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Trugenberger - Die Damlo-Saga 1 - Damlo und der Weg zum Glück

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Luca Trugenberger Damlo und der Weg zum Glück

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Zu diesem Buch Mit flammendrotem Haar, elternlos und von seltsa-men Anfällen heimgesucht, wird der vierzehnjährige Damlo als Träumer verlacht und als »roter Angstha-se« gehänselt. Eines Tages erwacht er auf einem Karren, den zwei Zwerge lenken. Sie versorgen seine Kopfwunde und pflegen ihn gesund. Bald darauf be-gibt er sich mit den neuen Freunden auf eine Reise ins Ungewisse, dorthin, wo die Mächte des Schattens regieren. Aller Furcht zum Trotz nimmt er den Kampf mit Drachen, Trollen und Elfen auf. Doch bevor Damlo endgültig der Held wird, zu dem das Schicksal ihn erwählt hat, muß er die eigenen dunk-len Seiten besiegen. Er tut dies mit einem Ausruf, der seine Schwäche offenbart und ihm zugleich den Weg ins Glück weist: »Ich habe Angst!«

Luca Trugenberger, geboren 1955, ist Sohn eines Schweizers und einer Sizilianerin. Er studierte Medizin und war lange Jahre Schauspieler. In seinem »Verlangen nach tieferem Wissen um die Beschaffenheit der menschlichen Seele« beschloß er, Fantasy-Romane zu schreiben. Sein

Erstling »II risveglio dell’Ombra« wurde aus dem Stand heraus ein großer Erfolg. Luca Trugenberger lebt als Psychotherapeut in Rom.

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Luca Trugenberger

Damlo und der Weg zum Glück Die Damlo-Saga 1 Roman Aus dem Italienischen von Biggy Winter

Piper München Zürich

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Die italienische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Ti-tel »La Spina del Drago« bei Fanucci Editore in Rom Der vorliegende Roman ist der 1. Teil von »II risveglio dell’Ombra«. Teil 2 und 3 sind in Vorbereitung. ISBN-13: 978-3-492-70101-3 ISBN-10: 3-492-70101-9 © Luca Trugenberger 2002, vertreten von AVA international GmbH, München www.ava-international.de Copyright der deutschsprachigen Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2005 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildes von Richard Doyle [Ausschnitt) Autorenfoto: Giliola Chiste Satz: Filmsatz Schröter, München Druck und Bindung: Pustet, Regensburg Printed in Germany www.piper.de

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Die Anstrengung war ihm ins Gesicht ge-schrieben, als Damlo Rindgren zwischen den Bäumen dahinrannte. Sein glutroter Haarschopf hob und senkte sich im Rhyth-

mus der Schritte – ja, er schien beinahe ein Eigenle-ben zu besitzen.

Obwohl der steile Pfad knapp an einem Abhang entlangführte, lief der Junge in vollem Tempo den Hügel hinunter und wich dabei, fast ohne hinzuse-hen, gelegentlichen Schneeresten und Häufchen glit-schiger Blätter aus. Hin und wieder griffen dürre Äs-te nach ihm – wie kleine spitze Fäuste, die zum Hieb ausholten. Doch er kannte jeden einzelnen von ihnen und duckte sich darunter weg. Immer wenn ihm ein Felsbrocken, ein Graben oder ein morscher Baum-stamm den Weg versperrte, schnellten seine Beine hoch und trugen ihn sicher über das Hindernis.

Unten in der Talebene war die weite Kuppel aus

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Laubwerk, die sich über Waelton spannte, bereits undeutlich zu erkennen; schon erreichten die Strah-len der Sonne nur noch ihre höchsten Spitzen und färbten sie orange.

Eine Stunde Verspätung, dachte er. Zum dritten Mal in drei Tagen – und ohne irgendeine Entschuldi-gung. Der Gedanke ließ ihn ein wenig erschauern, und er bemühte sich, noch schneller zu laufen.

Ein Stück weiter gabelte sich der Pfad: Eine Ab-zweigung führte geradewegs ins Dorf, und auf der anderen ging es wieder hügelan und über eine kleine Waldlichtung, ehe der Weg wieder bergab führte. Damlo zögerte. Der Umweg würde ihn weitere Zeit kosten, aber er war hier noch nie vorbeigekommen, ohne die alte Buche zu grüßen, und so rannte er be-reits den steilen Weg bergauf, noch ehe er sich zu ei-nem Entschluß durchringen konnte.

Wie ein Wirbelwind stürzte Damlo hinaus auf die Lichtung und stand mit zwei Sätzen unter dem alten Baum. Er legte die Hände flach auf die Rinde, die sich unter den Fingerspitzen seidenglatt anfühlte. Ei-nen Augenblick lang hatte er das Gefühl, der Baum erbebe unter seiner Berührung. Damlo lächelte, strich zärtlich über den grauen Stamm und vergaß die Furcht vor der Standpauke, die ihn erwartete. Schließlich wandte er sich ab und schickte sich an, seinen Lauf wieder aufzunehmen.

Plötzlich bewegte sich etwas hinter ihm. Anmutig,

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leicht, schnell und ohne das geringste Geräusch. Er-schrocken zuckte der Junge zusammen und drehte sich ruckartig um, aber wie gewöhnlich war auch jetzt nichts zu sehen.

Das war ihm in den letzten Monaten des öfteren widerfahren. Anfangs hatte er noch gedacht, es hand-le sich um die üblichen ersten Anzeichen, der erwar-tete Krampfanfall war jedoch stets ausgeblieben. Und eigentlich war das, was sich nun abspielte, auch wirklich etwas anderes: Er nahm keine besonderen Gerüche wahr, er spürte nicht diesen seltsamen Ge-schmack im Mund – und vor allem mußte er nicht gegen »diese Sache« ankämpfen.

Er hatte einfach den flüchtigen Eindruck kleiner zuckender Bewegungen, aber wenn er sich umdrehte, dann war da nichts – keine kleinen Tierchen, keine windbewegten Zweige und auch nicht das Zu-Boden-Flattern eines letzten dürren Blattes, abgestoßen von einer aufbrechenden Knospe. Und doch schien das Zucken, das er aus dem Augenwinkel wahrnahm, von fallenden Blättern zu stammen – wenn man dar-über hinwegsah, daß tote Blätter nicht seitwärts oder nach oben fielen…

Und dann waren da die Stimmen. Unverständli-ches Gemurmel – doch Damlo war sicher, das bildete er sich nicht ein. Anfangs ähnelten sie noch dem plötzlichen Rauschen von Ästen vor einem Sommer-gewitter, mit der Zeit aber waren die Stimmen immer

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klarer und verständlicher geworden, und vor einer Stunde hatte es ihm sogar geschienen, als hätte man seinen Namen gerufen. Auch deshalb war er spät dran: Trotz seiner Angst hatte er das ganze Gebiet durchkämmt, ohne jedoch auf die geringste frische Spur zu stoßen.

Plötzlich durchfuhr ihn die Erkenntnis, wie groß seine Verspätung mittlerweile tatsächlich war.

»Wenn nur nicht Frühling wäre!« stöhnte er laut auf und setzte sich in Trab.

»Na, na, junger Rotschopf«, entgegnete eine har-zige und freundliche Stimme, »der Frühling ist eine wunderschöne Zeit! Wie übrigens auch der Sommer, der Winter und der Herbst.«

Doch der Junge verstand es nicht, und ohne das erneute Gemurmel zu beachten, stürmte er zwischen die Bäume und hinein in den Wald.

Auf den Bunten Bergen nördlich von Waelton schmolz der Schnee. Der Blaue Paß wurde wieder befahrbar, die Übergangszeit stand bevor, und das Gasthaus Zur Apfelesche bereitete sich auf einen An-sturm von Durchreisenden vor. Es war ein hektisches Arbeiten, deshalb neigte Neila Rindgren dazu, leicht nervös zu werden. Für gewöhnlich war sie zwar von unvergleichlicher Sanftmut, doch jeder wußte, daß es ratsam war, sich zu verstecken, wenn sie in Wut ge-riet. Dies alles hatte zur Folge, daß stets zu Früh-

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lingsanfang um sie herum eine gewisse Leere ent-stand. Selbst die Stammgäste verzichteten auf das müßige Herumlungern in der großen Wirtsstube. Sie tauchten zu den Mahlzeiten auf und verschwanden nach einem raschen Teller Geschmortem blitzartig, sämtlich in Anspruch genommen von nicht näher be-zeichneten Verpflichtungen allerhöchster Dringlich-keit. Um die Auswirkungen von Neilas Nervosität zu erdulden, blieben also nur ihr Sohn Trano und der Neffe Damlo, und in der Tat kassierten die beiden Klapse und Rüffel in einer Zahl, die weit über das Übliche hinausging.

Eine Stunde Verspätung! In Damlos Vorstellung steigerte sich die Schelte, die ihn im Gasthaus erwar-ten würde, mit jedem Schritt zu immer gigantische-ren Ausmaßen, und der Junge lief, so schnell ihn die Füße tragen wollten. Der Schweiß rann ihm in die Augen und reizte sie zum Tränen, was ihn bis jetzt nicht sehr gestört hatte. Doch je weiter er sich dem Dorf näherte, desto weniger ließ sich die Gefahr ver-drängen, auf Proco Radicupo und die Mitglieder sei-ner Bande zu stoßen. Da Damlo seine Umgebung jetzt nur unscharf wahrnahm, riskierte er, sie zu spät zu sehen…

Unter der Jacke war ihm der Hemdsaum hoch bis über den Nabel geklettert, die Knoten der ersten bei-den Schlingen hatten sich geöffnet, und der weiche Kragen kitzelte ihn an den Ohren. Während er sich

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fragte, ob es wohl angebracht wäre, einen weiträu-migen Bogen um die Gefahrenzone zu machen, trocknete er sich Augen und Stirn. Rund um den Tempel würde Proco ihn nicht suchen, aber diese Strecke war viel länger und seine Verspätung jetzt schon beträchtlich. So entschloß er sich zu dem kür-zesten Weg; außerdem, vermutete er, würden zu die-ser Stunde die Mitglieder der Bande beim Abendbrot sitzen.

In vollem Lauf kam Damlo aus dem Wald. Er war jetzt im Tal angekommen und konnte noch ein wenig Tempo zulegen. Schnell wie ein Pfeil durchquerte er die bestellten Felder und zog einen Augenblick lang in Betracht, die Abkürzung durch die Obstgärten zu nehmen. Doch dann überlagerte das geistige Bild der Venaraggio-Wachhunde jenes seiner Tante Neila; er erschauerte kurz und bog nach links ab, wo er am Lattenzaun entlanglief, ohne ihn zu überspringen. Ein paar Minuten später war er in Waelton.

Unter der einen riesigen Kuppel aus Ästen und Laub, die sich in etwa zweihundertfünfzig Fuß Höhe über das ganze Dorf spannte, hatte sich bereits alles Licht in den orangefarbenen Schein der Laternen verkrochen, die über den Türen fast aller Bäume hin-gen. Wie in einem alten, vertrauten Spiel schienen die Wände aus Rinde die schwankenden Schatten in sich aufzunehmen. Die Riesenbäume wuchsen aus-schließlich in Waelton, und die Legende verfolgte ihr

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erstes Erscheinen bis in die Zeit des Maspo Gemma-lampo – noch lange vor dem Diebstahl der Zauber-kunst. An Höhe übertrafen sie die mageren Bäume kaum, aber ihre Stämme konnten gut und gern auch fünfundzwanzig Schritt im Durchmesser erreichen. Immer schon hatten es die Waeltoner verstanden, sich häuslich in ihnen niederzulassen, indem sie das Innere der Stämme aushöhlten; dabei achteten sie stets sorgfältig darauf, die dünne Schicht unter der Rinde – diesen lebenden und empfindlichen Teil des Baumes – so wenig wie möglich zu verletzen.

Um zum Gasthaus zu gelangen, mußte Damlo den halben Ort durchqueren. Im Lauf strich er mit den Händen über die Baumrinden, hinter denen sich die Wohnungen befanden, und schnupperte dann an den Fingerspitzen.

Es war in der Straße des alten Dornbusches, wo er auf die Legionäre stieß. Die Bande war nicht kom-plett, die übelsten ihrer Mitglieder waren jedoch zur Stelle: Proco Radicupo und Busco Sinistronco. Alles in allem bestand die Waelton-Legion aus einem Dut-zend gefährlicher Krieger um die vierzehn Jahre, und Binla Venaraggio mußte man wohl auch hinzuzäh-len. Als Mädchen konnte sie der Bande zwar nicht wirklich angehören – so wie auch in der sagenhaften Legion von Gualcolan Frauen nicht zugelassen wa-ren –, aber da sie ein »nettes« Mädchen war, hatte sie von Proco eine spezielle Dispens erhalten.

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Hinter der Eiche der Boscorame war Damlo abge-bogen, und dort sah er sich plötzlich dem Unfaßba-ren gegenüber: Lebhaft schwatzend standen sie in ei-ner Gruppe beisammen, bemerkten ihn aber sofort und gafften ihn einen Augenblick lang mit aufge-sperrten Mündern an. Außerhalb des Versammlungs-baumes, wo der Lehrer strenge Disziplin hielt, herrschte zwischen Damlo und der Legion offener Krieg – besser gesagt: offene Jagd, mit Damlo in der Rolle des Wildes. Und so dauerte die Überraschung nur kurz. Als sie erkannten, daß er mit höchster Ge-schwindigkeit auf sie zurannte, sahen ihm die Jungen wie einem Kaninchen entgegen, das Anstalten macht, sich auf ein Rudel Wölfe zu stürzen.

»Der feige Rotkopf!« schrie Proco. Grinsend bildeten die Legionäre eine Front und

verstellten Damlo den Weg. Es war zu spät, sowohl für eine Umkehr als auch, um stehenzubleiben. Wü-tend auf sich selbst, weil ihm die Knie vor Angst weich geworden waren, blieb Damlo keine Zeit, um Busco und Proco auszuweichen. Also schloß er die Augen, klemmte den Kopf zwischen die Schultern und stürzte sich mit vollem Schwung mitten hinein in die Gruppe. Er flitzte zwischen den Jungen hindurch – wie ein Pfeil durchs Röhricht.

Sie reagierten sofort. Noch ehe er ein Dutzend Schritte zurückgelegt hatte, hefteten sie sich unter wildem Geheul an seine Fersen. Sie kriegen mich zu

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fassen! schrie Damlo innerlich auf, diesmal kriegen sie mich! Er rannte schneller. Jeder Atemzug rausch-te und dröhnte ihm in den Ohren und übertönte fast das Gejohle und die stampfenden Schritte seiner Ver-folger. Unter seinen Füßen schoß die Straße mit der Geschwindigkeit eines hochwasserführenden Flusses dahin.

Er stolperte. Doch nach einem Dutzend ungewollt langer, schwankender Sätze fing er sich und fand wie durch ein Wunder das Gleichgewicht wieder. Er war erschöpft; sie würden ihn einholen, noch ehe er zu Hause angelangt war!

Sehnsüchtig und voll resignierter Wehmut lief er an seinen üblichen Verstecken vorbei. Die Wurzeln der heiligen Zirbelkiefer waren zu weit entfernt. Die Bibliothek? Nein: Die Straße dorthin bot keine un-auffällige Chance, Zeit zu gewinnen. Die Statue des Maspo Gemmalampo? Die wuchs vor dem Gasthaus: auch zu weit. Blieb das Unterholz entlang des Ba-ches – ein jämmerliches Versteck, aber Damlo hatte keine andere Wahl. Dennoch mußte er es schaffen, seine Verfolger so weit hinter sich zu lassen, daß sie nicht sehen konnten, wohin er sich flüchtete.

Keuchend bog er ins Farnkrautgäßchen ein. Der Rhythmus seiner Schritte geriet allmählich ins Sto-cken, und die Legionäre befanden sich direkt hinter ihm. Glücklicherweise war es nur noch ein kurzes Stück bis zum Laden der Familie Verdoglio. Zu bei-

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den Seiten des Eingangs waren dort unter einem gro-ßen Vordach Dutzende und Aberdutzende von Kör-ben zu hohen Stapeln geschichtet. Schnell wie der Wind stürmte Damlo daran vorbei, griff mit dem ausgestreckten Arm nach dem höchsten Stapel und zog ihn hinter sich her. Falls sich in diesem Augen-blick Belto Verdoglio in der Nähe aufhielt, dann hat-ten Proco und seine Anhänger wirklich Grund zu rennen!

Hinter Damlo erhob sich wütendes Gebrüll. Ohne das Tempo zu verringern, riskierte er einen kurzen Blick nach hinten: Die Straße war völlig verstopft: mit einer Unzahl von Körben, die in alle Richtungen rollten, und den Mitgliedern der Legion, die darin feststeckten. In der Tür des Ladens stand Frau Ver-doglio und schrie wie eine Besessene; in der Rechten schwang sie einen Teppichklopfer, und ihre Linke drehte mit größter Entschlossenheit an Neto Bosco-rames Ohr. Das Zusammenspiel ihrer beiden Hände war Neto ein starker Anreiz beim Aufstehen.

Damlo nahm an, sie würde die Legionäre zum Einsammeln und Ordnen der Körbe verdonnern und ihm damit ausreichend Zeit verschaffen, das heimat-liche Gasthaus zu erreichen. Also lief er geradeaus weiter, ohne zum Bach abzuschwenken, und verlang-samte seine Schritte ein wenig, um wieder zu Atem zu kommen.

Der Stein streifte ihn plötzlich am Kopf und fiel

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vor ihm zu Boden. Er zuckte zusammen und warf ei-nen Blick hinter sich. Proco Radicupo und Busco Si-nistronco hatten Neto in den Händen von Frau Ver-doglio seinem Schicksal überlassen und die Verfol-gung Damlos wiederaufgenommen. Er spürte, wie er in Panik geriet. Jetzt war es zu spät, um noch zum Bach abzubiegen, daher mußte er bis zum Gasthaus weiterlaufen! Und der Vorsprung von wenigen Schritten, den er soeben erreicht hatte, würde ihm genügen müssen.

Wieder steigerte er das Tempo und raste kopflos weiter, ohne darauf zu achten, daß er kaum noch Luft bekam. Und nach einigen qualvollen Minuten er-reichte er den Hauptplatz des Dorfes.

Schlagartig wurden ihm die Knie wieder weich: Vor dem Eingang der Apfelesche fünfzig Schritte weiter erwarteten ihn drei Jungen. Deshalb also war die Bande nicht vollzählig gewesen!

Sie standen zwar mit dem Gesicht zur Tür, die ins Innere des Baumes führte, doch Damlo brachte nicht den Mut auf, einen weiteren Durchbruch zu wagen. Er versuchte, unter Beibehaltung der Geschwindig-keit seinen Lauf auf die Zehenspitzen zu verlagern und in eine Serie lautloser Sprünge umzuwandeln, die ihn zu dem Brettergerüst führen sollten, mit dem die Statue des Maspo Gemmalampo umhüllt war. Doch nach drei Sätzen verkrampften sich seine Wa-den schmerzhaft. Er fiel hin und rollte weiter – auf

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den unteren Rand des Gerüstes zu. Ohne den Krampf in seinen Muskeln zu beachten, nutzte er den Schwung aus, beschleunigte die Bewegung und zwängte sich mit der Flinkheit eines Murmeltieres in den Spalt zwischen den Brettern und dem Erdboden. Bebend und schwer atmend lugte er hinaus; erst jetzt bog die Meute seiner Verfolger aus dem Gäßchen auf den Dorfplatz ein.

Das Standbild des Maspo Gemmalampo war in den Stamm einer uralten Rotbuche gehauen, dessen Durchmesser kaum weniger als zwei Ellen maß. Je-des Jahr zum Ende des Winters wurde die Skulptur restauriert. Das war unumgänglich, weil durch die Arbeit des Künstlers große Teile des Stammes und der unteren Äste bloßgelegt worden waren. Einen Baum seines Rindenmantels zu berauben ist stets ei-ne äußerst heikle Sache: entfernt man zu viel, stirbt der Baum, entfernt man zu wenig, verliert die Skulp-tur an Glaubhaftigkeit. Nicht zufällig wurde die Kunstfertigkeit der Baumbildhauer daran gemessen, wieviel von der Rinde am Stamm zurückblieb.

Um die nackten Stellen zu schützen, war es not-wendig, sie des öfteren mit einem besonderen Wachs zu behandeln. Und so umgaben die Waeltoner die Rotbuche jedes Jahr Ende März mit einem Gerüst, das auf einem niedrigen Podest aus Holzbrettern ruh-te, um die freiliegenden Teile der Wurzeln nicht zu

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beschädigen – und dieser Umstand hatte sich für Damlo schon bei mehr als einer Gelegenheit als Ret-tung erwiesen.

Seine Verfolger liefen ohne innezuhalten am Denkmal vorbei und gesellten sich zu den drei War-tenden am Eingang des Gasthauses. Eine Auseinan-dersetzung folgte, und nach einer Weile fing Proco an, die drei herumzuschubsen.

Damlo hätte sich am liebsten geohrfeigt: Das wa-ren keine Mitglieder der Bande, es waren einfach nur drei Jungen, die zufällig vor der Gasthaustür stehen-geblieben waren!

Jetzt würde er wohl hier versteckt bleiben müssen, bis sich die Legionäre trollten. Und Tante Neila er-wartete ihn seit mehr als einer Stunde zurück! Doch wie auch immer, er hätte in jedem Fall so gehandelt. Wie streng Neila Rindgren auch sein mochte, ihr Zorn beunruhigte Damlo nicht halb so sehr, wie ihn die Vorstellung erschreckte, in die Fänge der Legion zu geraten. Immer angenommen, daß die Tante heute nicht zuviel Brennholz verwendet hatte, denn sonst könnte es wirklich Ärger geben.

Was das Brennholz betraf, so gab es in der Küche des Gasthauses eigens dafür vorgesehene Aufbewah-rungsorte: einer, der größere, wurde täglich benutzt, der andere hingegen diente als Reserve und wurde nur selten gebraucht. Zu Damlos Aufgaben gehörte es, sie beide randvoll zu halten, und wie alle seine

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Pflichten im Haus – abgesehen vom Polieren der Kupferpfannen – fiel ihm auch diese nicht schwer. Unter seinen Axthieben verwandelten sich die Holz-blöcke je nach der Eingebung des Augenblicks in Trolle, Kobolde und anderes feindliches Gelichter. Manchmal ging er auch dann in den Holzschuppen, wenn die Depots in der Küche übervoll waren, und er legte einen Zusatzvorrat an, nur weil es ihm Spaß machte, die Axt zu schwingen.

Doch seit drei Tagen war dies nicht mehr der Fall. Jeden Morgen nahm Damlo unbemerkt Holz vom Reservevorrat in der Küche und schichtete es auf den Hauptstapel. Ihm war klar, daß er damit seine Pflich-ten vernachlässigte, aber stets sagte er sich, er würde alles am Nachmittag nachholen. Dann jedoch verlor er sich regelmäßig in seinen üblichen Träumereien und schließlich verschob er die Arbeit auf den nächs-ten Tag. Heute war der Reservevorrat zu Ende gewe-sen, und sollte Tante Neila – oder, noch schlimmer, Onkel Pelno – das entdecken …

Seine Träumereien – wie oft sie ihn schon in Un-annehmlichkeiten gebracht hatten! Manchmal er-schien ihm die Phantasie als der einzige warme, leuchtende Ort im Universum, doch gelegentlich ü-berfiel sie ihn auch unverhofft und ließ ihn nicht mehr los. Wie zum Beispiel an den vergangenen Nachmittagen.

Andererseits wollte es ihm nicht recht gelingen,

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sich wirklich schuldbewußt zu fühlen, denn vor drei Tagen, als er im Wald herumgestreift war, hatte er eine Felsenhöhle entdeckt. Und zwar eine richtig tie-fe Höhle, nicht nur eine Nische unter einem Über-hang! Selbstverständlich hatte er sofort seinen per-sönlichen Unterschlupf daraus gemacht. Niemand in Waelton hatte je von einer Felsenhöhle in der Ge-gend gehört, was den Wert von Damlos Entdeckung noch vervielfachte – ganz besonders in den Augen von Proco Radicupos Bande! Mit größter Befriedi-gung und gespielter Gleichgültigkeit hatte Damlo in der Pause zwischen den Unterrichtsstunden eine Be-merkung über die Neuigkeit fallen lassen, und aus dem Betrachten der neiderfüllten Gesichter war ihm ein selten genossener Triumph erwachsen.

Doch sobald ein kampferprobter Recke ein Refu-gium sein eigen nennt, ist es nur logisch, daß sämtli-che Orks und Banditen der ganzen Welt es darauf an-legen, ihm dieses zu entreißen. Und ebenso einleuch-tend ist es, daß der Held dort bleibt, um es zu vertei-digen. Kein schneidiger Kämpfer würde nur wegen eines Zeitplanes, der einzuhalten war, eine blutige Schlacht verlassen!

Doch für Onkel und Tante lag dies keineswegs so klar auf der Hand! Phantasie sei zwar eine schöne Sache, räumten sie beharrlich ein, Pünktlichkeit hin-gegen eine unverzichtbare Tugend. Und so fielen seit drei Tagen die Vorhaltungen in dieser Richtung wie

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Schneeflocken im Winter auf Damlo herab. Er schaute wieder unter dem Bretterboden des Ge-

rüstes hervor. Die drei Jungen vor der Tür hatten ihr Heil in der Flucht gesucht, doch die Rädelsführer der Legion waren immer noch da. Busco stand vor dem Eingang des Gasthauses Wache, während Proco in den Gäßchen rundum nach Damlo suchte. In Kürze würde er am Denkmalbaum hochklettern: Das tat er immer, wenn »der Rote« ihm in dieser Gegend unter der Nase verschwand. Doch Damlo hatte sich noch nie oben in der Krone versteckt; für ihn war es der Platz zwischen den Wurzeln, wo Angst und Scham wohnten – und ebenso die Rettung.

Der Hohlraum unter den Brettern war sehr niedrig, daher hatte noch nie jemand daran gedacht, unter der Plattform nachzusehen. Dennoch beschloß Damlo, sich zur Sicherheit noch tiefer in sein Versteck zu-rückzuziehen, und so kroch er langsam auf den Stamm zu. Die Bohlen über ihm waren nur roh zu-gehauen, die Enge behinderte ihn, und schließlich verfing sich ein Büschel seiner Haare an einem Split-ter. Der Junge packte es und zerrte so heftig und wü-tend daran, daß es abriß. Befreit vom gemeinen Griff nach seinem roten Schopf erreichte er schließlich den Stamm und kauerte sich schmollend und verbittert in die Vertiefung zwischen zwei vorstehenden Wurzeln.

Und unversehens geschah es. Es begann wie eine Art Groll gegen sich selbst, weil er wieder einmal

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Angst hatte. Doch plötzlich kam ein starker Geruch nach Verbranntem hinzu, und Damlo verspürte ein heftiges Hitzegefühl am Gaumen, das er jedoch nicht als störend empfand. Und schließlich, wie ausnahms-los jedes Mal vor dem Beginn der Krampfanfälle, tauchte »diese Sache« auf.

Mit der brutalen Unerbittlichkeit eines Brechreizes stieg aus den Tiefen von Damlos Sein eine erschre-ckende Wut auf und schüttelte ihn, als er sich ihr entgegenstellen wollte. Noch nie hatte er ihre ganze Gewalt ausgelotet, denn selbst im Anfangsstadium beschwor sie schon die Bilder eines schrecklichen Verderbens herauf, und so bekämpfte der Junge sie stets mit ganzer Kraft, sobald sie sich bemerkbar machte, weil ihn die Möglichkeit, daß sie sich in ih-rem ganzen Ausmaß ausbreiten könnte, mit blankem Entsetzen erfüllte.

Er schaffte es gerade noch, sich flach auf dem Bo-den auszustrecken und den Kragen der Jacke zwi-schen die Zähne zu stopfen, dann waren alle seine Kräfte davon in Anspruch genommen, den Anfall abzuwehren. Er empfand die hemmungslose Gewalt in seinem Inneren wie einen Fremdkörper, der unge-stüm nach außen drängte, und während er selbst sich hin- und hergeschüttelt fühlte, schien es ihm, als ver-nehme er ihr wildes Brüllen tief in sich.

Schwitzend vor Anstrengung und schon zu kraft-los, um auch nur zu schluchzen, bot er minutenlang

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alles auf, um das beängstigende Geschehen in seinem Inneren in Grenzen zu halten und zu erdulden. Nur ein winziger Teil seiner selbst war bei klarem Ver-stand geblieben, und dieser Teil fragte sich, während er zusah, wie sich sein Körper im Rhythmus der Kontraktionen aufbäumte, ob es diesmal wohl soweit war – ob er diesmal sterben würde.

Manchmal geschah es – wenn auch selten –, daß in Waelton ein Kind geboren wurde, dessen Haar so rot war wie jenes von Damlo. Dabei handelte es sich nicht um dieses Karottenrot, auf das einige Kaufleute aus dem Tal von Tresin so stolz waren, sondern um ein dunkles, sattes Rot, das an schlummernde Glut denken ließ. Hin und wieder geschah dies also, und jedesmal war es eine Tragödie, denn stets starb bei der Geburt die Mutter, und das Kind wurde nie älter als neun Jahre.

Die Waeltoner nannten die Kinder die »Roten« und gingen ihnen aus dem Weg, falls es sich machen ließ. In der Tat waren die Kinder, die sonst völlig normal aussahen und sogar besonders sanftmütig und feinfühlig wirkten, sonderbar. Es fing damit an, daß die Schwangerschaft ihrer Mütter nie kürzer als zehn Monate dauerte – was vielen auch als Grund dafür galt, daß die Mütter die Entbindung nicht überlebten. Zum zweiten begannen die »Roten« viel früher zu laufen und zu sprechen als Gleichaltrige. Und zum

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dritten waren sie, wie alle Waeltoner übereinstim-mend behaupteten, eben sonderbar.

Auch ihre Art zu sterben schien ungewöhnlich. Üblicherweise geschah dies ohne Vorwarnung rund um ihren siebenten Geburtstag herum. Von einem Augenblick, in dem sich das Kind bei bester Ge-sundheit befand, zum nächsten verfiel es in wilde, krampfartige Zuckungen, als wollte sich seine Seele in einem heftigen Kampf gegen den eigenen Körper daraus hervorwinden, um sich von ihm zu befreien. Und schließlich geschah es: Das Kind starb, und sei-ne Umgebung gab sich Mühe, die Erleichterung nicht zu zeigen.

Damlo war acht Jahre alt gewesen, als ihn diese Krämpfe zum ersten Mal heimgesucht hatten, und niemand wußte eine Antwort auf die Frage, weshalb sie ihn nicht umgebracht hatten. Anfangs hatten sich die Anfälle häufig wiederholt, auch vier- oder fünf-mal pro Woche. Dann waren sie seltener geworden, bis sie schließlich ganz aufhörten. Wenigstens glaub-ten das die Waeltoner. In Wahrheit hatte der Junge einfach nur gelernt, die allerersten Anzeichen zu er-kennen und sich rechtzeitig von den anderen Leuten abzusondern. Dennoch war die Einstellung ihm ge-genüber gleich geblieben: Die Waeltoner fuhren fort, ihn schief anzusehen, und Neila Rindgren ließ ihn nie Speisen auftragen, auch wenn die Gaststube bre-chend voll war.

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Trotz der Heftigkeit des Kampfes überlebte Damlo auch dieses Mal, und als der Krampfanfall wieder abgeflaut war, lag er erschöpft unter dem Boden des Gerüstes. Er blieb ganz still, erholte sich langsam und verfolgte ängstlich den verebbenden Nachhall des Wütens in seinem Inneren. In diesem Zustand hörte er, wie sich Proco dem Denkmal näherte, um auf den Baum zu klettern. Zu spät, du Aas, dachte er mit müder Befriedigung.

Der Krieg zwischen ihnen war vor zwei Jahren ausgebrochen, erinnerte er sich, als er arglos darum gebeten hatte, in die Bande aufgenommen zu wer-den. Doch war das wirklich ein solcher Frevel gewe-sen? Er hatte ja nur mit den anderen spielen wollen! Zu jener Zeit war er erst elf Jahre alt und der Kleins-te gewesen – aber natürlich auch ein »Roter«. Gehör-te das tatsächlich zu den unverzeihlichen Sünden?

Die Jungen hatten ihm ins Gesicht gelacht, worauf er sein Ansinnen wiederholte. Das könnte vielleicht ein Fehler gewesen sein, aber noch heute war er nicht ganz davon überzeugt. Daraufhin hatten sie ihn he-rumgestoßen und zu Boden geschlagen, wo sie ihm in die Ohren brüllten, bis er, benommen und zu Tode verängstigt, in Tränen ausgebrochen war. Vergeblich hatte er versucht davonzulaufen. Sie holten ihn ein, tanzten um ihn herum und grölten: »Schaut, wie der rote Feigling rennt, nur ein paar Klapse, und er flennt!« Sie hatten ihn erst ziehen lassen, als Binla

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Venaraggio dazwischentrat. Sie hatte sich seiner er-barmt, als sie ihn so verzweifelt schluchzen sah.

Weit davon entfernt, sich geschlagen zu geben, hatte Damlo es nicht aufgegeben, um die Legionäre herumzuschleichen.

Solange er sich dabei einigermaßen fernhielt, übergingen ihn die Jungen. Wenn er ihnen zu nahe kam, jagten sie hinter ihm her. Und wenn sie ihn zu fassen kriegten, endete es wie beim ersten Mal. An-fangs wollten sie ihn dadurch nur einfach loswerden, aber nach und nach waren sie auf den Geschmack gekommen, und so lauerten sie ihm jeden Tag hinter den Obstgärten der Venaraggio auf, und sobald sie seiner ansichtig wurden, hefteten sie sich an seine Fersen.

