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79 TITEL Gehirn unter Strom G u S Fotos: ullstein bild, Brad Howell für FOCUS-Magazin Forscher entschlüsseln die elektrischen Signale des Körpers. Sie stimulieren Neuronen, um Patienten mit Parkinson, Depression und Schlaganfall zu helfen – mit erstaunlichen Erfolgen Elektrotherapie Der US-Krebsmediziner David Schibehandelt tödliche Gehirntumoren mit Strom aus Elektro- den auf der Kopfhaut. Dieser hemmt die Zell- teilung in der Geschwulst. Onkologen sind von den positiven Ergeb- nissen überrascht FOCUS 19/2015

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Forscher entschlüsseln die elektrischen Signale des Körpers. Sie stimulieren Neuronen, um Patienten mit Parkinson, Depression und Schlaganfall zu helfen – mit erstaunlichen Erfolgen

ElektrotherapieDer US-Krebsmediziner David Schiff behandelt tödliche Gehirntumoren mit Strom aus Elektro-den auf der Kopfhaut. Dieser hemmt die Zell-teilung in der Geschwulst. Onkologen sind von den positiven Ergeb-nissen überrascht

FOCUS 19/2015

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FOCUS 19/2015

NERVENZELLFORTSATZ

IsolierschichtAxon

Am Ranvier-Schnürring liegendie Ionenkanäle im Axon frei.Sie lassen geladene Teilchenpassieren.

Die Myelinscheide ermöglicht eine sprunghafte, besonders schnelle Weiterleitung elektrischer Signale.

Axon-Ende

Rezeptoren in dernachgeschaltetenNervenzelle

Bläschen mitNeurotransmittern

Bläschen mitNeurotransmittern

Neuro-trans-mitter

Ionen

Aktionspotenzial

SYNAPSE

Nervenzellkörpermit Zellorganellen fürStoffwechsel,Zellteilung undStützfunktion Synapse

AxonRanvier-SchnürringMyelinscheide

elektrische Weiterleitungdes Aktionspotenzials

Nervenimpulseiner benachbartenNervenzelle

Axonhügel

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WISSEN & GESUNDHEIT

Der Weg der Signale im Gehirn Die 100 Milliarden Neuronen kodieren Informationen durch kurzfristige Spannungsänderungen an ihren Zellmembranen

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Eintreffende Signale von benachbarten Nervenzellen lösen Ionenströme an der Axonmembran aus. Diese ändern dort sprunghaft die Span-nung. Ein Aktions-potenzial entsteht.

Am Axon-Ende werden Botenstoff e frei. Sie er-regen oder hemmen das nachfolgende Neuron.

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NERVENZELLFORTSATZ

IsolierschichtAxon

Am Ranvier-Schnürring liegendie Ionenkanäle im Axon frei.Sie lassen geladene Teilchenpassieren.

Die Myelinscheide ermöglicht eine sprunghafte, besonders schnelle Weiterleitung elektrischer Signale.

Axon-Ende

Rezeptoren in dernachgeschaltetenNervenzelle

Bläschen mitNeurotransmittern

Bläschen mitNeurotransmittern

Neuro-trans-mitter

Ionen

Aktionspotenzial

SYNAPSE

Nervenzellkörpermit Zellorganellen fürStoffwechsel,Zellteilung undStützfunktion Synapse

AxonRanvier-SchnürringMyelinscheide

elektrische Weiterleitungdes Aktionspotenzials

Nervenimpulseiner benachbartenNervenzelle

Axonhügel

TITEL

Alle Zellen des Körpers erzeugen ihre eigenen PotenzialeIn den Nervenzellen des Gehirns ändern diese sich besonders rasch. Die Erregun-gen wandern mit bis zu 100 Metern pro Sekunde

„Wenn wir die elektrische Sprache des Körpers lernen, können wir Krankheiten besser heilen“Der Biologe Michael Levin von der Tuft s University bei Bos-ton/Massachusetts, untersucht an Frö-schen, wie elektri-sche Impulse das Wachstum und die Regeneration von Organen steuern.

