enthalten 46 Chromosomen. Die Chromosomen weibli-cher Personen lassen sich nach Größe und Form zu 23 Paaren anordnen (46,XX). Im männlichen Geschlecht finden sich 22 paarige und 2 unpaarige Chromosomen (46,XY, Abb. 7), von denen das größere, das X-Chromosom bei der Frau doppelt vorhanden ist, während das kleinere, das Y-Chromosom bei Frauen fehlt. Die beiden Geschlechtern gemeinsamen 22 Paare heißen Autosomen.

Man gruppiert die Chromosomen (= Metaphase-chromosomen) des Menschen nach ihrer Größe und dem Sitz des Zentromers, wobei kurze Arme (p = petit) und lange Arme (q = einfach der nächste Buchstabe des Alphabets) unterschieden werden.

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

• n - v

H Abb. 7 Karyogramm eines Mannes (46, XY). (Institut für Humangenetik WWU Münster, Direktor Prof. Dr. J. Horst).

VI 21

Die Geschlechtschromosomen (Gonosomen) wer-den mit X und Y bezeichnet, die Autosomen werden mit einer Ausnahme in abnehmender Größe von 1 bis 22 numeriert [Paris Konferenz 1971, 47] (Abb. 8). Die Ausnahme bei der größenmäßigen Anordnung

! ! ffl 1 b i® W3 j § ß k m ?

m .Iii 13 U 15 16 17

E S b M o üriö

19 20 21 22 Y X

Abb. 8 Karyotypenschema der Chromosomen 1 bis 22 sowie der Geschlechtschromosomen. Bänderungsmuster nach der Pariser Nomenklatur (G, Q und R Bänderung). (Umzeichnung nach V O G E L und M O T U L S K Y [ 7 6 ] ) .

)l t tf lr f( \r % H D W 1Y

H ti

I i 18

I I 22

8

I I

9

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10

/ I I 15 16

i r 19

— I I 20

\ \ C^vv

bildet das Chromosom 22, welches größer ist als das Chromosom Nr. 21. Da bereits vor der Ära der Dar-stellung von Bänderungsmustern, die für jedes Chromosom spezifisch sind und so eine eindeutige Zuordnung ermöglichen, das für das Down-Syn-drom verantwortliche Chromosom fälschlich als das zweitkleinste mit Nr. 21 determiniert wurde [34], erfolgte später keine Korrektur in der Nomen-klatur.

Abweichungen der Chromosomenzahl (numerische Chromosomenanomalien)

Störungen der numerischen Verhältnisse der Chro-mosomen kommen relativ häufig vor. Sie entstehen dadurch, daß bei den als Meiose bezeichneten Rei-feteilungen (bei denen die Chromosomen und damit das genetische Material nicht nur halbiert, sondern durch das sog. Crossing-over ausgetauscht wird) die paarigen Chromosomen nicht getrennt werden (Non-disjunction). Dadurch bekommt eine Gamete (Ei oder Spermium) ein Chromosom zuviel (Triso-mie), die andere ein Chromosom zuwenig (Monoso-mie). Die neu entstandene Zygote weist dann ent-weder eine Tri- oder eine Monosomie statt der nor-malen Disomie auf. Monosomien sind im allgemei-nen nicht lebensfähig. Als Ausnahme kann der post-meiotische Verlust eines Geschlechtschromosoms (45,XO Zustand = Ullrich-Turner-Syndrom) genannt werden. Numerische Störungen der Geschlechts-chromosomen haben in bezug auf die Lebensfähig-keit der Zygote i.d.R. weniger Einfluß als entspre-chende Störungen der Autosomen. So gibt es weib-

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Ätiologie und Pathogenese von Dysgnathien

Tabe l le 1 Übersicht zur Tr isomie 13. Tabe l le 2 Übersicht zur Tr isomie 18.

Tr i som ie 13

Syn.: D 1 -Tr isomie-Syndrom, Pätau-Syndrom, anglo-amer ikanisch: Patau-Syndrom

Ein Fehlb i ldungssyndrom mit charakteristischer Fazies. Hexadakty l ie. pr imordia lem Minderwuchs, schwerster psychomotor ischer Entw ick lungshemmung und multi-p len anderen Anomal ien. Häuf igkeit : 1:14500

Hauptauffäl l igkeiten im Kiefer-Gesichts-Schädelbereich:

Typische Fazies mit f l iehender Stirn, Hyper- oder Hypo-te lor ismus, mongoloider L idachsenstel lung, Mikrophthal-mie bis Anophthalmie, L ippen-Kie fer -Gaumen-Spal te und Mikrogenie.

Ätiopathogenese:

Tr isomie (in 90%) infolge meiot ischer Non-dis junct ion. Störung des genet ischen Gle ichgewichts durch Tr isomie des Ch romosom 13 bzw. durch die dre i fache Dosis des auf d iesem Chromosom lokalisierten genet ischen Mate-rials. Fast immer ist das zusätz l iche Ch romosom frei vor-handen, ext rem selten liegt Verknüpfung mit e inem an-deren Ch romosom vor.

Verlauf, Prognose:

Schwer verzögerte psychomotor ische Entwicklung. Tod in rund 8 5 % im ersten Lebensjahr.

Kieferorthopädische Bedeutung:

Wegen der reduzierten Lebenserwar tung keine prakt i-sche k ieferor thopädische Frühförderung oder Therapie. Die Tr isomie des relativ g roßen Ch romosoms Nr. 13 be-wirkt schwerste Mißbi ldungen im Schädel -Ges ichtsbe reich.

liehe Individuen mit mehreren X-Chromosomen („Super females"), wobei sich dieser Zustand nicht auf das weibliche Aussehen auswirkt, aber mit zu-nehmender Anzahl von X-Chromosomen eine Ten-denz zu Entwicklungsverzögerungen zu beobachten ist [69]. Männer mit mehr als einem Y-Chromosom werden gelegentlich als „Super males" bezeichnet. Bei ihnen äußert sich diese numerische Chromoso-menaberration in überdurchschnittlicher Körper-größe und Aggressivität sowie transversal breiteren Kiefern und häufiger mesialer Bißbeziehung [31].

Bei den autosomalen Aberrationen gibt es drei als Syndrome eindeutig definierte Formen [79]. Es han-delt sich um die Trisomie 13, 18 und 21. Bei allen drei Syndromen bestehen obligatorische Symptome im Kiefer-, Gesichts- und Schädelbereich (Tab. 1 bis 3). Diese Syndrome sind prä- und postnatal si-cher zu diagnostizieren. Es liegt keine Mutation ei-

Trisomie 18

Syn. : Edwards-Syndrom

Ein Syndrom aus pr imord ia lem Minderwuchs, typischer Ges ich tsdysmorph ie , schwerster psychomotor ischer En tw ick lungshemmung und mult iplen anderen Anomal ien . Häuf igkeit : 1:11000

Hauptauffäl l igkeiten im Kiefer-Gesichts-Schädelbereich:

Charakter is t isches Gesicht , insbesondere geprägt durch vorgewölb te Stirn, kurze, biswei len mongolo id gestel l te L idspal ten, Mikrogenie, Mikrostomie, kurzes Phi l trum, nicht sel ten auch L ippen-Kie fer -Gaumen-Spal te oder de ren E inze lkomponenten. Schmaler mikrozephaler Schäde l mit p rominentem Okziput, Ohrmusche ldys-plasie.

Ätiopathogenese:

Störung des genet ischen Gle ichgewichts durch Tr isomie des Ch romosoms 18 bzw. durch die dre i fache Dosis des auf d iesem Ch romosom lokalisierten genet ischen Mate-rials. Fast ausnahmslos ist das zusätzl iche Ch romosom frei vorhanden

Verlauf, Prognose:

Mit e inem Jahr s ind noch 5 5 % der weibl ichen, aber nur noch 10% der männl ichen Kinder am Leben. Vereinzelt lernen Kinder Gehen mit Unterstützung, können auf Auf-forderung reagieren und interagieren.

Kieferorthopädische Bedeutung:

Im Vergleich zur Tr isomie 13 zeigt die Tr isomie des etwas k le ineren Ch romosoms 18 eine bessere Über lebensrate, woraus in Sonderfä l len eine Indikation zur kieferortho-päd ischen Therapie resultiert.

nes Einzelgens, sondern ein Übergewicht von „nor-malem genetischen Material" vor, woraus erhebli-che Entwicklungsstörungen resultieren. Diese sind bei den kleinsten Chromosomen am besten mit dem Leben vereinbar, so daß die Trisomie 21 auch für die Kieferorthopädie von großer praktischer Bedeutung ist:

Bereits im fahre 1866 wurden von DOWN [7] zahl-reiche Symptome beschrieben, wobei das Krank-heitsbild als Degeneration in eine „niedrigere Ras-se" angenommen und als Mongolismus bezeichnet wurde, eine heute nicht mehr gültige Bezeichnung. Erst im Jahre 1959 [34] konnte als Ursache für dieses Syndrom ein überzähliges Chromosom nachgewie-sen werden. Nachdem drei fahre zuvor durch ver-besserte zytogenetische Techniken die normale menschliche Chromosomenzahl auf 46 korrigiert wurde, war dies die erste diagnostizierte numeri-

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Tabe l le 3 Übersicht zur Tr isomie 21.

Trisomie 21

Syn.: Down-Synd rom

Ein Feh lb i ldungssyndrom mit Schwachs inn im Sinne von Imbezil l i tät und Debil i tät und sehr charakterist i-schem äußerem Erscheinungsbi ld . Häufigkeit : 1 : 9 7 0

Hauptauffäl l igkeiten im Kiefer-Gesichts-Schädelbereich:

„F laches Gesicht" mit mongolo ider Lidspal tenstel lung, Epikanthus, t ie f l iegender Nasenwurze l , kleiner Nase und dysplast ischen äußeren Ohren bei kurzem Hirnschädel mit steil ab fa l lendem Okziput . Hypotone Muskulatur mit protrudierter Zunge, te i lweise L ingua pl icata und Ma-kroglossie, mangelhaf ter L ippenschluß, f lacher Gaumen , Unterentwick lung des Mit te lgesichts mit Angle-Klasse-I l l -Dysgnathien, of fener Biß.

Kurz ersche inender Nacken mit Cut is laxa. Relat iver K le inwuchs: die Endgrößen mit 18 Jahren l iegen für weib l iche Pat ienten zwischen 136 und 154 cm, für männ-liche Pat ienten zw ischen 140 und 162 cm. Kurz-p lumpe Hände und Finger mit häuf iger Radial-wär tsb iegung des Kleinf ingers und „Vierf ingerfurche"; „Sandalen lücke" zw ischen den beiden ersten Zehen. Muske lhypoton ie und a l lgemeine Gelenküberbewegl ich-keit bei Bänderschlaf fhei t . At lantoaxia le Instabil ität in 5 - 2 0 % .

Schwachs inn mit Intel l igenzquot ienten meist zw ischen 20 und 50.

Ätiopathogenese:

Häufig erhöhtes Mutteralter. Das Syndrom ist Ausdruck einer Tr isomie des C h r o m o s o m 21 bzw. der durch die dre i fache Dosis des auf d iesem Chromosom lokal isierten genet ischen Mater ia ls verursachten Störung des genet i -schen Gle ichgewichts . In über 9 5 % der Fälle ist das zu-sätzl iche mütter l iche C h r o m o s o m frei vorhanden; sel ten (etwa 3%) ist es mit e inem anderen Ch romosom ver-knüpft (Translokat ion), in 2 % l iegen Mosaike vor. Das er-höhte väter l iche Alter stellt ke inen nachweisbaren Risi-kofaktor für ein Kind mit Down-Syndrom dar.

Verlauf, Prognose:

Sehr abhäng ig v o m Vor l iegen und Schwere des Herz-fehlers. Deut l ich erhöhte Berei tschaft zu Af fekt ionen der Luf twege. Vermehr te Disposi t ion zur akuten Leukämie. Psychomotor isch im Säugl ingsal ter eher apathisch, ab Kleinkindesal ter hyperagi les Verhal ten. Pat ienten ohne Herzfehler erre ichen zu fast 8 0 % das 30. Lebensjahr, mit 50 Jahren leben noch 60%, mit 60 Jahren 4 5 % aller Pa-t ienten.

Kieferorthopädische Bedeutung:

Stimulat ionsplat ten, k ie feror thopädische Prophylaxe und Behand lung

Ätiologie und Pathogenese von Dysgnathien

Tabe l le 4 Übers icht zu Syndromen mit typ ischen Kraniostenosen.