Und da hatte Damlo den einzigen Fehler began-gen, den er sich wirklich vorwerfen mußte: Da er sich als Teil eines gemeinsamen Spieles wähnte, hat-te er damit fortgefahren, pünktlich zur Stelle zu sein. Und als ihm dämmerte, daß er sich damit zum Ge-spött des ganzen Haufens gemacht hatte, war nichts mehr daran zu ändern: Wenn er jetzt nicht von sich aus auftauchte, dann gingen sie ihn suchen.

So hatte er eines Tages – nach einem hart er-kämpften Sieg über seine Furcht – versucht, sich zu widersetzen. Aber Proco hatte ihn nicht einmal ver-prügelt. Obwohl er viel kräftiger war als Damlo, hat-te er sich einen Spaß daraus gemacht, den Hieben des

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Jungen auszuweichen und vor den anderen Spott und Hohn über ihn auszugießen, während Damlo mit sei-nen Fäusten die Luft traktierte. Dieses Erlebnis war so demütigend gewesen, daß er seither keinen sol-chen Versuch mehr gewagt hatte. Von diesem Au-genblick an hatte er sich darauf beschränkt, der Le-gion auszuweichen, und dies so gut gelernt, daß er der Bande nur noch selten in die Hände fiel.

Vielleicht war das der Grund, daß die Legionäre seit kurzem jede Gelegenheit wahrnahmen, ihm auf-zulauern – auch hier, wo er wohnte. Manchmal reich-te es, daß sie ihn erblickten, während er einen Boten-gang für Onkel und Tante erledigte. Oder daß sie sich einfach langweilten. Dann murmelte Busco Pro-co ein Wörtchen ins Ohr, und nachdem dieser eine Minute hatte verstreichen lassen, damit die anderen dachten, die Idee stamme von ihm, rief Proco prompt: »Los, auf die Jagd nach dem roten Angstha-sen!«

Doch von morgen an, dachte Damlo, wird alles anders werden. Morgen war sein vierzehnter Ge-burtstag, und seit langem wußte er schon, daß er von diesem Tag an zu den Erwachsenen zählen würde. Das Warten darauf begleitete ihn seit seinem sieben-ten Lebensjahr, als das Hochwasser des Flusses sei-nen Vater fortgerissen hatte. Damals hatte er noch nichts von den Krampfanfällen geahnt und sich im-mer wieder daran erinnert, daß sich von seinem vier-

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zehnten Geburtstag an das Leben grundlegend än-dern würde.

Wie es wohl sein mochte, wenn man erwachsen war…? Er wußte es nicht, doch was seine Wunsch-ziele betraf, hatte er ganz klare Vorstellungen. Erst einmal würde er aufhören, Angst zu haben; dann würden die Krämpfe aufhören; und schließlich würde er eine Menge Dinge wissen, die ihm jetzt noch ver-schlossen waren. Vielleicht würde er so stark sein wie Proco – möglicherweise sogar über Nacht schlagartig wachsen! Das Wichtigste jedenfalls war der Mut: Alle würden es sofort merken und ihn nicht mehr Feigling nennen, und die Verfolgungsjagden würden ein Ende haben. Er hatte wirklich die Nase voll davon, bei jedem verdächtigen Schritt hinter sich die Beine in die Hand zu nehmen. Fast schien es ihm, als hätte er sein ganzes bisheriges Leben damit ver-bracht davonzurennen. Als Erwachsener, beschloß er, würde er nie mehr davonrennen und sich auch nie mehr verstecken müssen!

Bei diesen Gedanken selbstbewußter geworden, schaute er noch einmal unter dem Bretterpodest des Gerüstes hervor. Endlich hatten es Proco und Busco satt, nach ihm zu suchen, und machten sich davon. Damlo wartete ab, bis die beiden hinter der Werkstatt des Wagenbauers verschwunden waren, und ließ dann den Blick prüfend über den ganzen Platz wan-dern. Niemand war zu sehen – der rechte Moment,

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um sein Versteck zu verlassen. Mühsam schob er sich zwischen Brettern und Boden nach draußen, diesmal auf jener Seite, die dem Gasthaus zugewandt war. Der Hohlraum unter dem Podest erschien ihm jetzt niedriger, enger als vorhin. Konnte es sein, so fragte er sich, daß das Wachstum zum vierzehnten Geburtstag schon begonnen hatte? Oder, räumte er schmunzelnd ein, das Gelände war hier einfach hö-her.

Er hatte kaum damit begonnen, sich hervorzuwin-den, als ihn etwas am Knöchel festhielt. Der Schreck raubte ihm den Atem. War das ein Troll? Es wäre ty-pisch für einen Troll, in aller Lautlosigkeit abzuwar-ten, bis das Opfer zu fliehen versuchte, um es dann unversehens zu packen. Oder ein Ork? Nein: Orks grunzten und lärmten, und er hatte ganz und gar nichts gehört. Außerdem gefiel ihm der Gedanke an einen Ork überhaupt nicht. Da noch eher ein Troll, auch wenn er gefährlich war…

Was auch immer – es besaß jedenfalls Klauen. Damlo hatte gespürt, wie sie sich in sein Fleisch bohrten, und der Schmerz zog sich bis in die Wade. Er biß die Zähne zusammen, während er sich vor-warf, das Versteck nicht kontrolliert zu haben, ehe er hineingekrochen war. Doch nun war es zu spät; jeder wußte, daß ein Troll, wenn er einmal zugepackt hat-te, nicht mehr losließ. Trolle lockerten ihren Zugriff nur, um mit ihren noch lebenden Opfern zu spielen –

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wie Katzen. Damlo beschloß, ihm diese Befriedigung nicht zu verschaffen, und blieb reglos liegen. Er hoff-te nur inständig, der Troll würde ihn sofort töten – und noch so lange warten, ehe er begann, ihn aufzu-fressen.

Nachdem Damlo einige Minuten wie erstarrt dage-legen hatte, kam ihm zu Bewußtsein, daß der Troll gar nicht an seinem Bein zog. Er hatte nur seine Krallen in Damlos Knöchel versenkt und ließ ihn nicht weiterkriechen.

Also wartete er. Sein Herz schlug so heftig, daß es ihm in den Ohren dröhnte. Und nichts geschah. Seit dem ersten Klauenhieb geschah gar nichts mehr. Al-so drehte Damlo sehr, sehr langsam den Kopf, um einen Blick auf die schreckliche Kreatur zu werfen. Ungeachtet dessen, was Proco so erzählte, war seit Menschengedenken niemand einem Troll begegnet. Und Damlos Neugier reichte aus, um einen einge-henden Blick zu riskieren, ehe er sich fressen ließ. Außerdem war es ja möglich, daß das Scheusal im Augenblick gar keinen Hunger hatte; vielleicht wür-de es ihn nicht sofort zerfleischen und, wer weiß, vielleicht konnte es ihm, Damlo, in der Zwischenzeit sogar gelingen sich davonzumachen.

Stark seitlich und nach hinten verkrümmt, schaffte er es, den Kopf wieder unter den Bretterboden des Gerüstes zu schieben; mit einer Mischung aus Er-leichterung und Enttäuschung sah er, wie sich die

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Klauen der Bestie in einen langen Holzsplitter ver-wandelten, der noch halb an einem Brett hing.

Er seufzte tief auf. Die ganze Zeit über hatte er gewußt, daß es sich nicht um einen Troll handeln konnte, und trotzdem hatte er sich gefürchtet. Wie er sich von seiner Phantasie beherrschen ließ! Vorsich-tig zog er sich den Splitter aus dem Knöchel und krabbelte aus dem Versteck. Ein Blutbächlein rann ihm über den Filzschuh, aber das war ganz unwich-tig, sagte er sich, nicht viele wären so glimpflich da-vongekommen, wenn sie sich in den Fängen eines Trolls befunden hätten. Und falls es nicht aufhören würde zu bluten, dann konnte er sich immer noch verarzten lassen von der…

Tante! Ihm war völlig entfallen, daß er so spät dran war! Und jetzt entstand plötzlich vor seinem in-neren Auge die Gestalt seiner zornbebenden Tante! Er spürte, wie seine Beine nachgaben: fast zwei Stunden!

Eine Sekunde lang träumte er davon, augenblick-lich aus Waelton zu fliehen. Nach Osten, entschied er. Um Orkjäger zu werden und die gleiche Berühmt-heit zu erlangen wie der legendäre Brabantis! Wer weiß, vielleicht würde er ihm sogar begegnen! Natür-lich ohne ihn zu erkennen, denn der Held wäre in ir-gendeiner geheimen Mission unterwegs – und daher verkleidet. Doch in dem Augenblick, in dem sie bei-de von den Orks angegriffen würden, mußte Braban-

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tis sein Schwert ziehen, seinen Schlachtruf aussto-ßen, und Damlo würde erkennen, wer sein mysteriö-ser Gefährte bei all diesen Abenteuern war! Ja! Er würde an der Seite von Brabantis kämpfen!

Nein. Leider stammte diese Geschichte aus alter Zeit, und der Held mußte mittlerweile an Alters-schwäche gestorben sein. Doch vielleicht war er un-ter einer gewaltigen Eiche dahingeschieden, und er, Damlo, würde die sterblichen Überreste des großen Mannes entdecken. Zusammen mit einer Notiz, mit der Brabantis, als er den Tod hatte kommen fühlen, sein famoses Schwert und seinen Elfenbogen demje-nigen vermachte, der ihn begraben würde. Und so würde Damlo darangehen, eine große Grube auszu-heben und…

»Damlo Rindgren!« Vor ihm reckte sich Tante Nei-la hoch, die Hände in die Seiten gestützt. »Weißt du, wie spät es ist? Ich wollte mich gerade auf die Suche nach dir machen! Warum bist du so spät dran?«

»Entschuldige, Tante.« »Was ist passiert? Warum bist du von oben bis un-

ten mit Staub bedeckt?« »Ich bin ausgerutscht, aber den Kopf habe ich mir

kein bißchen angeschlagen!« »Schau mir in die Augen: Hast du wieder die

Krämpfe bekommen?« »Nein, Tante, wirklich nicht!« »Warum bist du dann so spät dran?«

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»Ich habe gar nicht bemerkt, daß es schon so spät ist.«

»Du hast es nicht bemerkt? Gestern hast du es auch nicht bemerkte Genau wie vorgestern! Und wa-rum hast du es ›nicht bemerkt?‹ Willst du mich vor Sorge umbringen? Jetzt sag mir, was ich mit dir ma-chen soll! Und schau, was du mit deinem Hemd auf-geführt hast! Bei all der Arbeit, die ich in diesen Ta-gen im Gasthaus habe! Ich kenne keinen Jungen, der so selbstsüchtig und ungehorsam ist wie du!«

Neila packte ihn an einem Ohr und zerrte ihn durch die Tür. In der großen Gaststube war Onkel Pelno Scalbulin dabei, die Rückenlehne eines Nacht-stuhles zu schnitzen. Als er die beiden eintreten sah, warf er seiner Frau einen kurzen Blick zu. Sie schüt-telte leicht den Kopf, und er erhob sich.

»Zwei Stunden Verspätung!« rief er. »Schäm dich! Schäm dich! An deine Tante hast du wohl nicht gedacht, wie? Weißt du, daß wir uns gerade auf die Suche nach dir machen wollten? Wie oft habe ich dir schon gesagt, daß du pünktlich sein sollst!«

»Schon oft, Onkel.« »Na, wenigstens gibst du es zu! Warum ist es also

so spät geworden?« »Ich habe nicht auf die Zeit geachtet.« »Es kommt mir fast so vor, als tätest du das ab-

sichtlich! Warum hast du nicht bemerkt, wie spät es ist?«

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Damlo antwortete nicht. »Ich werde dir sagen, warum: Statt an deine

Pflicht zu denken, hast du vor dich hin geträumt! Du hast dich wieder einmal im Wald herumgetrieben, und du weißt genau, daß das gefährlich für dich ist! Was wäre geschehen, wenn du einen Krampfanfall bekommen hättest?«

»Du hast ja recht, Onkel.« »Natürlich habe ich recht! Und du würdest ein

paar tüchtige Hiebe mit dem Riemen verdienen!« Es war nur eine leere Drohung. Der Onkel hatte

weder Damlo noch seinen eigenen Sohn je die Peit-sche spüren lassen.

»Ja, Onkel. Es tut mir leid.« »›Es tut mir leid‹ reicht nicht! Was ich will, ist,

daß du rechtzeitig nach Hause kommst!« »Es wird nicht mehr passieren, Onkel.« »Das möchte ich dir auch raten! Eine Entschuldi-

gung ist einfach nicht genug, wenn man mit zwei Stunden Verspätung nach Hause kommt! Ver-schwinde in dein Zimmer. Heute gehst du ohne A-bendbrot ins Bett.«

»Und morgen arbeitest du so wie an allen anderen Tagen, auch wenn es dein Geburtstag ist«, fügte Nei-la hinzu, während Pelno den Neffen mit einem Schubs Richtung Treppe beförderte.

Sie sahen ihm nach, wie er nach oben stieg und blieben stehen, bis sie die Stufen nicht mehr unter

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Damlos Schritten knarren hörten. Schließlich setzte sich der Wirt hin und fuhr mit seiner Schnitzarbeit fort. Neila schmiegte sich an ihn und legte ihm das Kinn auf die Schulter. So blieben sie eine Weile schweigend aneinandergelehnt, bis Pelno den Stichel weglegte und seiner Neila unbeholfen über den Kopf strich.

»Du mußt dich damit abfinden, Frau«, sagte er, »denn früher oder später wird es geschehen.«

»Ich weiß.« »Wir haben ihn schon länger bei uns behalten

können, als zu hoffen war.« »Ich weiß.« »Darüber müssen wir froh sein.« »Ich weiß.« »Gut.« »Es ist nur … Ich wünsche mir so sehr, daß es

nicht im Wald geschieht…« »Ich auch, Frau, ich auch«, seufzte Pelno und griff

wieder nach dem Stichel.

Damlos Kämmerchen befand sich im obersten Stockwerk, dem dritten über der Gaststube. Immer wenn die Herberge nicht übervoll war und er deswe-gen zu Vetter Trano ziehen mußte, war es sein eige-nes Reich – das heißgeliebte Nest und vor allem ein Sperrgebiet für den Rest der Welt. Selbst die Tante respektierte diese stillschweigende Übereinkunft und

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vertraute darauf, daß ihr Neffe die Kammer so sauber und in Ordnung hielt, als unterzöge sie sie einer re-gelmäßigen Kontrolle.

Wiederum glimpflich davongekommen, dachte der Junge, als er an die Fensterluke trat. Solange ich nur morgen nicht mit dem Polieren der Kupferpfannen dran bin … Er stützte die Hände auf das Fenstersims und betrachtete die Stelle, wo sich die beiden unter-schiedlichen Baumrinden vereinigten.

Vor langer, sehr langer Zeit waren an jenem Platz, wo sich nun Gasthaus samt Herberge befanden, die Schößlinge einer Esche und eines wilden Apfelbau-mes aus dem Boden gesprossen. Dann hatte Maspo Gemmalampo das Dorf Waelton gegründet, und die Bäume in dieser Gegend lernten nicht abzusterben. So waren die Esche und der Apfelbaum weiterge-wachsen, bis ihre Stämme einander berührten. Wären es gewöhnliche Bäume gewesen, hätten sie wohl um die Eroberung des eigenen Lebensraumes gekämpft; aber es waren Riesenbäume, und so hatten sich ihre Rinden nach und nach miteinander vereinigt, und sie waren als ein Organismus weitergediehen. Doch ob-wohl sie sich nunmehr einen Stamm teilten, hatten sie ihre jeweilige Eigenart bewahrt und sich darauf beschränkt, ihre besten Eigenschaften zusammenzu-legen. Dadurch war der wilde Apfelbaum auch im-stande gewesen, es der Esche gleichzutun, als diese ihn an Höhe zu überragen begann. Und die Esche

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brachte kleine runde Früchte hervor, die zwar keine richtigen Äpfel waren, diesen jedoch an Geschmack sehr nahekamen.

Damlo blickte hinab. Aus dem Haupteingang des Gasthauses, etliche Dutzend Fuß weiter unten, stieg der einladende Duft von Schmorfleisch nach oben. Dem Jungen lief plötzlich das Wasser im Mund zu-sammen. Es war hart, nach einem Tag voller imagi-närer Kämpfe, einem langen Lauf und einem Krampfanfall ohne Abendbrot auszukommen. Uner-heblich, sagte er sich: Wenn man Gefangener von Orks ist, sollte Hunger das geringste der Probleme sein. Der große Brabantis hätte auch nicht gejammert und seinen Kerkermeistern zu verstehen gegeben, wie sehnlich er sich einen Teller Geschmortes her-beiwünschte! Und sie sollten sich nur nicht einbil-den, ihn allzulange hier eingesperrt halten zu können: Er verfügte über einen umfangreichen Vorrat an Tricks, um aus Orkverliesen zu entkommen…!

Damlo lehnte sich aus dem Fensterchen. Über dem Blättergewölbe funkelte der Mond im dunklen Samt des Himmels wie ein Edelstein und sandte sein Licht auch zu den unteren Ästen der Apfelesche. Für alle Jungen Waeltons galt das strenge Verbot, auf die Riesenbäume zu klettern. Weil die Äste dick waren, vermittelten sie ein falsches Gefühl von Sicherheit und verleiteten dazu, sich auf ihnen zu bewegen, als wären es Bretter. Tatsächlich jedoch waren es nur

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mächtige Zylinder, und ein Fehltritt konnte ganz leicht passieren. Grundsätzlich wurde dieses Verbot allgemein eingehalten, obwohl jeder Waeltoner zu-mindest einen Baum im Leben hochgeklettert war – jenen, in dem er wohnte.

Doch für Brabantis hatte dies selbstverständlich keine Geltung. Damlo lief zum Bett und zog den lan-gen Stachel eines Stachelschweines unter der Matrat-ze hervor. Er besaß etliche davon, und allesamt wa-ren sie seit langem schon in den Rang von Elfenpfei-len erhoben. Doch dieser hier war der einzige, der noch in der Herberge geblieben war. Am Vortag hat-te Damlo alle anderen in seine Höhle gebracht und sie dort zusammen mit seinen anderen Schätzen zu-rückgelassen.

Der Stachel war in diesem Augenblick jedoch kein Elfenpfeil, sondern der berühmte Degen des Braban-tis, dessen Klinge mit der Schneide aus Gold nun gleißend hell nach Orkblut gierte. Als ihn die Ker-kermeister durchsucht hatten, war ihnen der Degen, verborgen in seinem Stiefelschaft, entgangen. Mit ei-ner magischen Handbewegung ließ der Junge das Türschloß lautlos aufspringen. Brabantis war zwar erst einige Jahrhunderte nach dem Raub der Magie geboren, doch wenn er spielte, gestattete Damlo sol-chen logischen Erwägungen nicht, ihm Knüppel zwi-schen die Beine zu werfen.

Er öffnete vorsichtig die Tür der Kerkerzelle, wo-

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bei er die Angeln mit einer komplizierten Zauber-formel zum Schweigen brachte. Ein rascher Hieb mit dem Degen, und der Ork, der vor der Zellentür Wa-che hielt, fiel auf der Stelle tot um. Doch dann ent-schied Damlo, es würde unterhaltsamer sein, auf eine andere Art zu entfliehen, und trat wieder in die Kammer.

Er kehrte ans Fenster zurück. Der Dorfplatz darun-ter war nun der Hof der Orkfestung. Niemand in Sicht. Behende wie ein Eichhörnchen kletterte der Junge auf das Fenstersims und zog sich drei Fuß zum nächsten Ast hoch. Entkommen! Brabantis, dem be-rühmten Orkjäger, war wieder einmal die Flucht ge-lungen! Doch irgend etwas konnte mit einer so einfa-chen Flucht nicht stimmen, da mußte es einen Haken geben… Und tatsächlich, auf der Brücke (der Wunsch genügte, und der Ast verwandelte sich au-genblicklich in eine schlanke Bogenbrücke) tauchte eine ganze Kompanie Orks auf.

Schwarz und häßlich, nicht ganz so groß wie Damlo, aber mit Muskelsträngen, die unter der schmutzigen, behaarten Haut hervortraten, kamen sie knurrend näher und fletschten die Reißzähne, wäh-rend ihnen der Geifer in Bächen über die stinkenden Rüstungen lief.

Schon aus einiger Entfernung erledigte Damlo mit dem Elfenpfeil gut die Hälfte von ihnen, und dann, als ihm die anderen auf den Pelz rückten, verwandel-

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te er den Stachel erneut in den Degen des Brabantis. »Ber-Intaal!« schrie er innerlich aus voller Kehle.

Dies war der Name des Dorfes, in dem die Orks die Familie des Helden massakriert hatten, und den er in-folgedessen zu seinem Schlachtruf gemacht hatte.

Auf dem Ast hin und her springend brachte Damlo das Blutbad mit einer Serie wütender Degenhiebe zu einem Ende. Wie einfältig sie doch waren! Um Bra-bantis in Bedrängnis zu bringen, dachte der Junge, müßten sie ihm mit zehnmal so vielen Streitkräften zusetzen! Aber schau an: als hätten sie das gehört, tauchten aus allen Richtungen weitere Orks auf, und diesmal wurden sie von einem riesigen schwarzen Drachen unterstützt! Drachen waren zwar seit lan-gem ausgestorben, doch ohne diese Nebensächlich-keit zu beachten, setzte sich Damlo hingebungsvoll zur Wehr.

Der Kampf entpuppte sich als derart schwer, daß es der Junge an einem gewissen Punkt in Betracht zog, sich selbst in einen Drachen zu verwandeln – in einen roten natürlich, entsprechend der Farbe seiner Haare. Doch dann entschied er, daß ihm der Zauber-degen reichen mußte, und schließlich gelang es ihm, den Feind zu besiegen, indem er ihm das Herz durchbohrte.

Erschöpft, aber zufrieden setzte er sich hin und lehnte den Rücken an einen dünneren Ast. Der Hauptplatz von Waelton, nur schwach erhellt vom

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Schein des Mondes und der Laternen, war von oran-geroten und bläulichen Schatten erfüllt. Auf andere Menschen hätte er vielleicht düster gewirkt, doch Damlo kannte jedes Steinchen da unten, und die Nacht war ihm immer schon ein Freund gewesen. So konnte er sich an den Kontrasten erfreuen, denn er wußte um die Herkunft eines jeden Schattens: Dieser dort stammte von dem krummen Ast, der wie der Bogen eines Elfs aussah, jener von dem Karren, der mit zwei kaputten Speichen vor der Werkstatt des Wagenmachers stand, dieser da von dem Korb mit Kleidern, der seit einer Woche am Ahornbaum des Färbers lehnte, und jener drüben vom Standbild des Gründers von Waelton, das gegenwärtig von einem Gerüst umgeben war.

Es war seltsam, das Denkmal aus dieser Perspekti-ve zu betrachten; Maspo Gemmalampo hielt eine Hand auf seine berühmte Axt gestützt, während die andere hoch erhoben einen dicht belaubten Baum umklammerte. Es schien, als wollte er ihn dem Himmel anbieten, und dieser Eindruck hatte ganz gewiß auch in der Absicht des Künstlers gelegen. Trotz der tausend Kunstgriffe, die jene zahlreichen Männer angewandt hatten, die im Laufe der Jahrhun-derte für ihre Pflege verantwortlich gewesen waren, sah die Statue, die ja ein lebender Baum war, heute ganz anders aus als das Original. Von der stattlichen Gestalt des Gründers von Waelton war nicht viel

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mehr übrig geblieben als eine stilisierte Erinnerung und der Arm, der den Baum zum Himmel streckte – einen Baum, der mittlerweile fast den gleichen Um-fang hatte wie der Brustkorb des Mannes, der ihn hielt. Doch die Waeltoner bekümmerte dies nicht, und die sporadischen Vorschläge, das Denkmal neu zu schnitzen, wurden stets mit großer Mehrheit abge-lehnt.

Da erhob sich plötzlich ein leichter Wind, und Damlo begann zu frieren. Es war nicht die Jahreszeit, in der man nachts draußen verweilte, ohne wärmende Kleider anzuziehen oder hitzige Kämpfe auszutragen – dem Todeshauch eines Drachens flink auszuwei-chen brachte einen bekanntlich gehörig ins Schwit-zen! Aber nun hatte Brabantis ja gesiegt, und so kehrte der Junge wieder in seine Kammer zurück. Fröstelnd zog er sich aus und schlüpfte rasch unter die Decke. Während es unter dem Federbett ange-nehm warm wurde, spürte er, wie der Schlaf kam. In dieser Nacht würde er vierzehn Jahre alt werden und morgen als Erwachsener aufwachen. Wie sich das wohl anfühlen mochte?

Diesmal jedoch war der Schlaf schneller als die Phantasie, und der Junge schlummerte ein.

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An seinem vierzehnten Geburtstag, kurz nachdem die Mittagsgäste gegangen waren, hockte Damlo auf den Knien in der Gaststu-be. Tische und Schemel hatte er zur Seite

geschoben, so daß zwischen dem Hintereingang der Apfelesche und der Küche nur ein schmaler Durch-gang geblieben war. Ein voller Wassereimer stand vor ihm, und der Junge bearbeitete mit dem nassen Lappen in seiner Hand mit aller Kraft den Boden. Nachdem das Holz gesäubert und mit Sägespänen getrocknet war, würde er das Wachs auftragen und danach polieren, bis es glänzte: die anstrengendste Aufgabe.

Er hatte erst vor kurzem mit der Arbeit begonnen, und der Umstand, daß die Stube ziemlich groß war, hielt ihn davon ab, zwischendurch auch nur den Kopf zu heben. Aber eine Strafe war nun mal eine Strafe, und er schätzte sich glücklich, daß ihm nicht die

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Kupferpfannen zugefallen waren. Das war an diesem enttäuschenden Geburtstag der einzige Trost, wenn er davon absah, daß ihm die Tante das Frühstück ausnahmsweise in seiner Kammer serviert hatte.

Nachdem er am Morgen als Vierzehnjähriger er-wacht war, hatte bereits die erste Ernüchterung auf ihn gewartet. Als er beim Ankleiden kontrollierte, bis wohin ihm heute die Ärmel reichten, hatte er keiner-lei Veränderung zum Vortag bemerkt. Auch der Saum der Hosenbeine schien ihm in gleicher Höhe die Waden zu umspielen wie gestern. Kein Zweifel, er war im Schlaf nicht gewachsen. Aber vielleicht ließ er die Phantasie einfach zu sehr mit sich durch-gehen, schalt er sich. Wenn er recht überlegte, konn-te er sich nicht daran erinnern, daß jemals irgend je-mand über Nacht seine Statur verändert hätte.

Er wusch sich nur flüchtig in der weißen Wasch-schüssel, die seiner Mutter gehört hatte, und dann, als er sich anschickte, seine Kammer zu verlassen, griff er im Vorbeigehen lässig nach dem Stuhl und versuchte, ihn mit einer Hand zu heben. Nein, stärker war er über Nacht auch nicht geworden. Trotz allem: tief in seinem Inneren war er weiterhin der festen Überzeugung, daß von diesem Tage an sein Leben von Grund auf verändert sein würde. Das Verhältnis zur Legion würde sich verbessern, redete er sich ein – was sich recht bald überprüfen ließe, denn an die-sem Morgen erwartete Falno Gallaspessa sie alle

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zum Unterricht im Versammlungsbaum. Damlo trat als letzter ein und durchschritt den

kleinen Saal aufrecht und selbstsicher, überzeugt, daß sein neues Alter allen gebührend zu Bewußtsein kam. Den Legionären entbot er einen freundschaftli-chen Gruß, überwand seine Angst und setzte sich zwischen Proco Radicupo und Neto Boscorame. Das hatte er noch nie zuvor gewagt, doch eigentlich war es keine große Angelegenheit: Gallaspessa hatte die Augen stets überall und duldete es nicht, daß die Jungen einander ärgerten, während er unterrichtete.

Dennoch sollte es nicht mehr als eine symbolische Geste sein, wenn sich Damlo zwischen die beiden setzte. In seiner frischen Eigenschaft als Erwachse-ner fühlte er sich heute besonders großzügig und hat-te beschlossen, der Bande ein wenig von der Last der Aussöhnung abzunehmen. Einigermaßen verwundert behielten ihn die Kameraden für eine Weile im Auge und nahmen dann wiederum kichernd das Getuschel auf, das Damlo so gut kannte. Und während der gan-zen letzten Stunde machten sie ihn zur Zielscheibe ihrer raschen und gewollt gleichgültigen Blicke, die stets der Inszenierung irgendeines Anschlages auf ihn vorangingen.

Bis zum Vortag hätte Damlo unter Vortäuschung einer ähnlich gespielten Gleichgültigkeit nach dem Ende des Unterrichts den Versammlungsbaum ver-lassen und sich schleunigst auf den Heimweg ge-

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macht. Und nur sein Stolz hätte ihn davon abgehal-ten, in Laufschritt zu fallen, noch ehe die Verfolgung richtig eingesetzt hatte. Heute hingegen war er vier-zehn Jahre alt und damit erwachsen geworden. Heute würde er der Bande entgegentreten.

»Legionäre!« rief er, sobald die anderen Schüler gegangen und sie allein geblieben waren. »Heute ist mein Geburtstag. Mein vierzehnter Geburtstag, hört ihr? Das ist ein sehr wichtiger Tag, zum ersten, weil noch nie jemand wie ich dieses Alter erreicht hat. Zum zweiten, weil ich von heute ab kein Junge mehr bin. Ich bin nun erwachsen!«

In Erwartung überraschter Ausrufe unterbrach er sich kurz, doch als er sah, daß ihn die anderen nur stumm anstarrten, ergriff er wieder das Wort.

»Ich merke, wie unerwartet diese Neuigkeit für euch kommt, aber alle werden früher oder später einmal groß. Ich bin am heutigen Tag soweit. Dar-über bin ich glücklich, denn ich warte schon lange auf diesen Augenblick. Ich hoffe, daß ihr euch zu-sammen mit mir darüber freut, auch wenn dieser Umstand, wie ihr sicher verstehen werdet, das Ver-hältnis zwischen uns verändern wird. So liegt es zum Beispiel auf der Hand, daß ihr euch ab sofort nicht mehr an meine Fersen hängen könnt und mich so respektieren müßt wie die anderen Erwachsenen. Selbstverständlich verlange ich nicht, daß ihr euch für das entschuldigt, was ihr mir angetan habt, als ich

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noch klein war. Lassen wir Vergangenes ruhen und vergessen wir es für immer.«

Fasziniert verfolgten Proco, Busco und der Rest der Legion seine Rede. Gefangen in einem fast an-dächtigen Schweigen wollten sie ihren Ohren nicht trauen. Schon die Tatsache, daß der Feigling nicht sofort nach dem Ende des Unterrichts davongeschos-sen war, hatte sie verblüfft; der Rotkopf war schnell und hatte eine bemerkenswerte Fähigkeit entwickelt, der Bande unter der Nase zu entweichen. Daß er sich nun freiwillig und ohne den Lehrer in seiner Nähe zu wissen in die Falle begeben hatte, konnten sie ein-fach nicht fassen. Doch die unglaubliche Litanei von Albernheiten, die er nun von sich gab, verblüffte sie beinahe noch mehr. Nicht einmal er konnte so dumm sein, diesen Schwachsinn zu glauben, daher mußte etwas anderes dahinterstecken. Und so wartete die gesamte Waelton-Legion gespannt darauf herauszu-finden, welchen Trick ihnen der Rote da unterjubeln wollte, ehe sie ihm ans Fell gingen.

Doch Damlo war fast sofort klar geworden, daß er einen Fehler gemacht hatte, und so redete er seit ei-ner ganzen Weile nur noch, um Zeit zu gewinnen. Nicht, daß er irgendwelche Hoffnungen gehegt hätte: Er wußte, daß er in der Falle saß, und sah ganz und gar keinen Ausweg. Darüber hinaus war er noch nie ein großer Redner gewesen, und sowie ihm die Ein-fälle in Form dieser absurden Ansprache aus dem

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Mund flossen, wurden sie in seinem Kopf auch schon durch heftige Wogen von Panik ersetzt.

Er war gerade dabei, der Legion »die Zukunft in Frieden und Wohlergehen« auszumalen, »welcher sich die Einwohnerschaft von Waelton in Folge die-ses vollendeten vierzehnten Lebensjahres erfreuen« würde, als er erkannte, daß er sich nicht aus der Klemme ziehen konnte, wenn er hierblieb. Seine ein-zige Hoffnung bestand darin, so rasch wie möglich die Beine in die Hand zu nehmen.

Während er den einschläfernden Tonfall, den er seiner Stimme seit geraumer Zeit verliehen hatte, un-verändert beibehielt, trat er an die Übersichtskarte von Waelton heran, die neben der Tür hing, und fing an, minuziös jede Einzelheit der Einflußzonen zu be-schreiben, die er und die Legion sich von nun an würden teilen müssen.

In Anbetracht der Frechheit, die aus dieser Zumu-tung sprach, hatte er sich dieses Thema als letztes aufgespart. Während die Bande der Wanderung sei-nes Fingers auf der Karte entgeistert folgte, öffnete Damlo mitten in einem Satz und ohne den Fluß sei-ner Rede abreißen zu lassen die Tür, trat hindurch und schloß sie leise hinter sich. Dann rannte er los. Als ihn Procos mörderisches Aufheulen einholte, hatte er den Versammlungsbaum schon verlassen.