Elektrische Impulse, sogenann-te Aktionspotenziale, sind dabei die Buchstaben. Dazu durchdrin-gen unzählige geladene Teilchen permanent die Zellmembranen, erzeugen Spannungen und lösen winzigste Entladungen aus. Ihnen sind Neuroforscher jetzt mit hoch-sensiblen Messverfahren auf der Spur. Damit wollen sie endlich die bioelektrische Sprache des Körpers verstehen und sprechen lernen – und die Medizin einen riesigen Schritt nach vorn bringen.

Hochtechnologische Untersu-chungsmethoden und Elektro-therapie helfen Medizinern bereits heute, Schwerstkranke mit Parkin-son, Depressionen und Schlagan-fällen zu behandeln. Die Erfolge sind beeindruckend. Gelähmte bekommen dank der Signale aus ihren eigenen Gehirnen etwas Unabhängigkeit zurück.

Aber auch ethisch fragwür-dige Anwendungen werden bereits erprobt, etwa elektrisches Gehirndoping und Gedanken-übertragungen durch Hirnwellen über das Internet. „Die neuen Erkenntnisse über die bioelektri-sche Kommunikation in unserem Körper werden all diese Gebiete der Medizin revolutionieren und unseren Umgang mit Gesundheit und Krankheit transformieren“, prophezeit Michael Levin von der Tufts University bei Boston/ Massachusetts. Er glaubt sogar, die raffi nierte Manipulation der Spannungsverhältnisse im Körper könne bald Immunkrankheiten lindern. Und sogar Krebs.

Tatsächlich stimmt jetzt eine aktuelle Studie viele Mediziner optimistisch. Krebsärzte, darunter David Schiff von der University of Virginia in Charlottesville, setzten bei Patienten mit dem bösartigen Gehirntumor Glioblastom Strom-impulse ein. Nun wurde die inter-nationale Studie vorzeitig beendet – weil die Behandlung unerwar-tet erfolgreich war. Sie zeigte so gute Resultate, dass es unethisch erschien, sie Vergleichspatienten vorzuenthalten. Elektroden auf dem Schädel der Krebspatienten richten dabei elektrische

So wollte ich nicht weiterleben“, sagt Silvia H. Suizidgedanken hatten die junge Frau seit Teenager-Tagen gequält. Allmählich raubte die hartnäckige Schwermut der jungen Frau sämt-liche Hoffnung. „Wir hatten alles probiert“, erinnert sie sich: 14 ver-schiedene Medikamente, jahre-lange Psychotherapie, sogar Elek-trokrampftherapie. Nichts konnte ihre Lebensfreude zurückbringen. „Ich musste viel weinen, aß kaum und hatte immer ein beklemmen-des Gefühl auf der Brust“, erinnert sie sich.

Doch dann erfuhr sie von einem experimentellen Verfahren, das an der Universität Bonn erprobt wird. Als erste Patientin ließ sie sich auf das spektakuläre Therapieangebot ein. Im Mai 2011 wurden ihr bei vollem Bewusstsein zwei Metall-drähte zentimetertief ins Gehirn geschoben. Diese schlossen die Ärzte an einen elektrischen Gene-rator an. Winzige, nicht spürbareStromstöße entluden sich ins Ner-vengewebe.

Was schaurig klingt, wendete das Schicksal von Silvia H.: Noch während der achtstündigen Ope-ration schenkte sie den Ärzten ihr erstes Lächeln seit Jahren. Seitdem vertreibt Strom, der gerade stark genug ist, um ein Glühlämpchen zum Leuchten zu bringen, fast alle düsteren Gedanken. Silvia H., die wieder in ihrem Beruf als labor-technische Angestellte arbeitet, sagt dankbar: „Die Ärzte haben mir mit den feinen Sonden das Leben neu geschenkt.“

Strom ist die gemeinsame Sprache aller lebenden Zellen.

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WISSEN & GESUNDHEIT

So werden einer Patientin die Elektroden implantiertFeinste Ströme, die mit Sonden tief ins Gehirn geleitet werden, regulieren Nerven-Schaltkreise für die Steuerung der Muskulatur

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2. Am Monitor wird das Zielgebiet exakt lokalisiert. Dann wird der Zugang für die bei-den Sonden so berechnet, dass sie beim Vorschieben nichts verletzen.