Apert-Syndrom

Syn.: Akrozephalosyndakte l ie Typ 1 Ein charakter is t isches Syndrom aus Turmschädel , Ges ichtsdysmorph ie und ausgedehnter symmetr ischer Syndakty l ie der Finger und Zehen. Häufigkeit : 1 :100000

Hauptauffäl l igkeiten im Kiefer-Gesichts-Schädelbereich:

Turmschäde l mit hohem „vol lem" Vorderhaupt, f lachem Okziput

F laches Gesicht mit supraorbi ta ler horizontaler Eindel-lung, we i tem Zwischenaugenabstand, f lachen Orbitae mit Exophtalmie, kleine aufwär ts gebogene schnabelför-mige Nase und t iefs i tzenden Ohren. Hypoplas ie des Oberkiefers, dadurch Klasse-I l l -Dysgna-thie, schmaler Gaumen , Engstände. Röntgenolog isch irreguläre prämature Kraniosynostose, besonders der Kranznähte, oft auch der Lambdanaht , evtl. Wo lkenschäde l

Ätiopathogenese:

Autosomal -dominantes Erbleiden. Die weit überwiegen-de Zahl der Fälle ist aber sporadisch und repräsentiert Neumutat ionen.

Kieferorthopädische Bedeutung:

Frühzeit ige Kraniotomie, postoperat iver Einsatz von De-la i re-Masken. Später operat ive Dysgnathiekorrekturen mit interdiszipl inärer Orthodont ie. Cave: Wegen suturaler Def iz ienzen auch Reakt ion der desmodonta len Fasern mögl icherweise vermindert (De-laire): Zahnbewegungen limitiert

Crouzon-Syndrom

Syn.: Dysostosis craniofacial is

Ein charakter is t isches Turmschäde l -Syndrom.

Häufigkeit : 1:25000

Hauptauffäl l igkeiten im Kiefer-Gesichts-Schädelbereich:

Turmschädel mit hohem bre i tem Vorderhaupt, f lachem Okziput

Frontaler Kreuzbiß bei Maxi l lahypoplas ie mit „Papa-geienschnabelnase" , kurze Ober l ippe, hoher enger Gau-men.

Röntgenologisch prämature Kraniosynostose besonders der Kranznähte und Lambdanaht , oft sehr stark ausge-prägter Wolkenschädel .

Ätiopathogenese:

Autosomal -dominantes Erbleiden; 100%ige Penetranz, wechse lnde Stärke der Expressivi tät, Genort 10q25-q26.

Kieferorthopädische Bedeutung:

Entspricht d e m Aper t -Syndrom.

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Ätiologie und Pathogenese von Dysgnathien

Tabe l le 5 Übersicht zur Dysplas ia cleidocranial is.

Dysplasia cleidocranialis

Syn.: Scheuthauer -Mar ie -Sa in ton-Syndrom

Ein charakter is t isches Syndrom mit typischen Symptomen im Bere ich des Skeletts (Schädel , Kiavikeln, Becken), beidseit ige Aplasie (abgeschwächt Hypo- oder Dysplasie) der Kiav ikeln (Brustbeine) bedingt die typische Schul terhypermobi l i tät .

Häufigkeit : über 700 Fälle beschr ieben, ca. ein Drittel Neumutat ionen.

Hauptauffäll igkeiten im Kiefer-Gesichts-Schädelbereich: Großer, breiter und kurzer Hirnschädel mit vorspr ingenden Stirn- und Schei te lhöckern und Eindel lung oberhalb der Glabel la. Jahre lang bis lebenslängl ich pers ist ierende Fontanel len und Nähte.

Relativ kleiner Ges ichtsschädel mit vermehrter Zwischenaugend is tanz , breiter und tiefer Nasenwurzel , evtl. sich nach vorn öf fnenden Nar inen und leichter Exophthalmie.

Zahnüberzah l mit Dent i t ionsverzögerungen in beiden Dent i t ionen, Retent ionen und fehlender Spontandurchbruch, insbesondere der zwei ten Denti t ion.

Ätiopathogenese:

Monogenes Erbleiden, autosomal -dominant , mit hoher Penet ranz bei var iabler Ausprägung. Genort 8q22 (wahrscheinl ich).

Verlauf, Prognose:

Lebenserwar tung nicht beeinträcht igt . Disposit ion zu Luxat ionen. A l lgemeine or thopädische Betreuung. Reduzier te durchschni t t l iche End längen bei Männern und Frauen.

Kieferorthopädische Bedeutung:

Lange, zum Teil schwier ige, k ieferor thopädische Behand lungssequenzen mit aktiver Elongat ion zahlreicher b le ibender Zähne. Retrusives Lippenprof i l und ungenügende Entwick lung der Alveolarfortsätze.

sehe Chromosomenaberration beim Menschen. Der Karyotyp eines Mädchens ist also 47,XX + 21 (Abb. 9), der eines Jungen 47, XY + 21. Der gezielte Einsatz komplexer Frühförderungsmaßnahmen im Sinne ei-nes positiven Umwelteinflusses führt zur Verbesse-

rung der Entwicklungsmöglichkeiten. So bewirkt der frühzeitige Einsatz einer intraoralen Stimulati-onsplatte [2], unterstützt von manuellen ganzheitli-chen Übungskonzepten eine Stärkung der hypoto-nen zirkumoralen Muskulatur, eine Verbesserung

Abb. 9 Weibliches Karyogramm mit Trisomie 21 (47, XX, +21). (Institut für Humangenetik, WWU Münster, Direktor Prof. Dr. J. HORST).

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

des Lippenschlusses, der Artikulation und der Zun-genlage [11, 25, 26] (Abb. 10 u. 11).

Untersuchungen aus unserer Klinik [53] deuten weiter darauf hin, daß sogar ein positiver Einfluß auf die Entwicklung des flachen Gaumengewölbes mög-lich ist. Patienten mit Down-Syndrom weisen über-durchschnittlich häufig Zahnunterzahl und eine verstärkte Disposition zu Parodontalerkrankungen auf [9]. Die Kariesanfälligkeit scheint geringer als bei gesunden Kindern zu sein [8], Wegen der Hypo-

plasie des gesamten nasomaxillären Komplexes mit niedrigen Gaumendimensionen dominiert eine Angle-Klasse-III-Dysgnathie (maxilläre Retrogna-thie). Kieferorthopädische Behandlung im Milch-und Wechselgebiß ist je nach Symptomatik ange-zeigt und kooperativ möglich. Obwohl es sich bei der Trisomie 21 um eine wohl definierte Krankheits-einheit handelt, schwankt insbesondere der Schwe-regrad in Einzelfällen ebenso auch das Vorkommen von Symptomen (nicht nur) im Kiefer-Gesichtsbe-

Trisomie 21

Abb. 10 Charakteristische Fazies bei Trisomie 21 mit schräger Lid-spalte, Knopfnase und inkompe-tentem Lippenschluß mit protrusi-ver tiefer Zungenlage. Verbesserte Situation unmittelbar nach Einset-zen der Stimulationsplatte.

10.06.97

Fabian K„ * 07.07.96

Mit eingesetzter Stimulationsplatte

Trisomie 21

10.06.97

Abb. 11 Charakteristische Fazies bei Trisomie 21, hier mit moderater Ausprägung der schrägen Lidspal-ten und der oralen Symptomatik (links). Effektive dauerhafte Ver-besserung des orofazialen Er-scheinungsbilds im Alter von neun Jahren (rechts) nach Säuglings-frühförderung und kieferorthopädi-scher Frühbehandlung.

Thomas W„ * 29.11.84

Positive Entwicklung des äußeren Erscheinungsbildes durch komplexe Frühförderungsstrategien

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

reich. Es ist davon auszugehen, daß diese Unter-schiede innerhalb einer nachgewiesenen Chromoso-menaberration als die superponierten normalen in-dividuellen Unterschiede anzusehen sind. Somit könnte z.B. eine familiäre Disposition zu Angle-Klasse-II-Dysgnathien die syndromtypische Angle-Klasse-III-Expression abschwächen.

Anomalien der Chromosomenstruktur

Differente Fehler in der Chromosomenstruktur sind ursächlich an unterschiedlichen Syndromen betei-ligt. Als Deletion bezeichnet man den Verlust eines Chromosomenstücks. Die Deletion des kurzen Arms von Chromosom 5 (z.B. weibl. Karyotyp: 46,XX/5p-) wird aufgrund der Katzenschrei-ähn-lichen Laute des Säuglings als Cri-du-chat-Syndrom bezeichnet.

Unter Translokation versteht man einen Aus-tausch von nicht homologen Fragmenten zwischen zwei Chromosomen. Eine Translokation kann die Ursache familiärer Häufung des Morbus Down sein, und zwar unabhängig vom Alter der Mutter. Die freie Trisomie 21 als zufälliger Fehler der Meiose zeigt eine deutliche Abhängigkeit vom Alter der Mutter, jedoch im Prinzip keine familiäre Häufung.

Vererbung autosomaler Gene

Autosomal dominante Genwirkung (autosomal dominanter Erbgang) Wie die Chromosomen, so treten auch die Gene paarweise auf. Die beiden Partner eines Paars nennt man Allele. Ein Allel stammt jeweils vom Vater, das andere von der Mutter. Eine Ausnahme bilden die Gene, die auf dem Y-Chromosom lokalisiert sind. Diese haben keine (bis auf wenige Ausnahmen), ent-sprechenden Allele. Gleiches gilt für das unpaarige X-Chromosom des Mannes.

Man bezeichnet die Träger eines Allelen-Paares mit gleicher Wirkung als Homozygote, mit unglei-cher Wirkung als Heterozygote.

Fehlen Allele, wie bei den Genen des X-Chromo-soms des Mannes, so nennt man die Träger Hemi-zygote. Jedes Gen wird, einerlei ob seine Wirkung dominant oder rezessiv ist, von Heterozygoten im Durchschnitt an die Hälfte der Kinder weitergege-ben.

Verschiedenen Erbgang zeigen nicht die Gene, sondern die phänotypischen Merkmale. Der-Gang der Gene durch die Generationen tritt

bei dominanter Genwirkung anders als bei re-zessiver Genwirkung in Erscheinung.

Die Weitergabe eines im strengen Sinne rezessiven Gens ist im heterozygoten Zustand klinisch nicht direkt zu verfolgen. Dagegen zeigt das Auftreten ei-nes Erbleidens (einer Krankheit, einer Dysgnathie), dem ein regelmäßig dominantes Gen zugrunde liegt, klar dessen Weg durch die Generationen. Dieser Weg ist lückenlos durch mehrere Generationen zu verfolgen, und Überträger kann ebenso ein Mann wie eine Frau sein. Das klassische Schema einer do-minanten = heterozygoten = einelterlichen Verer-bung autosomaler Gene verdeutlicht die Abbildung 12. Dominant nennt man im medizinischen Sprach-gebrauch defekte (mutierte) Gene, die im heterozy-goten Zustand eine Krankheit, eine Mißbildung oder ein Merkmal bedingen, ohne Rücksicht darauf, ob der homozygote Zustand bekannt ist und/oder mit dem heterozygoten übereinstimmt. Einige auf-fallend schwere dominante Erbleiden sind gelegent-lich bei Kindern beobachtet worden, deren beide El-tern betroffen waren. Dies kommt besonders bei Blutsverwandtschaft der Eltern vor.

Heiraten unter Verwandten können aber auch bei polygener Vererbung eine lückenlose Über-tragung durch mehrere Generationen bewir-ken. So lassen einzelne ausgelesene Stamm-bäume (z.B. „Progenie" der Habsburger) nicht alleine aus der lückenlosen Übertragung durch vier Generationen sicher auf Dominanz schließen. Merkmalsvariabilität und Krank-heitshäufigkeit müssen kritisch berücksich-tigt werden.

Dominant vererbte Merkmale und Krankheiten dif-ferenzieren sich durch alternatives Auftreten. Das Merkmal ist klar zu erkennen und eindeutig vor-handen oder nicht vorhanden. Leichte Schwankun-gen im Ausprägungsgrad werden beschrieben und müssen nicht gegen einen dominanten Erbgang sprechen. Sie werden als Expressivitätsschwankun-gen bezeichnet und als Unterschiede der phänischen Äußerungsmöglichkeiten eines defekten Gens ver-standen. Quasi als Steigerung der Expressivitäts-schwankung ist die Penetranzschwankung anzuse-hen. Diese bedeutet die Unerkennbarkeit des de-fekten (dominanten) Gens in einer Generation. Sie wird möglicherweise dadurch erklärt, daß das Gen nicht isoliert agiert, sondern im Verband anderer Gene. Machen sich Penetranz- und Expressivitäts-

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

O homozygot normal, gesund

heterozygot defekt, erkrankt

50% erkrankt 50% gesund

Abb. 12 Schema der dominanten Vererbung autosomaler Gene. Oben: Homologe autosomale Chromosomenpaare zweier Eltern mit einem eingezeichneten Allelenpaar am gleichen Lokus. Ein Gen, durch Mutation verändert (schwarzer Kreis) ist dominant und führt zur Erkrankung. Im Schema rechts durch ein schwarzes Viereck dargestellt, um zu verdeutlichen, daß das Geschlecht dabei keine Rolle spielt. Mitte: Trennung der elterlichen Allele bei Bildung der Keimzellen. Jede Keimzelle hat die gleiche 50%ige Chance, das defekte oder das nicht defekte Gen zu erhalten. Unten: Jedes Gen hat eine 25%ige Chance, sich mit einem der drei nicht defekten Allele zu vereinigen: Von vier Kindern sind durch-schnittlich zwei Merkmalsträger und erkrankt, weil sie das dominante Gen geerbt haben, zwei sind merkmalsfrei und nicht erkrankt. Sippentafel rechts oben: Die Sippentafel verdeutlicht das typisch mendelnde Verhalten bei autosomal dominantem Erbgang.