Der Rest seiner Flucht verlief ereignislos. Indem er die engsten Gäßchen wählte, war Damlo für seine

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Verfolger nie mehr als eine zwischen den Stämmen der Riesenbäume hin und her flitzende Gestalt. Sie konnten keinen einzigen Stein nach ihm werfen, und der Junge erreichte den Dorfplatz mit einem Vor-sprung, der ausreichte, um seine Schritte zu verlang-samen und das Gasthaus ohne Hast zu betreten.

Gleich darauf traf auch Trano ein, der ihn, da er der Legion ebenfalls angehörte, mitverfolgt hatte. Doch sobald er sich in der Stube befand, brach er in Lachen aus. Sie hatten einander sehr gern, die beiden Vettern, und obwohl sie keine wirklich engen Freun-de waren, gab es zwischen ihnen einen eisernen Zu-sammenhalt, seit langem geschmiedet, um ihre Laus-bubenstreiche vor der Tante zu vertuschen. Außer-halb der Apfelesche wurde aus Trano jedoch wieder der Legionär, der Damlo zwar noch nie persönlich verprügelt hatte, aber an allen Verfolgungen beteiligt war.

Neila Rindgren, die von alldem nichts wußte, lä-chelte und schickte die beiden Jungen zum Hände-waschen. Zum Geburtstag des Neffen hatte sie ge-füllte, mit langen Zahnstochern zusammengehaltene Fleischrouladen zubereitet. Es war Damlos Lieb-lingsessen, dem er vor Jahren schon einen neuen Namen gegeben hatte: »Lanzen und Drachen«.

Sobald die Mittagsgäste gegangen waren, ver-sammelten sich die Familienmitglieder bei Tisch. Es war eine fröhliche Tafel, und am Ende des reichli-

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chen Mahles gestattete Onkel Pelno den Jungen ein Schlückchen Birkenlikör – eine große Ausnahme zur Feier von Damlos Geburtstag.

Danach ging Neila hinaus und kam nach einer Weile mit den Wassereimern und dem Sägemehl zu-rück. Damlo wunderte sich nicht: sowohl er als auch Trano waren mit der ehernen Regel aufgewachsen, daß Strafen, die verhängt wurden, auch zu verbüßen waren. Und wenn die Apfelesche untergehen sollte.

So hatte der Junge Tische und Schemel zur Seite geschoben und sich mit großer Anstrengung ans Scheuern gemacht: Er war ungeduldig, fertig zu wer-den. Die einzige Ablenkung, die er sich gönnte, be-stand im gedankenverlorenen Betrachten der Zeich-nungen, die die Wachstumsringe im Holz der Apfel-esche hinterlassen hatten. Allein jene im Boden der Gaststube zählten viele Hunderte, und nicht zwei da-von glichen einander. Jedes Jahr fügte der Baum ei-nen Ring hinzu, und aus seiner Dicke und Form konnte Damlo erkennen, ob dieses bestimmte Jahr ein gutes oder ein schlechtes gewesen war. Der Bo-den der Stube schien über und über mit Intarsien ver-ziert, und der Junge sah darin die Berge, Täler und Flüsse einer Phantasiewelt, die er schon des öfteren gesäubert hatte.

Er hatte erst ein halbes Stündchen gearbeitet, als er spürte, daß da jemand war. Er hob die Augen: Die

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Fäuste auf die Hüften gestemmt und den Blick dro-hend auf ihn gerichtet, schien Neila Rindgren die Tür zur Küche auszufüllen. Sie war so wütend, daß sie zuerst kein Wort herausbrachte.

Was habe ich jetzt wieder angestellt? fragte sich der Junge. Doch dann, noch ehe die Wirtin der Ap-felesche etwas sagen konnte, fiel es ihm ein: die Kis-ten mit dem Brennholz! Da er am Vortag ohne Abendbrot zu Bett geschickt worden war, hatte er die Holzbehälter nicht wie vorgehabt wieder auffüllen können, und nun hatte die Tante bemerkt, daß die Reservekiste leer war!

»Ich weiß schon! Du hast recht! Entschuldige! Ich gehe schon. Es dauert nur eine Minute!« rief er, sprang wie eine Feder auf die Füße, und noch ehe sein letztes Wort verklungen war, flitzte er schon durch den Hinterausgang des Gasthauses nach drau-ßen.

Der Holzschuppen befand sich in einer ausgehöhl-ten Hainbuche, die etwa dreißig Schritte von der Ap-felesche entfernt wuchs. Der Junge riß die Tür auf und stürzte hinein, ergriff die Axt und fing an, Holz-blöcke zu spalten, als ginge es um sein Leben. In ei-nem Winkel lag noch der Vorrat, den er am Tag, be-vor er die Felsenhöhle entdeckte, zum Zeitvertreib angelegt hatte. Daher mußte er sich nur die größten Blöcke vornehmen. Davon spaltete er die notwendi-ge Mindestmenge und warf die Scheite in einen gro-

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ßen Weidenkorb, den er mit den dünneren Spänen auffüllte. In diesem Augenblick war es wichtiger, möglichst schnell zu sein, als die vorgeschriebenen Maße einzuhalten!

Obwohl er sich entsprechend beeilt hatte, schien es ihm, als hätte er ein Jahr gebraucht, und so füllte er, um die Tante zu besänftigen, den Korb wirklich randvoll. Nachdem er ihn sich unter größter Anstren-gung auf den Rücken gehievt hatte, rannte er schnell aus dem Schuppen. Die Gurte schnitten ihm ins Fleisch, und das Gewicht seiner Last zwang ihn zu einem schlurfenden, schwankenden Gang. Egal, sag-te er sich, es sind nur dreißig Schritte bis drüben, und so mache ich wenigstens einen guten Eindruck. Wie durch ein Wunder schaffte er es, ohne zu stolpern, durch die Hintertür des Gasthauses und stürzte in die Stube.

Neila erwartete ihn mit blitzenden Augen, die Hände immer noch in die Seiten gestemmt. Während sich Damlo mühsam an den Tischen vorbeibewegte, begann er, um eine brauchbare Ausrede zu erfinden, einfach zu reden. Und als Zeichen seines guten Wil-lens beschleunigte er das Tempo. Seine Augen fixier-ten die großen Hände der Tante: Wenn sie sie wei-terhin zu Fäusten geballt hielt, dann würde die Sache nicht allzu schlimm ausgehen.

Hätte er Neilas Hände nur einmal aus den Augen gelassen, wäre ihm der Eimer mit schmutzigem Was-

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ser, der verlassen mitten auf dem Boden stand, recht-zeitig aufgefallen. Und hätte er sich nicht in vollem Schwung befunden, wäre es ihm vielleicht trotzdem gelungen, dem Eimer noch auszuweichen oder ihn im Vorbeirennen nur leicht anzustoßen. So hingegen bemerkte er das Hindernis erst im letzten Augen-blick. Er machte instinktiv noch den Versuch, dar-über zu springen, aber der Korb mit dem Brennholz lastete schwer auf seinen Schultern. Und so schnell-ten seine Beine zwar mit vollem Einsatz hoch und strengten sich an, ihn in ausreichende Höhe zu he-ben, doch die Riemen des Korbes hielten ihn uner-bittlich auf dem Boden fest.

Die Katastrophe war vollkommen: Mit voller Wucht krachte Damlos Fuß gegen den Rand des Ei-mers und stieß ihn um; der Eimer rollte davon, was eine kleine Überschwemmung hervorrief. Vom Ge-wicht seiner Last vorwärtsgetrieben, stolperte Damlo über einen Schemel, worauf dieser in Trümmer ging und einen Hagelschauer aus Holzteilen über die gan-ze Stube verstreute. Und schließlich, als hätte das al-les noch nicht gereicht, stand Onkel Pelno, noch während das Holz in alle Richtungen flog und Damlo auf dem Boden lag, mit dem ersten fremden Gast der Saison in der Eingangstür.

Ein Rabe, der so schwarz war wie der Umhang des Mannes und dabei so reglos, daß er auf den ersten Blick wie ausgestopft wirkte, saß auf der linken

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Schulter des Fremden. Der Mann hatte die Kapuze tief in die Stirn gezogen, so daß unter ihrem Rand gerade noch seine Augen mit Pupillen wie Steckna-delköpfe hervorstachen. Offenbar hatte der Fremde seinen Abscheu vor dem hellen Tageslicht ins Halb-dunkel der Gaststube mitgebracht. Voll getroffen von den umherfliegenden Teilen des Schemels, fluchte er in einer unbekannten Sprache und versetzte – wäh-rend Pelno noch mit offenem Mund das Desaster an-starrte, das der Neffe angerichtet hatte – Damlo einen Tritt ins Gesicht.

»Narr!« zischte der Fremde, diesmal in einer für alle verständlichen Sprache.

Pelno Scalbulin und Neila Rindgren führten das Gasthaus seit etlichen Jahrzehnten und waren an die Unhöflichkeit und Arroganz mancher Gäste ge-wöhnt; doch dieses Mal hatte der Fremde jede Gren-ze überschritten. Während Neila mit einem besorgten Aufschrei zu ihrem Neffen lief, versetzte ihr Mann dem Fremden in Schwarz einen heftigen Stoß.

Onkel Pelno war groß und kräftig, und seine Wut-ausbrüche waren in ganz Waelton berüchtigt. Es wä-re nicht das erste Mal gewesen, daß er einen Gast aus seinem Haus warf – eventuell sogar mit ein paar Ohrfeigen als Wegzehrung. Und so ballte er wutent-brannt die Hände zu Fäusten und holte aus.

Zu mehr kam er nicht. Mit einer fließenden, blitzschnellen Bewegung

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verlängerte der Fremde die Drehung, in die ihn der Stoß versetzt hatte, wodurch er außerhalb der Reich-weite von Pelnos Fäusten kam. Erstaunlicherweise war der Rabe auf seiner Schulter sitzen geblieben und machte kaum Anstalten, auch nur die Flügel zu heben; und wie durch Zauberei erschien in der Hand des Mannes ein Degen. Es war eine fremdartige, töd-lich aussehende Waffe mit einer langen, dünnen und tiefschwarzen Klinge. Wortlos hob der Unbekannte die Spitze des Degens in die Höhe von Pelnos Au-gen, wobei ihm die Kapuze auf die Schultern fiel und die Sicht auf ein krankhaft blasses, ja grünlich wir-kendes Gesicht freigab. Sein Blick jedoch glitzerte so bösartig und amüsiert, daß er Pelnos Wut noch ra-scher zum Erkalten brachte als die gezückte Klinge.

Damlo sah, wie der Onkel erstarrte. Langsam, ganz langsam, führte der Fremde die

Spitze des Degens an Pelnos Gesicht heran. Die Klinge schien sich in eine Schlange zu verwandeln, die, ihrer Beute sicher, das Opfer in aller Ruhe um-schlang. Indem er sich reichlich Zeit nahm, um sich an der Angst des anderen zu weiden, setzte der Mann in Schwarz allmählich die Bewegung fort und ließ die Spitze der Klinge in Pelnos Mund wandern. In dieser Stellung blieb er fast eine Minute reglos ste-hen.

Im Gegensatz zu seinem Herrn atmete der Rabe sichtbar rascher; die tückischen Augen auf Pelno ge-

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richtet, starrte er ihn mit halb offenem Schnabel an. Alle in der Gaststube waren wie gelähmt vor Schre-cken.

Da begann der Mann in Schwarz zu sprechen. »Unverschämter Flegel«, sagte er, »du hast Glück, daß ich meine Klinge nicht mit deinem Blut be-schmutzen will. Und jetzt trage mir etwas zu essen auf.«

Er sprach fast ohne die Lippen zu bewegen, seine Stimme klang klebrig wie Fischleim. Der herrische, verächtliche Tonfall schaffte es, zugleich unheilvoll und hypnotisierend zu wirken. Und so senkte Pelno Scalbulin, der stolze und fröhliche Onkel Pelno, un-ter den bestürzten Blicken seiner Familie den Blick und gehorchte.

Auch Neila sagte kein Wort. Sie half Damlo beim Aufstehen und begleitete ihn nach oben. Unter dem Fußtritt des Fremden war ihm die Haut über dem Ba-ckenknochen aufgeplatzt. Die Tante streute Ringel-blumenpulver in die Verletzung, nachdem sie das Blut gestillt hatte, schob die Wundränder aneinander und bestrich sie mit einer Salbe, die das Harz einer riesigen Weide enthielt; sodann preßte sie die Platz-wunde mit den Fingern zusammen, bis die Salbe aus-reichend hart geworden war.

Immer noch unter Schock stehend, verspürte Dam-lo keinen Schmerz und klagte kein einziges Mal, was die offene Bewunderung Tranos hervorrief, der der

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Verarztung mit größter Neugier beigewohnt hatte. Die Bewunderung schlug jedoch schnell in Groll

um, als die Tante, nachdem sie den Neffen unter sein Federbett gesteckt hatte, bestimmte, daß »die Ver-wundeten nicht arbeiten«, und daß daher Trano, nachdem der Fremde gegangen war, den Vetter mit Eimer und Lappen zu vertreten habe. Trano protes-tierte heftig und ging dabei so weit zu enthüllen, daß am Nachmittag ein wichtiges Treffen der Bande stattfinden sollte. Doch die Tante blieb unerbittlich: Der Verletzte sollte das Bett hüten, und Trano mußte das Bohnerwachs auf den Boden der Gaststube auf-tragen.

Als Damlo später hinunterging, unter dem Arm ein in ein sauberes Tuch eingeschlagenes Buch, war der Vetter immer noch wütend – aber doch nicht so sehr, daß er darauf verzichtet hätte, sich wichtig zu ma-chen. Und so erzählte er Damlo sofort, daß er den Fremden die ganze Zeit, die dieser im Gasthaus ver-brachte, beobachtet hatte. Sein Onkel, hörte Damlo, hatte persönlich die Speisen aufgetragen und ohne Widerrede akzeptiert, daß ihn der Fremde zwang, von jedem Gang einen ersten Bissen zu nehmen. Während der Mahlzeit hatte der »Schwarze Degen« eine Menge Fragen über bestimmte Zwerge gestellt. Es schien, als hätte er anfangs nicht geglaubt, in die-sem Frühjahr wahrhaftig der erste Fremde auf der

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Durchreise durch Waelton zu sein. Doch als er schließlich überzeugt war, hatte er sich über die Be-dingungen auf dem Blauen Paß erkundigt, sodann den Schnabel des Raben mit einer roten, körnigen und säuerlich riechenden Salbe bestrichen und den Vogel in südlicher Richtung wie eine Brieftaube da-vongeschleudert. Und dann war er gegangen, ohne zu bezahlen.

Pelno hingegen war nach oben gestiegen und mit einer kleinen Armbrust zurückgekommen, die er hin-ter dem Tresen verstaute.

»Es ist eine richtige Waffe«, betonte Trano, »und für uns gilt das Verbot, sie anzurühren. Wenn mein Vater draufkommt, daß wir damit spielen, zieht er uns mit dem Riemen die Haut ab! Mama wollte nicht, daß er sie hierbehält, aber er sagte, daß finstere Zeiten auf uns zukommen und man sich vorsehen muß. Finstere Zeiten«, wiederholte Trano eindring-lich und mißmutig, »wie die, die auf dich zukom-men! Weil es deine Schuld ist, wenn ich das Treffen versäumt habe!«

Damlo machte sich nicht einmal die Mühe zu ant-worten. Wenn der Vetter so schlechte Laune hatte, war nichts mit ihm anzufangen. Und außerdem dau-erten in seinen, Damlos, Beziehungen zur Legion die finsteren Zeiten schon seit geraumer Zeit an. Also rief Damlo der Tante zu, daß er auf dem Weg in die Bibliothek war, und verließ, ohne die düsteren Blicke

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Tranos zu beachten, die Gaststube. Das Sonnenlicht fiel durch die Zweige der Riesen-

bäume und legte sich weich auf die Gäßchen aus festgestampftem Erdreich. Der Weg, den Damlo ein-schlug, führte an der Werkstatt des Wagenbauers vorbei. Aus den Fenstern im zweiten Stock drang das Wimmern eines Neugeborenen; das war ein Klang, den man im Dorf ganz besonders gern hörte, denn die Waeltoner waren kein besonders fruchtbares Völkchen. Wenn eine Generation mehr als ein Dut-zend Neuankömmlinge zählte, dann war das schon ein Grund zum ausgiebigen Feiern.

Während Damlo so dahinmarschierte, schwirrte ihm weiterhin die Sache mit der Zusammenkunft der Bande durch den Kopf. Er stellte sich die Legionäre vor, wie sie an ihrem geheimen Versammlungsplatz im Kreise saßen und damit beschäftigt waren, Ge-heimnisse auszutauschen, von denen er für alle Zei-ten ausgeschlossen bleiben würde.

Plötzlich merkte er an einem Magenkrampf, daß er die Straße zum Treffpunkt der Legion eingeschlagen hatte, und hielt mit einem Ruck inne. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, daß er hinter der Bande her-spionierte, aber heute mußte er das Buch zurückbrin-gen und hatte keine Zeit für solche Dinge.

Er drehte sich um, ohne jedoch den Rückweg an-zutreten. Mach dir doch nichts vor, sagte er sich, du hast alle Zeit der Welt! Die Wahrheit ist, daß du dir

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vor Angst in die Hosen pinkelst! Die Bande hat wirk-lich recht: Du bist ein Feigling!

Nein! Das stimmt nicht! Es ist nur so, daß ich zu meiner Höhle will, nachdem ich das Buch abgeliefert habe. Ich habe nicht die Zeit, erst zum Versamm-lungsplatz der Legion zu gehen, dann in die Biblio-thek und dann noch zur Höhle.

Feigling! Ich bin kein Feigling. Ich will es nur nicht darauf

ankommen lassen, wieder zu spät nach Hause zu kommen.

Feigling! Die Legionäre hatten es sich zur Gewohnheit ge-

macht, einmal im Monat zusammenzutreffen, um ih-ren Treueschwur zu erneuern, und Damlo wußte, zu diesem Ritual gehörte die Verpflichtung für jedes Mitglied, eine Geschichte zu erzählen; diese Zu-sammenkünfte wurden »epische« Treffen genannt, und die Geschichten der Jungs waren es durchaus wert, belauscht zu werden. Wenn Proco Radicupo anfing, sein Garn zu spinnen, brachte er es zu einer solchen Meisterschaft, daß er sogar seine übliche Präpotenz vergessen ließ.

Damlo wischte sich die Hände an den Hosenbei-nen ab und machte sich auf den Weg. Hier war die Gasse kaum breiter als zwei Ellen; die Riesenbäume hörten nie auf zu wachsen, und ihre Rinden kamen einander dabei immer näher. An den ältesten Stellen

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des Dorfes waren die Wände einiger Wohnungen be-reits ineinander gewachsen, und dort hatte es sich als notwendig erwiesen, Tunnel zu graben, um wieder Durchgangsmöglichkeiten zu schaffen. Früher oder später, sann der Junge, würde ganz Waelton zu ei-nem einzigen riesigen Baum werden.

Angenehm, wenn es regnet, dachte er, um nicht an die Legion zu denken.

Kurz darauf ließ er die Ortschaft hinter sich. Der Sitz der Waelton-Legion befand sich auf einem stei-len Hügel, der die Gemüsegärten des Dorfes über-blickte. Oben auf dem Gipfel stand ein Riesenbaum, dessen Stamm etwa zehn Schritt dick war. Vor lan-ger Zeit hatte ihn ein Blitz getötet, und die Waeltoner waren sofort darangegangen, einen kleinen nutzbaren Raum daraus zu gewinnen; doch dann hatte man den Baum aus irgendeinem Grund nicht weiter bearbeitet und sich selbst überlassen.

Während er die Augen unablässig auf den Gipfel des Hügels gerichtet hielt, durchquerte Damlo in al-ler Eile die Gemüsegärten, die bis an den Fuß der Erhebung reichten. Niemand stieg je von dieser Seite aus nach oben, weil der Anstieg von der anderen Sei-te weit weniger steil war und hier die ganze Flanke des Hügels von Gestrüpp, Brennesseln und anderen Unkräutern überwuchert war.

Der Junge warf einen Blick zum Himmel; das schöne Wetter schien anzuhalten. Er ging zu einem

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wunderschön blühenden Kirschbaum und versteckte das Buch zwischen den Zweigen; so würde der kost-bare Band nicht beschädigt werden, falls er gezwun-gen wäre, Hals über Kopf davonzurennen.

Dann begann er mit aller Vorsicht den Aufstieg über den gewundenen Fußpfad. Er selbst hatte wäh-rend seiner vorangegangenen Expeditionen dort hin-auf den Pfad ausgetreten, wobei er den Verlauf so angelegt hatte, daß er im Zickzack zwischen den Ge-büschen und dem Unkraut hindurchführte und von oben nicht zu sehen war. Nun folgte er den vielen Biegungen und achtete sorgfältig darauf, die Pflan-zen, die sie säumten, nicht zu bewegen. Aber viel-leicht war dies eine ganz unnötige Vorsichtsmaß-nahme, denn nach den ersten enthusiastischen Mona-ten hatte die Legion aufgehört, Wachtposten aufzu-stellen.

Oben verbarg sich das Ende des Pfades in einem Haselnußstrauch, dessen Früchte Damlo in der Zeit, als sie reif geworden waren, mit besonderer Befrie-digung geplündert hatte. Als er unter dem Strauch angekommen war, senkte der Junge den Kopf und ließ den Blick unter dem Blattwerk hervor über den Gipfel des Hügels wandern. Er kam nicht an den Riesenbaum heran, ohne das Geäst des Strauches zu bewegen, und falls einer der Legionäre den Baum gerade verlassen hatte und sich im Freien befand – zum Beispiel, um zu pinkeln –, würde er diese Be-

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wegung bemerken. Doch das Frühlingsgras stand hoch, und Damlo konnte nicht viel sehen. So verließ er sich mehr auf seine Ohren als auf die Augen und wartete zur Sicherheit einige Minuten ab; dann streckte er in der tiefen Stille, die ihn umgab, eine Hand aus, um einen belaubten Zweig zur Seite zu biegen.

Und mit einem Mal geschah es. Aus dem Augen-winkel gewahrte Damlo blitzschnelle, elegante Be-wegungen hinter sich. Er erstarrte auf der Stelle, den Arm noch erhoben und das eigene wilde Herzklopfen in den Ohren. Nach einer Weile fand er Mut, den Kopf langsam zu wenden, aber wie üblich sah er gar nichts. Er wartete noch ein paar Augenblicke, um sich zu beruhigen, und wollte dann wieder nach dem Zweig greifen. Doch von neuem waren diese zu-ckenden Bewegungen da – und diesmal ausgespro-chen hektisch. Nun nahm er sie nicht mehr nur aus dem Augenwinkel wahr, sondern konnte sie klar ausmachen, ohne sie tatsächlich zu sehen. Sie schie-nen ihn wie körperlose Herzschläge zu umkreisen: reine Bewegungen ohne Substanz. Ein Tanz ohne Tänzer.

Es dauerte ganz kurz, und dann beruhigte sich al-les wieder. Während er sich noch von dem Schre-cken erholte, hörte Damlo das Geräusch von eiligen Schritten. Rasch legte er den Kopf wieder flach auf die Erde und beschränkte sich darauf, unter dem

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Strauch hervorzulugen. In diesem Augenblick kam Balso Verdoglio mit

schweißnassen Haaren auf der anderen Seite von un-ten herauf. Kein Legionär hätte je ein episches Tref-fen verlassen, ohne sich zuvor Procos Geschichte an-zuhören, aber Balso war ein Neuling, der zuletzt Hinzugekommene – und somit derjenige, dem stets die unangenehmsten Pflichten zufielen. Und jetzt wartete er, vornübergebeugt und die Hände auf die Knie gestützt, sichtlich darauf, wieder zu Atem zu kommen, bevor er zu den anderen ins Innere des Baumes ging. Damlo schüttelte sich: Hätte er nur ei-ne Minute zuvor den Schutz des Strauches verlassen …

Als er sich halbwegs erholt hatte, betrat Balso den Versammlungsraum der Legion, und Damlo nutzte den Moment, um rasch an den Baum heranzukom-men. Der Blitz hatte den Stamm gespalten, die Rinde war voller Risse. An einen davon legte Damlo ein Auge. Auf dieser Seite war die Wand ziemlich dünn, und der Junge konnte sehen und hören, was im Inne-ren des Baumes geschah. Es handelte sich tatsächlich um ein »episches« Treffen, das dort im Gange war, wenngleich es sich leider schon seinem Ende näher-te. Balso Verdoglio war reglos am Eingang stehen-geblieben und wartete dort ab, daß der Anführer der Bande seine Erzählung abschloß.

Damlo war enttäuscht und verärgert über den spä-

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ten Zeitpunkt, zu dem er eingetroffen war: Proco sprach gerade über die Legion von Gualcolan, nach deren Vorbild er die Legion von Waelton gegründet hatte. Es war eine wunderschöne Geschichte, und Damlo kannte sie auswendig; aber es war eben etwas ganz anderes, sie von Proco erzählt zu hören, als sie selbst zu lesen. Am Ende setzte sich Proco nieder, und die anderen, die im Kreis um ihn herumsaßen, schwiegen ein Weilchen; offenbar versuchten sie, die Lebendigkeit der heraufbeschworenen Bilder in ihren Gedanken festzuhalten – jeder einzelne tief in seine eigene Vision versunken, aber alle gemeinsam.

Und Damlo kamen die Tränen. Könnte er doch auch in diesem Kreis sitzen! Ohne Worte zusammen mit den anderen die eben gehörte Geschichte auskos-ten! In dieser Stille, in der die enge Bindung zwi-schen den Jungen widerzuhallen schien wie der Ton einer zum Zerspringen gespannten Saite, war es Bal-so Verdoglio, der das Schweigen entweihte – und da-für verabscheute ihn Damlo.

»Auftrag erledigt!« verkündete Balso ganz stolz. »Der Rote ist in der Bibliothek! Er ist daran schuld, daß Trano im Gasthaus gefangen ist und den Boden wachsen muß!«

Empört fingen alle an, gleichzeitig zu reden: Diesmal hatte die feige Memme die Grenze über-schritten! Die Strafe dafür würde denkwürdig ausfal-len!

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»Aber vorher müssen wir ihn noch kriegen!« jammerte Neto Boscorame.

»Wir kriegen ihn – und wie!« Procos Stimme beb-te vor Wut.

»Aber sicher nicht heute«, wandte Neto ein. »Wenn Onkel Melvo sieht, daß wir in die Bibliothek schleichen, greift er zum Hosenriemen!«

»Er will ihn doch nicht in der Bibliothek fassen, du Dummkopf!« entgegnete Busco und warf einen verstohlenen Blick auf Proco. »Er will sagen, daß wir unsere Vorgehensweise ändern müssen, weil die Verfolgungsjagden keinen Zweck mehr haben!«

»Ganz recht«, nickte Proco. »Wenn er uns gestern abend nicht so überraschend

entwischt wäre, hätten wir ihn geschnappt; deshalb werden wir ihm in Zukunft Fallen stellen.«

»Genau!« rief Proco und strahlte. »Die Bibliothekslinde hat einen einzigen Ausgang,

und von dort bis zum Gasthaus ist der Weg für einen Hinterhalt günstig. Außerdem ist der Rote auf so et-was nicht gefaßt, und daher wird er nicht auf der Hut sein.«

»Er bleibt dort bis abends, um zu lesen«, fügte Proco hinzu, »wie immer. Wir haben genügend Zeit, eine Falle vorzubereiten.«

»Sehr gut«, freute sich Busco. »In der Geschichte der Waelton-Legion beginnt heute eine neue Ära. Der Feigling wird seinen vierzehnten Geburtstag

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nicht so leicht vergessen!« Er sprang auf und ließ die Finger knacken. »Balso«, befahl er, »geh hinaus und hol viel trockenes Holz! Wir müssen die Lanzenspit-zen härten und brauchen Feuer.«

Mit zwei raschen Sätzen ging Damlo in Deckung und machte sich dann vorsichtig an den Abstieg. Er wür-de jetzt sofort zur Bibliothek laufen, um das Buch zurückzugeben, beschloß er und dankte dem Him-mel, daß er das nicht vorher erledigt hatte. Danach würde er den Rest des Nachmittages in seiner Höhle verbringen und auf dem Heimweg den Hinterhalt in großem Bogen umgehen.

Um zur großen Linde zu kommen, mußte er Wael-ton erneut durchqueren, und als er auf den Haupt-platz kam, überlegte er, seinen letzten Elfenpfeil aus der Kammer zu holen. Doch dann sagte er sich, daß es besser wäre, das Schicksal nicht herauszufordern: Wenn ihn die Tante in ihrer Nähe erblickte, bestand die Möglichkeit, daß sie ihre Meinung über die Ver-letzten, die nicht zu arbeiten brauchten, änderte.

Er drückte sich rasch um die Ecke, um nicht am Eingang des Gasthauses vorbeigehen zu müssen, und bemerkte einen kleinen, mit einer wasserundurchläs-sigen Plane bespannten Wagen, der neben der Apfel-esche abgestellt und über und über mit Schlamm be-deckt war. Südlich der Bunten Berge hatte es seit Tagen nicht geregnet, also kamen die Fremden aus

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dem Norden. Sie mußten es sehr eilig haben, wenn sie den Blauen Paß so früh im Jahr überqueren woll-ten: Der Schnee war noch nicht vollständig ge-schmolzen und die Lawinengefahr groß. Einen Au-genblick lang dachte Damlo an das arme Pferd, das den Karren auf die Berge gezogen hatte, solange die Straßen noch nicht sicher passierbar waren. Er liebte alle Tiere, aber Pferde faszinierten ihn ganz beson-ders, und die Tiere der Gäste zu versorgen, war eine seiner Lieblingspflichten. Oft stellte er sich dabei vor, auf einem davon an der Spitze einer Kavallerie-schwadron zu reiten, während er den Sturm gegen ein Heer von Orks befehligte.

Auf dem ganzen Weg malte er sich aus, ein Hauptmann der berühmten Lanzenreiter von Drassol zu sein, und hörte erst mit seinen Träumereien auf, als er vor dem Eingang des Bibliotheksbaumes an-kam.

Wie so häufig blieb er ein Weilchen davor stehen, um ihn zu betrachten. Auf den beiden Türflügeln be-fanden sich wunderschöne Schnitzereien: die Dra-chin Kaxalandrill auf dem rechten lächelte Maspo Gemmalampo auf dem linken zu. Und im Hinter-grund sah man die Lichtung, auf der sich, nach der Legende, die beiden Verliebten zum ersten Mal ge-troffen hatten, ehe sie, lange danach, Waelton grün-deten. Wie alle Waeltoner war auch Damlo daran gewöhnt, von Kunstwerken umgeben zu sein – ganz

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besonders, wenn es sich um Holzarbeiten handelte. Dennoch konnte er nicht umhin, jedes Mal, wenn er auf dem Weg in die große Linde war, ein paar Minu-ten vor dem Tor zu verweilen und es zu betrachten. Maspo und Kaxalandrill schienen jeden Augenblick aus dem Relief heraussteigen zu wollen und sich zugleich, offenbar festgehalten von der Gegenwart des anderen, nicht dafür entscheiden zu können.

An Maspos Axt hing ein fein bearbeitetes Holztä-felchen, auf dem die Öffentlichkeit davon in Kennt-nis gesetzt wurde, daß die Linde wegen Inventur ge-schlossen hatte. Damlo schmunzelte. Er wußte ge-nau, wie Melvo Boscorame die Zeit verbrachte, wenn er behauptete, sich der Neuordnung der Bücher widmen zu müssen.

Der Junge lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den linken Flügel der Kaxalandrill, öffnete die Tür jedoch nur so weit wie unbedingt nötig, weil er wußte, daß sie knarrte, sobald der Spalt größer wur-de.

Er trat ein und schloß die Tür hinter sich, ehe er das Buch aus der Schutzhülle wickelte – einem alten Hemd Onkel Pelnos. Es war ihm natürlich klar, wo er den Bibliothekar finden würde, doch noch ehe er die Treppe hochstieg, nahm er sich die Zeit, durch die leeren Räume im Erdgeschoß zu schlendern, in Ruhe den eigenen Schritten in der Stille zu lauschen und den Duft von Büchern und Talgkerzen sowie den

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leichten, fast unmerklichen Geruch nach Schimmel zu genießen.

Hier, auf diesen Regalen im Erdgeschoß, standen die weniger kostbaren Werke. Damlo ließ die Finger über die Zierleisten der Borde und dann über die Bü-cher selbst wandern. Eine Menge Staub lag überall, und Damlo beschloß, daß er an einem der nächsten Tage, sobald es die Arbeit im Gasthaus erlaubte, her-kommen und Staub wischen würde. Melvo Bosco-rame war so verliebt in seine seltenen Bücher, daß er die anderen Abteilungen ein wenig vernachlässigte.

Ohne Eile stieg der Junge die Treppe hoch, ließ die Hand über das bemalte Geländer gleiten und vermied es geschickt, auf jene Stufen zu steigen, die unter den Schritten zu knarren pflegten. Schon im ersten Stock konnte Damlo das Gebrumm des Alten hören. Er lächelte. Sobald Melvo Boscorame die Linde für die Öffentlichkeit schloß, stieg er hinauf in das Zimmerchen, in dem die ältesten Werke aufbe-wahrt wurden und wo er Stunden und Stunden damit zubrachte, die ohnehin schon glänzenden Lederein-bände liebevoll zu polieren, seine Bücher zu strei-cheln und laut mit ihnen zu sprechen.