1. Im CT: Im Schä-delknochen der Patientin ist ein Metallrahmen fest verankert. Er dient dem Operateur zur opti-malen Platzierung der Elektroden.

4. Durch kleine Löcher hindurch senkt Neurochirurg Volker Coenen, Uni Freiburg, die Elektroden in die Tiefe. Zeitweise ist die Patientin wach, aber schmerzfrei.

3. An der Spitze jeder Elektrode befi nden sich vier Stimulationskon-takte. Die Sonden sind per Kabel mit einem Pulsgenera-tor unter der Haut verbunden.

Dystoniekrank Wiltrud H., 55, hatte die Kontrolle über ihre Muskeln an Augen und Mund verloren. Jetzt sieht und spricht sie wieder.

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TITEL

Endlich frei von quälenden Depressionen An der Universitäts-klinik Bonn bekam Silvia H., 35, von Neurochirurg Volker Coenen (l.) und Psychiater Thomas Schläpfer Sonden zur tiefen Hirnsti-mulation implantiert.

ZielstrukturGrün leuchten jene Nervenfasern im Schädel, die zum Belohnungssystem gehören. Sie sollen durch Strom aus den Elektroden erregt werden.

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Impulse auf den Tumor und sein Umfeld und halten damit das Zell-wachstum in Schach. Eine Batterie von der Größe eines Laptops dient als Energiequelle. „Krebsmedizi-ner wie ich sind natürliche Skep-tiker“, sagt Schiff. „Zu oft haben wir uns Hoffnung auf einen Durch-bruch gemacht, der dann keiner war“, so der Onkologe. Die Strom-therapie jedoch sehe er als „eine radikal neue Idee“, die künftig breitere Anwendung im Kampf gegen Krebs fi nden könnte.

Bei einzelnen Massenleiden zählen Stromimpulse schon zur klinischen Routine, vor allem bei der Parkinson-Krankheit. „100 000 Betroffene werden bereits mit Neurostimulation behandelt“, sagt der Neurochirurg Volker Coenen von der Uniklinik Freiburg. „Fast immer gelingt es, das quälende Zittern regelrecht auszuschalten und andere Probleme wie Fall-neigung und Muskelstarre zu lindern“, sagt er. Denn die elek-trischen Impulse unterdrücken die krankhaften Schwingungen in jenem Gehirnzentrum, das die Muskelaktivität steuert.

Bisher werden Patienten erst behandelt, wenn ihre Medika-mente zwar noch wirken, jedoch lästige Nebenwirkungen hervor-rufen. Einer großen Studie zufolge können aber auch Patienten in frü-heren Phasen des chronischen Lei-dens von der Therapie profi tieren. Die Operation inklusive Schrittma-cher kostet etwa 40 000 Euro und ist eine Kassenleistung. Rund 40 Zentren in Deutschland bieten sie an. Dabei hänge der Erfolg davon ab, wie sorgfältig die Patienten für den Eingriff vorbereitet und danach betreut werden, sagt Coe-nen. „Zudem ist es enorm wichtig, die Elektroden präzise im steckna-delkopfgroßen Zielgebiet zu plat-zieren“, betont der Neurochirurg. Dabei hilft ihm seit einigen Jahren ein modernes Verfahren, die Diffu-sions-Tensor-Bildgebung. Sie stellt die Nervenbahnen zwischen den einzelnen Gehirnzentren exakt dar, indem sie die Wanderung ein-zelner Wassermoleküle innerhalb des Nervengewebes registriert.

Neues dazu“, sagt der Arzt. Im Herbst startet eine neue Studie mit bis zu 60 schwerkranken Depressionspatienten.

Das US-Verteidigungsminis-terium bewilligte vor zwei Jah-ren 70 Millionen Dollar für die Erforschung von Implantaten für sieben psychiatrische Störungen, darunter Alkohol- und Drogen-sucht sowie die posttraumatische Belastungsstörung. „Die Metho-de soll Personen helfen, bei denen andere Optionen versagt haben“, sagt Darin Dougherty vom Mas-sachusetts General Hospital in Boston mit Blick auf die bessere Versorgung von Kriegsveteranen. Auch die elektronische Therapie von Gedächtnisstörungen gehört zu dem Programm: Bei Patienten mit Alzheimer-Demenz zeigten Hirn-Scans, dass ihr Zucker-stoffwechsel im Nervengewebe deutlich zunahm. Ob dies aber auch zu besseren geistigen Leis-tungen führte oder die Demenz verlangsamte, müssen weitere Untersuchungen klären.