Abb. 13 Stammbaum mit autosomal dominanter Vererbung bei Dysplasia cleidocranialis. Es ist von einer Neu-mutation beim Vater (geschwärztes Viereck) auszugehen. Beide Töchter, Kreise mit Bild, sind betroffen. Die Sip-pe des Bruders des erkrankten Vaters ist merkmalsfrei.

II

IV

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

Schwankungen in großem Ausmaß und regelmäßig bemerkbar, so bestehen berechtigte Zweifel, ob es sich um eine dominante Genwirkung handelt. Glei-ches gilt für eine überdurchschnittlich starke modi-fizierende Einwirkung von Umwelteinflüssen.

Für Dysgnathien allgemein ist es daher eher unwahrscheinlich, daß diesen ein dominantes autosomales Gen zugrundeliegt.

Bei unterschiedlichen Syndromen mit u.a. typi-schen Manifestationen in Form von Dysgnathien und Mißbildungen im Kiefer-, Gesichts- und Schä-delbereich sind autosomal dominante Erbgänge nachgewiesen: So für Syndrome mit Kraniostenosen (Apert-Syndrom und Crouzon-Syndrom, Tab. 4). Der typische Turmschädel entsteht hier durch vorzeiti-gen Verschluß von Schädelnähten, die einen ähnli-chen Einfluß nehmen wie die eingangs beschriebe-nen Schädeldeformationen durch Kopfbandagen.

Einen autosomal dominanten Stammbaum bei Dysplasia cleidocranialis (Symptomatik Tab. 5) do-kumentiert Abbildung 13. Es ist von einer Neu-mutation beim Vater der beiden betroffenen Töchter auszugehen. Beim Bruder des Vaters zeigt sich eine befundfreie Sippe über drei Generationen. Die be-troffenen Geschwister zeigen jeweils rechts-/links-seitig verdoppelte Prämolarenanzahl im Unterkie-fer. Die syndromtypische Symptomatik der Zahn-überzahl realisiert sich hier in fast identischer Form.

Bei der älteren Schwester liegen zusätzlich überzäh-lige Zahnkeime im Frontzahnbereich vor. Multiple Persistenz von Milchzähnen (Abb. 14) und nicht nur eine Verzögerung beider Dentitionen, sondern ein in unterschiedlichem Ausmaß fehlender spontaner Zahndurchbruch in der zweiten Dentition bedingen langzeitige und umfangreiche kieferorthopädische Behandlung, die neben der allgemeinen Symptoma-tik zu Belastungen führen kann [13].

Autosomal rezessive Genwirkung (autosomal rezessiver Erbgang)

Bei der rezessiven Vererbung wird im hetero-zygoten Zustand kein klinisch erkennbares, jedenfalls kein auffälliges phänotypisches Merkmal (ggf. Mikrosymptome) gefunden. Das Merkmal manifestiert sich erst im homo-zygoten Zustand.

Die typische Übertragung erfolgt von beiden Eltern, die das defekte Gen in heterozygoter Form besitzen (Abb. 15). Seltene Stoffwechselstörungen, speziell Enzymdefekte, zeigen einen autosomal rezessiven Ergbang, wie z.B. die Phenylketonurie. Ein autoso-mal rezessiver Erbgang liegt auch bei einzelnen For-men hochgradiger Hypomineralisation des Schmel-zes vor [60] und wird bei bilateraler Transposition von oberen Eckzähnen und ersten Prämolaren ange-nommen.

Abb. 14 Röntgenpano-ramasch ich tau f nahmen (OPG) der beiden Schwe-stern mit Dysplasia cleido-cranialis jeweils im Alter von neun Jahren. Milch-zahnpersistenz, Retentio-nen und identische Zahn-überzahl im Unterkiefer (schwarz schraffiert) ver-deutlichen die typische dentale Problematik.

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

r\ rv r

9 • • 0 0 • 0 0

u u J u u 0,25 0,25 0,25 0,25

o •

O

homozygot normal, gesund

homozygot defekt, erkrankt

heterozygot = Anlageträger gesund

25% erkrankt 50% gesund Anl.Träger 25% gesund

Abb. 15 Schema der rezessiven Vererbung autosomaler Gene. Oben: Beide Eltern tragen das mutierte Gen (schwarzer Kreis) in einfacher Dosis, d.h., sie sind phänisch normal. Mitte: Trennung der elterlichen Allele bei Bildung der Keimzellen. Jede Keimzelle hat die gleiche 50%ige Chance das defekte oder das nicht defekte Gen zu erhalten. Unten: Nur der für das mutierte Gen Homozygote (ganz links) wird Merkmalsträger und erkrankt, bei vier Kindern durchschnittlich 25%, zwei Kinder (50%) haben ein mutiertes Gen, wie ihre Eltern, in einfacher Dosis und sind damit phänisch normal, ein Kind ist ho-mozygot normal und gesund (25%). Sippentafel rechts oben: Die Sippentafel verdeutlicht das typisch mendelnde Verhalten bei autosomal rezessivem Erbgang.

Vererbung X-chromosomaler Gene

X-chromosomal dominante Genwirkung (X-chromosomal dominanter Erbgang) Nur wenige Merkmale kommen auf diese Weise zu-stande. Zahnärztlich und kieferorthopädisch inter-essant ist eine 1952 erstmals beschriebene, nach die-sem Schema vererbte Schmelzhypoplasie, bei der beim hemizygoten Mann der Schmelz fast vollstän-dig fehlt, während bei einer heterozygoten Frau der Schmelz in dünner und ungleichmäßig verteilter Schicht mit Schmelzgraden und Schmelzrillen nachweisbar ist [60]. Dieses mutierte X-chromoso-male Gen tritt in noch einer Variante auf, wobei zu-sätzlich zur Schmelzhypoplasie ein offener Biß kombiniert ist. Auch für diese Dysgnathieform zei-gen sich die vorher bei der Schmelzhypoplasie be-schriebenen schweregradmäßigen Abweichungen.

X-chromosomal rezessive Genwirkung (X-chromosomal rezessiver Erbgang) Die auf dem X-Chromosom des Mannes lokalisier-ten Gene haben i.d.R. kein Allel, weil das zweite X-Chromosom fehlt und das Y-Chromosom keine

(kaum) entsprechenden Allele enthält. Ein auf dem X-Chromosom lokalisiertes defektes Gen wird so-mit vom Vater auf alle Töchter übertragen. Diese sind dann heterozygot für das Merkmal (Krankheit), da sie ein entsprechendes normales Gen auf dem mütterlichen X-Chromosom haben. Da die Söhne vom Vater nur das Y-Chromosom erben, bleiben al-le Söhne merkmalsfrei. Behaftete Väter übertragen ihr defektes Gen auf sämtliche Töchter, nie aber auf einen Sohn. Ist die phänotypisch unauffällige Mut-ter Trägerin des defekten Gens (Konduktorin) auf ei-nem ihrer beiden X-Chromosomen, so überträgt sie dieses Gen auf Söhne und Töchter. Die Häufigkeit entspricht der Verteilung eines autosomalen Gens, und es werden im Durchschnitt die Hälfte der Söh-ne und die Hälfte der Töchter das defekte Gen erben.

Letzteren „schadet" das Gen nicht, weil sie ein normales Allel haben, während die Hälfte der Söhne erkranken. Die anhidrotische (hypohidrotische) ek-todermale Dysplasie ist ein Syndrom mit typischen Merkmalen im orofazialen Bereich, welches durch ein rezessiv vererbtes mutiertes X-chromosomales Gen zustande kommt. Die Kardinalsymptome be-stehen in An- oder Hypohidrose, verminderter Spei-

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Abb. 16 Zehn Jahre alter Knabe mit hypohidrotischer ektodermaler Dysplasie. Ty-pische Charakteristika im Gesichtsbereich bei mäßiger Ausprägung der Hypertricho-se. Oligodontie mit irregulä-rer Stellung im Zahnbogen und verzögerter Durchbruchs-folge sowie teilweise typisch veränderten Zahnformen.

Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

chelsekretion, Hypotrichose und Oligodontie, sel-ten auch Anodontie in beiden Dentitionen. Das ty-pische Aussehen wird weiter geprägt von wulstigen aufgeworfenen Lippen, trockener geröteter Haut, verminderter unterer Gesichtshöhe u.a., so daß eine starke Ähnlichkeit der Betroffenen untereinander resultiert und von einem „old man face" gesprochen wird. Es sind bei dieser Form nur Männer behaftet (Abb. 16). Heterozygote Frauen (Konduktorinnen) können Mikrosymptome, wie das Fehlen einzelner Zähne (Abb. 17) und Defizite der Schweißdrüsen-funktion aufweisen [22]. Um Frauen als Kondukto-rinnen zu identifizieren, kann das Fehlen von ein-zelnen Zähnen und die Quantifizierung der Schweißsekretion, zum Beispiel mit Jod-Stärke-Re-aktionen, einen Hinweis geben. Andere Erbgänge sind für diese Syndromausprägungen in Sonderfäl-

Abb. 17 Dentale Mikrosymptome bei der Mutter des Patienten aus Abbildung 16. Die Mutter ist bei dem vorliegenden X-chro-mosomal rezessiven Erbgang Konduktorin.

len beschrieben, wobei z.B. bei autosomal rezessiver Genwirkung auch Frauen das Vollbild zeigen kön-

Multifaktorielle Vererbung (additive Polygenie und Umweltfaktoren)

Polygene Vererbung ist keine besondere Art von Ver-erbung, sondern von Genwirkung. Für die einzelnen Genpaare (Allele) kann der Erbgang jeweils ebenfalls nur rezessiv oder dominant sein.

Für das Modell der additiven Polygenie gilt als vereinfachte Vorstellung, daß mehrere (digen, trigen, .... polygen) Gene einen jeweils gleich großen Beitrag zur Merkmalsausprägung lie-fern. Das entsprechende Merkmal kann bei zu kleiner Gendosis phänotypisch nicht sichtbar und bei weiterer Addition abhängig von der ansteigenden Gendosis in unterschiedlichen Schweregraden vorkommen [76].

Das Merkmal tritt also erst nach Überschrei-ten einer genetischen Schwelle in Erschei-nung: Man spricht von additiver Polygenie mit Schwellenwerteffekt. Bei „unterschwelliger Gendosis" ist auch das „Transportieren" über die Schwelle (= klinische Merkmalsexpressi-on) bei einer Dysgnathie z.B. durch Umwelt-einflüsse möglich. Die kontinuierliche Varia-bilität der Merkmalsausprägung bzw. der Krankheitssymptome ist ein typisches Krite-rium von Polygenie.

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

Die prozentuale Häufigkeit der differenten Merk-malsausprägung entspricht dabei einer Gauß-Nor-malVerteilung. Voraussetzung für eine ideale Nor-malverteilungskurve ist das theoretische Modell einer regelmäßigen additiven Polygenie.

Für polygen bedingte Merkmale, Krankheiten oder Dysgnathien ist es weiterhin charakteristisch, daß exogene Faktoren modifizierend wirken, wobei „die fließende von der umschlagenden Modifikabi-lität unterschieden wird" [21]. Ein allgemeinmedi-zinisches Beispiel (Hüftgelenksluxation) verdeut-licht, wie Einzelkomponenten mit kontinuierlicher Variabilität ein klar von der Norm abgrenzbares Merkmal bedingen, wenn ein bestimmter Schwel-lenwert überschritten wird. Dieses Beispiel ist auch auf Dysgnathien, die sich von der Norm qualitativ unterscheiden, zu übertragen:

Im Rahmen einer multifaktoriell bedingten kontinuierlichen Variationsreihe kann Quan-tität in Qualität umschlagen.

Beispiel: Das Zusammenwirken verschiedener Einflüsse ist besonders gut für die Hüftgelenksluxation untersucht worden. Von eineiigen Zwillingen mit Hüftluxationen zeigten sich 42,7% konkordant, von zweieiigen Zwillingen nur 2,8%. Re-lativ hohe Konkordanz eineiiger Zwillinge bei niedriger Kon-kordanz zweieiiger Zwillinge spricht für die Beteiligung meh-rerer Gene. Bei ausschließlich genetischer Ätiologie wäre eine regelmäßige Konkordanz bei eineiigen Zwillingen zu erwar-ten [40],

Beispielsreihe der verschiedenen Einflüsse: Es spielt der Neigungswinkel des Pfannendachs als ein Fak-

tor für das Zustandekommen einer Hüftluxation eine Rolle. Der mehrfach häufigere Befall von Mädchen deutet in Rich-

tung von hormonellen Faktoren. Eine allgemeine Schlaffheit der Gelenkbänder wird als wei-

terer Kofalctor überdurchschnittlich häufig angeführt. Als signifikanter exogener Faktor, der zu einer manifesten

Hüftluxation führen kann, läßt sich die Beckenendlage des Kindes erfassen.