Doch wenn er Damlo kommen hörte, legte er rasch das Buch aus der Hand und tat so, als arbeite er soeben daran, einen unrettbar verdorbenen Band zu kopieren. Vor dem Jungen schlug er seine Schätze nie auf: Das Licht könnte die Tinte ausbleichen, be-

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hauptete er, doch Damlo hegte den Verdacht, daß es sich bei diesem Problem eher um eine Art Eifersucht handeln mochte und nicht um den kümmerlichen Schein der Kerzen. Denn oft, wenn er die Treppe hochstieg, hörte er schon von unten das Rascheln, das beim Durchblättern eines Buches entstand.

Der Junge lehnte sich seitlich ans Geländer, und beim Knarren des uralten Holzes erstarb das Ge-murmel oben augenblicklich. Als Damlo in den Raum im dritten Stock eintrat, wandte ihm Melvo den Rücken zu und war von der Schreibarbeit offen-bar völlig in Anspruch genommen. Der Bibliothekar hatte so weißes Haar, daß es fast bläulich erschien; er war sehr groß, und wenn er stand, füllte er mit seiner Stattlichkeit praktisch die ganze Kammer. Doch das häufige Beugen über die Bücher hatte seinen Rücken gekrümmt, und wenn er so wie jetzt sitzend arbeitete, schien er sich rund um sein Werk zusammenzurollen.

Damlo blieb stehen und wartete schweigend, wäh-rend er zusah, wie Melvo den Gänsefederkiel in die Tinte aus Eichengalle tauchte und das Papier des neuen Buches behutsam mit seiner Schrift versah. Er selbst, dachte Damlo, hätte wohl Jahre gebraucht, um ebenso elegante Schriftzüge zustande zu bringen.

Ein winziges Krümelchen aus dem alabasternen Tintenfaß war an der Feder hängengeblieben, der Bibliothekar aber bemerkte es rechtzeitig und wisch-te sie an dem Tüchlein ab, das dazu bereitgelegt war.

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Dann tauchte er sie erneut ins Tintenfaß, diesmal je-doch ohne den Boden des Behälters zu berühren, und schrieb weiter.

»Irgend jemand hat schon wieder einmal das Tin-tenfaß offengelassen!« brummte er, ohne sich umzu-drehen.

Er kopierte in aller Ruhe den Absatz zu Ende und reinigte dann sorgfältig den Federkiel im Lappen, ehe er den Deckel auf das Tintenfaß klappte und sich langsam Damlo zuwandte. Seine hageren, ernsten Gesichtszüge entspannten sich, während er ein wenig die Augen zusammenkniff, um den Blick scharf auf Damlo zu richten.

»Nun, Rindgren. Du hast mir das Buch zurückge-bracht?«

Ohne zu antworten, legte Damlo den Band mit al-ler Behutsamkeit auf den Tisch. Die goldenen Runen des Titels glänzten im Kerzenlicht. Mißtrauisch nahm Melvo das Buch in Augenschein; dann erhob er sich, zog ein sauberes Tuch aus einer Truhe und wischte den Einband sorgfältig ab, ehe er es an sei-nen Platz im Regal zurückstellte.

»Hast du es genau gelesen?« »Ja, Herr Melvo.« »Wirklich?« »Wirklich.« »Das freut mich. Nun, dann denke ich, daß du mir

jetzt ein weiteres Buch davontragen willst?«

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»Ja, bitte! Wieder eines mit Geschichten, wenn das möglich ist!«

Mit langsamen, weit ausholenden Schritten ging der Alte vor den Regalen auf und ab und ließ den Blick wehmütig über die darin steckenden Bände wandern. Damlo konnte fast hören, wie seine Ge-danken ein »Dieses nicht« nach dem anderen skan-dierten und allmählich all jene Werke von der Liste strich, bei denen er eine Verleihung nicht übers Herz brachte.

Nach einer eingehenden Prüfung seiner Schätze zog er schließlich das Buch heraus, das Damlo so-eben zurückgebracht hatte. »Wir wollen zuerst ein-mal sehen, wie gut du es studiert hast.«

Im Jahr zuvor hatte der Bibliothekar, zermürbt von Damlos ewigem Gebettel, beschlossen, den Jungen auf die Probe zu stellen, und versprochen, ihm Bände mit alten Legenden zu zeigen, sobald er gelernt hätte, die Runen zu lesen, in denen sie geschrieben waren. Keine riskante Angelegenheit, hatte der Alte gedacht, denn die Jungen haben ohnehin nur Lust zu rennen, zu lärmen und allerlei Unfug zu treiben… Doch zu seiner großen Verblüffung war dieser Junge daran-gegangen, die alte Schrift tatsächlich zu studieren. Er hatte schnell gelernt und nicht nur bewiesen, daß er sich einer Sache mit größter Zähigkeit widmen konn-te, sondern auch, daß er eine außerordentliche Sprachbegabung mitbrachte.

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Doch es war nicht nur das Interesse, weswegen sich Damlo solche Mühe gab. Melvo Boscorame war einer der wenigen Waeltoner, der ihn seiner Haare wegen nicht schief ansah, und so lag Damlo viel dar-an, dem Alten Freude zu bereiten. Das gelang ihm so gut, daß er inzwischen der einzige Junge war, dessen Anwesenheit in der Linde Melvo in diesen Monaten strengen Unterrichts und schwieriger Hausaufgaben ohne Rüffel und Murren duldete. Wenn es so weiter-ging, überlegte Damlo, dann würde er vielleicht in einigen Jahren dauernd in der Bibliothek arbeiten können, denn das Gasthaus würde ja dereinst mit Recht seinem Vetter Trano zufallen. Doch bisher hat-te der alte Bibliothekar noch nie einen Assistenten ertragen.

Jedenfalls hatte sich der alte Boscorame im Vor-monat mit Damlos Fortschritten ausreichend zufrie-denerklärt und – schon jetzt unter dieser Entschei-dung leidend – zugelassen, daß eines seiner heißge-liebten Bücher aus der Linde entfernt wurde. Es war in modernem Zwergisch geschrieben, aber das Ru-nenalphabet war dasselbe wie jenes der antiken Sprache, in der die kostbarsten Bände der Bibliothek abgefaßt waren. Die Abmachung lautete, daß Damlo das Werk so lange studieren mußte, bis er imstande war, laut und flüssig daraus vorzutragen.

»Wohlan«, sagte Melvo, »such dir eine Geschichte aus und lies sie mir vor.«

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Damlo legte das Buch auf den Tisch und tat so, als würde er es an einer zufälligen Stelle aufschlagen; in Wahrheit wählte er die Erzählung aus, die er am bes-ten kannte – für den Fall, daß er über irgendein schwieriges Wort stolperte, wollte er improvisieren können.

»Die Legende von Gualcolan«, las er. Sofort unterbrach ihn der Alte: »Zuvor sagst du

mir, Rindgren, wovon diese Legende handelt.« »Von der Zeit, als die Legion noch nicht existierte

und 367 Gualcolaner, auf sich allein gestellt, die In-vasion der Völker aus dem Süden vereitelten.«

»Gut. Und wo liegt Gualcolan?« »Etwa neunhundert Meilen südlich von Waelton

auf den Spitzen Bergen.« »Richtig. Und die Zwerge, wo leben die?« »In den Steinbergen«, antwortete Damlo, ohne den

Sinn der Frage zu verstehen. »Im Norden, jenseits der Bunten Berge und des Tales von Tresin.«

»Und woher taucht dann dieser Akzent auf? Wie oft habe ich dir schon gesagt, daß du dir nicht von zwergischen Kaufleuten helfen lassen sollst, die im Gasthaus Rast machen! Also! Gualcolan liegt mehr als zwölfhundert Meilen von den Steinbergen ent-fernt! Und auch wenn sie in Runenschrift verfaßt ist, so betrifft doch die Legendensammlung, die ich dir anvertraut habe, die ganze Welt. Daher ist es über-haupt nicht notwendig, die Namen von Orten, die

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nichts mit Zwergen zu tun haben, mit zwergischem Akzent auszusprechen!«

»Jawohl, Herr Melvo«, erwiderte der Junge gedul-dig und fing erneut zu lesen an.

Alles in allem ging es gar nicht so schlecht. Einige Male erfand Damlo in Sorge, nicht flüssig genug zu lesen, rasch das eine oder andere Wort, und der Alte bemerkte dabei auch nur den gröbsten Fehler: »… und der Krieg brach mit größter Heftigkeit aus.«

»Rindgren!« »Ja, Herr Melvo?« »Was steht wirklich da geschrieben?« Der Junge wurde rot und schob die Kerze dichter

an das Buch heran. ›»Die Schlacht entflammte blu-tig‹, aber die Tinte hat sich ein wenig verwischt, und ich…«

»Das passiert öfter in den alten Büchern, aber nur deshalb darfst du dir doch nicht erlauben, den Text auswendig herzusagen, oder, noch schlimmer, etwas zu erfinden. Wenn du das schon bei einem kurzen Lesestück tust, was schreibst du dann erst, wenn du dein tausendstes Werk kopierst?«

»Sie haben recht, ich werde besser achtgeben.« Damlo mußte seine ganze Willensstärke aufbieten, um vor Freude keinen Luftsprung zu machen: Es war das erste Mal, daß der alte Boscorame so offen eine künftige Beschäftigung Damlos in der Bibliothek an-deutete. Der Junge schluckte aufgeregt, konzentrierte

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sich auf die Lektüre und beendete sie ohne weitere Zwischenfälle.

Eine Viertelstunde später lief Damlo, das neue Buch ins Hemd des Onkels eingeschlagen, zwischen den Bäumen hindurch zu seiner Höhle.

Waelton war umgeben vom sogenannten »Wolfs-wald« – ein uralter Name, denn niemand erinnerte sich, in dieser Gegend je einen Wolf gesehen zu ha-ben. Zum größten Teil unerforscht, erstreckte sich der Wald von den Bunten Bergen bis zu den weiten Grasebenen im Süden, wobei er sich über ein endlo-ses Auf und Ab anfangs schrofferer Berge und dann immer sanfterer Hügel dahinzog. Bis zur Eibengabe-lung, einhundertachtzig Meilen südlich des Blauen Passes, wurde er von einer einzigen Straße durch-quert; es gab keinen anderen Weg für die Reisenden, die sich von der Hegemonie Eria zum Tal von Tresin begeben wollten. Die andere Straße, jene über den Weißen Paß, verlief etwa dreihundert Meilen weiter südwestlich, und obwohl erheblich bequemer, war dieser Übergang so weit entfernt, daß es die Kaufleu-te aus Drassol und den anderen nördlichen Städten vorzogen, den Weg durch Waelton zu nehmen.

Während er so dahintrabte, ließ sich Damlo wie üblich ganz von seinen Phantasien gefangennehmen. Nachdem er wieder aus der Haut des Brabantis ge-schlüpft war, hatte er sich nunmehr in einen Waldelf verwandelt: fröhlich und geheimnisvoll. Er bewegte

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sich elegant, behende und mit ruhiger Leichtigkeit – und kam so lautlos voran, daß ihn die Wildkaninchen und Eichhörnchen manchmal erst dann bemerkten, wenn sie seine Witterung aufnahmen. Sobald er ein Damhirschjunges entdeckte, nahm er dort Aufstel-lung, wo sich das Hin und Her seiner närrischen Sprünge kreuzte, und so gelang es ihm des öfteren, dem jungen Hirsch über das Fell zu streichen, ehe dieser ihn auch nur wahrnahm. Dann kam der Wald-elf auf die Idee, dem Tier mit einer schelmischen Geste die Furcht zu nehmen und brach in fröhliches Lachen aus. Bei diesem Geräusch leerte sich die Lichtung natürlich schlagartig, der Junge aber ging bereits in seiner nächsten Phantasie auf, und sein Elf scherzte schon mit einem Grashalm oder hielt eine Biene zum Narren, indem er ihr unversehens den ganzen Duft einer Blume wegatmete. Hin und wieder gewahrte er hinter sich eine der wohlbekannten zu-ckenden Bewegungen, doch mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt. Er hatte keine Angst mehr davor und beachtete sie kaum – diesmal betrachtete er sie als Rache der Bienen, oder er machte Elfenkumpane daraus und schloß sie in das Geschehen mit ein.

Die Höhle war etwa eine Stunde Fußmarsch von Waelton entfernt. Damlo hatte sie bei einem Spiel vier Tage zuvor entdeckt. Er kämpfte gerade gegen eine riesige Schar von Banditen und um nicht von ih-rer Umzingelung erdrückt zu werden, war er den

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Stamm einer Eiche hochgeklettert, eines gewöhnli-chen, besonders hohen Baumes, der an der höchsten Stelle eines Hügels stand und seine Äste über einen Abgrund hinausstreckte. Vor einiger Zeit mußte ein größerer Erdrutsch den Gipfel des Hügels abgerissen haben – die Eiche hatte sich geneigt. Doch in der Folge hatten sich ihre Wurzeln wieder gefestigt, und nun wuchs sie stark und unbeugsam hart am Rande des Nichts.

Die Banditen – wenigstens tausend an der Zahl – hatten Damlo bis auf die halbe Höhe des Stammes hinaufgejagt; sie waren heute angriffslustiger als sonst, und der Junge mußte ihren Säbelhieben ohne Unterlaß ausweichen. Aus diesem Grund hatte er das Gleichgewicht verloren.

Unter dem Baum waren hundertfünfzig Fuß Leere, und während er abstürzte, erwartete Damlo, in Kürze zerschmettert den Tod zu finden. Doch einen Augen-blick später endete sein Fall mit einem kräftigen Aufprall an einem schmalen Felsvorsprung, der kaum über den oberen Rand des Abgrundes hinaus-ragte und eine Terrasse formte, die nicht breiter war als zwei Armlängen. Von oben war sie nicht zu se-hen gewesen, weil sich die alten Wurzeln des Bau-mes ins Leere hinausstreckten und ihn so verbargen. Und genau dort, wo die Terrasse einen rechten Win-kel mit der senkrechten Wand bildete, bemerkte Damlo einen schmalen horizontalen Riß im Fels –

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eine Art gigantische Kratzwunde, gerade nur so hoch, um einer Person in gebückter Haltung Durch-laß zu gewähren.

Vergessen waren Schrecken und blaue Flecken; Damlo schlüpfte augenblicklich hindurch. Der Riß im Gestein setzte sich innen mit einem Stollen fort, der sich nach etwa fünfzig Schritten fast schlagartig erweiterte und zu einer richtigen Höhle wurde. Die Luft roch rein und frisch, und auch wenn er die Hand nicht vor den Augen sah, fühlte sich der Junge nicht unbehaglich.

Von Schächten, die sich in Grotten plötzlich unter den Füßen von unbesonnenen Abenteurern auftun, wußte er alles, aber an diese Gefahr dachte er nicht im entferntesten. Ohne ihn wirklich gesehen zu ha-ben, erkannte er diesen Ort als sein ureigenstes Fleckchen: einladend und ohne jegliche Bedrohung. Erfüllt von stiller Verwunderung tastete er sich mit Hilfe der Hände an den steinernen Wänden entlang. Der Staub auf dem Boden, der sich dort im Laufe unzähliger Jahre angesammelt hatte, strich ihm weich über die Füße.

Die Höhle war nicht größer als die Gaststube der Apfelesche, und die Wände waren übersät von Ni-schen, Rissen und Spalten. Es gab auch eine Quelle irgendwo da oben: Das Wasser rann teils an einer Wand herab, teils fiel es von einem Punkt in der Hö-he, der zu weit oben lag, als daß man feststellen

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konnte, wo er sich befand. Das fröhliche Getröpfel begleitete Damlo jedenfalls auf jedem Schritt dieser ersten Erforschung.

Am nächsten Tag kehrte er ausgerüstet mit Fa-ckeln zurück und ließ sich häuslich in der Höhle nie-der. Er entdeckte sofort, daß der Rauch nach oben weggesaugt wurde, machte ein hübsch loderndes Feuer auf dem Boden und suchte anschließend den Gipfel des Hügels von außen länger als eine Stunde nach einer Öffnung ab. Aber er nahm nicht einmal den Geruch des Feuers wahr, und so konnte er schließlich sicher sein, daß der Rauch sein neues Versteck nicht verraten würde.

Dann erst brachte er seine Schätze in die Höhle und verteilte sie auf die steinernen Nischen: einen Notproviant – vier von Tante Neilas berühmten Ho-nigplätzchen –, die schönsten Steine aus seiner Sammlung, eine ansehnliche Reserve Geschosse für die Steinschleuder und eine alte, mit Flicken übersäte Decke. An die am besten sichtbaren Stellen legte Damlo jene Gegenstände, an denen sein Herz in be-sonderer Weise hing: ein Messerchen mit abgebro-chener Klinge, den Hauer eines Wildschweines, in den er eigenhändig einen Bären geritzt hatte, die Borsten eines Stachelschweines und das Ergebnis seines ersten Versuches, Pergament herzustellen. Kein großer Erfolg, wenn er ehrlich war: Da ihm die Kalkmischung, in die die Schafshaut eingelegt wur-

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de, mißlungen war, hatte er mit dem Glätten der Haut begonnen, noch ehe sie vollkommen trocken war, und daraufhin einen stinkenden, rissigen Lappen er-halten. Einzig aus sentimentalen Gründen hatte er sich von dem Ding noch nicht getrennt.

Auf einer Seite der Höhle befand sich ein langer, schmaler Vorsprung im Fels und formte ein natürli-ches Bord. Das war der Platz, auf dem Damlo seinen kostbarsten Schatz aufbewahren wollte, einen rötli-chen, leicht grau gesprenkelten Stachel, den er auf dem Boden der Höhle gefunden hatte. Der Stachel wirkte länger als sein Arm und ziemlich leicht; das erste Stück war zylindrisch und hohl und fast einen Zoll dick, danach verflachte er sich, wurde scharf-kantig und endete in einer nadelharten Spitze. Der Junge hatte keine Ahnung, von welchem Tier der Stachel stammte und hatte sofort entschieden, daß es sich nur um einen Drachen handeln konnte. In einer kurzen, aber dramatischen Zeremonie hatte er dem Stachel, unter dessen Hieben schon zahllose Feinde ihr Leben lassen mußten, den Namen »Zauberdegen« gegeben. Damlo hatte ihm sogar einen Korb aus Horn verpaßt, den er unter Einsatz aller Fähigkeiten, über die er als echter Waeltoner verfügte, mit kunst-vollen Gravierungen versehen hatte.

Nachdem er fast eine Stunde lang den Elfen ge-spielt hatte, kam der Junge bei der großen Eiche an. Er begrüßte sie liebevoll, indem er beide Hände auf

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die Rinde legte, ehe er den Stamm hochkletterte und sich bis zu jenem Punkt vorschob, an dem er hinab-gestürzt war. Als er sich zum x-ten Mal vergewissert hatte, daß auch wirklich niemand in der Nähe war, entschloß er sich, die zuckenden Bewegungen rund-um und das leise Murmeln, mit dem sie ihn freund-lich berieselten, nicht mehr zu beachten.

»Es ist wirklich nicht angebracht, mich so abzu-lenken, daß ich unaufmerksam werde und auch noch das Gleichgewicht verliere!« sagte Damlo halblaut vor sich hin.

»Daran fehlt es dir sicher nicht«, entgegnete eine dunkle Stimme langsam. »Das Leben hat dich mit einem seelischen Gleichgewicht ausgestattet, wie es nur einem von zehntausend mitgegeben wird!« Die Stimme verwandelte sich in ein tiefes, amüsiertes Knarren: »Auch wenn es nicht unbedingt das ist, was du gerade gemeint hast.«

Diesmal konnte Damlo beinahe die einzelnen Wörter ausmachen und seinem Vorsatz zum Trotz drehte er sich unvermittelt und mit dem ganzen Kör-per herum.

»Vorsicht, junger Rotschopf! Teufel auch, letztes Mal habe ich mir fast einen Ast abgebrochen, um dich doch noch auf diesen Felsvorsprung zu schub-sen!«

»Aber… Ist da jemand?« »Na klar! Hier sind viele, viele Jemande! Und

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nicht nur hier, sondern überall.« Damlo schüttelte den Kopf; manchmal schien es

nur der Wind zwischen den Ästen zu sein, doch dann wieder hatte er den Eindruck, tatsächlich würde je-mand sprechen. Ratlos stieg er wieder von der Eiche und suchte unter den Büschen und hinter den Bäu-men, wobei er unvermittelt hierhin und dorthin sprang, um einen möglichen Eindringling zu überra-schen.

»Hab Geduld, du rote Knospe! Das Leben hat ei-nen bestimmten Rhythmus, und alles geschieht zu seiner Zeit – falls es geschieht. Du wirst sehen und hören können – falls du überhaupt einmal sehen und hören kannst. Erst dann, und nicht einen Augenblick vor diesem Augenblick.«

Eine Viertelstunde später hatte es Damlo satt, die Gegend sinnlos zu durchsuchen. Er ließ sich an den Wurzeln der Eiche entlang hinab und schlüpfte in seine Höhle. Er deponierte das Buch, das ihm Melvo Boscorame mitgegeben hatte, auf einem völlig tro-ckenen natürlichen Bücherbord und machte einen ersten Kontrollgang durch sein Refugium. Alles war in Ordnung. Ein Weilchen spielte er mit den Stachel-schweinborsten herum – die in Wirklichkeit natürlich Elfenpfeile waren; jedes Mal, wenn er sie in die Hand nahm, entdeckte er eine neue Art und Weise, wie sie in seinen Besitz gekommen sein mochten.

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Heute jedoch konnten sie Damlo nicht anregen, und nach einigen Minuten wandte er seine Gedanken dem Zauberdegen zu.

Vor zwei Tagen, als er einen Igel dabei überrascht hatte, wie er eine Ringelnatter fing, hatte Damlo be-schlossen, dem Degen eine Scheide anzufertigen. Mit sanfter Gewalt entwand er dem Igel die Beute, zog ihr die Haut ab und erstattete den Rest der Ringelnat-ter dem rechtmäßigen Eigentümer zurück.

Dann behandelte er die Haut mit einer Harzmi-schung und ließ den Schlauch mit dem Zauberdegen in seinem Inneren trocknen, nachdem er den Degen zuvor noch mit einer dünnen Schicht Blätter umwi-ckelt hatte.

Er verließ die Höhle und trat an den äußersten Rand des Felsvorsprungs. An einem sonnigen Plätz-chen erwartete ihn sein gebrauchsfertiges Werk: Obwohl die Haut der Ringelnatter fast durchschei-nend wirkte, war sie widerstandsfähig und elastisch geworden und hatte sich somit in eine Scheide ver-wandelt, die sich in ihrer Form dem enorm langen Stachel wunderbar anpaßte.

Nachdem er sie am Gürtel befestigt hatte, zückte Damlo probeweise die Waffe. Er vollführte einige Hiebe durch die Luft, aber niemand erschien, um den Fehdehandschuh aufzunehmen. Daher steckte er den Degen zurück, setzte sich auf die Felskante und ließ die Füße über dem Abgrund baumeln. Komisch,

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dachte er, ich habe weder Lust zu spielen noch zu le-sen.

Die Nachmittagssonne war zwar nur mild, doch ihr Schein legte sich seit Stunden auf die Felswand und hatte es geschafft, sie zu erwärmen. Damlo lehn-te sich mit dem Rücken dagegen, hob das Gesicht und ließ sich von den Strahlen die Lider streicheln. Sofort kamen ihm die Wurzeln des Versammlungs-baumes in den Sinn. Nach oben gekrümmt ragten sie wie die halb angelegten Flügel eines Vogels links und rechts vom Eingang des Baumes fast eine Elle hoch aus der Erde. Sie waren glatt und glänzend, weil die Waeltoner sie schon seit Generationen als Bänke benutzten. Und wenn die Sonne darauf schien, nahm die Maserung des Holzes eine stark rostbraune Färbung an, die vom Licht mit kaum wahrnehmbaren grünen und gelben Blitzen gekrönt wurde und den Wurzeln einen Anschein von Leben und Bewegung verlieh.

Damlos größter Wunsch war, zusammen mit den anderen Jungen nach dem Ende des Unterrichts dort sitzen zu dürfen und gemeinsam die Sonne zu genie-ßen. So hingegen mußte er sich, während sich die anderen auf den Wurzeln niederließen, um vor dem Heimweg noch ein wenig zu schwatzen, schnell da-vonmachen, wenn er so rasch wie möglich nach Hause kommen wollte.

Er genoß noch ein wenig die Liebkosungen der

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Sonnenstrahlen und träumte dann davon, ein be-rühmter Kämpfer zu sein; er machte es sich auf einer Wurzel des Versammlungsbaumes bequem, wobei er mit einer routinierten Handbewegung den Degen zur Seite schob, als die Sonnenstrahlen seine Rüstung zum Glitzern brachten. Und die Mitglieder der Bande starrten ihn begeistert an und bestürmten ihn, von den Heldentaten zu berichten, die ihn mit Recht so berühmt gemacht hatten …

Er wachte auf, als die Sonne unterging, und wurde sich augenblicklich der Schwierigkeiten bewußt, in die er sich von neuem gebracht hatte: schon wieder zu spät dran!

Wie eine Sprungfeder schoß er hoch. Er kletterte an den Wurzeln der Eiche hoch, ohne sein Refugium noch einmal zu betreten, und setzte sich Richtung Waelton in Trab. Sogar das Buch von Melvo Bosco-rame vergaß er. Mitten auf dem Heimweg wurde es dunkel, er verlangsamte seinen Lauf jedoch nicht und versagte sich auch den Umweg zu der alten Buche, der er sonst immer einen Gruß entbot.

In vollem Tempo verließ er den Wald und durch-querte die Felder wie im Fluge. Um den Heimweg zu verkürzen, nahm er die Abkürzung durch die Obst-gärten der Venaraggio: In diesem Augenblick schreckte ihn der Gedanke an Binlas Hunde über-haupt nicht, und er kam auch bis ins Dorf, ohne ih-

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nen zu begegnen. Hier waren die Straßen einigerma-ßen beleuchtet. Flott rannte er weiter. Nur noch we-nige Quergäßchen trennten ihn vom Gasthaus, und so bog er wie der Blitz hinter der Bibliothek in die letzte Straße ein.

Der Hinterhalt! Damlo blieb wie angewurzelt ste-hen. Vor ihm hatten die Mitglieder der Waelton-Legion dicht an dicht Aufstellung genommen und blockierten seinen Weg. Es fehlten zwar sein Vetter und Proco Radicupo, aber das machte keinen Unter-schied: Die Zahl der Jungen reichte aus, um ein Durchkommen zu verhindern. In erster Linie des-halb, weil sie ihm ihre Lanzen mit den feuergehärte-ten Spitzen entgegenstreckten.

»Schau, schau!« grinste Busco. »Dem Roten geht die Puste aus!«

»Laßt mich durch! Ich bin schon spät dran, die Tante wartet auf mich!« Seine Stimme klang vor Angst ein wenig zittrig, wofür sich Damlo verab-scheute.

»Aber Trano hockt daheim! Und du bist schuld daran, daß er auch heute abend nicht weg darf! Daher wird das Tantchen noch eine ganze Weile auf dich warten müssen!«

Der Junge spürte, wie die Panik in ihm hochstieg. Der einzige Ausweg hier war, wie am Morgen die Beine in die Hand zu nehmen. Er drehte sich jäh um – und erstarrte: Auf dieser Seite stand Proco Radicu-

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po, und seine Lanzenspitze zielte auf ihn. »Nichts zu machen, Angsthase! Hier rüber kannst

du dich auch nicht verdrücken! Was ist das da…?« Erst in diesem Augenblick wurde Damlo bewußt,

daß er immer noch den Degen am Gürtel trug. »Schau an, der Rotkopf hat sich bewaffnet! Was

hast du denn da umgehängt? Ein Buch vielleicht? Der Schlappschwanz hat ein Buch am Gürtel hän-gen!« Proco brach in ein unbändiges Gelächter aus, in das alle anderen einfielen.

»Also, laß uns schon deinen Degen sehen, Hasen-fuß!« schrie Busco.

»Ja«, sagte Proco; nun lachte er nicht mehr. »Gib ihn mir!«

Damlo wußte, wenn er jetzt den Degen aus der Hand gab, dann hatte er ihn für immer verloren. Und außerdem war da noch die Sache mit seinen vierzehn Jahren… »Er gehört mir«, krächzte er aus zuge-schnürter Kehle.

Seltsamerweise wirkte das Aussprechen dieser Worte sofort auf seine Knie: Sie hörten auf zu zit-tern.

Keiner der Jungen war bis jetzt näher gekommen. Aber Damlo konnte ihnen ja nicht entwischen, und so begnügten sie sich im Augenblick damit, aus ein paar Schritt Entfernung mit ihm zu spielen.

»Gib ihn mir!« »Nein.«

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Diesmal klang seine Stimme recht kräftig, was Damlo verwunderte. Wie oft hatte er in seiner Phan-tasie schon mit solcher Würde auf die Provokationen der Bande geantwortet! Mit einer selbstverständli-chen Geste, so als würde es sich um ein bekanntes Spielchen handeln, zückte er den Degen. Und sofort erkannte er, welch einen Fehler er damit begangen hatte.

Er wußte, daß sein Stacheldegen schön war, aber es war ihm noch nie zuvor zu Bewußtsein gekom-men, wie vollendet schön er war! Jetzt sah er ihn klar in Procos Augen, weil das Licht der Laternen das sil-bern gesprenkelte Rot des Degens darin zum Glitzern brachte.

Die Legion verstummte. War es das ungewohnte Verhalten des Roten, war es eher die Schönheit der Waffe? Jedenfalls spürten alle, daß Proco von jetzt an keine Ruhe finden würde, ehe er diesen Degen nicht besaß.

Mit vor Angst weit aufgerissenen Augen sah sich Damlo auf der Suche nach einem Fluchtweg rasch um. Es gab keinen. Er hätte die Umzingelung durch-brechen müssen. Auf einer Seite stand Proco und hielt mit seinem Blick den Zauberdegen fest.

Auf der anderen Seite stand der Rest der Bande. Ohne Zögern wählte Damlo die Legionäre, fuchtelte mit dem Degen und sprang auf die Lanzen zu.

»Laßt mich durch!«

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Die Jungen waren an ein solches Auftreten Dam-los nicht gewöhnt und zauderten unwillkürlich. Und vielleicht wären sie sogar zur Seite gerückt, wäre Busco nicht gewesen: »Halt den Mund, Angsthase, und gib Proco den Degen!«

Seine Stimme wirkte ernüchternd auf die anderen. Sie streckten Damlo die Lanzen entschlossener ent-gegen.

Der Junge war nur mehr eine Handbreit von den gehärteten Spitzen entfernt und hörte, wie Proco höhnisch lachend von hinten auf ihn zukam. In seiner Verzweiflung hieb Damlo mit dem Stacheldegen auf den Schaft aus gediegenem Eschenholz ein, den Bus-co in der Hand hielt – mehr aus wütendem Stolz als aus irgendeinem anderen Grund. Denn er konnte bes-tenfalls hoffen, Buscos Lanze ein wenig zur Seite zu stoßen.

Der Stachel durchtrennte mühelos das feuergehär-tete Holz, schnitt es entzwei wie einen trockenen Strohhalm.

Damlo war ebenso verblüfft wie die anderen, doch im Unterschied zu diesen starb er fast vor Angst. Und daher reagierte er als erster. Er rannte los und durchbrach die Front seiner Gegner, noch während die Lanzenspitze auf der Erde wegrollte.

Im nächsten Augenblick traf Damlo schon etwas Hartes am Rücken. Vom Geräusch, das es verursach-te, als es zu Boden fiel, schloß der Junge, daß es der

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Stumpf des Lanzenschaftes war, den ihm Busco nachgeworfen hatte. Damlo verspürte einen Schau-der: Hätte Busco das auch getan, wenn die Lanze noch mit ihrer Spitze versehen gewesen wäre? Die Antwort erreichte ihn in Gestalt jenes Geräusches, das eine kreisende Steinschleuder verursacht.

Busco mußte den Verstand verloren haben! Sie al-le konnten meisterlich mit der Steinschleuder umge-hen, hielten Wettkämpfe im Scheibenschießen ab und machten damit häufig Jagd auf Hasen – und fast alle Jungen waren auch im Laufen durchaus imstan-de, ein Tier zu treffen, das zwanzig Schritt entfernt war! Aber nur, wenn sie jagten! Die Schleuder war eine echte Waffe, mit der man töten konnte!

Zu Tode erschrocken bog Damlo in eine Seiten-gasse ein, was den Heimweg ein wenig verlängern würde, dafür aber Busco das Zielen erschwerte. Was für ein Glück für Damlo, daß Busco außerdem der schlechteste Schütze der ganzen Legion war! Der Junge hörte das Getrampel der Verfolger ein Dut-zend Schritte hinter sich, aber er lief nun bereits an der Rindenwand des Gasthauses entlang. Nur noch eine Ecke, dann würde er in Sicherheit sein…

Der Kiesel pfiff haarscharf an seinem Ohr vorbei: Es war ein flacher Schuß – ein einziger Schuß aus einer Schleuder, keiner der üblichen Steinwürfe. Ent-setzt schlug Damlo einen Haken und beugte sich vor, um dem nächsten Geschoß möglichst zu entgehen.

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Dies erwies sich als Fehler, denn die geringfügige Verzögerung schenkte Busco jenen kurzen Augen-blick, der ihm ein ruhigeres Zielen ermöglichte. Und so verspürte Damlo, während er tief gebückt die letz-te Ecke zum Vordereingang des Gasthauses umrun-dete, einen heftigen Schlag gegen den Kopf.