Viele Experten halten es derzeit noch für einen Fehler, verzweifel-ten Patienten auf breiter Basis experimentelle Therapien anzu-bieten. „Solche Behandlungen müssen unter wissenschaftlichen Bedingungen streng kontrolliert durchgeführt und analysiert wer-den“, fordert Schläpfer. Er warnt auch vor zu großer Euphorie. „Strom kann die Krankheit nicht ursächlich behandeln, sondern nur deren Symptome.“ Außer-dem müsse jeder Patient auch mit Komplikationen bei der Implan-tation rechnen, vor allem Infekti-onen und Blutungen. Ganz selten bekommen die Patienten nach Implantation der Sonden Proble-me beim Sprechen oder werden ungewöhnlich reizbar. Außerdem nahm in manchen Studien das Risiko für Suizid geringfügig zu. Wesensveränderungen, die durch die Manipulation im Gehirn ent-stehen könnten, hat Psychiater Schläpfer bei seinen Patienten aber nicht beobachtet. „Wir bräuchten mehr unabhängige, seriöse Studien, fordert er.

Nicht nur Bewegungen, auch Emotionen wollen Ärzte jetzt mit Strom regulieren. Seit eini-gen Jahren wird die tiefe Hirn-stimulation gegen psychiatrische Erkrankungen eingesetzt, etwa gegen schwerste Formen von Zwangsstörungen und Depres-sionen. Ein Team um Psychia-ter Thomas Schläpfer und Neu-rochirurg Coenen hat an der Universität Bonn bereits bei 24 Schwerkranken Sonden zur Neu-rostimulation implantiert, unter ihnen auch Depressionspatientin Silvia H.

Die Mediziner wählten dazu ein Zielgebiet, das eng mit dem Belohnungssystem zusammen-hängt: das mediale Vorderhirn-bündel. „Wir stimulieren es dort, wo die Nervenfortsätze noch ganz eng zusammenliegen“, sagt Schläpfer. „So erreichen wir miteinem Drittel der Stromstärke, die in früheren Studien notwen-dig war, hervorragende Effek-te.“ Schläpfer räumt aber ein, die depressiven Symptome sei-en nicht bei allen Behandelten deutlich zurückgegangen. „Mit jedem Patienten lernen wir etwas

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WISSEN & GESUNDHEIT

Gleichstrom auf der Kopfhaut be-einfl usst ebenso wie ein Magnetfeld nur oberfl ächliche Gehirnanteile. Im-plantierte Elekt-roden stimulieren gezielt, permanent und jahrelang.

Elektroden auf derKopfhaut

Batterie

Magnetfeld implantierteElektroden

Gleichstromstimulation Tiefe HirnstimulationMagnetstimulation

Impuls-generator

„Meine Sprach-fähigkeit hat sich während des Trainings sehr verbessert“Heather De Lisle (l.) bekam nach einem Schlaganfall eine Gleichstromstimula-tion bei Agnes Flöel. Die Neurologin half der 38-Jährigen, die Worte wiederzufi nden.

Die verschiedenen Stimulationstechniken

„Es darf nicht sein, dass nahezu alle wissenschaftlichen Arbeiten mit Hirnschrittmachern von einer Hand voll Schrittmacherfi rmen bezahlt werden.“ Immerhin han-dele es sich bei der Neurostimu-lation um eine Schlüsseltechno-logie für Millionen Menschen mit Erkrankungen des Gehirns.