Ähnlich wie bei den Dysgnathien wird hier bei einer bestimmten, im Grenzwert festgelegten Winkelung von den Orthopäden zwischen normalem und dys-plastischem Hüftgelenk unterschieden. Die Syste-matik ist vergleichbar, das Modell bei Dysgnathien wesentlich komplexer und der Umschlag von Quan-tität in Qualität nicht punktuell festzulegen. Die Probleme der unterschiedlichen dentalen, skeletta-len, funktionellen und ästhetischen Normvorstel-lungen sind bekannt und mehrfach kritisch eva-luiert worden [58].

Das Zusammenspiel von Polygenie und Um-weltfaktoren wird als multifaktorielles geneti-

sches System (MFGS) bezeichnet. Für die Ätiologie von Dysgnathien kann allgemein von einem multifaktoriellen genetischen Sy-stem ausgegangen werden.

Die modellhafte Vorstellung, daß bei Polygenie die einzelnen Gene stets einen gleich großen biochemi-schen Beitrag für die Merkmalsexpression beisteu-ern, muß modifiziert werden. Es wird beschrieben, daß in komplexen Systemen durchaus einzelne „Hauptgene" bei Polygenie einen größeren Einfluß haben [35], Weiter ist seit langem bekannt, daß vie-le normale Merkmale des Menschen von mehreren Genen bzw. Genpaaren determiniert und von Um-welteinflüssen modifiziert werden. Diese variieren in der Bevölkerung und verteilen sich im Sinne ei-ner eingipfligen Gauß-Normalverteilung. Beispiele sind Körpergröße, Intelligenz und andere. Extrem-varianten können dabei durchaus krankhaften Cha-rakter annehmen. Auch für die meisten Dysgna-thien läßt sich eine kontinuierliche Variabilität der Merkmalsausprägung feststellen, die typischer Wei-se bei einem MFGS vorliegt. Diese quantitative Va-riabilität (Normvariationen) mit Umschlag in Qua-lität (Dysgnathie) soll beispielhaft für die Angle-Klasse-III-Dysgnathien verdeutlicht werden: So geht die extrem starke Ausprägung (skelettale Kompo-nenten mit maxillärer Retrognathie und mandi-bulärer Prognathie, ausgeprägte Weichteilmanife-station, mesiale Bißlage, frontaler Kreuzbiß mit po-sitiver Stufe) durch Abschwächen und Wegfall ein-zelner Symptome in moderate und leichte Ausprä-gungsgrade über. Ohne eindeutig definierte Abgren-zung werden alleinige Merkmale wie kräftige Un-terlippe oder isoliert vorstehendes Kinn aus klinisch therapeutischer Sicht dieser Dysgnathieform nicht mehr zugeordnet (Normvariationen). Aus ätiologi-scher Sicht ist das falsch, weil genetische Anlagen (geringe Gendosis) bei Mikrosymptomen bis hin zur klinischen Nichterkennbarkeit vorliegen. Die mög-lichen Fehler bei Familien- und Sippenuntersu-chungen liegen klar auf der Hand. Einzelne „illust-re" einseitig ausgelesene Stammbäume sind kein Nachweis für monogen dominante oder rezessive Erbgänge. Zwillingsuntersuchungen sind deshalb zur Klärung der Frage, ob quantitativ variable Merk-male oder Krankheiten tatsächlich durch additive Polygenie bzw. ein MFGS zustande kommen, von besonderer Bedeutung. Moderne molekulargeneti-sche Forschungsrichtungen konzentrieren sich zu-nehmend auf die genetische Analyse polygener

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

Krankheitsbilder. Der weitere Fortschritt dieser Analysen könnte die heute noch bedeutsamen kli-nisch orientierten Zwillings- und Familienuntersu-chungen durch verbesserte Daten objektivieren, möglicherweise sogar das konventionelle Vorgehen ersetzen.

Zwillings forsch ung

Die Zwillingsforschung basiert auf dem Ver-gleich eineiiger Zwillinge (EZ) und zweieiiger Zwillinge (ZZ). Da eineiige Zwillinge (EZ) in allen Erbanlagen übereinstimmen und zwei-eiige Zwillinge (ZZ) durchschnittlich die Hälf-te ihrer Erbanlagen gemeinsam haben, ist die Differenz zwischen EZ auf Umwelteinflüsse zurückzuführen, während die Differenz zwi-schen ZZ der Summe aus Umwelt und geneti-schem Einfluß entspricht.

Im Rahmen der Zwillingsuntersuchungen wird über-prüft, ob beide Partner eines Zwillingspaars das ent-sprechende Merkmal (Dysgnathie) besitzen oder ob es nur einer hat. Ersteres wird als Konkordanz, letz-teres als Diskordanz bezeichnet. Die Verhältnisse einzelner Zwillingspaare mit besonders ausgepräg-ten Merkmalen oder Dysgnathien sind zwar kasui-stisch interessant, für die Aussagen einer systemati-schen Zwillingsforschung jedoch nicht relevant. Folgende Kriterien sind für die Aussagekraft von Zwillings-daten von Bedeutung: Es sollten nur Zwillingspaare zur Aus-wertung herangezogen werden, deren Geburt in einem um-schriebenen Gebiet und einem umschriebenen Zeitintervall vollständig registriert wurde, ohne Rücksicht auf ein be-stimmtes Merkmal. Nur bei einer solchen systematischen Se-rie oder unausgelesenen Zwillingsserie darf man aus dem Ver-hältnis der Konkordanz bei eineiigen und bei zweieiigen Zwil-lingen auf das Ausmaß der Erbbedingtheit und die Erbgänge schließen (Tab. 6). Als Sammelkasuistik werden Serien be-zeichnet, für die ein Autor aus gegebenen Anlaß die in der Li-teratur veröffentlichten Fälle zusammenstellt und mit den ei-genen, oft zufälligen Beobachtungen ergänzt. Solche Kasuisti-ken werden meistens für die Zwillingsforschung bei Dysgna-thien angegeben. Konkordante Paare haben hier eine höhere Chance, erfaßt zu werden, als diskordante. Außerdem liegt in Sammelkasuistiken die Zahl der eineiigen Zwillingspaare meist höher als die der zweieiigen, während es nach der normalen Verteilung in der Bevölkerung umgekehrt sein müßte [37].

Bei einem ätiologisch offenen Merkmal (Dysgna-thie), lassen sich durch Zwillingsforschung folgende Fragestellungen klären: Inwiefern spielen Erbfaktoren ätiologisch eine Rollet Aus ei-ner statistisch signifikanten Häufung von Konkordanz bei ein-eiigen Zwillingen gegenüber zweieiigen Zwillingen folgt die Aussage, daß Erbfaktoren wesentlich beteiligt sind. Hierbei

Tabel le 6 Übersicht zu den Konkordanzverhältnissen bei einei igen und zweieiigen Zwil l ingspaaren unter der Vor-aussetzung einer systematischen oder unausgelesenen Zwil l ingsserie.

Konkordanzverhä l tn i s zw ischen EZ und ZZ be i un te rsch ied l i chen Erbgängen

EZ ZZ autosomal 100% 50%

zu dominant 2 1

autosomal 100% 25% zu

rezessiv 4 1

Polygenie 4 0 - 6 0 % 4 - 8 % zu

mit Exogenie (MFGS) größer 4 1

kommt es auf den Unterschied im Konkordanzgrad an, nicht auf die absolute Höhe der Konkordanz.

Welche Erbgangshypothese ist bei Merkmalen mit konti-nuierlich variabler Merkmalsausprägung wahrscheinlich! Sind Umweltfaktoren und/oder Nebengene ätiologisch betei-ligt, so werden statt der erwarteten 100% Konkordanz bei ein-eiigen Zwillingen z.B. nur noch 90%, 8 0 % oder weniger kon-kordant sein, wie es die empirischen Zahlen bei Polygenie mit Exogenie zeigen [76]. Diese Abnahme der Konkordanz bei ein-eiigen Zwillingen wird als „Abnahme der Manifestations-wahrscheinlichkeit der Anlage" bezeichnet. Sie bringt den umweltbedingten Teil der Gesamtanlage zum Ausdruck und läßt die Berechnung von Heritabilität durchführen [20],

Bleiben die prozentualen Konkordanzzahlen bei zweieiigen Zwillingen deutlich hinter den entspre-chenden Werten der eineiigen Zwillinge zurück, so ist das ein Indiz für Polygenie und wird folgender-maßen erklärt: Je höher die Zahl der zur Manifesta-tion erforderlichen Gene sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß zweieiige Partner diese Genkonstellation erben.

Die meisten Zwillingsserien bei Dysgnathien sind weder systematisch noch entsprechen sie den Anforderungen einer korrigierten Sammelkasuistik, so daß hier die umfangreich publizierten Familien-und Sippenuntersuchungen zusätzlich herangezo-gen werden müssen.

Besser strukturierte Zwillingsuntersuchungen liegen bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalten vor [41], wobei die Konkordanz-/Diskordanzraten einer un-selelctierten Zwillingsserie mit Spaltbildungen aus-weisen, daß Umweltfaktoren ebenfalls für die Merk-malsrealisation dieser Mißbildung eine Rolle spie-len (Tab. 7).

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

Tabel le 7 Unselektierte Zwill ingsserie mit Spaltbi ldungen. Die Verhältnisse dokument ieren immerhin bei etwa einem Drittel der eineiigen Zwil l inge (EZ) Diskordanz. Somit sind Umweltfaktoren für die Merkmalsrealisation mitverantwort-lich [40],

Konkordanz (K) und Diskordanz (D) bei L ippen-Kiefer -Gaumenspa l ten von Zwi l l i ngen (75 Paare)

K (%) D (%)

EZ 18(69,2) 8 (30 ,8 )

ZZ 3 (6 ,1 ) 46 (93 ,9 )

Familien- und Sippenforschung Bei nachgewiesenermaßen monogen verursachten Merkmalen oder Krankheiten zeigen Sippenunter-suchungen das typisch mendelnde Verhalten. Eine aussagefähige Zwillingsserie würde bei Merkmalen mit kontinuierlicher quantitativer Variabilität der Merkmalsausprägung (Dysgnathien allgemein) den Nachweis einer multifaktoriellen Ätiologie erbrin-gen können, d.h., daß Konkordanzverhältnis zwi-schen eineiigen und zweieiigen Zwillingen wäre größer als 4 :1 . Doch werden die meisten Zwillings-serien bei Dysgnathien nicht den Ansprüchen einer systematischen Serie oder korrigierten Sammelka-suistik gerecht [59], so daß ein Interpretationsspiel-raum für Sonderfälle bleibt. Es sind als weitere Kri-terien die Ergebnisse aus Familien- und Sippenun-tersuchungen heranzuziehen, um Erbganganalysen wiederum bei möglichst vielen unselelctierten Sip-pen zu erhalten.

Die Stammbäume der Familien und Sippen zeigen unterschiedliche standardisierte Symbole, um die untersuchten Individuen und deren Verwandt-schaftsgrad zu kennzeichnen (Kreis = weiblich, Viereck = männlich, teilweise oder vollständig ge-schwärzte Symbole kennzeichnen die Merkmals-ausprägung, römische Zahlen am linken Rand be-zeichnen die erfaßten Generationen).

Die Aussagefähigkeit von Sippenuntersuchungen hängt von der Art der Merkmalserfassung bei den einzelnen Sippenmitgliedern ab. Bei Dysgnathien sind z.B. klinische Untersuchungen unter Festle-gung des Gesamtmerkmals, Modelluntersuchungen oder Analysen von Röntgenaufnahmen und Foto-grafien möglich. Ungeeignet erscheinen anamnesti-sche Befragungen über ähnliche Dysgnathien in der Verwandtschaft. Die Zahlenverhältnisse aus Sip-pen- und Familienuntersuchungen werden durch Probandenauslese und Familienauslese verzerrt, da sich eine Anreicherung behafteter Sippenangehöri-

ger ergibt. Unterschiedliche rechnerische Korrektu-ren sind möglich. Bei der Interpretation der Sippen-untersuchungen geht es für die einzelnen Dysgna-thieformen insbesondere um die Frage, welcher Erb-gangshypothese der Vorzug zu geben ist: Es kann sich um ein dominantes autosomales Gen mit her-abgesetzter Expressivität und Penetranz handeln oder um additive Polygenie bzw. um ein multifak-torielles genetisches System. Folgende Trends bei Sippenuntersuchungen sprechen überwiegend [59, 60] für letzteres:

Anders als beim dominanten Erbgang sind häufig Kinder bzw. Geschwister behaftet, auch wenn keiner der Eltern die Dys-gnathie auf weist.

Das Risiko für nahe Verwandte des Probanden, ebenfalls die Dysgnathie aufzuweisen, wächst mit dem Ausprägungsgrad beim Probanden selbst. Bei Dysgnathien mit einem hohen An-teil an exogenen Faktoren ist das weniger deutlich ausgeprägt.