Die Krämpfe! dachte er. Dieses Mal ist der Mo-ment gekommen! Ich sterbe! Und dann verschwamm ihm alles vor den Augen.

Er bemerkte es nicht mehr, daß die Jungen ste-henblieben; er bemerkte auch nicht mehr, wie sie er-schraken, als sie ihn taumeln sahen, und er bemerkte nicht mehr, wie sie die Flucht ergriffen, als sie seine blutende Wunde erblickten. Er bemerkte gar nichts mehr.

Rund um ihn tanzte die Welt, schwankte und flimmerte ohne feste Umrisse. Seine Füße bewegten sich auf sonderbare Weise und gehorchten seinem Willen nicht. Den Stacheldegen fest umklammernd, wurde der Junge nur noch vom Schwung seines Lau-fes vorwärtsgetragen; er wankte zwar, schaffte aber die Biegung, ohne hinzufallen. Die Tür des Gasthau-ses war noch ein Dutzend Schritte entfernt. Unend-lich weit.

Nur der Wagen der neuen Gäste trennte ihn von der Rettung, doch er wirkte auf Damlo so hoch und feindselig wie ein unbekannter Berg. Das Dröhnen in den Ohren verhinderte, daß er irgend etwas hörte.

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Mit ungeheurer Willenskraft schaffte er es, bis an den Karren heranzutappen: Legion und Verfolgung waren vergessen, denn es schien ihm, als würde er sich schon tagelang durch diesen dichten rötlichen Nebel kämpfen. Er sah auch den Eingang zum Gast-haus nicht mehr, aber das machte nichts aus, weil er ohnehin nicht mehr wußte, wohin er eigentlich woll-te. Doch auch wenn es ihm rechtzeitig wieder einge-fallen wäre, hätte das keinen Unterschied gemacht, denn jetzt war er schon völlig blind.

Mit übermenschlicher Anstrengung ging er daran, den Berg zu besteigen, und es schien ihm, als dauere das Stunden um Stunden. Plötzlich jedoch verspürte er eine große Kälte, und er tröstete sich mit dem Wissen, daß so etwas in den Bergen ganz üblich war. Er kämpfte sich weiter, bis er mit einem Mal auf den Zipfel einer Decke stieß, der irgendwo hervorsah. Dankbar für sein unerhofftes Glück, schlüpfte er dar-unter und zog sie sich über den Kopf.

Einen Augenblick später sank er in die eisigste Finsternis, die er je kennengelernt hatte.

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Als Damlo erwachte, war es dunkel. Es mußte noch früh sein, weil Tante Neila nicht heraufgekommen war, um ihn zu rufen, und er auch nicht die gewohnten Geräusche des

Gasthauses vernahm, das gegen Tagesanbruch wie-der zum Leben erwachte.

Wenn er genau hinhörte, dann war er vielleicht noch gar nicht wach: Ein seltsamer Lärm drang an sein Ohr, und es schien ihm, als ob die ganze Apfel-esche bebte und schwankte und einen Tanz aus ruck-artigen Bewegungen und kurzen Hopsern machte. Damlo schloß daraus, daß er sich in jenem Stadium zwischen Schlafen und Wachen befand, in dem seine Welt mühsam versuchte, sich von all den Freiheiten, die sie sich in den Träumen genommen hatte, wieder zu erholen.

Das Bett schien aus Stein zu sein. Damlo lag äu-ßerst unbequem. Wieso war er nur so früh erwacht?

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Es mußte ein böser Traum gewesen sein: Üblicher-weise träumte er, bis ihn die Tante zum Frühstück rief.

Ein Alptraum plötzlich? Seltsam, er hatte schon seit Jahren keinen mehr gehabt. Und eine seiner schrecklichsten und zugleich schönsten Erinnerungen betraf den ersten Alptraum, in den er hatte eingreifen können, indem er etwas anwandte, das er bei sich künftig als »Ruck« bezeichnete. Es handelte sich um eine heftige Bewegung des Willens, die jedoch in der typischen Unlogik von Träumen auch den Körper be-traf, obwohl dieser dabei völlig reglos blieb. Anfangs war dies rein zufällig geschehen, doch dann hatte er allmählich gelernt, sich dieser Bewegung nach Be-lieben zu bedienen, und nunmehr vermochte er die Vorgänge während seines Schlafes zu steuern, wie und wann es ihm beliebte. Er konnte die Alpträume abändern – wie er es beim ersten Mal getan hatte – und die angenehmen Träume verlängern. Er war so-gar imstande, sie von Anfang an zu wiederholen, wenn sie ihm gefielen. Er konnte gezielt einen Ort bestimmen, an dem er sich befinden wollte, sich für einen Gegenstand entscheiden, den er in der Hand zu halten wünschte, oder für eine Person, an deren Ge-sellschaft ihm gelegen war. Dank des »Rucks« träumte er jede Nacht von seinen Eltern: vom Vater, an den er nur noch eine schwache Erinnerung hatte, und von der Mutter, die er nie gekannt hatte. Damlo

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führte diese Träume ganz bewußt herbei, denn die regelmäßigen Begegnungen linderten den stechenden Schmerz des Vermissens ein wenig, der ihn tagsüber so häufig heimsuchte.

Jetzt hingegen schien der »Ruck« nicht zu kom-men. Es gelang ihm weder, einen vollständigen Traum zu erschaffen, in den er eintauchen konnte, noch gänzlich aufzuwachen. Er hatte nach wie vor das Gefühl, geschüttelt und gerüttelt zu werden und komische Geräusche zu hören; dazu empfand er sei-nen eigenen Körper als schweres Gewicht, das mit zehnfachem Druck auf dem Bett lastete. Das hätte auf einer bequemeren Liegestatt vielleicht sogar ein angenehmes Gefühl sein können. Also versuchte er, die Stellung zu wechseln.

Ein Blitz aus schmerzhaftem Licht zerriß ihm den Kopf vom Nacken bis zu den Augen. Er wollte die Hände vors Gesicht halten, aber es gelang ihm nicht: Die Arme ließen sich nicht anheben. Die Unfähig-keit, sich zu bewegen, ist bei Alpträumen üblich, re-dete er sich ein. Doch dann spürte er, wie es ihm den Magen zusammenkrampfte; was das Träumen betraf, so kannte er sich aus: Dort war der Schmerz in erster Linie Furcht – ängstliches Vorausahnen von Qualen und nicht wirkliches Erleiden. Jener Schmerz jedoch, den er im Augenblick fühlte, war einwandfrei wirk-lich.

Er erschrak: Es war kein Traum! Seine Handge-

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lenke waren mit dem Gürtel am Körper festge-schnallt, und er befand sich auf einem fahrenden Wagen! Jetzt erkannte er die typischen Erschütterun-gen! Und diese Geräusche, die ihm gerade so seltsam vorgekommen waren, hatten sich nunmehr in das Quietschen eines schlecht geschmierten Rades und das rhythmische Klappern von Pferdehufen auf einer Straße verwandelt. Darüber hinaus roch er den Duft des Waldes und nahm den charakteristischen Geruch des hellen Tages wahr; auch wenn rundum Finsternis herrschte, reichten die schwächsten Sonnenstrahlen, um Bäume und Blumen so weit zu erwärmen, daß ihr Duft die Luft erfüllte. Der Geruch von Erdreich, von warmem Moos und von Harz – alles sprach von Frühlingssonne.

Eine Sekunde lang befand sich Damlo hart am Rande einer Panik, doch dann merkte er plötzlich, daß er eine Bandage um den Kopf trug. Er öffnete und schloß die Lider und spürte, wie seine Wimpern über den Stoff strichen, der ihn blind machte. Gefes-selt und mit einer Augenbinde! Man hatte ihn ent-führt! Aber jedermann wußte doch, daß Onkel und Tante kein Lösegeld hätten zahlen können; alles, was sie besaßen, steckte im Gasthaus! Und was war mit seinem Kopf los? Warum tat er ihm so weh?

»Er scheint aufgewacht zu sein.« »…« »Vielleicht sollten wir haltmachen.«

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»Hrumpf.« »Vielleicht sollten wir haltmachen! Der Maulesel

muß sich ausruhen.« »Noch nicht.« »Vielleicht sollten wir haltmachen, weil der Junge

aufgewacht ist, weil der Maulesel sich ausruhen muß und weil wir sonst im Dunkeln Feuerholz sammeln müssen, wenn wir noch lange warten!«

»Jetzt ist es zu früh für das Nachtlager.« »Unsinn! Was dir nicht alles einfällt, nur um mir

zu widersprechen!« »Rede mit mir nicht wie mit einem kleinen Jun-

gen!« »Und du versuch, vernünftig zu denken: Die Reise

dauert noch lange, und auch wenn wir der Nacht eine Stunde Fahrt abtrotzen, werden wir nicht rechtzeitig an unserem Ziel eintreffen.«

»Jede gewonnene Minute verringert unsere Ver-spätung!«

»Ich kenne niemanden, der so dickköpfig ist wie du! Wenn der Maulesel vor Erschöpfung zu lahmen beginnt, verlieren wir Tage, nicht Minuten!«

»Hör auf, mit mir zu streiten, alter Meckerer! Ich halte ja gleich an.«

»Alter Meckerer! Was ich wohl noch alles hören muß! Wäre dein Vater hier, er würde dir schon bei-bringen, das Alter zu achten!«

»Wenn du es unbedingt wissen willst: Ich habe

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den Verdacht, daß Vater dich mir aufgehalst hat, um seinen Ohren ein wenig Ruhe zu gönnen!«

»Nun hör sich einer diesen Frechdachs an! Wenn man bedenkt, daß ich dabei war, als du deinen ersten Schrei tatest! Daß ich dich auf den Knien geschau-kelt habe!«

»Ja, ja, ja, und ich habe dich von oben bis unten mit Grießbrei vollgespuckt! Das hältst du mir noch heute jeden Tag vor!«

»Ganz genau so ist es, undankbarer junger Mann! So behandelt man keine Person eines gesetzten Al-ters! Eines Tages wird es dir leid tun, aber dann wer-de ich nicht mehr da sein, und du wirst mich nicht mehr um Verzeihung bitten können! Und die Gewis-sensbisse werden dich für den Rest deiner Tage quä-len!«

»Kümmere dich lieber um den Jungen, statt den Beleidigten zu spielen.«

»Ich spiele nicht den Beleidigten, ich bin belei-digt! Sehr beleidigt sogar!«

Ein heftiges Schaukeln folgte, und Damlo spürte, daß sich jemand an seine Seite setzte. Wenn man nach ihrer Unterhaltung geht, dachte Damlo, so sind es keine Banditen. Aber weshalb haben sie mich dann entfuhrt? Und entführt haben sie mich ganz gewiß, denn ich bin ja gefesselt…

Fremde Hände begannen, an seiner Augenbinde zu hantieren. Sie schienen über den Stoff zu tanzen, oh-

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ne seinen Kopf dabei zu berühren. »Hör mir gut zu, Bürschchen. Ich nehme dir jetzt

die Binde ab. Du mußt die Augen schließen und sie, sobald sie nicht mehr verbunden sind, ganz langsam öffnen. Wenn dich das Licht schmerzt, dann machst du sie eben gleich wieder zu. Verstanden?«

Damlo nickte, und wiederum schien sich sein Kopf mit cholerischen Blitzen zu füllen. Ein leises Stöhnen entschlüpfte seinen Lippen.

»Nein, so was! Ich tue mein möglichstes, um dir den Verband abzunehmen, ohne deinen Kopf zu be-wegen, und dann schüttelst du ihn wie eine Rassel! Du mußt ruhig bleiben, verstanden! Wenn du nicht sprechen kannst, dann bewege die Hände, die rechte für ein Ja, die linke für ein Nein. Kapiert?«

»Ja.« »Ah; du kannst also doch sprechen. Sehr gut!

Dann gib jetzt acht, ich nehme dir den Verband ab.« Damlo spürte, wie der Stoff über seine Augen

hinwegglitt – wie ein zärtliches Streicheln. Durch die geschlossenen Lider nahm er Helligkeit wahr und versuchte, die Augen probeweise zu öffnen.

Eine Handbreit von seiner Nase entfernt erblickte er die prachtvollste Sammlung von Runzeln und Fal-ten, die er je gesehen hatte. Und irgendwo mitten in diesen Furchen sprudelten Quellen aus Gletscher-wasser: hellgrau, glitzernd und lebhaft. Sie schienen über einen gewaltigen Auswuchs zu wachen, bei dem

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es sich, wäre er nicht so runzelig gewesen, durchaus um eine Nase hätte handeln können. Das alles war eingerahmt von einer eisengrauen Masse, unscharf und von unergründlicher Natur.

»Mir scheint, du kannst das Licht vertragen. Das ist ein gutes Zeichen, Junge. Sogar ein sehr gutes Zeichen.«

Verwirrt sah Damlo einen Teil dieser ver-schwommenen Masse auf sich zukommen. Dann ent-fernte sich das Meer von Runzeln wieder ein wenig und erlaubte ihm, alles zusammen scharf zu sehen: Umrahmt von einem erstaunlich dichten und langen Bart trat das Gesicht eines alten Mannes zutage. Es schien geradewegs aus einer der uralten Legenden aufzutauchen, so stark hatte ihm die Zeit die Haut gekräuselt; sein Aussehen war so eigenartig, daß Damlo das unklare Gefühl bekam, es zwar irgendwie zu kennen, ohne jedoch zu wissen, wieso und woher.

»Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht. Wie geht es dir jetzt?«

»Wenn ich still liege, tut es nicht weh.« »Das ist ermutigend. Dann bleib also ruhig lie-

gen.« »Was ist geschehen? Wer seid Ihr? Warum tut mir

der Kopf so weh? Und warum habt Ihr mich gefes-selt?«

»Bei meinem Barte, wie viele Fragen! Nur Ruhe, mein Junge. Zunächst müßten wir es sein, die hier

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die Fragen stellen. Was hast du eigentlich so halbtot unter der Plane unseres Wagens gewollt?«

»Halbtot?« »Glaubst du, ich vertreibe mir die Zeit damit, allen

Jungen, die mir über den Weg laufen, den Kopf zu verbinden? Du hast eine schlimme Verletzung, mein Sohn! Wie hast du dir die zugezogen?«

»Das weiß ich nicht. Ich erinnere mich nicht.« »Ach ja: ein Schlag auf den Kopf, und schon ist

die Erinnerung dahin… sehr bequem.« »Nein, wirklich! Das letzte, woran ich mich erin-

nere, ist mein…« Damlo unterbrach sich. Er hatte seinen vierzehn-

ten Geburtstag gehabt, dessen war er sicher. Der Fremde hatte ihm einen Tritt ins Gesicht verabreicht und Onkel Pelno gedemütigt. Und dann? Ah ja, die Zusammenkunft der Bande. Die Rede an die Legi-on… Nein, das war vorher gewesen. Die Verfol-gung! So war es passiert: Er hatte sich unter dem Denkmal versteckt… Nein, er war zur Höhle gegan-gen. Der Hinterhalt! Ja, richtig! Die Lanzen und…

»Der Stachel! Wo ist mein Stachel?« »Aha, an irgend etwas erinnerst du dich also doch.

Der ist hier auf dem Boden des Wagenkastens.« »Er ist das Kostbarste, das ich besitze.« »Ja, er ist wirklich sehr hübsch. Und wirst du mir

jetzt erklären, wie du auf unseren Wagen gekommen bist?«

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»Sie hatten mich umzingelt. Ich weiß, daß es mir gelungen war, ihnen zu entwischen, das ist das letzte, woran ich mich erinnere. Ich weiß nicht mehr, wie ich da hinaufgekommen bin.«

»Mhmm… Und jetzt erzähl mir, wie du dir diese schwere Verletzung zuziehen konntest.«

Damlo hatte nicht die leiseste Ahnung, und die Angst, die ihm auch die rauhe Freundlichkeit des Al-ten nicht ganz hatte nehmen können, verwandelte sich unversehens in Ärger. »Ich weiß es nicht! Aber ich bin auf eurem Wagen, ich bin verletzt und gefes-selt. Wieso bin ich es, der euch Erklärungen abgeben muß?«

Der Alte lachte leise vor sich hin und löste Damlo die Handfesseln. »Gut, gut. Wir haben hier also ein schlaues Füchslein, keine Schlafmütze. Aber greif dir nicht an die Wunde, wenn du die Hände frei hast, verstanden?«

Dann fuhr er fort, laut mit Damlo zu sprechen, drehte sich dabei aber halb um und wandte das Ge-sicht seinem Gefährten zu. »Sieh mal, Junge, falls sich irgend jemand dazu entschließen könnte, end-lich Rast zu machen – wo es doch bald dunkel wird, der Maulesel vor Müdigkeit alle paar Schritte strau-chelt, deine Verletzung versorgt werden müßte, ich vor Hunger schon fast umkomme und mich jeden-falls liebend gern hinter irgendein lauschiges Ge-büsch schlagen würde –, also dann könnte ich ein

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Feuer machen und einen Kräuteraufguß bereiten, der dir wenigstens erlauben würde, dich auf den Füßen zu halten. Du könntest etwas essen, und ich würde dir alle Erklärungen liefern, die du gern hättest. Aber nein, nein, nein! Irgend jemand nimmt einfach keine Rücksicht auf die Bedürfnisse der Alten und Kran-ken! Er ist zu sehr damit beschäftigt, bei einer Ver-spätung von einem guten Monat zehn Minuten auf-zuholen!«

In diesem Augenblick begannen die Hufe des Maulesels über Balken oder Bretter zu donnern und veränderten den Rhythmus. Allmählich wurde der Wagen langsamer und hielt an, kurz nachdem sich die Huf schlage wieder dumpf anhörten.

»Jetzt kannst du dir dein Gebüsch suchen! Ich wollte nur über diese Brücke kommen, ehe wir unser Nachtlager aufschlagen.«

»Das war es aber nicht allein, weshalb ich Rast machen wollte! Glaubst du, ich bin so alt, daß ich mein Wasser nicht halten kann? Es war wegen des Jungen! Und wegen des Maulesels. Und wegen der Holzsuche.«

»Das Feuerholz übernehme ich, und das Wasser des Flusses wird allen von Nutzen sein – dem Maul-esel, dem Jungen und uns beiden auch.«

»Mag sein, mag sein. Aber das hättest du mir auch gleich sagen können! Wie sollte ich wissen, daß wir in Kürze an einen Fluß kämen? Immer läßt du mich

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im dunkeln! Das tut man nicht! Es zeugt von man-gelnder Achtung! Und von einigem anderen auch noch, was dir mangelt. Von sehr vielem sogar!«

Der Alte fuhr fort, vor sich hin zu murren, und er-hob sich, um vom Wagen zu steigen. Bis zu diesem Augenblick hatte er neben Damlo auf dem Boden des Wagenkastens gesessen. Für den Jungen war außer dem runzligen, bärtigen Gesicht nichts von ihm sichtbar gewesen. Doch nun, als er aufrecht zum En-de des Wagens ging, konnte Damlo seine ganze Ges-talt sehen – und das besondere Aussehen des Alten verstehen: Er war ein Zwerg!

Doch es war nicht der erste Zwerg, dem Damlo begegnete, und er wußte einiges von diesem Volk: Robust und äußerst kräftig, brachte es tapfere Krie-ger und ausgezeichnete Bergleute hervor; und die Meisterschaft, mit der seine Handwerker die Bear-beitung von Metall und Edelsteinen beherrschten, war auf der ganzen Welt berühmt. Hin und wieder überquerten einige von ihnen mit ihren Waren – üb-licherweise Juwelen und alle Arten von Handwerks-kunst – den Blauen Paß. Wie die meisten anderen Reisenden machten sie bei der Apfelesche halt, und was auch immer Melvo Boscorame dagegenhielt, Damlo ließ sich dann nie die Gelegenheit entgehen, sein Zwergisch zu verbessern. Fremde Sprachen fas-zinierten ihn; er fand es unglaublich, wie sehr man-che Leute daran gewöhnt waren, Sinn und Bedeutung

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aus fremdartigen Klängen herauszuhören. Jedenfalls verdankte Damlo den durchreisenden Zwergen-kaufleuten einen Großteil des guten Eindruckes, den er auf den Bibliothekar machen konnte.

Jetzt, da er nochmals darüber nachdachte, fiel ihm erst auf, daß das erste Gespräch der beiden Unbe-kannten, das ihm zu Ohren gekommen war, auf Zwergisch stattgefunden hatte. Und er war zu benommen gewesen, um sich bewußt zu werden, daß der Sinn der Worte zwar zu ihm durchdrang, nicht aber die Sprache, in der sie ausgedrückt wurden.

Der Alte sprang vom Wagen und ging auf das Un-terholz zu. Damlo setzte sich vorsichtig auf, und als der leichte Schwindel vorbei war, blickte er zum ers-ten Mal über die Kastenwände des Wagens hinweg. Zwar hatte sich bereits die Nacht über den Wald ge-senkt, aber der fast volle Mond lieferte genügend Licht, um die Bäume, die schmale Holzbrücke und den breiten Gebirgsbach zu erkennen.

In einiger Entfernung suchte der Alte nach einem Gebüsch, das seinen Anforderungen entsprach, doch die Eile, mit der er in das Laubwerk eindrang, paßte nicht ganz zu der Würde, die er sonst hervorkehrte. Damlo unterdrückte ein Lachen. Er drehte den Kopf vorsichtig und sah zum vorderen Ende des Wagens, wo der zweite Zwerg, viel jünger als der andere, so-eben daranging, den Maulesel von der Deichsel los-zumachen.

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Behutsam bewegte sich der Junge über den mit Kisten und Säcken vollgepackten und zum Teil mit einer schützenden Plane bedeckten Laderaum. Nach-dem er ein Weilchen suchend herumgetastet hatte, stieß er auf seinen Degen und gürtete sich mit ihm. Er konnte es immer noch kaum fassen, erinnerte sich aber genau daran, wie der Stachel die Spitze von Buscos Lanze glatt abgetrennt hatte, und jetzt, da er ihn wieder an seiner Seite spürte, fühlte er sich siche-rer. Und auch sonst ging es ihm besser: Er schaffte es, vom Wagen zu steigen, ohne daß ihn Schwindel und Übelkeit überwältigten.

Er betrachtete den Bach, der keine zehn Schritte entfernt vorbeifloß. Die Strömung rund um die Fel-sen, die aus dem Flußbett aufragten, war stark, und an der Wasseroberfläche zeigten sich schaumweiße Stellen. Die Wellen rauschten fröhlich, und wo das Wasser glatter dahinfloß, spiegelte jede einzelne von ihnen das Mondlicht auf ihre ganz besondere Weise; die hochspritzenden Tropfen schienen jedoch darin wettzueifern, die tausend Bilder des Mondes auszu-löschen, die sich in den Wellen wiederfanden.

Dann geschah es. Sie entstanden vor seinen Augen aus dem Funkeln und Glitzern – zuerst nur zuckende Blitze in der Luft, nicht ganz unähnlich den farbigen Pünktchen, die zurückbleiben, nachdem man in die Sonne geblickt hat. Und dann – zum ersten Mal – gewahrte Damlo außer einer Bewegung noch etwas:

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Er konnte etwas sehen! Die tanzenden Reflexe nah-men Gestalt an – eigentlich Gestalten, denn sie ver-änderten sich ununterbrochen. Wie Wölkchen in ei-nem blauen Himmel, nur viel rascher. Einmal schie-nen es kleine, schaumgekrönte Wellen zu sein, dann wieder winzige Wasserfälle, die lautlos nach oben oder seitwärts stürzten, ohne sich um Naturgesetze zu kümmern. Und manchmal waren es leuchtende Wasserspritzer, die jedoch ihren Ursprung fünf oder sechs Fuß über dem Fluß hatten und sich in Myria-den von Tröpfchen aufsplitterten, um sofort danach zu winzigen Wellen zu verschmelzen, die in der Luft rotierten. Manche davon ähnelten sogar schmalen lä-chelnden Gesichtern, und alle zuckten hierhin und dorthin, blitzschnell und graziös.

Damlo kniff die Augen zusammen und unter-drückte gerade noch den Impuls, heftig den Kopf zu schütteln. Indem er Hals und Schultern steif hielt, drehte er den ganzen Körper, um zum Wagen zu bli-cken. Der Alte war immer noch hinter den Büschen, und sein Freund hantierte mit den Riemen des Zaum-zeuges. So blieb Damlo am Ufer stehen und beo-bachtete den Fluß und die sonderbar zuckenden Formen, die sich vereinigten und auseinanderspritz-ten und eine grenzenlose Heiterkeit vermittelten. Doch nach einer Weile verursachte ihm das konzent-rierte Hinsehen und Verfolgen ihrer Bewegungen Kopfschmerzen. Unmittelbar bevor er sich von die-

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sem Anblick losriß, gewahrte er eine Art von Kopf-sprüngen ohne Sprühregen – eine reine, materielose Bewegung –, und wie von Zauberhand verschwand alles. Auf dem Wasser blieben nur die Reflexe des Mondlichtes zurück, und Damlo verspürte ein Gefühl des Verlustes, als hätte man ihm etwas weggenom-men.

Verwirrt lehnte er sich an den Wagen, wo der jün-gere Zwerg den Kampf mit der Beschirrung des Maulesels noch immer nicht gewonnen hatte.

»Komm nicht näher!« warnte der Zwerg, ohne sich umzudrehen, und deutete mit dem Kopf auf das Tier. »Der schafft es, auch nach der Seite auszu-schlagen!«

»Aber das ist ja Proco! Der Maulesel, der zum Gasthaus gehört!« rief Damlo aus. »Ihr habt den Maulesel der Apfelesche gestohlen!«

»Rede keinen Unsinn! Unser Pferd war verletzt, und da wir in großer Eile sind, haben wir es gegen dieses Mistvieh getauscht! Der Wirt hat das Geschäft seines Lebens gemacht. Du sollst wegbleiben von dem Biest, hab ich gesagt! Es ist gefährlich.«

»Aber nein, er ist gutmütig! Er schlägt nur aus, wenn er nervös wird.«

»Jedenfalls bleib weg von ihm.« Vergeblich versuchte Damlo zu verstehen, was der

Zwerg da tat: Es sah ganz danach aus, als würde er sich beim Losmachen des Tieres von der Deichsel

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selbst darin einspannen. Damlo sah ihm ein Weilchen dabei zu, während

der Maulesel immer unruhiger wurde. Schließlich reichte es ihm.

»Entschuldige, aber es ist nicht nötig, dem Tier das ganze Geschirr auf einmal abzunehmen, wenn der Maulesel noch zwischen den Stangen steht. Siehst du diese Schnalle? Sie dient dazu, den Schweifriemen vom Kammdeckel zu lösen. Auf der anderen Seite gibt es auch eine. Die öffnet man, und dann kann man die Zugstränge vom Bauchgurt los-machen. Sobald das Tier ausgespannt ist, führt man es von der Deichsel weg. Dann ist es leicht, ihm die restlichen Gurten und das Kummet abzunehmen.«

»Wenn ich damit anfange, die Riemen auseinan-derzunehmen, dann schaffe ich es nie mehr, sie rich-tig zusammenzufügen!«

»Aber es handelt sich doch nur um vier Schnallen, die zu schließen sind!«

»Mag sein«, erwiderte der Zwerg, leicht in die Verteidigung gedrängt, »aber ich ziehe es vor, auf zwei Beinen zu gehen, und verstehe nichts von Vier-füßern. Der Maulesel ist sonst Sache von Clevas, und er macht es so.«

»Dann zeige ich es dir. Es geht ganz einfach.« »Bleib ihm vom Leib, ich sage es dir noch mal!

Dieses Vieh ist bösartig! Es schlägt nicht nur aus, es beißt auch!«

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Während sich der Zwerg aus den Gurten hervor-wand, trat Damlo näher an das Maul des Tieres her-an; jetzt konnte er sich schon fortbewegen, ohne daß sich alles in seinem Kopf drehte. Der Maulesel war aufgeregt, stand keinen Augenblick lang still und stampfte mit den Hufen.

Damlo packte ihn entschlossen am Zaum und legte den Kopf dicht an sein Ohr. »Hallo, Blödian!« raunte er ihm zu. »Hör zu, du böser, häßlicher Stinker, ich bin es, Damlo! Ich nehme dir jetzt dieses unbequeme Geschirr ab, dann bekommst du zu fressen und zu saufen. Aber du beißt mich nicht und trittst mich nicht, klar? Das Wasser aus dem Bach ist sicher gut, das wird sogar einem dummen, unausstehlichen Vieh wie dir schmecken!«

Während er zwischen den Stangen hin und her wechselte, wandte er sich an den Zwerg: »Ich bin draufgekommen, daß dieser Maulesel nichts so sehr schätzt wie Beleidigungen.«

»Dann kann er jetzt schon einen ganzen Vorrat davon anlegen, dafür haben wir gesorgt.«

»Aber man muß sie in sanftem und freundlichem Tonfall vorbringen. Und man darf ihn nie schlagen!«

»Wofür hältst du uns? Es ist zwar ein nervtötendes Biest, das jedes einzelne Schimpfwort zehnmal ver-dient, aber wir haben es ganz gewiß nicht schlecht behandelt!«

»Ich sagte das ganz allgemein. Man sieht ja, daß er

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nie geschlagen wurde, denn sonst wäre er zurückge-zuckt, als ich die Hand hob, um nach dem Zaum zu greifen. So aber war er nur nervös.«

Rasch öffnete Damlo die Schnallen und spannte das Tier aus. Er führte es zu einem jungen Ahorn-baum, halfterte es an und befestigte es an der Pflan-ze. Dann befreite er es mit flinken und sicheren Handbewegungen vom Rest des Geschirrs. Der Maulesel blieb dabei ganz brav und ruhig und be-dachte Damlo hin und wieder mit einem liebevollen Blick; fast sah es so aus, als würde er jeden Moment anfangen zu schnurren.

Als sich der Junge umdrehte, war der alte Zwerg zurückgekehrt und stand neben seinem Gefährten. Beide starrten Damlo wie einen Jongleur an, der sie-ben Bälle zugleich in der Luft hielt.

»Sehr schön, sehr schön. Und mit welcher Zauber-formel hast du ihn besprochen?« grollte der Alte.

»Ich kenne ihn. Außerdem bin ich an die Tiere gewöhnt; es ist meine Aufgabe, mich um die Pferde und Esel der Gäste zu kümmern.«

»Ah, du bist der Sohn der Wirtsleute von Wael-ton?«

»Der Neffe. Mein Vater war der Bruder von Tante Neila. Ich heiße Damlo Rindgren.«

»Aha. Wenigstens wissen wir jetzt, wer du bist.« »Ich hingegen«, erwiderte Damlo, ermutigt davon,

daß er die beiden hatte beeindrucken können, »weiß

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noch nicht, wer ihr seid, weshalb ich hier bin und warum ihr mich gefesselt habt.«

Der Jüngere von beiden drehte sich um, entfernte sich in Richtung Wald und murmelte etwas von schlecht erzogenen kleinen Jungen. »Ich hole Feuer-holz«, rief er zurück, »bevor mir die Galle hoch-steigt«, und verschwand zwischen den Bäumen.

Der Alte ließ sich am Stamm einer weißen Hain-buche nieder und klopfte mit der Hand auf den Bo-den. »Setz dich, Junge. Für den Anfang klären wir einmal die Sache mit deinen festgezurrten Händen. Dazu hast du mich ja gezwungen: Du hast dich hin und her geworfen und wolltest dir andauernd den Verband vom Kopf reißen! Den habe nämlich ich dir angelegt, nachdem ich deine Wunde gereinigt und verarztet hatte! Und wenn es dich gar so gewaltig stört, daß ich dir die Hände festgebunden habe, dann würde ich doch sagen, daß diese beiden Dinge sich ausgleichen!«

»Ich verstehe. Ich danke dir von Herzen, daß du dich um mich gekümmert…«

»Schon gut, schon gut, fangen wir erst gar nicht mit dieser ewig gleichen Leier an, ja? Bei meinem Barte, ich habe nichts Besonderes getan. Und nun bleibt uns noch das eine Rätsel zu lösen: Wie bist du auf unserem Wagen gelandet?«

»Habt nicht ihr mich draufgelegt? Wo war ich denn, bevor du meine Wunde versorgt hast? Wo hast

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du mich denn aufgelesen?« »Auf dem Wagen … Wie soll ich es dir erklären

… Gestern abend, als wir stehenblieben, um unser Nachtlager aufzuschlagen, haben wir dich unter der Plane entdeckt. Du warst bewußtlos und mit getrock-netem Blut ganz verkrustet.«

»Aber ich erinnere mich nicht, hinaufgeklettert zu sein!«

»Ich fange wahrhaftig schon an, dir das zu glau-ben. Wie auch immer, du warst nun mal da. Entwe-der bist du selbst hinaufgestiegen, oder es hat dich jemand auf den Wagen gehoben. Und zwar vorges-tern, falls das in Waelton geschehen sein sollte.«

»Vorges…! Aber Onkel und Tante werden mich schon suchen! Sie werden denken, daß ich tot bin! Warum habt ihr mich nicht zurückgebracht?«

»Auch wenn wir gewußt hätten, wer du bist, waren wir schon eine Tagesreise von Waelton entfernt, als wir dich bemerkten. Wir hätten es uns nicht leisten können, noch zwei Tage zu verlieren.«

»Aber jetzt müsst ihr trotzdem umkehren – und so verliert ihr vier!«

»Da irrst du dich«, sagte der jüngere Zwerg, der mit einem großen Bündel trockenen Holzes auf dem Rücken nähergekommen war. »Wir haben eine wich-tige Sache zu erledigen und haben jetzt schon eine beträchtliche Verspätung. Wir können nicht umkeh-ren.«

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»Aber ihr müßt mich einfach wieder nach Hause bringen! Zu Fuß würde ich sicher drei Tage brau-chen!«

»Es tut mir leid, Junge, aber das ist nicht mög-lich.«

»Und bedauerlicherweise«, fügte der Alte mit lei-ser, behutsamer Stimme hinzu, »kannst du auch al-lein nicht zurück. Du hast zuviel Blut verloren, um so weit zu marschieren. Außerdem haben wir gestern nicht weit von der Straße Wolfsgeheul gehört.«

»Wölfe machen mir keine Angst«, sagte Damlo. »Sollten sie aber. Wenn sie hungrig und im Rudel

sind, können sie sehr gefährlich sein. Selbst zu Pfer-de ist ein einzelner Reisender nicht vor ihnen sicher, geschweige denn ein kleiner Junge zu Fuß.«

»Ich bin kein kleiner Junge mehr! Vorgestern bin ich vierzehn Jahre alt geworden. Und ich habe mei-nen Degen. Und ich muß zurück zu Tante und On-kel.«

»Sieh mal, Damlo, versuch doch, vernünftig zu sein. Dieser lange, dünne Stachel ist wirklich hübsch, aber er ist doch gewiß kein Degen! Und selbst wenn er einer wäre, dann muß man doch Waffen zu benut-zen wissen, sonst sind sie uns nur im Weg.«

»Ich zeige es euch!« Das Feuer begann gerade zu prasseln, als Damlo

aufsprang und seinen Stacheldegen zog. Kein Wael-toner hätte je ohne wirklichen Grund eine lebende

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Pflanze verletzt oder ihr einen Zweig abgehackt, aber der jüngere Zwerg hatte als Nachschub für das La-gerfeuer Dutzende trockener Äste aufgehäuft. Damlo hob einen davon auf, hielt ihn in der Linken fest, dachte an Buscos Lanze und schlug mit der scharfen Kante des Stachels dagegen.