Die Vorteile der tiefen Hirnsti-mulation leuchten ein: Die Son-den feuern rund um die Uhr und äußerst zielgerichtet. Weil ihre Implantation aber aufwendig und riskant ist, stimulieren eini-ge Mediziner das Gehirn durch die intakte Schädeldecke hin-durch – mit Erfolg, wie Behand-lungen von Depressionskranken zeigen. Der Münchner Neurofor-scher Frank Padberg sieht noch weitere Einsatzmöglichkeiten für die Gleichstromstimulation durch die Schädeldecke. „Hät-te mir jemand vor 15 Jahren gesagt, dass ich einmal Depres-sionen mit Strom behandle, hät-te ich gedacht, der spinnt“, sagt der Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapieder Uni München. Zwar sei das Verfahren bereits seit den

60er-Jahren bekannt. Doch erst moderne bildgebende Verfahren befl ügelten die Fortschritte der Hirnstimulation.

Padberg beteiligt sich an einer Forschungsinitiative, die das Bundesministerium für Bil-dung und Forschung mit mehre-ren Millionen Euro fördert. Die Ärzte untersuchen die Wirkung der äußerlichen Hirnstimulati-on auf Patienten mit Depression und Angsterkrankungen. „Die Ergebnisse sind sehr viel ver-

sprechend“, versichert Padberg. Dabei treten nicht einmal Neben-wirkungen auf: Mehrere Tagehintereinander 20 Minuten lang Gleichstrom zu erhalten gilt als sicher. „Das ist ein enormer Vor-teil gegenüber den derzeit übli-chen Psychopharmaka“, erklärt der Psychiater.

Dass Laien aber selbstständig mit Strom auf der Kopfhaut expe-rimentieren, hält er für gefährlich: „Im Internet fi nden sich Berichte von Personen, die ihre Denkleis-

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TITEL

Dolmetscherfür die Einge-schlossenenMit dem EEG-Gerät analysiert der Tübinger Neurobiolo-ge Niels Birbaumer die Hirnwellen gelähmter Patien-ten, um ihre Gedan-ken zu entschlüsseln

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Viel schwerer behindert sind die Patienten von Niels Birbau-mer. Der renommierte Tübinger Hirnforscher hat sich den Einge-schlossenen verschrieben.

„Sie sind meine wichtigste Aufgabe“, betont der Leiter des Instituts für Medizinische Psy-chologie und Verhaltensneuro-biologie der dortigen Univer-sität. Er möchte jenen helfen, die vollständig gelähmt und sprachlos sind, dabei aber bei vollem Bewusstsein ihre Umwelt wahrnehmen. Locked-in-Syn-drom, auf Deutsch „Gefangen-sein-Syndrom“, nennt sich der gefürchtete Zustand, der nach einem Schlaganfall, Trauma oder auch nach einer Thrombose im Gehirn auftreten kann. Bislang gibt es keine Therapie für Tau-sende Betroffene, deren wacher

tung mit Strom verbessern wol-len.“ Einige davon schreiben, sie hätten sich mit den selbst gebau-ten Geräten Haar und Kopfhaut versengt. „Trifft man nicht die richtige Stelle am Kopf oder wen-det zu hohe Stärken an, kann die Elektrizität erhebliche Nebenwir-kungen verursachen, zum Bei-spiel starke Kopfschmerzen.“ Außerdem hätten Impulse an der falschen Stelle schlicht keine Wir-kung auf das Gedächtnis.

Eine neue Methode mit Gleich-strom kommt dagegen für einige Patienten in Frage, die Sprechen wieder lernen müssen. Rund 100 000 Menschen in Deutsch-land fehlen nach einem Schlag-anfall die Worte. Wie der 38-jäh-rigen Heather De Lisle aus Berlin. Bis zu ihrem Schlaganfall vor drei Jahren hatte die attraktive Fern-sehjournalistin und USA-Expertin ihre Meinung in verschiedenen Talkshows vertreten – mit mes-serscharfen Argumenten. Die akute Durchblutungsstörung zer-störte wichtige Nervenzellen im Sprachzentrum ihres Gehirns. In den ersten Monaten kamen ihr nur mehr „ja“ und „nein“ über die Lippen. Die Ärzte sprechen von Aphasie.