Die Zahl der Behafteten geht mit abnehmenden Verwandt-schaftsgrad deutlich zurück und nähert sich schließlich der Merkmalshäufigkeit in der Bevölkerung.

Spezielle Ätiologie und Pathogenese

Bei der Darstellung der allgemeinen Grundlagen der klinischen Genetik konnte bereits an unterschied-lichen Beispielen auf die differenzierte Problematik von Dysgnathien hingewiesen werden, obwohl fließende Übergänge und Kombinationen möglich sind. Die speziellen Ausführungen zur Ätiologie und Pathogenese lassen sich folgendermaßen diffe-renzieren: • Einzelzahnabweichungen: Fehlstellungen,

Fehler der Zahnzahl (Nichtanlagen, Überzahl), wurzellose Zähne, Strukturfehler (Schmelz-Dentindysplasien) u.a.

• Dysgnathien bei Syndromen ® Dysgnathien bei Krankheiten ° Dysgnathien allgemein = Dysgnathien hei

Gesunden Die größte Häufigkeit und entscheidende praktische Bedeutung für die Kieferorthopädie haben Dysgna-thien bei ansonsten gesunden Kindern und Er-wachsenen, die folgend als Dysgnathie bezeichnet werden. Die Besprechung der ersten drei Differen-zierungen erfolgt in sehr kurzer Form, wobei ins-besondere auf fließende Übergänge und Kombina-tionen mit den Dysgnathien allgemein hingewiesen wird. Die zuletzt genannten Dysgnathien werden ausführlich, in unterschiedliche, typische Formen differenziert dargestellt.

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

Einzelzahnabweichungen

Die ätiologischen Untersuchungen zu diesem Kom-plex sind umfangreich und können in diesem Rah-men nur punktuell berücksichtigt werden, wenn sie z.B. durch Kombinationsmöglichkeiten für die Ätio-logie der allgemeinen Dysgnathien bei Gesunden von Bedeutung sind [70, 71].

Für die Nichtanlage von einzelnen Zähnen exi-stieren offensichtlich autosomal dominant wirken-de Gene. So wurde kürzlich beschrieben, daß Hyp-odontien familiär auftreten, wenn Mutationen in den Homeobox-Genen MSX 1 bzw. MSX 2 vorliegen [45, 75]. Eine möglicherweise ebenfalls monogeneti-sche Basis für Ecl<zahn-/Prämolarentranspositionen und palatinal verlagerte Eckzähne in Kombination

Tabe l le 8 Übers icht zu einigen ausgewähl ten für die Kieferorthopädie re levanten Syndromen mit stark verein-fachter Di f ferenzierung nach E inze lsymptomen im Zahn-, Kiefer-, Schädelbere ich.

Syndrome mit stark vereinfachter Differenzierung nach Einzelsymptomen im Zahn-, Kiefer-, Schädelbereich

Fehler der Zahnzahl, Wurzellosigkeit, Zahndurch-bruchsretardierung

Dysplasia c le idocranial is Scheuthauer-Mar ie-Sain ton-Syndrom

ektodermale Dysplas ie -anhidrot ischer (hypoh.) Chr is t -Siemens-Touraine-Syndrom

Dent indysplasie Typ I radikuläre Dent indysplas ie

Kraniostenosen mit Turmschädel

Dysostosis craniofacial is Crouzon-Syndrom Akrozephalosyndakty l ie Typ 1 Aper t -Syndrom

Unterkiefer-, Mit telgesichtshypoplasien

Robin-Sequenz Hemifazia le Mikrosomie Go ldenhar -Syndrom = H.M. mit Augenbete i l igung, Dysostosis mandibulofacia l is Franceschet t i -Syndrom

Unterkiefer-, Gesichtsüberentwicklung

Akromegal ie Mar ie -Syndrom Hemihyper t rophie, = uni lateraler Gigant ismus id iopathische

Hemihyper t roph ia faciei = partiell vo rkommend

mit schmalen seitlichen Schneidezähnen [49] er-scheint von praktisch-kieferorthopädischem Inter-esse. Der Skizzierung eines individuellen Stamm-baums im Rahmen der Familienanamnese kommt damit prognostischer Wert zu. Dabei dürfen die nachgewiesenen ätiologischen Assoziationen im Sinne einer Variabilität zwischen Unterzahl, Ver-kleinerung der Zahnkronen und Spätanlagen (= Ent-wicklungsverzögerungen von Zahnanlagen als Mi-krosymptome) nicht unberücksichtigt bleiben [24]. Auch tierexperimentelle Ergebnisse untermauern, daß sich Fehlbildungen der Zahnanlagen im Rah-men einer teratologischen Reihe der Unterkiefer-dysplasien realisieren. Die Zahnleiste ist gezwun-gen, sich bei ihrer Invagination in das Mesenchym den gegebenenfalls veränderten räumlichen Verhält-nissen anzupassen [52], Bereits 1951 [19] stellte eine damals bahnbrechende Untersuchung an unter-schiedlichen Inzuchtstämmen von Mäusen fest, daß das Vorhandensein oder Fehlen des dritten Molaren kein klar alternatives Merkmal ist. Die gemessene Größenverteilung entspricht einer kontinuierlichen Variablen mit einem mehr oder weniger breiten Schwellenwert bei dessen Unterschreiten die Aus-bildung des Zahns dann völlig unterbleibt.

Dysgnathien bei Syndromen

Bei einer Vielzahl von Syndromen kommt es durch typische Störungen der Zahnzahl und/oder von Wachs-tumsstörungen und Mißbildungen im Kiefer- und Schädelbereich zu syndromtypischen Dysgnathien.

Syndrome sind Muster ätiologisch verknüpf-ter Symptomenkomplexe, wobei die Ätiologie und der pathogenetische Entstehungsmecha-nismus überwiegend unbekannt ist. Krank-heit ist ein ätiologisch und pathogenetisch de-finiertes Erscheinungsbild.

Einige ausgewählte Syndrome wurden insbesondere hinsichtlich ihrer Hauptauffälligkeiten im Kiefer-, Gesichts- und Schädelbereich in den Abschnitten zur klinischen Genetik ausführlich beschrieben. Be-steht im Rahmen einer klinischen Symptomatik so-wie der Familienanamnese der Verdacht, daß Ein-zelzahnfehler oder Dysgnathien mit anderen Sym-ptomkomplexen verknüpft sein könnten, so bieten umfangreiche Atlanten und Nachschlagewerke [17, 32, 79] die Möglichkeit zu weiterer Information. In Tabelle 8 ist ein kleiner Ausschnitt lcieferorthopä-disch interessanter Syndrome zusammengestellt,

Überzahl und Retent ionen

Unterzahl, Zahnlosig-keit

s tummelhaf te oder keine Wurzeln

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Ätiologie und Pathogenese von Dysgnathien

wobei eine vereinfachte Zuordnung zu einem Hauptsymptom der gestörten Zahn-; Kiefer- oder Schädelentwicklung erfolgt.

Dysgnathien bei Krankheiten

Unterschiedliche Krankheiten und Mangelzustände können sich auf die Dentition sowie die Kieferge-sichtsentwicklung auswirken. Folgend werden zwei häufig zitierte Beispiele beschrieben.

Akromegalie Das Krankheitsbild der Akromegalie beruht auf ei-ner Überproduktion von Wachstumshormon, wofür i.d.R. ein Adenom oder eine Hyperplasie der azido-

philen Zellen des Hypophysenvorderlappens verant-wortlich ist.

Über die in der Leber gebildeten Somatomedine wirkt das vermehrt gebildete Wachstumshormon (STH) auf alle Körpergewebe und führt zu einem ver-mehrten Wachstum der bindegewebigen und ske-lettalen Stützgewebe, der inneren Organe, der Mus-kulatur und der Haut.

Beginnt die Erkrankung bereits in der Pubertät, entsteht ein hypophysärer Riesenwuchs. Erst nach Abschluß des normalen Knochenwachstums führt eine Überproduktion von Wachstumshormon zum typischen Krankheitsbild der Akromegalie, das äußerlich gekennzeichnet ist durch die selektive

Abb. 18 a) Deutlich vergrö-ßerte Sellaregion in der Fern-röntgenseitenaufnahme und das Profil des Patienten mit Akromegalie (s.Abb. 18 b: CT-Befunde). b) Adenom des Hypophysen-vorderlappens, dargestellt in unterschiedlichen Ebenen ei-ner CT Schichtung.

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

Vergrößerung der Akren von Extremitäten und des Kopfes.

Mit einer geschätzten Prävalenz von 50 Erkrank-ten pro 1 Million Menschen handelt es sich um eine relativ seltene Erkrankung. Wegen des schleichen-den Verlaufs und der unspezifischen Frühsymptome (Mattigkeit, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Seh-störungen, Okklusionsverschiebungen zur Angle-Klasse III, frontaler Kreuzbiß) bleibt die Akromega-lie i.d.R. lange unentdeckt. Eine regelmäßige visuel-le Beurteilung der Sellaregion auf Vergrößerung und Formveränderung bei der Analyse von Fernröntgen-seitenbildern in der Kieferorthopädie könnte einer Früherkennung dienen (Abb. 18 a u. b). Die meisten Patienten sind bei Diagnosestellung zwischen 30 und 50 Jahre alt und zeigen bereits ausgeprägte alcro-megale Veränderungen, wobei neben den „bären-tatzenartig" vergrösserten Händen und Füßen, vor allem die klinischen Veränderungen im Kiefer-Gesichtsbereich auffällig sind [55] (Tab. 9).

Tabe l le 9 Befunde im Mund-Kiefer -Gesichtsbere ich bei Pat ienten (n=15) mit gesicherter Akromegal ie [55].

Manifestationen der Akromegalie im Mund-Kiefer-Gesichtsbereich

Häufigkeit

Klinische Befunde

vermehr te Weichte i ld icke 15/15

temporomand ibu lä re Dys funk t ionssymptome 15/15

Makroglossie 15/15

Hypertrophie der Wangensch le imhaut 12/15

l inguale Exostosen 10/15

Vergrößerung des UK-Zahnbogens 15/15

dysgnathe B ißbez iehung: 15/15

- Angle-Klasse III 13/15

- Kreuzbiß 12/15

- frontal offener Biß 8/15

- seitl ich offener Biß 2/15

Rachitis Die von einem Londoner Arzt im 17. Jahrhundert erstmals beschriebene klassische Vitamin-D-Man-gel-Rachitis (auch englische Krankheit) ist durch die systematische Vitamin-D-Prophylaxe heute selten geworden. Pathogenetisch liegt eine verminderte Sekretion des Vitamin-D-Hormons Calcitriol zu-grunde, verursacht durch mangelnde Sonnenein-strahlung auf die Haut in Kombination mit zu ge-ringer Zufuhr der wichtigen Vorstufen Vitamin D2

oder Vitamin D3 mit der Nahrung. Der Vitamin-D-Mangel führt zu einem Ungleichgewicht des extra-

zellulären Calcium-Phosphat-Stoffwechsels, das Mi-neralisationsstörungen der Knochen und Zähne ver-ursacht. Klinisch findet sich je nach Schweregrad und Dauer der Erkrankung ein breites Spektrum an Skelettveränderungen: Zu den häufigsten skelet-talen Manifestationen zählen Veränderungen des Schädels (Caput quadratum, Stirnhöcker), der Rip-pen (rachitischer Rosenkranz: Auftreibungen an der Knorpel-Knochengrenze der vorderen Rippen-enden), Auftreibungen der Gelenke (Zwiegelenk, Perlschnurfinger) sowie Veränderungen der langen Röhrenknochen bis hin zum Minderwuchs.

Intraoral finden sich symmetrische Schmelzhypo-plasien der bleibenden Zähne, deren Lokalisation vom Zeitpunkt der Mangelphase und der jeweiligen Mineralisationsphase der Zähne abhängt (Haupt-erkrankungsalter dritter bis zwölfter Monat: ent-sprechend betroffen sind Schneidezähne, Eckzähne, erste Molaren). Die Zungenhypoplasie mit Abfla-chung des unteren Schneidezahnbogens (Schmid-Gussenbauer-Linie) und die oft stark ausgeprägte transversale Einengung der Zahnbögen mit Lyra-form des Oberkiefers sowie der skelettal (rachitisch) offene Biß mit vergrößertem Gonionwinkel und ver-kürztem aufsteigenden Unterkieferast, gehören zur typischen Symptomatik. Im seitlichen Fernröntgen-bild sind zusätzlich eine kurze vordere Schädelbasis und der sog. Masseterknick (antegonial notehing) auffällig, der durch Aufbiegung des schlecht mine-ralisierten Unterkiefers unter dem Zug der Kau-muskeln hervorgerufen wird [28],

Dysgnathien allgemein (Dysgnathien bei Gesunden)

Für einige ausgewählte typische Dysgnathieformen erfolgt die Gliederung nach den relevanten Schwer-punkten: • Leitsymptome • Ätiologie • Merkmalsvariabilität • Pathogenese

Angle-Klasse I: Mißverhältnis zwischen Zahn-und Kiefergröße Leitsymptome

Platzmangel oder Platzüberschuß resultieren aus einer disharmonischen Kombination von Zahngröße und Kiefergröße. Primärer Eng-stand oder primärer Weitstand (generalisiertes Lückengebiß) sind typische Symptome.