Der Stachel prallte zurück und hinterließ nur eine flache Kerbe im Holz. Das gleiche geschah beim zweiten, dritten und vierten Hieb. Und ebenso, als der Junge es mit einem anderen Ast probierte. Und mit noch einem. Schließlich steckte Damlo den De-gen zurück und setzte sich schweigend hin.

Die ganze Aufmerksamkeit der beiden Zwerge galt dem Feuer, das schon seit einem Weilchen fröh-lich loderte. Der Alte stellte einen rußgeschwärzten Topf dicht an die Flammen und rührte darin mit ei-nem hölzernen Schöpflöffel. Nach einigen Minuten zog sich ein appetitlicher Duft durch die Luft. Auf der anderen Seite des Feuers brodelte in einem klei-nen Metalltöpfchen Wasser.

»Gut, gut! Bald wird alles fertig sein. Magst du geschmortes Karnickel? Es ist zwar aufgewärmt, wird dir aber schmecken. Ich bin ein guter Koch, weißt du. Ein sehr guter sogar!«

Damlo antwortete nicht, er hob nicht einmal den Kopf.

»Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als ich ins Feld zog. Natürlich wollte ich kämpfen – wie all

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die anderen. Aber ich war als Koch so beliebt, daß ich immer Küchendienst hatte. Na ja, ich war sehr jung, damals… Es ist schon mehr als zwei Jahrhun-derte her, noch bevor ich in die Dienste seiner Ma-jes…«

»Clevas!« Die Stimme des jüngeren Zwerges fuhr scharf wie ein Peitschenhieb dazwischen.

»Ich bitte dich, Irgenas!« regte sich der Altere auf. »Er ist doch noch ein Kind!«

Er hatte zwergisch gesprochen: Offenbar war noch keinem der beiden bewußt geworden, daß Damlo sie verstand.

»Aber wir kennen ihn nicht«, entgegnete barsch der Jüngere – ebenfalls auf Zwergisch.

»Wir kennen ihn insoweit, als wir gemerkt haben, daß er harmlos ist!«

»Und aus dem Nichts aufgetaucht. Also paß auf, was du sagst.«

»Immerzu machst du mir Vorwürfe! Was ist denn das für eine Art?«

»Du weißt genau, daß es sich um eine ernste An-gelegenheit handelt. Also paß auf, was du redest. Außerdem möchte ich dich darauf hinweisen, daß das Wasser kocht.«

In seinen Bart murrend erhob sich der alte Zwerg. Er benutzte einen Lappen und den gebogenen Stiel des Schöpflöffels, um das Wassertöpfchen vom Feu-er wegzuheben, und goß seinen Inhalt in eine Holz-

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schale. Dann holte er ein Säckchen hervor und nahm einige Prisen trockene Kräuter daraus, die er ins im-mer noch kochende Wasser fallen ließ. Schließlich reichte er Damlo die Schale.

»Hier«, sagte er – wieder in der normalen Um-gangssprache –»wenn er so abgekühlt ist, daß du ihn trinken kannst, dann ist er auch fertig.«

»Was ist das?« »Ein Heiltrank«, antwortete der Zwerg kurz.

»Trink ihn so bald wie möglich. Je heißer, desto bes-ser ist seine Wirkung.«

Damlo beäugte das Gebräu wohl allzu mißtrau-isch.

»Glaubst du, ich will dich vergiften?« meckerte der Alte ungehalten. »Hast du vergessen, daß ich mich zwei Tage und zwei Nächte um dich geküm-mert habe?«

»Ich hab doch gar nichts gesagt«, murmelte der Junge, ohne den Kopf zu heben. Es wäre ihm uner-träglich gewesen, hätte der alte Zwerg die dicken Tränen in seinen Augen bemerkt.

»Clevas, hack nicht auf dem Jungen herum, nur weil du dich über mich ärgerst!«

»Hab verstanden, hab schon verstanden! Alles, was ich mache, ist zuviel, ist falsch. Ich bin bloß ein verdrießlicher Alter, der redet und kleine Jungen pie-sackt!«

Erbost wandte sich der Alte dem Feuer zu und zog

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den Topf von den Flammen weg. Mit dem hölzernen Schöpflöffel füllte er drei Schüsseln mit Schmor-fleisch und reichte eine davon mit unfreundlicher Miene seinem Gefährten. Dann trat er zu Damlo, der kleine Schlückchen des Aufgusses eifrig trank, und hielt ihm seine Portion hin.

»Und dir will ich sagen, daß es schön wäre, wenn du den gelegentlichen Rappel eines alten Knackers entschuldigen wolltest. Die Frechheiten dieses miß-ratenen Jünglings dort sind ja nicht deine Schuld. Es tut mir leid, daß ich dich da hineingezogen habe.«

»Keine Ursache. Ich bin dir doch so dankbar, daß…«

»Ja, ja, ja, schon gut, schon gut. Jetzt trink erst mal rasch den Aufguß aus, sonst wird das Geschmorte kalt. Es soll aber heiß gegessen werden. Nur so schmeckt man all die Kräuter, mit denen ich es zube-reitet habe. Und keine Angst, weil die Schüssel so klein ist – wir können sie füllen, sooft wir wollen. Wenn ich daran zurückdenke, habe ich in deinem Al-ter immerzu Hunger gehabt. Ich wäre imstande gewe-sen, diesen Topf hier ganz allein leer zu essen. Nun ja, also nicht unbedingt in deinem Alter: Wir Zwerge le-ben viel länger als ihr Menschen und werden über-haupt erst mit knapp dreißig Jahren erwachsen.«

»Auch wir leben sehr lange. Der alte Maspo Vena-raggio wird im nächsten Monat einhundertachtund-vierzig!«

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»Beachtlich, beachtlich. Ich habe schon gehört, daß ihr Waeltoner ein klein wenig anders seid. Hun-dert und achtundvierzig, hast du gesagt? Alle Ach-tung. Nicht schlecht für ein Menschenwesen. Aber jetzt los!« Der Alte nahm Damlo die Schale mit dem restlichen Trank aus der Hand. »Stürz dich auf das Kaninchen, und sag mir, wie es ist.«

Es schmeckte Damlo ausgezeichnet, ja selbst unter Berücksichtigung seines aufgestauten Hungers konn-te es durchaus mit jenem von Tante Neila mithalten. Der Junge hatte die Schüssel im Nu leer gegessen, und mit kaum verhohlenem Stolz füllte sie der Alte von neuem. Diesmal aß Damlo mit weniger Heiß-hunger und blickte zwischen den Bissen auch gele-gentlich auf.

Das Licht des Mondes war so hell, daß es unge-achtet des rötlichen Feuerscheines die Bäume mit Silber überzog. Der Junge dachte an die glitzernden, durch die Luft zuckenden Spritzer, die er vorhin wahrgenommen hatte, und während er die dritte Por-tion Geschmortes verdrückte, starrte er schon wieder unverwandt hinüber zum Fluß.

Nach einer Weile richteten auch die beiden Zwer-ge ihre Blicke dorthin. »Siehst du irgend etwas auf der anderen Seite der Brücke?« fragte ihn Clevas. »Wölfe vielleicht?«

»Jetzt nicht. Aber vorhin war mir, als würde ich am Wasser seltsam geformte, glitzernde Dinge aus-

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machen. Eines sah aus wie ein funkelndes Männ-chen, nicht größer als eine Hand, das in der Luft schwebte.«

»Ah, ich verstehe. Das kann schon passieren, wenn man eine Kopfverletzung hat. Ich erinnere mich, daß ich nach der Schlacht am Roten Wasser vor zirka… also vor mehr als einem Jahrhundert eine ganze Woche lang kleine blitzende Beile sah, die in alle Richtungen durch die Luft flogen. Schläge auf den Kopf haben merkwürdige Folgen, aber das braucht dich nicht zu beunruhigen: Du hast nicht erbrochen, und deine Augen sehen völlig normal aus. Außerdem sind mittlerweile zwei Tage vergangen, und wenn du darauf achtest, dich zu schonen, dann wird in Kürze alles so sein wie früher.«

Während der Zwerg sprach, spürte der Junge, wie ihn eine angenehme Mattigkeit überkam, und bald darauf merkte er, daß er die Augen nicht mehr offen-halten konnte.

»Schlaf nur schön«, sagte Clevas. »Das ist die Wirkung des Heiltrankes. Morgen früh fühlst du dich wieder groß und stark, du wirst sehen.«

Das letzte, was Damlo vor Augen hatte, ehe er in den Schlaf sank, war das unglaubliche Netz aus Run-zeln und Falten, das sich über das Gesicht des alten Zwerges zog, als er sich hinabbeugte, um ihn auf die Arme zu nehmen und auf den Wagen zu legen.

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Als halb verborgen hinter der dichten Masse der Bäume der Morgen graute, erwachte der Junge, fest eingewickelt in einen weiten Umhang aus Wolle. Der alte Zwerg hatte recht gehabt: Damlos Kopf war völ-lig klar, und er fühlte sich gut. Auch die Verletzung schmerzte nicht mehr, wenn er sich davon abhalten konnte, sie durch den Verband zu betasten.

Die Luft war so warm, daß der Himmel über der Straße mit einem Mal viel höher und weiter schien; die Kronen der Kiefern hoben sich dagegen ab, als hätte sie jemand auf ein dünnes Brett gemalt. Der Wald verströmte seinen üblichen Frühmorgenduft – rein und voller Verheißungen. Ein Vogel sang schon, und seine Brüder und Schwestern fielen nach und nach ein. Vielleicht war es dieses allererste Gezwit-scher gewesen, das Damlo geweckt hatte, und er fragte sich, ob es immer dieselbe Lerche war, die mit solch entschlossener Klarheit die Stille der Nacht mit ihrem ersten Morgentriller zerbrach.

Er faltete den Mantel zusammen, gürtete sich mit seinem Stacheldegen und stieg vom Wagen, ohne das leiseste Geräusch zu machen. Der junge Zwerg schlief wie ein Murmeltier unter dem Gefährt. Der alte hingegen war vom Schlaf übermannt worden, als er Wache hielt, und schlummerte, an den Stamm der Hainbuche gelehnt, neben den Resten des Lagerfeu-ers.

Ein Umstand, der wohl als Grund für die nächste

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Streiterei dienen würde, dachte Damlo schmunzelnd. Doch er würde ganz gewiß keinen der beiden we-cken: Er wollte sofort nach Waelton aufbrechen und sah keinen Sinn darin, die Zwerge aus dem Schlaf zu reißen, nur damit sie sich zankten. Und wo immer das Ziel ihrer Reise lag, auf der Rückfahrt würden sie sehr wahrscheinlich bei der Apfelesche in Waelton Halt machen; dann sollte er ausreichend Gelegenheit haben, den beiden zu danken.

Lautlos hob er den Deckel vom Topf und holte ein paar Stückchen Schmorfleisch heraus – die letzte an-ständige Mahlzeit für mindestens drei Tage, sagte er sich. Aber das machte ihm keine Sorgen, er wußte, er konnte eßbare Knollen und Wurzeln finden, so viele er wollte.

Der Alte hatte wirklich recht gehabt: Kalt schmeckte das Kaninchen nicht halb so gut. Dennoch leckte er sich die Finger, als er schließlich zum Maulesel ging.

»Du wirst ganz brav sein, hörst du, häßliches Vieh?« raunte er ihm ins Ohr. »Und versuch, Nach-sicht mit deinen neuen Herren zu üben, wenn sie nicht wissen, wie man dich behandelt. Sie tun’s ja nicht mit Absicht, sie haben bloß keine Ahnung von irgendwas. Aber du stehst über solchen Dingen, rich-tig?«

Als hätte er ihn genau verstanden, gab der Maul-esel Damlo einen leichten Stoß mit den Nüstern. Der

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Junge überlegte, ob es nicht angezeigt wäre, das Tier noch anzuschirren, um den Zwergen Probleme zu er-sparen. Doch er entschied sich dagegen, weil es zu viel Lärm verursacht hätte, und machte sich auf den Weg zur Holzbrücke.

»Geh nicht, junger Rotschopf!« Erschrocken fuhr Damlo zusammen; er konnte die

einzelnen Worte zwar nicht wirklich verstehen, diesmal aber war er sicher, daß jemand gesprochen hatte. Eine angenehme Stimme: murmelnd und plät-schernd übertönte sie kaum das Rauschen des Flus-ses.

Damlo blickte sich um: alles ruhig, auch der Maulesel, und niemand zu sehen.

»Geh nicht! Dunkle Kräfte sind am Werk, und du bist noch nicht bereit!«

Der Junge richtete den Blick auf Clevas, doch der Zwerg schlief nach wie vor tief. Das Geräusch – oder die Stimme, was immer es war – kam vom Fluß her, und ein wenig furchtsam schlich Damlo näher ans Wasser. Entlang der Ufer war der Bewuchs mit Pflanzen nicht dicht genug, um jemanden zu verber-gen, deshalb lugte Damlo unter die Brücke. Nichts zu sehen. Handelte es sich vielleicht um den Scherz ei-nes Elfs? Es hätte ihm unbändige Freude gemacht, einen zu Gesicht zu bekommen, aber in diesem Wald gab es keine Elfen; sie lebten – falls es überhaupt noch welche gab – hunderte und hunderte von Mei-

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len weiter im Osten. Außerdem hätte er bei einem Satz in der Elfensprache zumindest die Wörter unter-scheiden können, auch wenn er ihre Bedeutung nicht kannte.

Die Stimme kehrte nicht wieder, und schließlich überquerte der Junge – mehr ratlos als geängstigt – die Brücke über den Bach und schlug den Rückweg nach Waelton ein.

Jetzt war es schon hell, der Tag versprach strah-lend schön zu werden, und obwohl ein wenig nach-denklich, war Damlo bester Stimmung. Freudig schritt er dahin, atmete tief und füllte sich die Lun-gen mit der prickelnden Luft. Die hohen Bäume am Straßenrand wuchsen in einigem Abstand zueinan-der, und nur wenig Unterholz verstellte die Sicht. Es war jene Art Wald, die Damlo am liebsten mochte, denn hier konnten die Strahlen der Sonne ungehin-dert zwischen den Bäumen eindringen wie lange Klingen aus Licht. Und auf ihrem Weg zum Boden veranstalteten sie allerlei Schatten- und Farbenspiele.

Vielleicht waren es die Schatten, oder vielleicht hatte Damlo sich wieder einmal in eine seiner Phantasien verstrickt, jedenfalls bemerkte er den Wolf erst, nachdem ihm dieser schon seit einer ganzen Weile gefolgt war. Er hatte struppiges schwarzes Fell und war sehr groß. Er hielt sich unter den Bäumen links von der Straße und trottete lautlos in jener locker

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schlenkernden Gangart dahin, die diesen Tieren er-laubt, fast endlos in Bewegung zu bleiben, ohne zu ermüden. Und alle fünf, sechs Schritte warf er einen Blick auf den Jungen.

Es stimmte, Damlo hatte keine Angst vor Wölfen. So wie zu den Pflanzen hatten die Waeltoner auch zu den Tieren ein ganz besonderes Verhältnis, und nie-mand im ganzen Dorf konnte sich erinnern, daß je-mals der Angriff eines Raubtieres stattgefunden hät-te. Gewiß, die Vorsicht gebot es, sich nicht zu sehr auf diesen Umstand zu verlassen, besonders wenn es um eine mögliche Gefährdung von Kindern ging. Aber es war eine unnötige Vorsichtsmaßnahme. Denn wie angriffslustig die sogenannten »wilden« Tiere auch waren, sie achteten einfach nicht auf die Dorfbewohner und griffen sie niemals an. Immer wenn sich ein Waeltoner und ein Wildtier begegne-ten, wandten beide wie in stillschweigender Über-einkunft den Kopf ab und änderten ein wenig die Richtung ihrer Schritte.

Warum also, fragte sich Damlo, verfolgte ihn der schwarze Wolf? Und warum starrte er ihn so an? Und warum…

Das Tier bemerkte, daß es entdeckt war, hob den Kopf und gab ein schauerliches Heulen von sich. Und aus der Ferne, aus südlicher Richtung, antworte-te ein weiteres Heulen – das zumindest von einem halben Dutzend Wölfe stammen mußte.

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Aus Süden? Aber dort stand doch der Wagen der Zwerge! Und der Alte war während seiner Wache eingeschlafen!

Damlo kehrte auf der Stelle um und rannte. Nach dem Stand der Sonne zu schließen, war weniger als eine Stunde vergangen, seit er das Lager verlassen hatte. Wenn er es nur schaffte, rechtzeitig wieder hinzukommen! Auf der Straße fiel das schnelle Lau-fen nicht schwer, er würde es in zwanzig Minuten schaffen. Vielleicht sogar in noch kürzerer Zeit, wenn er alle seine Kräfte zusammennahm. Er hoffte, das würde ausreichen, denn der Angriff durch ein Wolfsrudel war selbst bei Soldaten gelegentlich mit Verlusten verbunden, wenn der Überfall stattfand, während sie schliefen – und diese beiden einfachen Kaufleute hier… Die Wölfe würden sie zerfleischen, zusammen mit dem armen Maulesel!

Als es sah, daß der Junge zu rennen begann, hefte-te sich das Tier instinktiv an seine Fersen. Es be-schleunigte seine Gangart ebenfalls und verließ mit wenigen gewandten Sätzen den Wald, um ihm auf der Straße zu folgen. Doch der Wolf griff ihn nicht an, denn als er unmittelbar hinter ihm angekommen war, wirbelte Damlo herum und schrie, ohne seine Schritte zu verlangsamen: »Hau ab, du!«

Keine Spur von Furcht lag in seiner Stimme, und er steigerte auch nicht plötzlich und überstürzt sein Tempo. Er war kein Beutetier, das zu flüchten ver-

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suchte, und der Wolf war durchaus in der Lage, die-sen Unterschied zu erkennen. So beschränkte er sich, unschlüssig geworden, darauf, ein wenig zurückzu-fallen und dem Jungen in einem halben Dutzend Schritten Abstand zu folgen wie ein Hund, der seinen Herrn beim Spaziergang begleitet. Hin und wieder stieß er ein kurzes Geheul aus, das fast wie ein Kläf-fen klang und auf das die anderen Mitglieder des Rudels antworteten. Aus südlicher Richtung und immer näher.

Und dann erblickte Damlo sie. Es waren acht, groß und schwarz. Sie standen reglos – etwa hundert Schritt vor ihm auf der Straße. Der Junge lief weiter, ohne langsamer zu werden, denn seltsamerweise er-wartete er, daß die Wölfe die Augen abwandten und so taten, als würden sie ihn nicht sehen. So verhielten sich Wölfe bei Waeltonern immer. Das stand unum-stößlich fest. Normalerweise. Alle wußten das. Gleich würden sie es tun. In einer Sekunde! Ver-dammt, warum taten sie es nicht?

Nichts zu machen: Als Damlo die Entfernung zu dem Rudel halbiert hatte, wurde ihm klar, daß die acht keineswegs die Absicht hatten, ihn zu ignorie-ren. Sie standen bewegungslos da und starrten ihm entgegen. In ihren Augen lag ein Ausdruck, den wohl jedes Lebewesen, dessen Spezies zum Beuteschema einer anderen gehörte, verstand, selbst wenn es ihn zu ersten Mal erblickte.

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Jetzt erschrak der Junge. Er blieb so ruckartig ste-hen, daß der hinter ihm herlaufende Wolf, der nicht darauf gefaßt war, ihn überholte. Als er schließlich zum Stehen kam, drehte er den Kopf und sah Damlo an, als würde er fragen: »He, was ist mit dir los?«

Doch dann wurde er offenbar doch unruhig und verwandelte sich schlagartig wieder zu einem Raub-tier. Er zog die Lefzen hoch, fletschte die Zähne und stieß ein bedrohliches Knurren aus. Aus fünfzig Schritt Entfernung ertönte das Echo dazu, und seine Kumpane kamen näher.

Damlo wurde von panischer Angst erfaßt. Er blickte auf der Suche nach einem Baum, den er hätte hochklettern können, rasch um sich. Aber ausgerech-net an diesem Abschnitt ragte neben der Straße ein riesiger Felsblock empor, an dessen glatter Wand kein Halt zu finden war. Auf der anderen Seite der Straße standen zwar Tannen, doch um dorthin zu kommen, hätte Damlo dicht an seinem bisherigen Begleiter vorbeisausen müssen, und das erschien ihm ganz und gar nicht ratsam.

Er überlegte, die Richtung zu wechseln und auf der Straße zurückzulaufen, weil er sich erinnerte, zwanzig, dreißig Schritte hinter sich und noch vor dem Felsblock Bäume gesehen zu haben. Doch er hatte schon des öfteren beobachtet, wie ein Hund ei-nem Hasen hinterherjagte – kein Zweifel, er hätte sie nicht alle geschafft, diese dreißig Schritte.

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Verzweifelt nach einem Ausweg suchend und be-strebt, die wachsende Panik zu unterdrücken, lehnte er sich an den kühlen Stein, zückte seinen Stachelde-gen und wollte sich langsam und mit dem Rücken an der Felswand seitlich in die Richtung vorschieben, wo er die Bäume wußte. Die neun Wölfe rückten an ihn heran.

Der alte Clevas Barbacciaio erwachte ebenso schlag-artig, wie er eingenickt war, während sein junger Be-gleiter immer noch ausgestreckt unter dem Wagen schlief.

Im Osten stand die Sonne zwar noch tief hinter den Baumkronen, aber es war schon ganz hell. Die Luft prickelte und duftete vor Sauberkeit – ein herrli-cher Tag kündigte sich an.

Der Zwerg erhob sich und streckte die Glieder. Was für eine lästige Sache, dieses Altwerden, dachte er. Zu seinen besten Zeiten wäre er schon durch das unerwartete Geräusch einer Klinge, die durch die Luft pfiff, hellwach und auf den Füßen gewesen, be-reit zum Kampf, noch ehe die Waffe auf seinem Schlaflager auftraf.

Er machte einen kleinen Kontrollgang durch das Lager. Wie es jedoch aussah, war sein Schläfchen ohne Folgen geblieben. Der Maulesel war immer noch am Ahornbaum festgebunden und völlig ruhig, und auch alles andere schien in Ordnung zu sein.

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Wie auch immer, schalt er sich, er mußte besser aufpassen! Sie beide waren in einer verdammt wich-tigen Angelegenheit unterwegs, und er durfte sich nicht die geringste Nachlässigkeit leisten. Ganz be-sonders, während er Wache hatte! Das nächste Mal mochte es böse ausgehen.

Bedächtig schob er trockene Äste in die Glutreste des Feuers und fachte es wieder an. Dann stellte er Wasser auf, denn jeden Morgen gab es zum Frühs-tück einen Aufguß aus bestimmten Kräutern. Das war fast schon zur Tradition geworden. Dann, nach-dem er sich vergewissert hatte, daß der Wassertopf nicht Gefahr lief umzukippen, ging er zum Wagen, um nach dem Jungen zu sehen.

Irgenas Cuorsaldo wurde von Clevas’ Geschrei aus dem Schlaf gerissen und griff instinktiv nach seiner Streitaxt. Wenn er sich auf einer Reise befand, begab er sich nie zur Ruhe, ohne sie an seiner Seite zu wis-sen. Er rollte sich rasch herum, schoß unter dem Wa-gen hervor und stand im nächsten Augenblick kampfbereit auf den Füßen. Doch weit und breit war niemand zu sehen.

»Der Junge ist weg!« schrie Clevas aufs neue und sprang vom Wagen. »Er hat den Umhang ordentlich zusammengefaltet und sich aus dem Staub gemacht!«

»Beim Barte meines Vaters! Wie hat er es ge-schafft, genau vor deiner Nase zu verschwinden?«

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»Na, weil ich eben schon alt bin und zu nichts nüt-ze! Ich bin eingeschlafen! So hat er es geschafft!« Clevas standen die Tränen in den Augen. »Aber er kann noch nicht viel länger als eine halbe Stunde fort sein. Ich erinnere mich, daß ich den Duft des jungen Morgens in der Nase hatte, bevor ich einnickte.«

Irgenas zögerte. Sollten sie sich auf die Suche nach dem Jungen machen? Es gab entlang der Straße viele Wölfe, am Tag zuvor hatte er ihr Geheul ge-hört. Durfte er sich gestatten, sein Leben zu riskieren und damit diese ganze Mission? Ganz gewiß nicht. Andererseits, überlegte er, waren Wölfe dauernd in Bewegung; vielleicht hatten sie sich während der Nacht in eine andere Gegend verzogen. Doch auch in diesem Fall war der Junge in Gefahr. Irgendwann an den folgenden Tagen würde er ihnen sicher begeg-nen.

Er mußte es eben allein schaffen, sagte ihm die Stimme der Vernunft. Und wenn er es nicht schaffte, konnte man auch nichts machen: Die Mission hatte vor allem anderen Vorrang. Einen Augenblick lang betrachtete der Zwerg sein eigenes Spiegelbild in den beiden Klingen der Axt; dann seufzte er.

Ohne mit dem Anziehen der Hosen Zeit zu verlie-ren, schlüpfte er in die Stiefel. Auf der Nabe des Vorderrades balancierend zog er ein Kettenhemd un-ter dem Kutschersitz hervor und rannte zur Brücke über den Fluß.

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»Spann den Wagen an!« rief er Clevas zu. »Und bleib auf dem Posten!«

Im Laufen versuchte er wiederholt, das Ketten-hemd überzustreifen, doch er hielt die Axt in der Hand, und das Vorhaben erwies sich als undurch-führbar. Schließlich gab er es auf und ließ das Ket-tenhemd fallen. Er würde es auf dem Rückweg aufle-sen; jetzt war Eile wichtiger als alles andere.

Plötzlich vernahm er nicht weit entfernt Wolfsge-heul. Er beschleunigte seinen Lauf und rannte einige Minuten lang so schnell er konnte. Und dann, nach-dem er eine scharfe Biegung der Straße genommen hatte, erblickte er den Jungen keine hundert Schritte vor sich. Den Rücken an eine Felswand gelehnt, hielt er seinen lächerlichen Stachel in der Hand. Und ein ganzes Rudel großer schwarzer Wölfe umringte ihn.

Zu viele, auch für einen tapferen Krieger, dachte Irgenas, sie sind ihm schon zu dicht auf den Leib ge-rückt.

Die Wölfe drängten Damlo gegen den Felsen und blieben stehen. Alle, bis auf einen, den größten.

Der Leitwolf, dachte der Junge, derjenige, der mich töten wird. Er war außer Atem, und seine Haut schien so überempfindlich, daß ihm selbst die einfa-che Berührung mit seinen Kleidern Schmerzen berei-tete. Er konnte schon im voraus die Reißzähne füh-len, die sich ihm ins Fleisch bohrten. Er erschauerte

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und spürte zugleich, tief in seinem Inneren, eine Ah-nung der erwachenden Wut – doch diesmal ohne den Geruch nach Verbranntem und ohne das starke Hit-zegefühl im Mund.

Jetzt geben sich die Krampfanfälle seit Jahren alle Mühe mich umzubringen, dachte er, da drängt sich dieser Wolf vor, und sie bleiben mit wäßrigem Mund zurück! Das geschieht ihnen recht!

Unvermutet brach er in Gelächter aus: Sollte diese Absurdität der letzte Gedanke seines Lebens gewe-sen sein? Er meckerte noch eine Weile ein wenig hysterisch vor sich hin, dann wurde ihm klar, daß er gerade seinem Mörder ins Gesicht lachte. Und dieser Umstand erschien ihm plötzlich unendlich komisch. Er würde unter höhnischem Gelächter sterben, sagte er sich, und lachte noch lauter – diesmal aus voller Kehle und unfähig, damit aufzuhören. Er lachte prak-tisch bis in alle Ewigkeit – und dann fiel ihm mit ei-nem Mal auf, daß die Angst verschwunden war.

Er fühlte sich furchtlos und verwegen, und mit ei-nem Herzen, das schier überströmen wollte vor Glück, stieß er einen lauten Jubelschrei aus. Er sang. Mit voller Lautstärke. Er fühlte sich albern, glücklich und so voll von praller Lebenskraft wie noch nie zu-vor. So erzählte er unter Zuhilfenahme der Melodie einer alten Ballade dem Wald und den Wölfen, daß er sich zum ersten Mal im Leben in Gefahr befand, ohne Angst zu haben.

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Und die Bestien hielten inne. Der appetitliche Duft, den die lockende Beute bis vor kurzem ver-strömt hatte, war plötzlich verschwunden. Und auch ihre Schreie klangen mit einem Mal so anders – we-der Beunruhigung noch aggressive Verteidigungsbe-reitschaft waren herauszuhören: Kurz gesagt, es wa-ren gar nicht die Schreie eines Opfers. Verwirrend.

Vor Damlo stand der Leitwolf des Rudels, spitzte die Ohren und legte wie ein aufmerksamer Welpe den Kopf zur Seite. Völlig übergangslos brach das Lied ab und verwandelte sich zu neuerlichem Ge-lächter, das so übermächtig von Damlo Besitz er-griff, daß er sich schließlich die Tränen, die ihm übers Gesicht liefen, mit dem Ärmel der Jacke abwi-schen mußte. Wirklich schade, daß ihn die Waelton-Legion nicht sehen konnte, fand Damlo; er würde sterben, ohne beweisen zu können, daß er kein Feig-ling war.

Unbekümmert zückte er den Stacheldegen; jetzt würde er seine Haut teuer verkaufen, nahm er sich vor. Doch dann erinnerte er sich an die blamable Vorstellung, die er den Zwergen gegeben hatte, und fühlte sich ziemlich lächerlich: Die Bestie hier würde ihn zerfetzen und hinunterschlingen und hinterher seinen Zauberdegen als Zahnstocher benutzen! Wie-der lachte er laut auf – und wieder bemerkte er ein Zaudern des Wolfes. Wieso hatte der sich eigentlich noch nicht auf ihn gestürzt? Weil die Sache mit dem

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besonderen Verhältnis zwischen Waeltonern und wilden Tieren vielleicht doch auf Wahrheit beruhte? Zumindest teilweise?

Plötzlich ertönte aus dem Wald auf der anderen Straßenseite ein heiseres Raunen. Es war nicht der vage, wirre Laut irgendeines Tieres, sondern eine echte Abfolge von Wörtern – Wörtern aus einer un-bekannten Sprache, artikuliert von einer Stimme, rauh und animalisch.

So unvermittelt, als hätte er einen Peitschenhieb erhalten, stürzte sich der Leitwolf auf Damlo. Es dauerte nur eine halbe Sekunde, aber der Junge hatte den Eindruck, als würde sich der Vorgang über Stunden hinziehen. Für ihn bestand das Tier nur mehr aus Zähnen; gelb und spitz umkränzten sie den rötlichen Rachen wie ein gezackter, heller Rahmen, aus dem sie immer größer hervorzuwachsen schie-nen, bis der ganze restliche Körper des Wolfes hinter ihnen verschwand. Mit seitwärts gelegtem Kopf ziel-te die Bestie auf Damlos Kehle, und den Jungen durchfuhr der absurde Einfall, er könnte diesen An-blick in seinem künftigen Leben in Holz geschnitzt wiedergeben – aus dem Gedächtnis, detailgetreu bis zur eingerollten Zunge des Tieres und dem Geifer, der ihm von den zurückgezogenen Lefzen entgegen-spritzte.