Bisher müssen Aphasie-Pati-enten langsam und mühselig mit speziellen Übungen um ihre Sprechfähigkeit kämpfen. Jetzt helfen Wissenschaftler an der Berliner Charité solchen Patien-ten auch mit der Gleichstrom-stimulation. Heather De Lisle nahm dort im vergangenen Jahr an einer Studie der Neurologin Agnes Flöel teil. Und tatsäch-lich: „Meine Sprachfähigkeit hat sich während des Trainings sehr verbessert“, sagt De Lisle.Zwar muss sie immer noch häufi g nach Worten suchen und spricht nicht ganz fl üssig. Aber sie kann sagen, worum es ihr geht. „Ich bin über jeden Fort-schritt wahnsinnig glücklich.“ Heute arbeitet sie ehrenamtlich in einer Suppenküche und hilft Jugendlichen und Obdachlosen – ein enormer Gewinn an Lebens-qualität.

Geist in einem unbeweglichen Körper steckt. Für sie ist eine Kommunikation mit Angehöri-gen so gut wie unmöglich.

Doch Birbaumer hat dafür eine Möglichkeit gefunden: Er nutzt sogenannte Hirn-Computer-Schnittstellen und entschlüsselt damit die Gedanken der Patien-ten. Nach 40 Jahren Forschung ist er der führende Wissenschaft-ler auf diesem Gebiet.

Auch bei Birbaumer ist Strom das Schlüsselwort. Ihm geht es um die elektrische Spannung, die unser Gehirn beim Denken produziert. Elektroden auf dem Kopf der Patienten machen die Hirnströme sichtbar. „Wir stel-len dem Patienten zunächst einfache Fragen. Er kennt die Antwort, kann sie aber nicht äußern.“ Trotzdem können die Forscher dank der Elektroenze-phalografi e (EEG) analysieren, welche Wellenmuster der Hirn-aktivität für „ja“ und welche für „nein“ typisch sind. Später kön-nen die Gelähmten sich dann zu wichtigen Fragen äußern, die ihr eigenes Leben betreffen. Die Methode ist gewissermaßen eine Verbindungstür zwischen der Innenwelt der Gelähmten und ihren Angehörigen und Ärzten. Lediglich ein EEG-Gerät und ein erfahrener Psychologe, der die Fragebögen zusammenstellt, sind notwendig. Trotzdem führt bisher laut Birbaumer niemand außer ihm das EEG-Training durch, weltweit. Dabei sind biszu 20 Prozent der Betroffenen noch in der Lage, Außenreize zu verstehen.

Demnächst wird der Hirnfor-scher mit einigen Mitstreitern vor Gericht ziehen, um eine Finanzie-rung der Methode durch die Kran-kenkassen durchzusetzen. Diese wollen den elektronischen Dialog bisher nämlich nicht bezahlen. „Ein unerträglicher Zustand für Betroffene und Angehörige“, ärgert sich Birbaumer. Denn die Gespräche mit den Gelähmten bringen Erstaunliches zutage: „Die allermeisten Locked-in-Patienten leben gerne“,

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Kommunikation jenseits natür-licher SinneFür eine viel beachte-te Studie an der Uni-versity of Washing-ton verfolgte der Proband Darby Losey (l.) eine Kampfszene auf einem Bild-schirm. Seine Gehirnwellen wurden über eine EEG-Kappe und zahlreiche Kabel abgeleitet und zu Bewegungskomman-dos umgewandelt. Diese empfi ng Jose Ceballos (r.), der iso-liert in einem ande-ren Raum saß. Sein Kopf war fi xiert. Er erhielt die Signale des Senders über eine Magnetspule am Hinterkopf und senkte unwillkürlich seinen Finger auf das Touchpad. Dies löste die Aktion im Computerspiel aus.

Analyse derGehirnwellen

Magnetstimulierungdes Gehirns

InternetDer Sender denkt intensiv an eine Handbewegung.

Beim Empfänger wird die Handbewegung unwillkürlich ausgelöst.

So funktioniert der Gedankentransfer

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betont er. Doch sobald die Mes-sungen vorbei sind, erstirbt wie-der jeglicher Dialog.