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

Ein isoliert vorliegendes Mißverhältnis zwischen Zahn- und Kiefergröße wird der Angle-Klasse I zu-geordnet. Kombinationen mit Dysgnathien der Angle-Klasse II und III sind entsprechend möglich. Bei moderatem Platzüberschuß können sich die re-lativ zu kleinen Zähne unterschiedlich verteilen, so daß als Leitsymptom eine Lücke in Form eines Dia-stema mediale superior entsteht. Daraus resultieren fließende Übergänge zu dem Diastema, das eigent-lich als eigenständiges Merkmal ätiologisch behan-delt wird und in Erscheinung tritt [18].

Merkmalsvariabilität. Unter Zahngröße wird in der praktischen Kieferorthopädie die meßbare mesio-distale Zahnbreite verstanden, wobei erhebliche Variationen beschrieben werden. Es handelt sich um ein quantitativ kontinuierlich variierendes Merk-mal mit eingipfliger Verteilungskurve und nicht um ein alternativ verteiltes Merkmal im Sinne von groß oder klein. Ohne Extrem Varianten schwankt z.B. die Breitensumme der vier oberen Schneidezähne (BSI) etwa zwischen 28 mm und 36 mm. Die Fest-legung groß oder klein erfolgt wiederum ohne kon-krete Grenzen in Form von Zahlen im oberen re-spektive unteren Intervallbereich.

Das Merkmal Kiefergröße entzieht sich präziser komplexer meßbarer Beurteilung und somit auch einer einfachen alternativen „Groß- oder Kleinein-stufung". Es kann differenziert werden zwischen den stärker umweltbeeinflußten alveolären Bereichen und den stärker genetisch determinierten Kieferbasis-regionen. Modellanalysen liefern zu ersteren, Fern-röntgenfrontalanalysen zu letzteren Einstufungskri-terien, die sich an Normwerten orientieren. Bei Eug-nathie kann ein als normal groß eingestufter Kiefer mit durchschnittlich großen Zähnen vorliegen. Kombiniert sich aber eben diese normale Kiefer-größe mit überdurchschnittlich großen Zähnen, so resultiert eine disharmonische Merkmalskombina-tion, die als Dysgnathie, und zwar als primärer Eng-stand, klassifiziert wird. Die Variabilität ist fließend und der Beeinflußbarlceit durch Umweltfaktoren so-wie den dadurch eröffneten Kompensations- oder Dekompensationsmechanismen des dentoalveolä-ren Bereichs kommt große Bedeutung zu [61, 80],

Ätiologie

Zwillingsuntersuchungen weisen für die Zahngrößen in ihrer mesiodistalen Ausdeh-nung einen höheren genetischen Bindungs-grad aus als für die Al veolarfortsatzmaße.

Für die Breitensumme der Inzisivi (BSI) liegt der He-ritabilitätswert sogar höher als für die Einzelzähne. Das spricht für einen genetisch gesteuerten Größen-abgleich der Zahnkronen während der Genese [20], Klinisch findet dies z.B. seinen Niederschlag in Plus-Minus-Varianten benachbarter Zähne mit Kompensation in anderen Quadranten. Polygenie mit einem deutlich modifizierenden Umweltanteil für Breitenmessungen des Ober- und Unterkiefers bestätigen auch Zwillingsuntersuchungen an ande-ren Rassen [65]. Quantifizierend drückt das der In-dex zwischen genetischen und Umweltstandard-deviationen aus (Quotient = 2,1), d.h., genetische Faktoren haben auf die apikale Basis einen doppelt so großen Einfluß wie Umwelteinflüsse [38]. Fami-lienuntersuchungen bestätigen die polygene Deter-mination von Körpergrößen und Zahngrößen [12], wobei zum Teil die Größe aller Zähne oder auch nur die bestimmter Zähne durch Gene im polygenen Verbund beeinflußt wird. Deshalb ist die Vorstel-lung abwegig, man könne im Sinne der Mendel-Erb-gänge „große" Zähne vom Vater ererben.

Die Konstruktion „große Zähne vom Vater" und „kleiner Kiefer von der Mutter" trifft für das Mißverhältnis zwischen Zahn- und Kie-fergröße nicht zu. Im individuellen Fall wird die Zahngröße durch die Kombination der ent-sprechenden Gene bestimmt, die ein Kind von den Eltern erbt. Familienuntersuchungen zei-gen allerdings, daß Kinder „großzähniger El-tern" auch häufiger große Zähne haben, als Kinder „klemzähniger Eltern".

Für die Kiefergröße kommen ebenfalls nur Polygene in Betracht, wobei hier eine komplexe Ätiologie mit epigenetischen Einflüssen in Zusammenhang mit der Schädel- und Gesichtsschädelgröße sowie Mus-kel* und Weichteilmorphologie und Funktion zum Tragen kommt. Ein hoher Anteil exogener Einflüsse wirkt modifizierend ein. Die Kiefergröße ist wei-terhin nicht unabhängig von dem Faktor Zahn-größe oder allgemeiner von dem Faktor Zahn, „im Sinne von Zahnzahl, Wurzellänge, funktioneller Kauintensität" [74],

Pathogenese. Lückenbildung im Milchgebiß ist physiologisch, während ein lückenloses Milchgebiß bereits häufig die Entwicklung eines Engstands im Wechselgebiß prognostizieren läßt [72]. Umweltfak-toren wie Lutschhabits und Mundatmung verstär-ken oder wirken im Sinne eines Schwellenwert -

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

effekts bei polygener Grundlage für das Mißverhält -nis zwischen Zahn- und Kiefergröße. Insbesondere im Oberkiefer ist eine höhere Umweltlabilität vor-handen. Mangelhafte Kauintensität dürfte als so-genannter Zivilisationsfaktor in der Pathogenese wirken, da die genetisch determinierten durch-schnittlichen Zahngrößen seit Jahrhunderten weit-gehend unverändert geblieben sind [77].

Angle-Klasse II/l: mandibuläre Retrognathie Leitsymptome. Eine vergrößerte sagittale Front-zahnstufe resultiert aus dem Ausmaß der distalen Bißbeziehung (skelettal und/oder dentoalveolär) so-wie der Proklination der oberen Frontzähne [23], Der Oberkiefer ist transversal zu schmal, wobei die Interpretation eines „Mißverhältnisses von Zahn-und Kiefergröße" hier nicht üblich ist, da durch die Frontzahnproklination eine lückige maxilläre Frontzahnstellung vorliegt. Sekundär treten im Un-terkiefer Elongationen der Frontzähne und Fehlstel-lungen je nach Abstützung und Zungeneinfluß auf.

Merkmalsvariabilität

Für den Schweregrad des Distalbisses liegt eine kontinuierliche quantitative Variabilität der Ausprägung vor. Diese trifft für die ske-lettalen Komponenten ebenso wie für die den-talen zu.

Das Fehlen einer Differenzierung und einheitlichen Definition der „Schwelle zum normalen" stellt ei-nen Kritikpunkt in unterschiedlichen ätiologischen Untersuchungen dar [67]. So wird ab einem Distal-biß von einer halben Prämolarenbreite (PB) und größer „das Merkmal" diagnostiziert, ein Viertel Prämolarenbreite und weniger bleibt i.d.R. un-berücksichtigt. Die bilateralen Distalbißgrade über-wiegen in 65% gegenüber hälftenungleichen (22,7%) und unilateralen (12,3%), wobei für die letztgenannten Formen oklclusale Vorkontakte mit Abgleiten asymmetrisches Wachstum verursachen können, wie tierexperimentelle Ergebnisse bewei-sen [29].

Abb. 19 Unterschiedliche Stammbäume von Familien mit Angle-Klasse-ll/1 -Dysgnathien. Die differente Schwärzung der Symbole deutet die Unterschiede im Ausprägungsgrad der Dys-gnathiesymptome an. Diese kommen sowohl durch eine unter-schiedliche Gendosis bei additiver Polygenie als auch durch die verschieden starke Einwirkung von Umweltfaktoren zustande. Umzeichnung [68].

Erbfaktoren maßgeblich beteiligt sind. Dieses Ver-hältnis gibt noch keinen gesicherten Hinweis auf Polygenie, bei der ein Verhältnis von mehr als 4:1 ge-fordert wird. Auf der anderen Seite spricht das ge-fundene Drei-zu-eins-Verhältnis nicht gegen Poly-genie bzw. ein MFGS, wenn das Merkmal, hier der Distalbiß, mit kontinuierlicher Variabilität auftritt, größere Häufigkeit vorliegt (Distalbiß gesamt: 33%, Klasse II/l 25%) und Familienuntersuchungen keine typisch monogenen Erbgänge zeigen. Umfang-reiche systematische und überwiegend modelldoku-mentierte sowie alcribisch nach formalgenetisch erforderlichen Korrekturverfahren ausgewertete Sip-penuntersuchungen [68] weisen additive Polygenie aus, wobei Umweltfaktoren mehr oder weniger deutlich mitbeteiligt sind. Einen Ausschnitt von Stammbäumen aus dieser Untersuchung zeigt Ab-bildung 19.

Ätiologie. Die über lange Zeit und durch zahlrei-che Publikationen gestützte Annahme, daß die Angle-Klasse II/l der Prototyp einer überwiegend umweltbedingten Dysgnathie sei, konnte durch Zwillingsuntersuchungen sicher widerlegt werden. Ein Konkordanzverhältnis von EZ zu ZZ von 3 : 1 zeigt an, daß bei der Entstehung dieser Dysgnathie

Pathogenese. Die Vorstellung, daß sich eine Angle-Klasse II/l dadurch entwickelt, daß sich die zweite embryonale Retrogenie (Neugeborenenrück-lage) bis zur Umstellung der Milchmolaren nicht ausgleicht, konnte nicht bestätigt werden [33], Selbst Kinder mit Robin-Sequenz (Mikrogenie, Glossoptose, Gaumenspalte) können eine hoch-

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

Abb. 20 Typische Robin-Sequenz mit Mikrogenie, Glossoptose und medianer Gaumenspalte. Günstige Un-terkieferentwicklung im Alter von sechs Jahren, unter-stützt durch Frühförderung mit einer Stimulationsplatte.

Robin Sequenz Kathrin P, * 20.02.85

03.06.85 11.06.91

gradige Rücklage der Mandibula verhältnismäßig schnell aufholen (Abb. 20).

Zu der mit dem Bild des Pantoffelvergleichs um-schriebenen Vorstellung, nach der sich der Unter-kiefer („Fuß") wegen der bestehenden transversalen Oberkieferenge („zu kleiner Pantoffel") nicht nach vorne verlagern kann, lassen sich für die Atiopatho-genese keine allgemein gültigen Bestätigungen fin-den. Im Umkehrschluß zeigen klinische Erfahrun-gen, daß bei isolierter Expansion des Oberkiefers keine spontane Vorwärtsentwicklung des Unterkie-fers erfolgt. Für im Alter von sechs bis acht Jahren diagnostizierte Angle-Klasse-II/1-Dysgnathien wird berichtet, daß 96,7% der Kinder ihren Distalbiß oh-ne Behandlung auch noch im Alter von 12-14 Jahren hatten. Eine mit dem Alter zunehmende Ausprä-gung des Distalbisses, des Überbißgrads und der sa-gittalen Frontzahnstufe weisen pathogenetisch auf eine progressive Dysgnathie mit geringer Neigung zum Selbstausgleich hin. Genetische Faktoren be-stimmen nach Heritabilitätsangaben 40-50% der totalen Variabilität der sagittalen Frontzahnstufe [37]. Zahlreiche Umweltfaktoren wirken bei vorlie-gender polygenetischer Determination an der Merk-malsexpression und Progression mit: Lutschhabits, Mundatmung, Lippen- und Zungendyskinesien, ungünstige Schlaflage, Hyperplasie der Tonsillen und adenoide Wucherungen [36, 56],

Mangelnde Selbstausheilungstendenz, die Pro-gression dieser Dysgnathie und auch weitere krank-heitsauslösende Faktoren wie parodontale Probleme

durch Einbisse in die Gaumenschleimhaut [6], in-kompetenter Lippenschluß, psychosoziale Faktoren und die überdurchschnittlich hohe Frontzahntrau-matisierung begründen in ausgeprägten Fällen eine Frühb ehandlung.

Angle-Klasse II/2: Deckbiß Leitsymptome

Steil stehende, reklinierte, relativ und absolut verlängerte obere Frontzähne differenzieren die Angle-Klasse II/2 von Formen der Angle-Klasse II/1 oder auch Angle-Klasse-I-Dysgna-thien mit Tiefbiß. Beim klassischen Deckbiß sind nur die mittleren oberen Inzisivi rekli-niert, während die seitlichen prokliniert und rotiert überlappend stehen.