Obwohl sich seine Wahrnehmungsfähigkeit be-schleunigt hatte, hielten seine Bewegungen nicht

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damit Schritt, und dem Jungen blieb keine Zeit, viel zu unternehmen. Den Stacheldegen hielt er bereits in seiner Hand, und nun senkte er ihn einfach. Ohne hinzusehen, denn er hatte instinktiv die Augen ge-schlossen und den Kopf zurückgeworfen. Er spürte, wie der Degen auf den Wolf traf – oder, besser, wie der Wolf mitten im Satz dem Stachel begegnete –, und dann wurde er schon von der Wucht des Zu-sammenstoßes mit dem Tier gegen die Felswand ge-schleudert. Doch dann, anstatt zu spüren, wie ihm die Kehle zerfetzt wurde, hörte er den dumpfen Auf-schlag, als die Bestie zu Boden fiel.

Er öffnete die Augen. Zu seinen Füßen wand sich der Wolf in den letzten Zuckungen des Todeskamp-fes. Wie vom Donner gerührt sah Damlo, daß er dem Tier den Schädel entzweigehauen hatte. Von der Schnauzenspitze bis zum Nacken. Ohne die geringste Kraftanwendung. Er hatte ihn mit einem Hieb getö-tet.

Dann war der Stachel doch etwas Besonderes! Wie ärgerlich, daß die Zwerge jetzt nicht hier waren!

Ein Chor aus Geknurr brachte Damlo in die Wirk-lichkeit zurück: Es waren noch immer acht Wölfe übrig, jeder einzelne von ihnen so groß und blutgie-rig wie der erste. Stacheldegen oder nicht, gleich würden sie sich alle gemeinsam auf ihn stürzen – und er würde sterben! Tatsächlich ertönte schon wieder das heisere Raunen drüben zwischen den Bäumen.

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Die Wölfe setzten zum Sprung an. In diesem Augenblick erscholl grell und hart wie

ein Trompetenstoß die Stimme von Irgenas durch den Wald. »Cuorsaldo! Und für die blaue Flamme!«

Die Wölfe und der Junge fuhren gemeinsam her-um, und schon wieder brach Damlo in schallendes Gelächter aus: Ein Zwerg in Unterhosen und mit flat-terndem Bart rannte auf sie alle zu, wilde Mordlust im Gesicht, das vom Dahinhetzen gerötet war, und eine Streitaxt in der Faust, die fast größer schien als er selbst.

Doch Irgenas war ein Krieger, und das zeigte sich auf der Stelle. Er stürzte sich auf den geifernden Haufen und schwenkte dabei die schwere Doppelaxt, als wäre sie ein Holzstöckchen. Zwei Wölfe gingen augenblicklich zu Boden, worauf sich ihre Kumpane, von Panik erfaßt, sofort in den Wald verzogen.

»Bist du verletzt?« »Nein.« »Gut. Wie ich sehe, hast du einen Wolf getötet.« »Ja.« »Bravo. Nun bleiben noch sechs.« »Sieben, aber vielleicht war das gar kein Wolf.« »Was meinst du damit?« »Aus dem Wald heraus hat jemand einen Befehl

gegeben. Und es klang nicht wie eine Menschen-stimme.«

»Es wird ein Knurren gewesen sein. Ganz gleich,

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ob nun sechs oder sieben, das macht keinen Unter-schied. Jetzt paß gut auf und bleib dicht bei mir: Wir versuchen, zum Wagen zurückzukommen. Bist du bereit?«

»Bereit!« Die beiden rannten Seite an Seite los, doch nach

nur kurzer Zeit tauchten die Wölfe wieder auf. Und diesmal waren es etwa fünfzehn. Die Neuankömm-linge waren ebenso groß wie die früheren und hatten sich in einem lautlosen Lauf von hinten genähert.

Damlo und Irgenas wurden nur deshalb nicht vom ersten Angriff der Tiere überrascht, weil der Zwerg häufig wachsame Blicke hinter sich warf. Als er sich einige Sekunden zuvor umgesehen hatte, war die Straße leer gewesen; jetzt hingegen gab es überall Wölfe, und ihr Leittier sprang schon in weiten Sätzen auf Damlo und den Zwerg zu.

»Achtung!« schrie Irgenas, drehte sich um und schwang die Axt im Halbkreis. Mitten in der Luft traf ihre Klinge auf den angreifenden Wolf, der auf der Stelle zu Boden fiel und sich dort winselnd wie ein getretenes Hündchen wand, ehe er starb. Die an-deren Tiere standen still, offenbar um die Gegner neu einzuschätzen.

»Beweg dich vorwärts, Junge, und führe mich. Ich werde rückwärts weitergehen.«

Rücken an Rücken setzten sich die beiden in Be-wegung und schafften auf diese Weise mehrere hun-

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dert Schritte, während ihnen die Bestien Gesellschaft leisteten, indem sie sie ständig umkreisten.

»Weshalb greifen sie uns nicht an?« schrie Damlo. Jetzt hatte er Angst – so entsetzliche Angst wie

noch nie zuvor im Leben. Er zitterte, seine Zähne klapperten – und er schämte sich und war wütend auf sich selbst, weil Irgenas, dessen Rücken stets Kon-takt mit dem seinen hielt, es zweifellos bemerken mußte.

»Sie halten uns für eine gefährliche Beute.« Die Stimme des Zwerges klang vollkommen ruhig. »Sie möchten uns von hinten packen, aber sie können un-sere Rückseite nicht finden. Mach dir aber keine Illu-sionen: Sie werden uns trotzdem angreifen.«

»Da liegt etwas auf dem Boden. Ein Stück weiter vorn.«

Der Zwerg drehte sich um und warf einen raschen Blick an Damlos Schulter vorbei. »Das ist mein Ket-tenhemd. Wir sind nicht mehr weit von der Brücke entfernt.«

Damlo dirigierte sie beide schräg auf die Stelle zu, wo das Kettenhemd lag, und als es sich neben ihren Füßen befand, bückte sich der Zwerg geschwind, um es aufzuheben. Dieser Augenblick genügte den Wöl-fen für einen Angriff; aus allen Richtungen sprangen sie auf die Beute zu.

»Bleib an meinem Rücken!« schrie der Zwerg. Während er noch dabei war, sich wieder aufzu-

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richten, versetzte er dem Wolf, der ihm am nächsten kam, einen Axthieb von unten nach oben und schlitz-te ihm wie einem toten Fisch den Bauch auf. Ohne innezuhalten ließ er die Axt kreisen; die beiden blut-befleckten Klingen zischten vor den Augen der Bes-tien durch die Luft und ließen ihnen so nicht die ge-ringste Chance näherzukommen.

In der Linken hielt der Zwerg das Kettenhemd; unmöglich, auch nur den Versuch zu machen, es überzuziehen, sagte er sich und rollte es mit einem Schwung, so gut es ging, um den linken Unterarm. Gegen die Hauer der Wölfe sollte es so ein besserer Schutz sein als ein Schild. Sodann – und ohne auch nur einen Augenblick lang das Kreisen der Axt zu unterbrechen – warf er einen kurzen Blick über seine Schulter, um nachzusehen, wie es dem Jungen ging.

Reglos und mit gesenktem Kopfstand Damlo da und starrte auf den Kadaver eines Wolfes, der, in zwei Teile gehauen, zu seinen Füßen lag. Eine zweite Bestie war im Begriff, sich auf ihn zu stürzen.

»Achtung!« Als hätte ihn der Schrei aus einer Trance erweckt,

hob Damlo gleichzeitig den Kopf und seinen Sta-cheldegen. Es war eine ganz instinktive, wenngleich sehr schnelle Bewegung, die nichts Bedrohliches oder Aggressives an sich hatte; dennoch ging der Stachel durch den Körper des attackierenden Wolfes hindurch wie durch Wasser und schnitt ihn entzwei –

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vom Bauch bis zu den Schultern –, während er sich noch in der Luft befand.

Der Zwerg riß die Augen auf. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schloß ihn wieder, weil ihm die Worte fehlten.

Diese Verblüffung kostete ihn beinahe das Leben. Während sein Blick noch ungläubig zwischen dem Stachel und dem toten Tier hin und her zuckte, ver-langsamte Irgenas unwillkürlich das Rotieren der Axt – ein Wolf machte sich dies zu Nutze und stürzte sich auf ihn. Der Zwerg bemerkte es aus dem Au-genwinkel und hob instinktiv die Linke vor die Keh-le, um sie zu schützen. Mit einem unheilvollen Ge-räusch schloß sich das Gebiß der Bestie um sein Handgelenk – doch zum Glück war es ein metalli-sches Geräusch, weil Irgenas’ Unterarm ja von sei-nem Kettenhemd umwickelt war. Die schiere Kraft, die im Zupacken des Tieres lag, ließ ihn aufschreien: Es war jedoch kein wirklicher Schmerzensschrei, sondern eher ein Ausdruck seiner Überraschung.

Damlo wandte sich zu Irgenas um. Er hatte nun unversehens drei Wölfe erledigt und fing an, sich selbstsicher zu fühlen. Zu selbstsicher vielleicht. Entgegen den Instruktionen seines Gefährten drehte er sich rasch nach rechts und stand nun Seite an Seite mit dem Zwerg. Darauf achtend, der rotierenden Axt auszuweichen, versetzte er dem Wolf, der sich in Ir-genas’ Arm verbissen hatte, einen Hieb gegen den

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Hals. Er erwartete, dem Tier damit den Kopf abzu-schlagen, aber nichts geschah. Der Stacheldegen sank ins Fell des Wolfes wie ein Stock in ein Kissen, ohne ihm auch nur die Haut zu ritzen.

Damlos Eingreifen überraschte Irgenas zwar, doch war er ein erfahrener Kämpfer und reagierte augen-blicklich. Da er den Jungen an seiner linken Seite wußte, stützte er sich auf das linke Bein und drehte sich schnell um die eigene Achse, wobei er seinen Rücken wieder an den des Jungen brachte. Der Wolf wollte die Beute nicht loslassen, doch der kraftvolle Schwung des Zwerges riß ihn mit, und er beschrieb einen Halbkreis durch die Luft, ehe er gegen einen seiner Kumpane prallte.

Dieser hatte zum Sprung angesetzt, als er sah, daß sich der Junge abwandte, um Damlo am Genick zu packen. Aber nun trafen ihn die Hinterläufe seines heranfliegenden Freundes an der Schnauze und machten seine Absicht zunichte. Irgenas vertrieb ihn mit einem raschen Hieb seiner Axt und stieß dem anderen, der noch immer verbissen an seinem Arm hing, die Stahlspitze, die ins obere Ende seiner Waffe eingearbeitet war, in den Schädel.

»Hast du den Verstand verloren?!« schrie er, ohne sich umzudrehen und während er die Axt bereits wieder kreisen ließ. »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dich nicht wegrühren von meinem Rücken?«

»Aber …«

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»Kein ›Aber‹! Das hier ist eine Schlacht, Junge! Es kostet uns das Leben, wenn wir unser Vorgehen nicht koordinieren!«

»Entschuldige.« »Verlier keine Zeit mit Entschuldigungen, sondern

achte auf die Wölfe. Setz deinen Stacheldegen ein – aber nicht ziellos! Richte ihn auf jeden einzelnen von ihnen! Such dir einen aus, schau ihm tief in die Au-gen und gib ihm zu verstehen, daß du etwas gegen ihn hast. Gegen ihn persönlich. Und dann geh zum nächsten über. Das machst du mit allen, nicht bloß mit dem, der gerade vor dir steht – der scheint zwar immer der gefährlichste, ist aber nur zur Ablenkung da. Der echte Angriff kommt von ganz anderer Seite. Alles klar?«

»Alles klar!« »Nur Mut! Wir schaffen es, du wirst schon se-

hen!« Wie der Zwerg festgestellt hatte, waren die bishe-

rigen Angriffe zum Großteil Täuschungsmanöver. Die Wölfe hatten nur dann wirklich attackiert, wenn eines der angepeilten Opfer gerade abgelenkt war, und die Kadaver ihrer Kumpane verrieten ihnen, daß dies nicht zum Ziel führte. Und so weiteten sie nach und nach den Kreis, blieben stehen und fingen wie-der an zu heulen. Hin und wieder deutete einer von ihnen einen Angriff an, aber alles in allem schien ih-nen ihre Entschlossenheit abhanden gekommen zu

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sein: Es reichte die Andeutung einer Reaktion seitens eines ihrer Gegner, und schon rückten sie knurrend von ihnen ab.

Ganz, ganz allmählich begannen Damlo und der Zwerg sich wieder in Bewegung zu setzen; hinter ei-ner Kurve in etwa hundert Schritt Entfernung war schon das Rauschen des Baches zu hören.

Anfangs blieben die Wölfe auf gleicher Distanz zu den beiden und bewegten sich zusammen mit ihnen in Richtung Brücke. Doch plötzlich zogen sie sich südlich der beiden zusammen – offenbar, um ihnen den Weg zum Fluß abzuschneiden und sie in die Ge-genrichtung zu zwingen. Und jedesmal, wenn sich Irgenas und der Junge näher zur Brücke vorschoben, stellten die Bestien das Heulen ein und hetzten zäh-nefletschend und knurrend auf die beiden zu, um sie zum Rückzug zu zwingen.

Damlo und der Zwerg schafften es zwar, die Rich-tung ihres Vorwärtskommens beizubehalten, doch oft mußten sie sich seitwärts bewegen, um einem An-griff des Rudels zu entgehen. Und nach und nach führte sie dieses seltsame Getänzel an den Rand der Straße.

In diesem Teil des Waldes standen die Bäume nicht eng beieinander, und auch dort, wo die Strahlen der Sonne das Unterholz erreichten, war zu sehen, daß es nicht sehr dicht wuchs.

»Schade, daß wir nicht auf einen Baum steigen

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können«, sagte Damlo. »Nein, ausgeschlossen«, antwortete der Zwerg.

»Clevas ist allein im Lager.« »Er kann ja auch irgendwo hochklettern. Ich dach-

te eher an den Maulesel. Er ist festgebunden, und die Wölfe könnten ihn reißen, so wie diesen Hirsch dort.«

Der Zwerg blickte in die Richtung, in die der Jun-ge gezeigt hatte. Nicht weit entfernt von der Straße lag der Kadaver eines großen, ausgewachsenen Hir-sches. Mehr als die Hälfte des Tieres sah noch unver-sehrt aus, was einen Anblick von makabrer Faszina-tion bot: Die vorderen Gliedmaßen, die mächtige Brust, der Hals und der elegante Kopf – alles war nach vorn gestreckt, so als würde ein Teil des Tieres noch jetzt die Flucht versuchen. Die Wölfe hatten den Hirsch ausgeweidet und die Innereien gefressen; dort, wo sich einst das Fell über wohlgerundete Flanken gespannt hatte, hingen jetzt nichts als ein paar behaarte, blutverkrustete Hautfetzen. Ein Hin-terlauf fehlte ganz, und der andere lag fast völlig zer-fleischt in einiger Entfernung vom Rest des Tieres.

»Siehst du das? Man hat das Gefühl, als renne ein Teil von ihm noch immer!«

»Er sagt uns viel mehr, dieser Kadaver.« Jetzt klang tiefe Besorgnis aus der Stimme des Zwerges. »Sehen wir zu, daß wir so schnell wie möglich zum Wagen kommen. Die Gefahr ist ernster als ange-

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nommen.« »Wie meinst du das?« »Keine Zeit für Erklärungen. Versuchen wir einen

Durchbruch. Sofort danach bleiben wir stehen, denn gleich wenn wir vorbei sind, werden sie von hinten und von der Seite über uns herfallen. Bleib dicht bei mir, klar?«

»Klar!« »Cuorsaldo! Und für die blaue Flamme!« Irgenas ließ die Axt kreisen, und seine Stimme ü-

bertönte das Geheul der Wölfe. Der Junge sprang hinter ihn.

»Waelton!« brüllte er, so laut er das mit seiner vierzehn Jahre alten Stimme konnte. Der Schrei ent-fuhr ihm ganz instinktiv: Bei einiger Überlegung hät-te er sich geschämt und das Schreien sein lassen, doch zu seiner großen Überraschung erfüllte es ihn mit unbändiger Energie.

Indem er mit dem gellenden Gebrüll fortfuhr, überholte der Junge den Zwerg und warf sich, den Stacheldegen schwingend, den Wölfen entgegen. Die Bestien schnellten zur Seite und formierten sich lose, als hätten sie es mit dem Angriff eines wild gewor-denen Hirsches zu tun. Und ganz so, als würde es sich bei den beiden Gegnern um einen Hirsch han-deln, stürzten sie sich sogleich von hinten und von beiden Seiten auf sie.

Doch der Angriff traf die Gegner nicht überra-

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schend. Mit einem festen Griff nach Damlos Jacke hatte der Zwerg den Jungen und sich selbst sofort zum Stehen gebracht.

»Rücken an Rücken!« befahl er knapp und wirbel-te herum. Noch ehe er den Wolf, der im Begriff war, ihn anzuspringen, zu Gesicht bekommen hatte, fand die kreisende Axt ihr Ziel; die Wucht des Hiebes trennte der Bestie den Kopf ab.

»Und zehn!« schrie er. »Und elf! Aaaa!« antwortete die helle Stimme des

Jungen und verwandelte sich in einen Schmerzens-schrei.

Da die Wölfe einen Augenblick innehielten, ris-kierte Irgenas einen Blick auf den Jungen. Ein Tier hatte ihn von rechts angegriffen, und nun wand es sich in einer Blutpfütze auf dem Boden. Doch von links hatte sich eine zweite Bestie auf Damlo ge-stürzt. Dem Jungen war es zwar gelungen, sich rechtzeitig zu schützen, indem er den Arm vor die Kehle hob, aber nun hatte sich das Tier in seinen Un-terarm verbissen.

Damlo hatte jedoch kein Kettenhemd herumgewi-ckelt, und während Irgenas die Axt hob, lief es ihm bei dem Anblick kalt über den Rücken: Er spürte immer noch den Schmerz des Bisses von vorhin.

Er mußte sich jedoch nicht die Mühe machen, den Wolf zu töten, denn mit seinem Stacheldegen wisch-te der Junge sich die Bestie vom Leib wie einen

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Brotkrümel. Ohne Kopf und ohne Vorderläufe fiel das Tier zu Boden, doch der Ärmel von Damlos Ja-cke färbte sich rot vom Blut.

»Keine Angst«, beruhigte ihn der Zwerg, während er sich rundum drehte, um die Wölfe im Auge zu be-halten, »es ist keine schwere Verletzung.«

»Es tut ohnehin nicht weh.« Irgenas unterdrückte eine Entgegnung: Im Laufe

einer Schlacht und im Eifer des Gefechts kam es häufig vor, daß selbst tödliche Verwundungen keinen Schmerz verursachten.

»Zum Wagen, schnell! Ehe wir unseren Vorteil verlieren!«

Die beiden rannten los, wiederum Rücken an Rü-cken. Der Durchstoß hatte sie bis an die Biegung der Straße gebracht, und während die rotierende Axt die Wölfe in Schach hielt, nahmen Damlo und Irgenas die Kurve. Noch hundertfünfzig Schritt bis zum Fluß!

»Jemand hat die Brücke blockiert!« schrie Damlo erschrocken.

Der Zwerg riskierte einen kurzen Blick, ließ fröh-lich die Klingen durch die Luft pfeifen und lachte auf. »Bravo, Clevas! Was für eine umwerfende Idee! Los, Beeilung, Junge, ehe uns die Biester noch mal den Weg abschneiden!«

Der Weg zur Brücke war von einer halbkreisför-migen Blockade aus trockenen Ästen und Dornenge-

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strüpp versperrt. Die Barrikade war natürlich nicht sehr dicht, und nach einer Weile erblickte der Junge auf der anderen Seite das hintere Ende des Wagens und ein Lagerfeuer.

»In der Mitte!« Hinter der Barriere fast nicht aus-zumachen, fuhr der alte Zwerg auch jetzt noch fort, die Sperre mit allerlei Material zu verstärken. Doch seine Stimme war trotz des Wolfsgeheuls klar und deutlich zu verstehen. »Hin zur Mitte! Rasch, rasch! Im Wald sind noch mehr Wölfe!«

»Laufen wir los, Junge!« drängte Irgenas. »Aber vergiß nicht – ich muß dauernd in Kontakt mit dir sein und Schritt halten können!«

Während sie ihre Gangart beschleunigten, tauchte ein weiteres Dutzend Wölfe mit hängenden Zungen aus der Biegung der Straße auf. Sie mußten sehr weit und sehr schnell gelaufen sein, gesellten sich den an-deren zu und verteilten sich links und rechts der vermeintlichen Beute.

Einer der Neuankömmlinge pirschte sich an Dam-lo heran und wollte nach seinem Knöchel schnappen; offenbar erschien ihm das dünne Stäbchen in der Hand des Jungen weniger bedrohlich als dieses blin-kende, blitzende Ding, das der Zwerg unaufhörlich wirbeln ließ. Doch schon im nächsten Augenblick ließ er jaulend von Damlo ab, eine lange, klaffende Wunde an der Schnauze.

»Renn geradeaus, Junge, oder ich spieße dich auf

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wie ein Hähnchen!« Die Stimme des Alten vermisch-te sich mit einem tiefen Sirren, und unversehens strauchelte einer der Wölfe und kippte um. Er wälzte sich immer noch im Staub, als das Sirren sich wie-derholte und ein zweites Tier ein schmerzerfülltes Jaulen ausstieß und wie tot hinfiel. Das darauffol-gende Sirren endete vor den Pfoten eines dritten Wolfes, der heftig zurückzuckte – und diesmal sah Damlo, wie ein Pfeil im Boden steckenblieb. Im Weiterhasten fragte sich der Junge, wie er wohl den Flug durch das Dornengestrüpp geschafft hatte.

Auf der linken Seite schien die Barrikade etwas niedriger zu sein als der Rest, also änderte Damlo die Richtung und hielt auf diese Stelle zu.

Die Wölfe spielten verrückt: Viel beweglicher als ihre ersehnte Beute, tobten sie in einem wilden Kreis um Damlo und den Zwerg herum und knurrten und heulten dazu. Ihr Instinkt verbot ihnen, sich jeman-dem entgegenzustellen, der zur Aufnahme des Kampfes bereit war, aber sie wagten es nicht einmal, den beiden von der Seite her allzunahe zu kommen. Mit gesenkten Köpfen schossen sie hin und her, schnappten in die Luft und ließen dabei lautstark die Kiefer zuklappen, als könnten sie auch aus dieser Entfernung an die Fesseln der Zweibeiner heran-kommen.

»Zur Mitte! Ich hab doch gesagt, zur Mitte! Wa-rum nur hört mir nie jemand zu, wenn ich rede! In

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der Mitte ist ein Durchlaß!« Während der Alte noch schrill seinem Ärger Luft

machte, war zum vierten Mal ein Sirren zu hören, und ein dritter Wolf schien plötzlich über etwas zu stolpern, um sich im nächsten Augenblick auf dem Boden zu wälzen. Bis zu dem Wall aus Dornenge-strüpp waren es jetzt nur noch wenige Schritte, und Damlo hielt gehorsam auf seine Mitte zu. Er war doch bloß ein klein wenig von der angegebenen Richtung abgewichen, grübelte er, wozu also die große Aufregung?

Der Durchlaß verlief schräg durch die Barrikade, und aus diesem Grund war er selbst aus kurzer Ent-fernung nicht mehr auszumachen. Der Junge drehte sich um und schob sich in die Öffnung, um dann den Zwerg, der nach wie vor die Axt kreisen ließ, um die Mitte zu fassen und rückwärts zwischen den Dornen-zweigen hindurchzugeleiten. Zuletzt hakte Irgenas die Axt in das Gestrüpp, zerrte daran und schloß die Öffnung.

Vor dem Wagen brannte auf einem kleinen freien Platz ein Feuer. Damlo und Irgenas eilten daran vor-bei, nachdem sie die Brücke überquert hatten. Auf dem Wagen stand der alte Zwerg und zielte mit einer Armbrust über die Köpfe der beiden hinweg.

»Wo wollt ihr eigentlich hin, ihr beiden? Was meint ihr, wozu ich das Feuer gemacht habe? Weil mir kalt ist? Die Dornenhecke ist nicht besonders

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hoch, und wenn die Wölfe richtig ausgehungert sind, springen sie auch darüber! Zündet sie endlich an, die Barrikade!«

Rasch liefen Damlo und Irgenas zum Feuer zu-rück, zogen brennende Scheite heraus und warfen sie hier und dort zwischen das trockene Geäst. Sofort hob sich Rauch, und die Bestien, die den Dornenwall bis zu diesem Augenblick nach einem Durchschlupf abgesucht hatten, fingen an, wie die Besessenen zu heulen. Und neuerlich ertönte aus dem Wald die hei-sere Stimme, die einen kurzen Befehl ausstieß.

»Hörst du?« rief Damlo. »Das ist die Stimme von vorhin!«

»Du hast recht. Es ist kein Knurren… Achtung!« Angetrieben von dem heiseren Befehl hatten zwei

Wölfe zu einem mächtigen Sprung angesetzt, der sie über die Barriere tragen sollte. Der erste unterschätz-te die Weite, landete in dem dornigen Astwerk und verfing sich jaulend darin. Der zweite hingegen schaffte es auf die andere Seite, wo sich Irgenas eilig zwischen ihn und den Jungen stellte; doch ein Bolzen aus Clevas’ Armbrust war bereits unterwegs zur Kehle des Tieres, und noch ehe Irgenas mit seiner Axt zum Hieb ausgeholt hatte, war es schon tot.

Die Flammen schlugen nun hoch, und so lauter und drängender die Stimme aus dem Wald auch wurde, es wagte doch keiner der Wölfe mehr den Satz über das Feuer. Irgenas streckte den Arm zwi-

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schen die Dornen und tötete mit einem gnädigen Hieb das Tier, das sich darin verfangen hatte. Dann zog er den Bolzen aus dem Kadaver des zweiten Wolfes, packte Damlo am Arm und zog ihn zum Wagen.

»Nicht jetzt, Junge! Los, weiter! Noch ein paar Schritte, dann kann’s dir schlecht werden soviel du willst!«

Damlo wankte sichtbar. Nun, da die Aufregung des Kampfes vorbei war, wurde er schlagartig von einem erschreckenden Schwächegefühl überfallen. Er rang nach Luft, sein Kopf fühlte sich merkwürdig leicht an, und er verspürte jetzt weitaus größere Angst als vorhin bei der Flucht: Es schien ihm, als würde dieses tödliche Entsetzen in seinem Inneren gerade einen wilden Ritt unternehmen und ihm auf Magen, Herz und Hirn herumtrampeln. Während ihm Irgenas auf den Wagen half, hörte er undeutlich die Stimme des Alten, die etwas schrie.

Da zog ihm der Geruch des Gasthauses in die Na-se. Der Kamin mußte sich verstopft haben, denn in der Stube war zu viel Rauch. Es roch nach Verbrann-tem. Aus der Küche? Nein, schalt er sich benommen, das war doch das Dornengestrüpp, das in Flammen stand! Und doch hörte er die Stimmen der Gäste … Vielleicht war ihm ein Topf oder etwas anderes um-gekippt, denn er spürte, wie ihm warme Flüssigkeit den linken Arm entlanglief. Er mußte alles trocken-wischen, ehe Tante Neila zurückkam!

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Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er vor dem Maulesel stand, und es freute ihn ungemein, das Tier den Wölfen entkommen zu sehen. Der Maulesel be-fand sich zwar zwischen den Stangen der Deichsel, aber irgend etwas wollte doch nicht zusammenpassen … Damlo bemühte sich, durch den Nebel vor seinen Augen ein scharfes Bild zu erkennen, während ihm irgendwelche Stimmen unaufhörlich unverständliche Wörter in die Ohren brüllten. Ah ja, da waren sie ja, die Gurte! Armes Vieh, dachte er, wer weiß, wie weit es schon verkehrt angeschirrt durch die Welt gezo-gen ist… Langsam, eine Schnalle nach der anderen, begann er, das Tier von den Gurten zu befreien. »Jetzt bringe ich dich gleich in den Stall und füttere dich so, wie es sich gehört, mein Freund!«

Verwirrt hörte er von neuem diese Stimmen, die ihm in die Ohren schrieen. Sie waren wirklich lästig, aber so ging es eben zu in einem Wirtshaus: Des öf-teren waren die Gäste leicht angeheitert, aber noch viel öfter betranken sie sich und machten Radau.

Plötzlich explodierte ein blendender Schmerz in seinem linken Arm. Seine Knie gaben nach, und hät-te ihn nicht jemand an den Schultern festgehalten, wäre er hingefallen. Nachdem die Übelkeit abgeebbt war, fühlte er sich klarer im Kopf.

»Verzeih mir, daß ich dich auf die Verletzung schlagen mußte, mein Junge, aber es ging nicht an-ders.« Irgenas stand neben ihm. »Du mußt das Maul-

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tier für die Weiterreise bereit machen, verstehst du? Ich kann es nicht anschirren, und wir müssen hier weg, ehe das Gestrüpp runtergebrannt ist! Dort drü-ben lauern die Wölfe, erinnerst du dich? Damlo, ver-stehst du mich?«

»Ich? Klar! Laß mich los!« Er spürte, wie ihm die Zunge am Gaumen klebte. Ohne zu denken korrigier-te er mit unwillkürlichen Handbewegungen die An-schirrung des Maulesels und machte ihn an den Deichselstangen fest.

»Fertig«, murmelte er undeutlich. Während ihm die Zwerge wieder auf den Wagen

halfen, betrachtete Damlo die lodernden Flammen, die aus der Dornenhecke aufstiegen. Funken spritzten seitlich und nach unten daraus hervor; sie plusterten sich auf, nahmen seltsame Formen an und entschwan-den nicht wie sonst hoch oben in der Luft einfach ins Nichts. Sie waren wunderhübsch: Manche schienen drollige Männchen zu sein, andere nur kleine lustige Gesichter, und etliche trugen sogar ein spitzes Hüt-chen mitten auf dem Kopf! Damlo brach in Gelächter aus, denn einige von ihnen schnitten den Wölfen Grimassen, zeigten ihnen die Zunge und lachten sie aus. Das geschah ihnen recht! Das nächste Mal wür-den sie es sich gut überlegen, ihn fressen zu wollen!

Der Geruch nach Verbranntem wurde unvermittelt stärker. Ihn fressen zu wollen! Die Wölfe hatten es wahrhaftig darauf angelegt, ihn zu fressen! Ihn zu

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fressen! Wie das plötzliche Hochwasser eines Flusses stieg

die Wut in ihm aus der Tiefe auf und riß seine bereits geschwächten Schutzmechanismen mit sich fort. Er hörte seine eigenen Angstschreie und spürte, wie sein ganzer Körper bebte. Sein Gaumen brannte, und er versuchte ohne Erfolg, das Feuer auszuspucken.

Wie auch sonst immer blieb ein winzigkleines Teilchen seiner selbst bei klarem Verstand, und Damlo hörte, wie es ihm zuflüsterte, daß er für einen Kampf zu schwach war und diesmal sterben würde. Und so zog er sich in jenes Teilchen zurück und ver-folgte von dort aus das Wüten der Gewalt. Von die-sem Zufluchtsort aus sah er, daß die Wut, ohne an die Grenzen ihres endgültigen Ausmaßes zu stoßen, weiter anschwoll und mit jedem Augenblick verhee-render wurde. Plötzlich hatte er den Eindruck, als könnte sie in ihm wachsen, bis sie körperliche Ges-talt annahm, und ihn als natürliche Folge dieses Vor-ganges von innen heraus aufbrechen.

Und da verließ er mit einem Aufschrei der Ver-zweiflung seine winzige Festung aus Klarheit, stürzte sich ins Chaos und kämpfte. Er kreischte vor Angst und Aufgewühltheit und wehrte sich mit ganzer Kraft; doch selbst damals, beim ersten Mal, im Alter von acht Jahren, hatte er nicht so hart zu kämpfen gehabt, und als er schließlich und endlich die lodern-de Wut in ihren Schlupfwinkel zurückgejagt hatte,

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spürte er, daß er eine ähnliche Schlacht kein zweites Mal überstehen würde.

»Zehn Minuten hat er gedauert!« berichtete ihm Clevas beeindruckt. »So einen heftigen Krampfanfall habe ich noch nie erlebt. Um ehrlich zu sein, ich dachte, du würdest sterben.«

»Früher oder später wird das auch passieren«, er-widerte Damlo mit geschlossenen Augen und schwa-cher Stimme. »Die Krämpfe überfallen mich oft, und jedes Mal könnte ich auch daran sterben. Das weiß ich, seit ich klein war.«

»Das ist nicht gesagt, Junge. Ich habe diese Krankheit schon zu Gesicht bekommen. Sie heißt Epilepsie, und auch diejenigen, die daran leiden, können ein hohes Alter erreichen.«

Doch nun, während der Zwerg seinen verletzten Arm untersuchte, erzählte Damlo die Geschichte der Waeltoner Rotköpfe.

»Sehr interessant. Darüber möchte ich in meinem Buch berichten, wenn du es mir gestattest.«

»In einem Buch?« »Allerdings. Es heißt Kräuter und Krankheiten.

Du mußt wissen, seit meiner Jugend habe ich das ei-ne oder andere Kraut zum Würzen der Speisen ver-wendet, und später, im Krieg, wurde mir bewußt, daß viele von ihnen eine heilende Wirkung haben. Mein Volk versteht sich nicht besonders auf die Behand-lung von Krankheiten, und deshalb habe ich be-

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schlossen, darüber zu schreiben. Ich werde der erste Zwerg sein, der eine Abhandlung über Heilkräuter verfaßt. In meinen nunmehr beinahe zweihundert-siebzig Lebensjahren habe ich einiges darüber ge-lernt. Bevor ich mich entschloß, Irgenas auf dieser Reise zu begleiten, war ich schon beim sechsten Ka-pitel angekommen und…«

»Clevas«, unterbrach ihn sein Gefährte, der auf dem Kutschbock saß und den Maulesel so schnell dahintraben ließ, wie es nur ging, »glaubst du nicht, daß der Junge jetzt besser ruhen sollte?«

»Bei meinem Barte! Du hast recht! Mit meinem Geschwätz ermüde ich dich noch mehr, Junge!« Rasch goß er Wasser in eine Schale und fügte zahl-reiche Prisen Trockenkräuter und Harzkrümel hinzu. »Trink!« befahl er.

