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MEIN SPORT-BH und ich haben ein an- gespanntes Verhältnis. Das beginnt schon beim Anziehen. Die laut Wer- bung „hochelastische Hightechfaser“ gibt nicht einen Millimeter nach. Nun gut, ein BH muss stabil sein, rede ich mir dann ein, vor allem, wenn das Ding störrisch klemmt. Die roten Streifen auf der Haut nehme ich für einen guten Halt in Kauf. Aber müssen die Träger so ein- schneiden? Manchmal drückt es derart, dass mir schummrig wird. Ich muss viel ziehen und zerren, bis alles sitzt, wie es soll. Und dann drei Schichten Stoff und ein dickes Innenpolster – im Training führt das unweigerlich zu einem Wär- mestau. „Sie wollen doch auch beim Sport sexy aussehen“, muntert mich die Verkäuferin auf. „Was, wenn Sie unter - wegs den Mann Ihres Lebens treffen?“ Ich Dummerchen! Ist das Anziehen schon unange- nehm, wird das Ausziehen erst recht zur Qual. Wenn ich mich von dem nass- geschwitzten BH zu befreien versuche, sieht das aus wie eine Schlange bei der Häutung und dauert gefühlt auch so lange. Über Jahre glaubte ich, das ginge nur mir so. Aber Sportlerinnen, die ich auf das Thema ansprach, beschwerten sich ebenfalls: zu eng, zu weit, schnürt die Luft ab, quetscht mich ein, tut ein- fach nur weh. Frauenbrüste und Sport – das bedeutet eine lange Leidensge- schichte. 1887 in Wimbledon trugen die Tennisspielerinnen enge Korsetts aus Draht und Walknochen. Was stützen sollte, bohrte sich schmerzhaft und blu- tig ins Fleisch. ES DAUERTE fast 100 Jahre, bis der ers- te Sport-BH erfunden wurde: 1977 näh- ten die US-Freizeitläuferin Lisa Lindahl und ihre Freundinnen Hinda Miller und Polly Smith kurzerhand zwei „Jock- straps”, elastische Schützer für sensible Männerhoden, zusammen – fertig war der „Jockbra“. Bequem war das nicht, aber erfüllte den Zweck. Merklich verbessert hat sich die Lage seitdem nicht: 40 bis 60 Prozent der Frauen heute klagen über Brust- schmerzen beim Sport. Wie kann es sein, dass wir fast 40 Jahre nach der Pionierarbeit der Amerikanerinnen noch über unbequeme Sport-BHs reden müssen? Vor allem von Männern wur- de das Thema nicht allzu ernst genom- men. Studien gab es kaum. Warum sollte sich die Sportwissenschaft auch mit Brüsten befassen? Nun wird endlich geforscht. Der BH-Markt hat sich zu einem Milliarden- geschäft entwickelt, und Marken wie Victoria’s Secret oder Lululemon wollen im Sportsektor mitverdienen. Inzwi- schen weiß man: Die Anforderungen an einen Sport-BH sind hochkomplex. Beim Joggen etwa wippt die weibliche Brust je nach Größe bis zu 15 Zenti- meter auf und ab. Zudem schwingt sie nach rechts und links. Schlecht gestützt, schmerzt das und verändert sogar den Laufstil, wie Forscher der Universität Portsmouth nachgewiesen haben. Den perfekten Sport-BH gibt es noch nicht, da sind sich die Experten einig. Bewegungsfreudigen Frauen rät Jenny White, Forscherin im Fachgebiet Brustgesundheit in Portsmouth, einen BH zu suchen, der mehr Halt gibt als ein regulärer. Das Material darf nicht zu dehnbar sein, vor allem das untere Bündchen soll fest sein. Um herauszu- finden, ob der BH richtig sitzt, solle man in der Umkleide auf und ab hüpfen. Der wichtigste Tipp der Expertin: „Ein Sport- BH, der unbequem ist, ist nichts für Sie.“ Vielleicht ist es an der Zeit, das angespannte Verhältnis zu meinem Sport-BH zu beenden. 2 KOLUMNE Er ziept, klebt, schnürt die Luft ab und schneidet sogar ins eigene Fleisch: Kaum eine Frau ist mit ihrem Sport-BH zufrieden. Eine Abrechnung Total verklemmt stern-Redakteurin Alexandra Kraft lebt in New York und joggt gern mal um den Block ILLUSTRATION: ELISABETH MOCH; FOTO: RODERICK AICHINGER 80 GESUND LEBEN 5|2016