Diese typische Deckbißstellung kann auch nur ein-seitig auftreten und auf der anderen Seite mit der ty-pischen Frontzahnstellung der Angle-Klasse II/1 kombiniert sein (Abb. 21) oder auch alle oberen Frontzähne betreffen, was als sogenannter breiter Deckbiß bezeichnet wird. Eine Tiefbißsymptomatik bis hin zum vollständigen Überdecken der unteren Frontzähne mit dentalen und skelettalen Kompo-nenten ist charakteristisch und für die deutsche No-menklatur Deckbiß maßgebend. Signifikant redu-zierte Zahngrößen [48] in Kombination mit normal entwickelten Kiefergrößen könnten die Reklination der oberen Frontzähne fördern. Die Distalbißhäufig-

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

Abb.21 Einseitige Deckbiß-stellung spricht ätiologisch für die Bedeutung der Lip-penanlagerung beim Front-zahndurchbruch. Im vorliegen-den Fall wird anamnestisch ein zeitlich unterschiedlicher rechtsVlinksseitiger Front-zahndurchbruch angegeben. Familiär liegen differente Ausprägungen jeweils sym-metrischer Deckbißformen beim Bruder und bei den El-tern vor.

keit (dentoalveoläre Unterentwicklung, skelettale Unterkieferrücklage) liegt bei 60-80%. Die verblei-benden 20-40% mit Neutralbiß werden dann nur aufgrund der typischen Frontzahnstellung in die Angle-Klasse II/2 eingeordnet. Häufig imponiert ein prominentes gut konturiertes Kinn, wobei aller-dings der mandibuläre dentoalveoläre Komplex re-lativ zur gut entwickelten Unterkieferbasis retrusiv erscheint. Weiterhin liegen ein typisches kurzes Un-tergesicht mit regelmäßig kompetentem Lippen-schluß und überdurchschnittlich häufiger Nasen-atmung vor. Die sogenannte große apikale Basis läßt sich nicht verifizieren, sie wird durch die reklinier-te Frontzahnstellung vorgetäuscht. Schädelpräpara-te verdeutlichen diesen Effekt. Das Großnasenprofil ist im Kindesalter nicht festzustellen. Sollte es sich später entwickeln, so beruht die große Nase nicht auf einer Hyperplasie der Maxilla.

Merkmalsvariabilität

Die obligaten Merkmale wie Frontzahnrekli-nation und tiefer Biß variieren quantitativ kontinuierlich. Gleiches gilt für die Distal-bißlage, die mit schweregradmäßiger Abnah-

me fließend in eine neutrale Bißbeziehung übergeht.

Dabei ist der deutschen Bezeichnung Deckbiß der Vorrang zu geben, Übersetzungen dieser Nomenkla-tur mit „Cover-bite" [49] ins Englische haben sich nicht durchgesetzt. Weiterhin läßt sich, worauf be-reits ANGLE in seiner Klassifikation hingewiesen hat, ein hoher Prozentsatz an unilateralen Klasse-II-Bißbeziehungen kombiniert mit unilateralen Klas-se-I-Bißbeziehungen feststellen. Kephalometrische Studien weisen eine breite Variation der Analyse-parameter aus [44, 46] und identifizieren lediglich die Frontzahnstellung als diskriminierendes Merk-mal zur Angle-Klasse II/l. Auch typisierende funk-tionelle Faktoren lassen sich bei kritischer Über-prüfung nicht als für den Deckbiß verallgemeine-rungsfähig herausstellen [64]. Somit werden bei kontinuierlicher Merkmalsvariabilität Extremvari-anten als Deckbiß klassifiziert.

Ätiologie. Zwillingsuntersuchungen anhand von Sammelkasuistiken zeigen für EZ-Paare in 87,5% Konkordanz und für ZZ-Paare nur in 20%.

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

Eine sehr hohe Manifestationswahrschein-lichkeit (93%) bedeutet, daß Erbfaktoren ätio-logisch für den Deckbiß von entscheidender Bedeutung sind (vorwiegend genetisch beding-te Dysgnathie).

Diese müssen nach wissenschaftlichen Untersu-chungen [60] höher eingestuft werden als z.B. für die Angle-Klasse 11/1. Ein hohes Maß an identischer Symptomatik bei eineiigen Zwillingen weist darauf hin, daß Umweltfaktoren nur wenig modifizierend wirken. Das Konkordanzverhältnis 4,4 :1 spricht für Polygenie. Die Ergebnisse systematischer Familien-und Sippenuntersuchungen [3] (304 Personen, die zu neun Sippen und 38 Familien gehören) lassen sich nur mit additiver Polygenie vereinbaren.

Pathogenese. Die Fragestellung, ob der Deckbiß bereits perinatal als steiler Stufenbiß in Erscheinung tritt, kann verneint werden. Zwischen erster (6,1%) und permanenter (6,8%) Dentition bestehen für den Deckbiß keine signifikanten Häufigkeitsunter-schiede. Allerdings äußert sich der Deckbiß im Milchgebiß nicht in gleicher Weise typisch, da die Proklination und Überlappung der seitlichen Front-zähne nicht auftritt und somit regelmäßig alle vier oberen Milchschneidezähne betroffen sind. Da diese bereits normalerweise steiler stehen, ist die Diagno-se erschwert und große Häufigkeitsschwankungen in der Literatur für das Milchgebiß damit erklärbar [66]. Lutschhabits bewirken beim Deckbiß i.d.R. wenig Modifikationen, obwohl hier Proklination und Bißöffnung erwünscht wären. Die genetische Basiskonstellation bestimmt, ob dieser Umweltfak-tor „nichts, etwas oder alles" bewirkt. Nicht selek-tierte Schulkinderuntersuchungen aus unserem Hause unterstützen diese Aussage [54], Anamne-stisch sollten gerade deshalb auch beim Deckbiß regelmäßig Lutschhabits abgeklärt werden.

Für die Retrusion der oberen Frontzähne, die im Wechselgebiß im Mittelpunkt des pathogenetischen Geschehens stehen, werden zwei Erklärungen diskutiert. 1. Die steile Keimlage ist primär genetisch festgelegt. 2. Bei normaler Keimlage erfolgt erst mit dem Zahndurch-

bruch eine Beeinflussung durch die hochansetzende hyper-tone Unterlippe, evtl. kombiniert durch Ansaugen der Un-terlippe unter die Zähne [14].

Für ersteres wäre die Keimstellung das entscheidende gene-tisch determinierte Merkmal, für letzteres die Weichteilkon-figuration und Funktion. Eine Kombination wäre denkbar, da funktionelle Einflüsse vom Wechselgebiß an zu einer Ver-schlechterung der Frontzahnstellung mit Zurückweichen der unteren Inzisivi und Entwicklung direkter Traumatisierungen

der Gaumenschleimhaut und der vestibulären Gingivabezirke führen. Extreme Abrasionen mit Freilegen von Pulpa bzw. ge-bildetem Sekundärdentin palatinal an den oberen und labial an den unteren Frontzähnen bis hin zum Freilegen von Wur-zelabschnitten sind krankheitsauslösende Faktoren dieser Dysgnathieform. Wegen reduzierter Umweltmodifikabilität sind Prophylaxe- und Frühbehandlungsindikationen nur sehr eingeschränkt vorhanden, funktionskieferorthopädische Maß-nahmen dagegen in der Wechselgebißperiode indiziert.

Angle-Klasse III: Mandibulare Prognathie („echte Progenie"), Maxilläre Retrognathie („unechte Progenie") Leitsymptome

Der frontale Kreuzbiß in zentrischer Kondy-lenposition stellt das klassische Leitsymptom dieses Formenkreises dar. Das Ausmaß der umgekehrten (positiven) sagittalen Front-zahnstufe wird durch kompensatorische Frontzahnmklinationen häufig abgeschwächt und durch anteriores Gleiten des Unterkiefers im Sinne einer Zwangsbißführung verstärkt.

Bei ausgeprägter Diskrepanz der sagittalen Lagebe-ziehung der Zahnbögen zueinander, wobei dentale, dentoalveoläre und skelettale Parameter zugrunde liegen können, resultiert auch eine mesiale Bißbe-ziehung, die Angle-Klasse III. Die extraorale Sym-ptomatik einer slcelettalen Unterkieferüberent-wicklung wird nicht nur durch das vorstehende Kinn („Progenie"), sondern einen insgesamt promi-nenten vorverlagerten Unterkiefer (mandibuläre Prognathie) mit positiver Lippentreppe dominiert. Umgekehrt stellt sich die skelettale Oberkieferun-terentwicklung (maxilläre Retrognathie) im Weich-teilbefund als abgeflachte Mittelgesichtsregion mit eingefallener Oberlippe dar.

Merkmalsvariabilität

Bei den Angle-Klasse-III-Dysgnathien handelt es sich um ein Merkmal mit besonders breit gestreuter quantitativer Variabilität. Der fron-tale Kreuzbiß bezeichnet lediglich einen Schwellenwert, dem eine kieferorthopädisch diagnostische Bedeutung zukommt, der je-doch ätiologisch nicht im Sinne einer alterna-tiven Merkmalsverteilung zu interpretieren ist.

Jenseits dieser Schwelle existieren ätiologisch zahl-reiche Mikrosymptome, die betroffene Probanden als Merkmalsträger kennzeichnen (z.B. kräftige Un-

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

terlippe, vorstehendes Kinn, abgeflachte Oberlippe, schmale apikale Basis im Oberkiefer, breite apikale Basis im Unterkiefer). Zusätzlich weisen umfang-reiche kephalometrische Studien an Angle-Klasse-III-Kollektiven (285 Probanden) im Vergleich zu Kontrollgruppen (210 Probanden) auf häufige Kom-binationsformen von mandibulärer Prognathie und maxillärer Retrognathie und teilweise auf eine spe-zifische Mitbeteiligung von Schädelbasisparame-tern sowie auf prolongiertes Unterkieferwachstum hin. Der kephalometrischen Analyse des gesamten Schädels [4] kommt somit nicht nur für Syndrome eine besondere Bedeutung zu, sondern diese kann auch verkürzte Schädelbasislängen und eine redu-zierte Entwicklung des nasomaxillären Komplexes im Sinne von Schädelfehlbildungen in geringem Umfang aufdecken. Bei solcher Mitbeteiligung ist die konservative kieferorthopädische Behandlungs-prognose nur bedingt günstig einzustufen. Kritische Analysen des gesamten Schädels lassen erkennen, daß es fließende Übergänge von Dysgnathien bei Gesunden zu Dysgnathien bei Syndromen gibt: „Pe-tit-Syndrom".

Ätiologie

Mit einem signifikanten Unterschied bei Zwillingsuntersuchungen zwischen der Kon-kordanzrate von EZ und ZZ liegt der Nach-weis für die deutliche Beteiligung von Erb-faktoren vor (vorwiegend genetisch bedingte Dysgnathie). Gerade für die Klasse-III-Dysgna-thien resultiert damit aus dein Konkordanz-verhältnis EZ : ZZ von etwa 7 :1 der Nachweis von Polygenie.

Im Gegensatz dazu existieren zahlreiche Beschrei-bungen von Stammbäumen mit schweren Aus-prägungsgraden der Angle-Klasse-III-Dysgnathien, welche eine mehr oder weniger regelmäßige Über-tragung von Generation zu Generation zeigen. Hier-aus resultierte die Vorstellung einer heterozygoten Wirkung eines autosomalen Gens (dominanter Erbgang). Die Bezeichnung „echte Progenie" (echt = erblich) wurde zur Verdeutlichung gewählt. Dies ist aber nicht nur wegen der fließenden Über-gänge zur Oberkieferunterentwicklung nicht ver-allgemeinerungsfähig, denn gerade diese Sonder-formen der „unechten Progenie" (unecht = nicht erblich) können selten eine monogenetische Basis haben. Für solche Sonderformen der Oberkieferun-terentwicklung, z.B. bei Nichtanlagen von seitli-

chen Schneidezähnen, werden isolierte Gendefekte, welche die Zahnunterzahl realisieren können, als ätiologisch verantwortliche Hauptfaktoren ange-sehen.

Der im Zusammenhang mit dominantem Erbgang am häufigsten zitierte Stammbaum stellt die lückenlose Übertragung der „echten Progenie" des Fürstenhauses Habsburg dar. Die auch für regel-mäßige Dominanz viel zu hohe Zahl von Belasteten dürfte Folge der immer wieder vorkommenden Verwandtenheiraten sein (Sprichwort: „Wo andere Kriege führten, haben wir geheiratet"). Dabei wei-sen die Betroffenen auch bei Polygenie überdurch-schnittlich viele gemeinsame Gene auf. Eine zu-sätzliche Verstärkung der Merkmalsexpression durch Hauptgene wird diskutiert.

Nach umfangreichen Sippenuntersuchungen unter kritischer Wertung der Mikrosymptome wird Polygenie und in geringem Umfang Um-weltfaktoren (MFGS) als Erbgangshypothese angenommen (Abb. 22).

Im Rahmen eines multifaktoriellen geneti-schen Systems (MFGS) bilden polygene und exogene Faktoren eine Funktionsgemein-schaft, wobei die exogenen Faktoren die gene-tisch determinierte Anlage gewissermaßen „über eine Schwelle in das Terrain ihrer spezi-fischen Wirksamkeit heben". Ohne geneti-sche Basis sind exogene Faktoren extrem sel-ten in der Lage, das Merkmal zu realisieren.