Andere Forscher gehen einen Schritt weiter und wenden Strom an Gesunden an. Sie nutzen die Technologie, um einen Traum zu verwirklichen, der bisher ins Reich der Science-Fiction gehör-te: die Gedankenübertragung zwischen zwei Gehirnen. An der University of Washington rekru-tierte ein Team um den Neuro-

wissenschaftler Rajesh Rao zwei Studenten für ein Videospiel. Der erste Proband, der Sender, bekam eine EEG-Kappe auf, die seine Gehirnaktivität beim Videospiel registrierte. Es galt, eine fi ktive Stadt zu verteidigen. Doch der Sender hatte kein Eingabegerät, um den rettenden Kanonenschuss abzufeuern. Er machte die ent-sprechenden Handbewegungen lediglich in Gedanken. So entstan-den Signale, die per Internet zum

zweiten Probanden geleitet wur-den. Der junge Mann saß in einem entfernten Gebäude, vor sich ein Touchpad, jedoch keinen Monitor. Über eine Magnetspule an seinem Kopf erreichten ihn die digitalen Befehle des ersten Videospielers. Sobald dieser die Kanone abschie-ßen wollte, schnellte die Hand des Empfängers unwillkürlich vor und löste den Abschuss aus.

Sind die geisterhaften Komman-dos mehr als ein verblüffender Stunt? Die Forscher wollen bald auch Emotionen und Aufmerk-samkeit von Gehirn zu Gehirn übertragen. Patienten, die ihre Sprachfähigkeit verloren haben, könnten sich wieder mitteilen. Und auch Gesunde würden pro-fi tieren: „Stellen Sie sich vor, ein Mathematiklehrer könnte eine mathematische Beweisführung direkt in Ihr Gehirn einspeichern, ohne Worte“, sagt Forschungslei-ter Rajesh Rao. Wie lange es noch dauern wird, bis wir alle mühelos zu Einsteins werden können, ver-rät Rao aber nicht. ■

REGINA ALBERS / JUDITH BLAGE /

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Herr Clausen, Forscher stimulieren Gehirne mit Stromstößen. Macht diese Vorstellung nicht vielen Menschen Angst?

Mancher erinnert sich an Berichte über Elektroschocks und Psychochirurgie im letz-ten Jahrhundert und fürch-tet, dass auch heutige Eingrif-fe die Persönlichkeit und das Bewusstsein verändern. Die Stimulationsverfahren haben sich aber stark verbessert und bieten heute gute Aussichten auf mehr Lebensqualität. Für einige Schwerkranke ist die

tiefe Hirnstimulation die ein-zige verbleibende Therapie. Treten denn Wesens-veränderungen auf?

Äußerst selten kommt es durch die tiefe Hirnstimulati-on zu Verhaltensänderungen bei den Behandelten, etwa zu mehr Risikobereitschaft . Aller-dings lässt sich die Stromzu-fuhr gut regulieren und so die individuell verträglichste Ein-stellung fi nden. Können Gesunde mit Strom ihre geistige Leistung steigern?

Dafür sind nur Methoden ohne Operationsrisiko akzep-tabel. Elektro-Basteleien mit Gleichstrom nach Anleitungen aus dem Internet führen aller-dings kaum zum Erfolg. Aber in Studien steigerte Strom die Lernfähigkeit durchaus.

Das mag sein. Aber wie sinn-voll ist elektrisches Hirndoping denn? Nachhaltiges Lernen geht doch immer mit Vergessen einher. Bei der Bewertung, was wirklich relevant ist, kann Elek-trizität nicht helfen. Trotzdem gehe ich davon aus, dass etwa in Militärlabors viel ausprobiert wird, um etwa bei Drohnenpi-loten die Reaktionszeit zu sen-ken oder Versuchstiere fernzu-steuern. Menschen gegen ihren Willen elektronisch zu kontrol-lieren wäre aus ethischer Sicht äußerst problematisch. ■

REGINA ALBERS

„Manipulation am Denkorgan“Von der heilsamen Therapie zum Neurodoping: Elektrische Impulse ins Gehirn haben das Potenzial zum Missbrauch. Biologe und Philosoph Jens Clausen über ethische Grenzen

Leiter der Arbeitsgruppe NeuroethikAn der Universität Tübingen begleitet Jens Clausen viele Studien zur Er-forschung der tiefen Hirnstimulation und die Anwendung bei Patienten.

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