Total verklemmt - WordPress.com · Victoria’s Secret oder Lululemon wollen im Sportsektor mitverdienen. Inzwi-schen weiß man: Die Anforderungen an einen Sport-BH sind hochkomplex

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  • MEIN SPORT-BH und ich haben ein an-gespanntes Verhältnis. Das beginnt schon beim Anziehen. Die laut Wer-bung „hochelastische Hightechfaser“ gibt nicht einen Millimeter nach. Nun gut, ein BH muss stabil sein, rede ich mir dann ein, vor allem, wenn das Ding störrisch klemmt. Die roten Streifen auf der Haut nehme ich für einen guten Halt in Kauf. Aber müssen die Träger so ein-schneiden? Manchmal drückt es derart, dass mir schummrig wird. Ich muss viel ziehen und zerren, bis alles sitzt, wie es soll.

    Und dann drei Schichten Stoff und ein dickes Innenpolster – im Training führt das unweigerlich zu einem Wär-mestau. „Sie wollen doch auch beim Sport sexy aussehen“, muntert mich die Verkäuferin auf. „Was, wenn Sie unter-wegs den Mann Ihres Lebens treffen?“ Ich Dummerchen!

    Ist das Anziehen schon unange-nehm, wird das Ausziehen erst recht zur Qual. Wenn ich mich von dem nass-geschwitzten BH zu befreien versuche, sieht das aus wie eine Schlange bei der Häutung und dauert gefühlt auch so lange.

    Über Jahre glaubte ich, das ginge nur mir so. Aber Sportlerinnen, die ich auf das Thema ansprach, beschwerten sich ebenfalls: zu eng, zu weit, schnürt die Luft ab, quetscht mich ein, tut ein-fach nur weh. Frauenbrüste und Sport

    – das bedeutet eine lange Leidensge-schichte. 1887 in Wimbledon trugen die Tennisspielerinnen enge Korsetts aus Draht und Walknochen. Was stützen sollte, bohrte sich schmerzhaft und blu-tig ins Fleisch.

    ES DAUERTE fast 100 Jahre, bis der ers-te Sport-BH erfunden wurde: 1977 näh-ten die US-Freizeitläuferin Lisa Lindahl und ihre Freundinnen Hinda Miller und Polly Smith kurzerhand zwei „Jock-straps”, elastische Schützer für sensible Männerhoden, zusammen – fertig war der „Jockbra“. Bequem war das nicht, aber erfüllte den Zweck.

    Merklich verbessert hat sich die Lage seitdem nicht: 40 bis 60 Prozent der Frauen heute klagen über Brust-schmerzen beim Sport. Wie kann es sein, dass wir fast 40 Jahre nach der Pionierarbeit der Amerikanerinnen noch über unbequeme Sport-BHs reden

    müssen? Vor allem von Männern wur-de das Thema nicht allzu ernst genom-men. Studien gab es kaum. Warum sollte sich die Sportwissenschaft auch mit Brüsten befassen?

    Nun wird endlich geforscht. Der BH-Markt hat sich zu einem Milliarden-geschäft entwickelt, und Marken wie Victoria’s Secret oder Lululemon wollen im Sportsektor mitverdienen. Inzwi-schen weiß man: Die Anforderungen an einen Sport-BH sind hochkomplex. Beim Joggen etwa wippt die weibliche Brust je nach Größe bis zu 15 Zenti-meter auf und ab. Zudem schwingt sie nach rechts und links. Schlecht gestützt, schmerzt das und verändert sogar den Laufstil, wie Forscher der Universität Portsmouth nachgewiesen haben.

    Den perfekten Sport-BH gibt es noch nicht, da sind sich die Experten einig. Bewegungsfreudigen Frauen rät Jenny White, Forscherin im Fachgebiet Brustgesundheit in Portsmouth, einen BH zu suchen, der mehr Halt gibt als ein regulärer. Das Material darf nicht zu dehnbar sein, vor allem das untere Bündchen soll fest sein. Um herauszu-finden, ob der BH richtig sitzt, solle man in der Umkleide auf und ab hüpfen. Der wichtigste Tipp der Expertin: „Ein Sport-BH, der unbequem ist, ist nichts für Sie.“ Vielleicht ist es an der Zeit, das angespannte Verhältnis zu meinem Sport-BH zu beenden. 2

    KOLUMNE

    Er ziept, klebt, schnürt die Luft ab und schneidet sogar ins eigene Fleisch: Kaum eine Frau ist mit ihrem Sport-BH zufrieden. Eine Abrechnung

    Total verklemmt

    stern-Redakteurin Alexandra Kraft lebt in New York

    und joggt gern mal um den Block

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