Eine Ausnahme machen die Lippen-Kiefer-Gau-menspalten, wobei eher die Operationstechniken als die Spaltbildung selbst für die Wachstumshem-mung des Oberkiefers und die daraus folgende Angle-Klasse-III-Dysgnathie (maxilläre Retrogna-thie) verantwortlich sind [51]. Weitere exogene Mo-difikationen können möglicherweise durch adeno-ide Vegetationen und Mundatmung, Zungenhyper-plasien und Fehlfunktionen sowie umfangreichen vorzeitigen Milchzahnverlust im Oberkiefer erfol-gen. Eine genetische Disposition ist hierbei auch ohne familienanamnestische Positiva anzunehmen. Der Beachtung von Mikrosymptomen kommt große klinische Bedeutung zu.

Eine interessante Modellvorstellung, welche die morphologisch konträre Angle-Klasse III und Angle-Klasse II als ätiologisch komplementär in Beziehung setzt, wird schematisch in Abbildung 23 verdeut-licht.

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

Abb. 22 Stammbaum über sechs Generatio-nen einer Sippe mit mandibularer Progna-thie (echter Progenie). Die jeweils geschwärz-ten Symbole sowie die Symbole mit Bild zeigen die betroffenen Proban-den. Durch die künstleri-schen Aktivitäten in der Familie konnte anhand der dargestellten Büsten sowie in der Abbildung nicht verwendeter Zeich-nungen die Dysgnathie durch die unterschiedli-chen Generationen ver-folgt werden. Wie für ein multifaktorielles System möglich, bestehen in der fünften Generation kei-nerlei Symptome auch keine Mikrosymptome ei-ner Angle-Klasse-III-Dys-gnathie. Offensichtlich ist die Gendosis hier zu ge-ring um eine Merkmalsexpression zu bewirken. In der sechsten Gneration mit deutlicher Ähnlichkeit der Enkelin zur betroffenen Großmutter realisiert sich das Merkmal wiederum als Vollbild.

Die für additive Polygenie typische eingipflige Gauß-Verteilungskurve läßt sich bei diesem komplementären Modell folgendermaßen dar-stellen: Jeweils gegenüber, an den Grenzen der Kurve, befinden sich die schweren Formen der Angle-Klasse II und der Angle-Klasse III, mit Abnahme des Schweregrads nähern sich diese kontinuierlich fließend der in der Mitte loka-lisierten Angle-Klasse I. Insgesamt weist die Kurve eine Schieflage auf, da Klasse-IIl-For-men nur mit etwa 6-10%, Klasse-II-Formen dagegen mit 20-30% Häufigkeit vorkommen. Exogene Faktoren haben bei Klasse II, insbe-sondere bei Klasse-II/1-Formen, einen größe-ren Einfluß als dies bei Angle-Klasse III der Fall ist. Diese unterschiedliche Möglichkeit der Umweltmodifikation im Sinne von Merk-malsverstärkung und Schwellenwerteffekt kann zur Erklärung der Schieflage der Kurve herangezogen werden.

Die Anglc-Klassifikation der Dysgnathien repräsen-tiert drei arbiträre Markierungspunkte auf einem morphologischen Kontinuum [5], Bei jungen Patien-ten wird in einigen Untersuchungen sogar der Schädelbasis, dem Mittelgesicht und dem Ober-kiefer bei der Differenz zwischen den drei Angle-

Abb.23 Für ein multifaktorielles genetisches System ist als Verteilungsmodell eine Gauß-Normalverteilung zutreffend (grau überlagerte Kurve). Bei Annahme der Angle-Klasse III (mesial) und Angle-Klasse II (distal) als ätiologisch komplementäre For-men und mittiger Einordnung der häufigsten Angle-Klasse I (neutral) ergibt sich eine etwas verzogene, aber im Prinzip der Normverteilung angenäherte Kurve. Da Umwelteinflüsse bei der Angle-Klasse II einen stärkeren ätiologischen Einfluß nehmen als bei der Angle-Klasse III sowie der Neutralbiß nicht punktuell, sondern in Grenzbereichen (in der Abb. als Schwelle bezeich-net) praktisch akzeptiert wird, so läßt sich die nicht ideale Kur-venform ausreichend im Sinne einer Normalverteilung interpre-tieren [68],

7% 68% 25% mesial neutral distal

* V2 1 Prämolaren-breite

Schwelle Schwelle

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

Klassen eine höhere Priorität eingeräumt als dem Unterkiefer.

Pathogenese. Es kommt offenbar nur selten vor, daß bereits zur Zeit der Geburt lcopfbißartige Lage-beziehungen vorliegen [42], Die dentale und skelet-tale Angle-Klasse-III-Symptomatik bildet sich zur Zeit der Milchgebißentwicklung oder zur Zeit des Zahn wechseis aus. Die Häufigkeit im Milchgebiß wird mit ca. 4% angegeben, wobei eine progressive Entwicklung zwischen dem vierten (1,06%) und dem sechsten Jahr (4,36%) zu verzeichnen ist. Selbstausheilungstendenzen sind kaum zu erwar-ten. Es liegt eine Progressivität vor, die auch von den genannten exogenen Faktoren, insbesondere relati-ve Zungengröße, Ruhelage, Funktion und Zungen-habits sowie dem Atemmodus mitbestimmt wird. Häufigkeitsangaben im Wechselgebiß liegen bei 6,2%. Positiv einwirkende Umwelteinflüsse wie ei-ne kieferorthopädische Behandlung mit einem ge-eigneten funktionellen Übungsgerät [15] können das Wachstum des Unterkiefers hemmen, so daß lediglich die polygenetisch determinierte minimale Grenze erreicht wird. Sie realisieren umgekehrt ei-ne therapeutische Förderung des maxillären Wachs-tums bis zur polygenetisch bedingten maximalen Schwelle. Eine absolute medizinische Indikation zur Frühbehandlung ist aus ätiopathogenetischer Sicht gegeben.

Frontal offener Biß: dentoalveolär, skelettal Leitsymptome

Es liegt ein fehlender Überbiß, also eine verti-kale Nonokklusion, im Fronteckzahnbereich vor. Nicht der Schneidekantenabstand, son-dern die um einige Millimeter größere (2-4 mm) Distanz zum normalen Zuord-nungspunkt der Unterkieferinzisalkante zur palatinalen Konkavität bestimmt das dentale Ausmaß.

Die dentalen Parameter des offenen Bisses sind als vertikale Abweichungen der Unterkieferinzisal-kanten von den Nullpunkten der Konkavität der Oberkieferfrontzähne zu definieren [30]. Eine verti-kale Gesichtsschädelentwicklung mit vergrößerter angulärer und linearer unterer Gesichtshöhe, verti-kal überentwickelten posterioren Alveolarfortsät-zen, einem nach dorsal statt nach kranial gerichte-ten Wachstum der beiden Gelenkfortsätze und eine vertikale (posteriore) Wachstumsrotation des

Unterkiefers kennzeichnen den skelettal offenen Biß.

Normale oder auch horizontale Wachstumsmu-ster sind Charakteristika des dentoalveolär offenen Bisses [50], Beim Vorliegen eines Lutschhabits er-scheinen typischerweise anterior verkürzte Alveo-larfortsätze und eine anteriore Rotation des Pala-tinalplanums (Spina nasalis anterior rotiert nach kranial).

Merkmalsvariabilität. Das sichtbare Merkmal offe-ner Biß variiert im Schweregrad, abhängig von ske-lettalen oder dentalen Formen. Bei skelettalen For-men ohne Lutschhabits kann der offene Biß durch wirksame Kompensationsmechanismen quasi nicht mehr sichtbar sein, obwohl eine skelettal vertikale Entwicklung vorliegt. Die Kompensation erfolgt durch anteriore dentoalveoläre Verlängerung. Ein ausgeprägtes Zahnfleischlächeln (Gummy smile) zeigt solche Kompensationen an. Weitere Besonder-heiten sind Kombinationen mit Angle-Klasse-II/1-und Angle-Klasse-III-Dysgnathien, während bei der Angle-Klasse II/2 der frontal offene Biß nicht be-schrieben wird.

Ätiologie

Zwillingsuntersuchungen zur Heritabilität von 39 kephalometrischen Variablen unterstützen die Hypothese, daß die vertikalen Parameter eine größere genetische Kontrolle im Ver-gleich zu den horizontalen auf weisen [39, 44],

Familienuntersuchungen verdeutlichen als interes-sante Reaktionsvariante, daß bei polygenetisch de-terminierten Wachstumsmustern und Gesichtsty-pen auch familiäre genetische Dispositionen für die Reaktion auf Umwelteinflüsse festzustellen sind. Unterschiedliche Adaptationen werden speziell bei reduzierter Kaubelastung und chronischer Mund-atmung genannt. Die Ätiologie der offenen Bißfor-men entspricht einem multifaktoriellen genetischen System mit einem größeren Anteil von Umweltfak-toren beim dentoalveolär offenen Biß (vorwiegend umweltbedingte Dysgnathie).

Pathogenese. Zur Zeit der Geburt ist ein leichtes Klaffen der frontalen Alveolarabschnitte physiolo-gisch. Extremvarianten bis zu 5 mm könnten die Entwicklung eines offenen Bisses möglicherweise begünstigen. Bei methodisch genauer Erfassung leichter Ausprägungsgrade werden im Milchgebiß

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Ätiologie- und Pathogenese von Dysgnathien

Häufigkeiten von bis zu 23% genannt [66], vom Wechselgebiß zum Dauergebiß erfolgt eine deutli-che Abnahme (7,1 zu 2,5%), die überwiegend mit der Selbstausheilungstendenz des dentoalveolär of-fenen Bisses nach Abstellen von Lutschhabits er-klärt wird. Die Selbstausheilungsprognose wird im individuellen Fall durch folgende Faktoren beein-flußt:

- Alter des Patienten - Dauer des Lutschhabits (gesamt, täglich) - Intensität - Richtung - Ersatzhabits - genetische Determination

Für die Ätiopathogenese des offenen Bisses sind fol-gende Umwelteinflüsse mehr oder weniger modifi-zierend von Bedeutung:

• Lutschhabits (besonders mit vertikaler Bela-stungskomponente ).

• Überdurchschnittlich langes und überdurch-schnittlich häufiges Lutschen wird bei offenen Bißformen anamnestisch festgestellt [78],

• Störungen des „dreifachen Lippenschlusses" ver-deutlichen als Modelldarstellung spezifische Störfaktoren. - Eiste Lippenschlußiegion: kompetenter Lip-

pens chluß. Störungen: Zu kurze hypotone Lippen (inkom-petent), zu hohe Vertikaldistanz, prolclinierte Frontzähne (potentiell inkompetent).

- Zweite Lippenschlußiegion: regelrechte Ruhe-lage der Zunge im Gaumen. Störungen: Prolongiertes infantiles Schlucken (über das sechste Lebensjahr hinaus), Zungen-pressen, hypotone Zungenruhelage, pathologi-sche Zungenmorphologie, Ventrokaudalverla-gerung der Zunge und folgend habituell geöff-nete Unterkieferhaltung, verstärkte Vertikali-sierung des unteren Gesichtsdrittels [27].

- Dritte Lippenschlußiegion: gesunde Verhältnis-se im Bereich der Tonsillen und Adenoide und der Pharynxregion. Störungen: Tonsillenhyperplasien, chronische Entzündungen der Adenoide, chronischer Schnupfen mit Mundatmung, dadurch Dorsal-flexion des Kopfs und verstärkte vertikale Wachstumsrotation des Unterkiefers.

Bei der Vielzahl von möglichen Umwelteinflüssen sind prophylaktische Maßnahmen und Frühbehand-lungen angezeigt.

Die Kauintensität bei naturbelassenen Ernäh-rungsgewohnheiten fördert das vertikale Wachstum des Ramus mandibulae und die anteriore Trans-lokation der Maxiila. Eine größere posteriore Ge-sichtshöhe und Ramushöhe steht in Verbindung mit stärkerer anteriorer Wachstumsrotation. Diese Er-gebnisse unterstützen die Hypothese, daß das Wachstum des Gesichtsskeletts durch den Umwelt-faktor Kaustreß reguliert wird. Minimale Kauanfor-derungen der modernen Ernährung wirken in Rich-tung einer vergrößerten vorderen Gesichtshöhe und fördern Wachstumstendenzen, die zum höheren Prozentsatz mit den okklusalen Variationen des offenen Bisses in der modernen Zivilisation zusam-menhängen könnten.

Die Ergebnisse vergleichender kephalometrischer Untersuchungen anhand von finnischem Schädel-material aus dem 16. und 17. Jahrhundert und Be-wertungen der okklusalen Parameter mittels des PAR-Index zur Gebißsituation beweisen solche Ef-fekte auch in Richtung vertikaler Wachstumsrota-tionen und erhöhter okklusaler Variationen [74],

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