Erschöpft nahm Damlo die Schale entgegen, ohne auch nur die Augen zu öffnen.

»Man müßte es heiß machen«, fügte der Zwerg hinzu, »aber wir können nicht anhalten. Doch es soll-te auch so wirken. Ich habe eine dreifache Dosis verwendet.«

Sodann wusch der alte Zwerg unter andauerndem Gemurre, daß ohne ein Feuer eben nicht viel anzu-fangen sei, Damlo sorgfältig die Wunde aus, bedeck-te sie mit einem Pulver und verband ihm den Arm.

»Und jetzt versuch zu schlafen«, sagte er und deckte den Jungen mit einem wollenen Umhang zu.

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Damlo hörte, daß er nach vorn zum Kutschbock ging und sich neben Irgenas setzte.

»Hoffen wir, daß sich der Biß nicht entzündet«, sagte Clevas auf Zwergisch. »Ich habe ihm Kröten-pulver auf die Wunde getan, aber um zu wirken, müßte es sehr heiß aufgetragen werden. Hab ich dir je erzählt, wie ich damals, im letzten Jahrhundert, bei den Elfen-Botschafter Grenvas Mazzapugno beglei-tet habe?«

»Tausendmal.« »Im Turm von Gothror«, fuhr der Alte unbeirrt

fort, »lernte ich einen Elfenprinz kennen. Er heißt Rinelkind und ist der beste Heiler, der mir je unter-gekommen ist. Er war es, der mir beigebracht hat, wie man die Mischung zubereiten muß. Erst häutet man die Turambo ab – das ist eine Kröte, so gelb wie der Neid, die im Zentralmassiv vorkommt. Sie wird auch Spatenkröte genannt, weil sie die Abfälle der Orks ausgräbt und frißt. Daher findet man sie auch immer in der Nähe ihrer Behausungen…«

Während sich das unaufhörliche Geschnatter des Zwerges mit dem Quietschen und Knarren der Wa-genräder vermischte und aus zunehmender Entfer-nung zu kommen schien, wurden die Worte des Al-ten in Damlos Ohren nach und nach von einem selt-samen Hall begleitet – und dann verstummten sie.

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Wieder erwachte Damlo mit verbundenen Augen.

Das wird langsam zur Gewohnheit, dach-te er.

Keiner hatte inzwischen das Rad des Wagens ge-schmiert – die alte Leier aus kläglichen Seufzern und schrillem Wimmern wollte dem Jungen schier das Trommelfell zerfetzen. Die Hufe des Maulesels schlugen den Takt dazu – und Damlos linker Unter-arm schien ganz darauf erpicht, ihn nachzuahmen, denn darin pochte es schmerzhaft im Rhythmus sei-nes Herzschlages.

Und dann diese kreischenden Schreie! Nicht so eintönig wie das Quietschen des Rades, aber weitaus lästiger: Sie wechselten unvermutet und in unregel-mäßigen Abständen zwischen ansteigenden und ab-fallenden Tonfolgen. Damlo glaubte, die Stimme des alten Zwerges zu erkennen, und versuchte besorgt,

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sich die Binde von den Augen zu reißen. Doch selbst sein gesunder Arm fühlte sich bleischwer an. Es kos-tete ihn große Anstrengung, ihn auch nur anzuheben, und als er es schließlich schaffte, mit den Fingern seine Stirn zu berühren, packte eine entschlossene Hand den Arm und legte ihn wieder zurück an die Seite seines Körpers.

»Greif dir nicht an den Verband!« sagte Irgenas zu Damlo, um sich dann an seinen Gefährten zu wen-den: »Und du hör auf zu singen, Clevas, und gib mir die Zügel. Der Junge ist aufgewacht.«

»Das war ein… ein Lied?« stammelte Damlo. »Was sonst!« entgegnete der Alte fröhlich.

»Schön, wie? Die Hymne meines Regimentes. Bei meinem Barte! Was haben wir für Schlachten ge-schlagen – unter diesem Gesang! Und wir haben sie alle gewonnen!«

»Das glaube ich«, erwiderte der Junge schwach. Sonst sagte er nichts, aber Irgenas kicherte dennoch in seinen prächtigen Bart.

»Und du? Was findest du da zum Lachen, junger Mann?«

Als ihm Irgenas den Verband abnahm, geriet Cle-vas verkehrt herum ins Blickfeld des Jungen. Der Kopf des Alten hob sich gegen den Himmel ab – mitsamt dem Bart, der einen mächtigen Bogen vom Kinn bis zum Gürtel formte, in den er nun gesteckt war. Während Clevas sprach, erzitterte die Masse aus

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dichtem eisengrauem Haar und hüpfte auf und ab. Damlo gelang es, das Kichern zu unterdrücken, aber er mußte sich heftig auf die Zunge beißen.

»Haben wir denn je eine Schlacht verloren? Los, nenn mir einen Kampf, in dem wir besiegt wurden! Nur einen einzigen! Los, nimm kein Blatt vor den Mund!«

»Komm, Clevas, ich habe nicht über dich gelacht. Und auch nicht über dein Regiment.«

»Ach so.« Der Alte schien fast enttäuscht. »Na dann ist es ja gut, denn das hätte ich dir nie verzeihen können! Und jetzt geh nach vorn. Um den Jungen kümmere ich mich. Also, geh schon!«

Der Maulesel, der die durchhängenden Zügel ge-spürt hatte, war beinahe stehengeblieben – was sich insofern als Glück erwies, als die beiden Zwerge beim Positionswechsel auf dem Wagen einen derart unbeholfenen Tanz aufführten, daß sie ein plötzlicher starker Ruck wohl beide hart aufs Hinterteil gesetzt hätte.

Kaum hatte jedoch Irgenas die Zügel ergriffen, setzte das lebhafte und regelmäßige Getrappel der Hufe wieder ein – zusammen mit dem Ächzen des Rades.

»Und die Wölfe?« fragte Damlo mit geschlosse-nen Augen. Die Lider waren ihm schwer.

»Die haben wir hinter uns gelassen«, antwortete der Alte und entfernte das letzte Ende des Verbandes

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von Damlos Kopf. »Selbst dem Maulesel muß die Gefahr klar geworden sein, denn er trottete den gan-zen Tag über willig dahin, ohne sich lange bitten zu lassen.«

Den ganzen Tag? Damlo riß die Augen auf. Im Westen sank die Sonne hinter die Bäume. »Dann sind wir schon drei Tagesritte von Waelton entfernt?«

»Bei meinem Barte, du denkst doch nicht immer noch daran, zu Fuß nach Hause zurückzukehren?«

»Nein, weil ich ja die meiste Zeit über bewußtlos binl In drei Tagen war ich höchstens drei Stunden lang wach!«

»Du bist noch geschwächt. Die Verletzung am Kopf ist tief, und der Biß des Wolfes hat deinen Zu-stand noch verschlimmert. Du hast viel Blut verloren und mußt dich so lange gedulden, bis dein Körper neues gebildet hat.«

Der Zwerg löste Damlo die Binde vom Arm. Die Berührung seiner Finger war kaum zu spüren, und der Junge schloß die Augen wieder. Wenn er nicht hinsah, konnte er sich fast einbilden, es wären die Hände von Tante Neila.

»Aahl« stöhnte er plötzlich auf. »Entschuldige. Diese dummen Verbände sind

nichts für meine Finger.« Der Junge öffnete die Augen und sah, daß auch

Clevas’ Hände verbunden waren. »Hast du dich ver-letzt?«

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»Na, was glaubst du? Daß man Dornengestrüpp in Bündeln zu je zehn Stück an irgendeiner Ecke aufge-schichtet vorfindet? Ich mußte sie einzeln abbrechen, bei meinem Barte. Und für Zimperlichkeiten war keine Zeit.«

Damlo schwieg eine Weile, während sich der Alte an seinem Arm zu schaffen machte.

»Es ist alles meine Schuld«, flüsterte er dann. »Es tut mir leid, ich wollte nicht… ich wollte nur heim!«

»Schon gut, schon gut. Diese Wölfe sind uns schon seit dem Vortag gefolgt. Hör mir jetzt lieber zu: Die Binde ist an der Wunde festgeklebt, und ich muß dir etwas weh tun. Kann’s losgehen?«

»Ja.« Der Alte ging daran, mit einem in Öl getauchten

Stückchen Leinen die Stelle zwischen Verband und Wundkruste immer wieder leicht zu bestreichen. Obwohl Damlo dabei jedesmal zusammenzuckte, schaffte er es, kein einziges Stöhnen von sich zu ge-ben. Als der alte Zwerg die Wunde schließlich frei-gelegt hatte, glitzerten zwischen den zusammen-gepreßten Lidern des Jungen ein paar Tränen. Aber sie waren über die Wimpern nicht hinausgekommen und dort hängengeblieben.

»Irgenas, halt den Wagen an!« rief Clevas auf Zwergisch. Seine Stimme klang beunruhigt. »Ich muß die Verletzung behandeln.«

»Kannst du damit noch ein wenig warten?« fragte

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der junge Zwerg in derselben Sprache. »Ich erinnere mich an eine kleine Erhebung ein Stück weiter, die gut zu verteidigen ist. Dort könnten wir auch ein si-cheres Nachtlager aufschlagen.«

»Wie lange ist es bis dahin?« »Kann ich nicht genau sagen. Eine Stunde viel-

leicht.« »Zu lange.« »Vielleicht auch etwas weniger, Clevas, ich kann

mich nicht genau erinnern. Aber was soll denn das viel ausmachen – eine Stunde mehr oder weniger!«

»Hör mir gut zu, junger Mann: Entweder du tust, was ich dir sage, oder du machst dich darauf gefaßt, dem Jungen den Arm abzunehmen!«

Irgenas brachte den Wagen so jäh zum Stehen, daß sich der Maulesel aufbäumte. »Ihm den Arm abneh-men?«

»Mir den Arm abnehmen?« echote auch Damlo. Auf Zwergisch.

»Bei meinem Barte, Junge! Warum hast du nicht gesagt, daß du unsere Sprache sprichst?«

»Und du? Warum willst du mir den Arm ab-schneiden?«

»Ich habe nicht gesagt… Ich habe nicht gemeint… Ach, zum Geier! Ich wollte, daß Irgenas den Wagen anhält, und so mußte dein Arm eben als Ausrede herhalten! Wie konnte ich wissen, daß du alles ver-stehst!«

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Damlo ließ den Kopf wieder auf den zusammen-gerollten Mantel sinken, der ihm als Kissen diente, und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Da wir nun schon mal stehen, können wir auch hierbleiben«, sagte Irgenas. Der Tonfall seiner Stimme klang zumindest eine halbe Oktave höher als sonst.

»Ich helfe euch, den Maulesel auszuspannen«, schlug Damlo vor.

»Nein, bleib auf dem Wagen. Der Maulesel kann warten.«

Irgenas sammelte in aller Eile trockenes Holz und machte ein Feuer. Dann, während Clevas mit zwei kleinen Töpfen zu hantieren begann, half er Damlo vom Wagen und führte ihn ans Feuer.

Irgenas hatte den Wagen inmitten eines Bestandes von Tannen zum Stehen gebracht, die einen unre-gelmäßigen Kreis um die kleine Lichtung bildeten. Sofort nachdem er den Jungen am Feuer abgeliefert hatte, ergriff der Zwerg seine Waffe und verschwand zwischen den Bäumen. Bald danach begannen für geraume Zeit die Schläge der Axt durch den Wald zu hallen, und dann und wann tauchte Irgenas mit einem Bäumchen im Lager auf, das er zwischen die umste-henden Baumstämme klemmte. Nachdem er so eine stabile Palisade errichtet hatte, schleppte er einen Vorrat an trockenem Holz herbei und trug es ins In-nere des Verteidigungsringes. Schließlich plazierte er

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den Wagen so, daß dieser die letzte Öffnung nach draußen verschloß.

»Jetzt können sie kommen!« rief er und sprang über einen dicken Ast.

»Gib acht, wo du hinsteigst!« bellte der Alte. Clevas hatte ein sauberes Tuch auf den Boden ge-

breitet und zahlreiche Ledersäckchen darauf ausge-legt, denen er winzige Mengen verschiedener Pulver und feinst zerriebener Kräuter entnahm. Mit Hilfe ei-nes kleinen silbernen Spatels, an dessen Ende sich eine flache Mulde befand, dosierte er die Substanzen äußerst sorgfältig. Nachdem er sie verrührt hatte, kippte er die Mischung in eines der Töpfchen, in de-nen das Wasser bereits wild brodelte.

»Was ist da drin?« erkundigte sich der Junge, während der Zwerg die Beutelchen wieder zurück-legte.

»Zutaten für Arzneien. Dies hier sind die Hinter-leiber blauer Ameisen, sehr schöner, aber auch ge-fährlicher Tierchen, die südlich der Spitzen Berge vorkommen. Um ehrlich zu sein, sie sind eigentlich rot; das einzig Blaue an ihnen sind die Kiefer. Was haben wir hier noch… Also das da ist die Haut der Turambokröte, getrocknet und zerstoßen. In diesem Säckchen wiederum befindet sich kristallisierter Schleim der Beilkröte. Das ist an sich zwar ein völlig unbedeutendes kleines Tier, es trägt auf dem Rücken aber einen beilförmigen Kamm, den es immer hoch

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aufrichtet, um sich ein gefährliches Aussehen zu ver-leihen. Nun, und dann haben wir hier zerkleinerte Ringelblumen, Zinkpulver und eine Menge anderer Zutaten… So, das reicht. Sonst höre ich einen Monat lang nicht auf mit dem Reden. Sag du mir lieber, wie es kommt, daß du Zwergisch verstehst?«

»Etwas davon habe ich im Gasthaus gelernt, von den Kaufleuten aus den Steinbergen, die dort Rast machen, und den Rest in der Bibliothek. Aber ich muß dieses Zeug doch nicht trinken, oder?«

Clevas hatte das Töpfchen vom Feuer genommen, den Inhalt auf das saubere Tuch geleert und die Flüs-sigkeit in einer Schale aufgefangen. Auf dem Stoff war ein ekelhafter Brei übriggeblieben, den der Zwerg sodann mit Schweineschmalz in einer anderen Schale vermischt hatte. Durch die Hitze war das Fett geschmolzen, und das Gebräu, das dabei entstanden war, stank furchterregend.

»Nein«, antwortete Clevas. »Sobald es abgekühlt ist, werde ich es auf die Wunden tun. Aber jetzt be-reite ich dir einen Trank. Da wirst du bis morgen abend schlafen. Du brauchst viel Ruhe.«

»Und so«, seufzte Damlo, »verschlafe ich Tag Nummer vier. Zum ersten Mal bin ich auf Reisen, und statt mir die Welt anzusehen, verbringe ich die Zeit mit Schlafen!«

Der Alte goß die Flüssigkeit aus der ersten Schale ins andere Töpfchen, in dem bereits zwei Finger

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hoch das Wasser kochte, und tat einige Kräuter hin-zu.

»Für den Geschmack«, erklärte er. »Ohne diese Zutaten wäre er untrinkbar; und auch so… Nun, im Grunde handelt es sich ja um eine Medizin.«

Wenige Minuten später war der Aufguß kühl ge-nug, und der Junge stürzte ihn in einem Zug hinun-ter. In der Zwischenzeit war auch der Brei kalt ge-worden und hatte nunmehr das Aussehen einer di-cken Salbe.

»Jetzt mußt du tapfer sein«, Clevas griff nach der Schale und blickte Damlo fest in die Augen, »weil ich davon auch etwas in die Wunden streichen muß, das wird dir weh tun.«

»Sehr?« fragte der Junge und schluckte. »Die Salbe selbst nicht, aber zuvor muß ich erst

den Eiter aus der Wunde entfernen, und das wird schmerzhaft sein. Und ich kann nicht warten, bis der Schlaftrunk wirkt, denn der Zustand deines Armes verschlimmert sich von Minute zu Minute.«

»Also mach schon«, sagte Damlo und gab sich alle Mühe, seine Angst zu verbergen.

Und Clevas machte es. Die tiefen Bißwunden hat-ten sich längst entzündet und verströmten bereits ei-nen widerlichen Geruch. Rund um die Löcher, die das mächtige Gebiß des Wolfes hinterlassen hatte, war der Arm heiß, angeschwollen und bläulich. Als der Zwerg begann, den Eiter hervorzupressen, war es

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mit Damlos Selbstbeherrschung vorbei. Er schrie laut auf – und fiel in Ohnmacht.

»Ja, das ist viel besser«, seufzte der Alte, »das Schlimmste kommt ja erst.«

Er fuhr mit der Säuberung der Wunden fort, und als er damit fertig war, wusch er sie sorgfältig aus, ehe er die Salbe in die aufgebrochenen Öffnungen strich. Mit Hilfe des Stieles seines Silberspatels preß-te er die schmierige Mischung tief hinein, bis die Wunden komplett damit ausgefüllt waren. Schließ-lich verband er den Arm neu und fixierte ihn mit ei-ner Schlinge, die er dem Jungen um den Hals legte.

»Wird er den Arm verlieren?« sorgte sich Irgenas. »Das hängt davon ab, wie er auf die Heilsalbe rea-

giert. Morgen abend werden wir es wissen.« »Er ist ein mutiger Junge und würde ein Leben als

Einarmiger nicht verdienen. Hab ich dir schon er-zählt, daß er sieben Wölfe getötet hat?«

»Wenn man davon absieht, daß es beim letzten Mal fünf waren, würde ich sagen, ja. Zumindest dreimal hast du mir davon erzählt.«

»Du hättest ihn sehen müssen!« fuhr Irgenas unbe-irrt fort.

»Als ich ankam, war er von einem Rudel Wölfe umringt, alle so groß wie Kälber! Und statt vor To-desangst halb gelähmt zu sein, lachte er!«

»Das wäre dann Nummer vier«, seufzte der Alte und setzte sich bequemer hin.

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Damlo schlief nicht nur bis zum nächsten Abend, sondern auch die ganze darauffolgende Nacht. Als er erwachte, war es heller Morgen, und der Wagen rumpelte quietschend voran. Beide Zwerge saßen auf dem Kutschbock.

»Hallo, ich bin wach!« »Willkommen bei den Ausgeschlafenen!« Clevas

hatte sich umgedreht und lächelte. »Heute geht’s mir wieder gut! Der Arm tut nicht

mehr weh, und ich bin hungrig wie ein Wolf.« »Gut, gut!« lachte der Alte vor sich hin und stand

auf. »Aber diesmal mußt du dich mit Zwieback zu-friedengeben. Das Schmorfleisch ist zu Ende.«

»Das macht gar nichts. Wo ist er?« »Unter diesem Bündel dort«, sagte der Zwerg und

zeigte mit einer Kopfbewegung, welches er meinte. Er war dabei, sich zum hinteren Teil des Wagens zu kämpfen, und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu hal-ten.

Der Junge schob den Stapel Umhänge zur Seite – und erstarrte: Auf dem Boden des Wagenkastens lag der Degen, mit dem der Fremde Onkel Pelno gede-mütigt hatte. Damlo wußte, er irrte sich nicht – bei dieser langen, dünnen … und vor allem schwarzen Klinge!

Der alte Zwerg blickte ihn scharf an. »Geht’s dir auch wirklich gut?«

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Langsam und mit zusammengeschnürter Kehle er-griff Damlo den Degen am Bügel und hielt ihn dem Zwerg entgegen. »Wo habt ihr den her?«

»Das geht dich nichts an«, antwortete Clevas. »Denk daran, es ist ungezogen, die Nase in die An-gelegenheiten anderer Leute zu stecken.«

»Das letzte Mal, als ich diesen Degen sah, steckte seine Spitze zwischen den Zähnen meines Onkels!«

»Irgenas…« seufzte der Alte. »Ich hab’s gehört«, erwiderte der andere, ohne

sich umzudrehen, lenkte den Wagen an den Straßen-rand und hielt an.

Der tief gerändelte und mit einem sonderbaren Knauf aus schwarzem Obsidian versehene Griff der Waffe schien danach zu schreien, von einer Hand umfaßt zu werden. Einer plötzlichen Eingebung fol-gend, packte Damlo den Degen.

Augenblicklich durchflutete ihn ein Gefühl außer-ordentlicher Kraft; er fühlte sich unendlich stark und unbesiegbar – und als sein Blick über die beiden Zwerge glitt, wurde ihm schlagartig bewußt, daß er sie mit einem Mal als das zu sehen vermochte, was sie in Wirklichkeit waren: zwei armselige Kreaturen, erbärmlich und völlig unbedeutend. Noch schlimmer: zwei gefährliche Betrüger!

Es war, als wäre ihm ein Schleier von den Augen gefallen. Warum hatten sie ihn nicht nach Hause zu-rückgebracht? Welches war ihr wahres Motiv dafür?

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Warum hatten sie den schwarzen Degen vor ihm ver-steckt? Und warum sah ihn Clevas in diesem Augen-blick mit einem zutiefst beunruhigten Gesichtsaus-druck an? Und warum hatte Irgenas den Wagen an-gehalten? Was führten sie gegen ihn im Schilde?

Plötzlich wurde ihm klar, daß man ihn von Anfang an getäuscht hatte, und er spürte eiskalten Haß in sich aufsteigen – ekelerfüllten, unbändigen Haß. Er verabscheute diese falschen Freunde zutiefst. Er wollte sie tot sehen. Er brannte geradezu darauf zu beobachten, wie sie sich unter den Hieben seines neuen Degens röchelnd krümmten und wanden. Möglichst lange. Zum Glück bin ich ihren Machen-schaften auf die Spur gekommen, sagte er sich, wäh-rend er versuchte abzuschätzen, wo sich hinter die-sem dichten Bart wohl Clevas’ Kehle befand.

Da begann rund um ihn ein frenetisches Zucken und Flackern: Dutzende winziger Gestalten, die aus-sahen wie kleine Männchen, wie lebendig gewordene Blätter und Blüten, wirbelten hektisch rund um das Fuhrwerk. Irgendwie wußte Damlo mit vollkomme-ner Sicherheit, daß die Zwerge diese Kobolde nicht wahrnehmen konnten, und er verfolgte ihre Bewe-gungen ein Weilchen mit einigem Groll. Ein seltsa-mer Gedanke fuhr ihm durch den Kopf: Er hoffte, daß sich ihr neckisches Treiben bald zu üblen Scher-zen steigern und daraufhin eine Kette gegenseitiger böser Streiche einsetzen würde – jeder davon eine

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Antwort auf den vorangegangenen, doch stets heim-tückischer als der letzte, was schließlich unter den Kobolden selbst zu Zwist führen mußte, bis einer den anderen haßte. Um auch diesen Teil des Waldes zu verfinstern! Es würden ihnen Reißzähne und Krallen wachsen, freute er sich, sie würden bucklig werden und schief, und es hätte mit diesen einfältigen Spiel-chen ein Ende!

Die winzigen Gestalten zuckten wie verrückt um ihn herum; wie in einem verzweifelten Flehen flitz-ten sie unter seinen Armen und zwischen seinen Bei-nen hindurch, ohne daß er je eine Berührung spürte. Zitternd trippelten sie die Klinge des Degens entlang und wollten Damlo ihre Furcht durch nervöse Zei-chen zu verstehen geben.

Ich weiß, was sie wollen, dachte er, aber jetzt, da ich ihn gefunden habe, gebe ich ihn nicht mehr her! Mit diesem Degen werde ich nie mehr Angst haben, und wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich Proco zwingen, meinen Mut und meine Tapferkeit anzuer-kennen! Andernfalls bringe ich ihn um. Vielleicht bringe ich ihn in jedem Fall um. Ich schneide ihm den Kopf ab. Ihm und Busco Sinistronco.

»Leg ihn hin, Damlo! Schnell, laß ihn los!« Der alte Zwerg schien wie versteinert und starrte Damlo mit weit aufgerissenen Augen an.

Das würde dir so passen, mieser, hinterhältiger Gauner, dachte der Junge. Hast du geglaubt, du

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könntest mich hinters Licht führen? Dich werde ich auch umbringen, darauf kannst du dich verlassen, aber vorher werde ich Irgenas aus dem Weg räumen. Von hinten und gleich jetzt, damit er keine Zeit hat, nach seiner Axt zu greifen!

Er spürte, wie in seinem Inneren das Hochgefühl wuchs, und bereitete sich darauf vor zuzustechen. Doch dann nahm er plötzlich zugleich mit der Eu-phorie einen Geruch nach Verbranntem wahr und bemerkte, wie sich die Wut in ihm zu rühren begann. Schon wieder »diese Sache«!

Ja! Tod! Blut! Vernichtung! Nein! Nein! Nein! Die Erinnerung an den letzten

Kampf war noch zu lebendig. Todesangst und Über-lebensinstinkt erwachten blitzartig, und Damlo öffne-te die Finger, die den Degen umklammerten.

Augenblicklich überfiel ihn das stechende Gefühl eines schmerzlichen Verlustes, und er bückte sich, um den Degen wieder aufzuheben. Doch er vernahm in seinem Inneren das Brüllen, und die Angst zwang ihn zum Kampf gegen »diese Sache«, ehe sie aus ih-rem Schlupfwinkel ausbrechen konnte. Und so blieb er reglos und schwer atmend über die Waffe gebeugt, während er durch die halbgeschlossenen Lider zusah, wie sich Clevas’ Hand nach dem Degen ausstreckte und ihn am Rücken der Klinge ergriff.

»Ich bringe ihn jetzt in Sicherheit«, sagte der Alte mit sanfter Stimme. »Er ist gefährlich; es war nach-

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lässig von mir, ihn herumliegen zu lassen.« Keuchend hob Damlo den Kopf und sah ihn an.

Der Zwerg hatte seine uralten Augen unverwandt auf ihn gerichtet; Verständnis und Anteilnahme sprachen aus ihnen. Unvermittelt brach der Junge in Tränen aus.

»Du weißt es nicht! Du weißt es nicht!« rief er zwischen seinen Schluchzern.

»Nein, aber ich kann es mir vorstellen: Dein Ge-sicht war nicht wiederzuerkennen, Junge.«

Damlo weinte lange und ohne Unterbrechung. Er fuhr damit fort, bis die Tränen die letzten Reste des Hasses weggespült hatten, während Clevas eine Kis-te öffnete und den Degen hineinlegte.

»Ich war drauf und dran, euch umzubringen«, sag-te er tonlos, als er sich wieder beruhigt hatte.

Er fühlte sich erschöpft, zugleich aber gelassen und sonderbar kraftvoll. Jetzt wollte er alles wissen; wortlos sah er Irgenas in die Augen.

Nachdenklich erwiderte der Zwerg Damlos Blick und wandte sich nach einer Weile an seinen Gefähr-ten. »Erzähl ihm vom Degen, ich übernehme wieder das Kutschieren. Der Maulesel wird mittlerweile auch ausgeruht sein.«

»Du mußt wissen«, seufzte der Alte, während sich der Wagen knirschend in Bewegung setzte, »daß wir nicht deshalb so große Eile haben, um vor der Kon-kurrenz in Drassol einzutreffen.«

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»Ihr seid keine Kaufleute!« unterbrach ihn Damlo. »Irgenas?« »Sag dem Jungen nur, wie die Dinge stehen. Nicht

alles, aber soviel, daß er versteht, worum es geht.« »Warum nicht alles?« fuhr Damlo hoch. »Und au-

ßerdem heiße ich ›Damlo Rindgren‹ und nicht ›der Junge‹!«

»Du hast recht. Und ich bin Irgenas Cuorsaldo, zu deinen Diensten.«

»So kannst du nicht heißen. Cuorsaldo heißt der König der Zwerge.«

»So ist es. Thundras Cuorsaldo ist mein Vater.« Damlo riß die Augen auf. Und Clevas auch. »Bei meinem Barte!« rief der Alte. »Vorgestern

hast du mir wegen einer kleinen Andeutung einen Rüffel erteilt, und jetzt sprichst du es ganz offen aus!«

»Mittlerweile haben wir Seite an Seite gekämpft. Er hat sich dabei hervorragend gehalten und verdient zu wissen, wer wir sind.«

Damlo fühlte sich unversehens um drei Fuß ge-wachsen. »Und wie kommt es«, fragte er, »daß der Erbe des Steinernen Thrones als Kaufmann verklei-det reist?«

»Zuallererst mußt du Verständnis dafür haben, daß es Dinge gibt, die ich dir nicht erzählen kann«, erwi-derte Clevas. »Diese Geschichte betrifft auch Staats-angelegenheiten, über die ich nicht sprechen darf.

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Doch selbst das, was ich dir enthüllen werde, ist Ge-heimsache, und du mußt mir versprechen, alles für dich zu behalten.«

»Ich gebe dir mein Wort.« »Gut. Du weißt also jetzt, daß Irgenas der Kron-

prinz des Geschlechts der Cuorsaldo ist. Ich, Clevas Barbacciaio, genieße hingegen das Privileg, der Leh-rer und Beschützer des Prinzen zu sein, so wie einst schon der seines Vaters. Vor mehr als einem Monat hat mir König Thundras befohlen, Irgenas über die Bunten Berge nach Süden zu begleiten. Da es sich um eine offizielle Reise handelte, machten wir uns mit einem Geleit von zwanzig Kriegern Richtung Kurtin und Weißer Paß auf den Weg. Wir waren der Meinung, eine zwanzigköpfige Eskorte wäre ausrei-chend, sowohl im Hinblick auf den Schutz des Kon-vois als auch auf die Wahrung der Würde des Kron-prinzen. Leider haben wir uns darin geirrt. Wir leben in schwierigen Zeiten, Damlo. Seit der Souverän vor einem Jahr vergiftet wurde, ist die Thronfolge… Du weißt doch, wer der Souverän von Eria ist, nicht wahr?«

»Sicher«, antwortete Damlo und rezitierte: ›»Der Souverän von Eria ist der oberste Herrscher der He-gemonie Eria, bei welcher es sich um ein Bündnis von Staaten handelt, das im Süden von den Spitzen Bergen begrenzt wird, im Osten vom Zentralmassiv, im Norden von den Bunten Bergen und im Westen

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vom Toten See. Die Hauptstadt der Hegemonie Eria ist die Stadt Eria am Ufer des gleichnamigen Sees…‹«

»Es reicht, es reicht!« kicherte Clevas. »Also: Die Thronfolge nach dem Tod des Souveräns gestaltet sich schwierig, und das Fehlen eines obersten Herr-schers ist Ursache vieler Probleme. Vor allem in den Randgebieten des Staatenbündnisses. Das Reisen ist nicht mehr so sicher wie früher, und tatsächlich sind wir vor einem Monat auf dem Weißen Paß in eine Serie von Hinterhalten geraten.«

»Eine Serie?« »Sie griffen uns an, verfolgten uns, wenn wir uns

zurückzogen, und griffen von neuem an. Mehrmals. Ich kann dir versichern: Es ist kein leichtes Unter-fangen, es mit zwanzig Kriegern der Königlich-Zwergischen Garde aufnehmen zu wollen. Und doch sind wir nur zu zweit nach Kurtin gelangt.«

»Wer waren die Angreifer?« erkundigte sich Dam-lo.

»Es waren Straßenräuber, merkwürdigerweise a-ber verbissene Kämpfer. Du mußt wissen, wir beför-dern etwas äußerst Wertvolles, das seinen Bestim-mungsort erreichen muß, koste es, was es wolle. Vielleicht gibt es jemanden, der sich über das Schei-tern unserer Mission freuen würde.«

»Wer soll das sein? Und was transportiert ihr?« »Tut mir leid. Ich darf über diese Gegenstände

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nicht sprechen und auch nicht über das Ziel unserer Reise.«

»Aber wenn man euch schon überfallen hat, dann ist es doch ohnehin kein Geheimnis mehr!«

»Man kann nur hoffen, daß es trotzdem eines blieb. Vielleicht waren es wirklich nur simple Stra-ßenräuber; dennoch ließen sich manche Dinge mit einem Durchsickern von Nachrichten um einiges leichter erklären.«

»Und wer will verhindern, daß ihr euer Reiseziel erreicht?«

»Das wissen wir nicht – und das ist ein Teil des Problems. Wir fürchten, daß der Fürst der Finsternis wieder einen Ersten Diener gefunden hat, aber das ist nichts als eine Vermutung. Sicher wissen wir nur, daß in der Hegemonie üble Kräfte am Werk sind, die sich das Chaos zunutze machen, um ihre Ränke zu schmieden.«

»Wer ist der Fürst der Finsternis?« »Der Herr der Schwärze, der Herr der Angst, der

Herr der Täuschung, der Pein, der Dunkelheit… und der Schatten. Er besitzt viele Namen, existiert seit undenklichen Zeiten und wird bis in alle Ewigkeit bestehen. Er ist körperlos und kann auf dieser Welt nur über einen Vermittler tätig werden.«

»Den Ersten Diener?« »Genau. Jenes Wesen, das es für den Fall, daß der

Schatten tatsächlich wieder erwacht ist, aufzuspüren

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und zu bekämpfen gilt. Zu seiner Feststellung benö-tigt man den Gegenstand, den wir befördern, und das ist der Grund, weshalb er unbedingt seinen Bestim-mungsort erreichen muß. Und zwar schnell!«

»Und der schwarze Degen?« »Wie du schon erkannt hast, gehört er ins Reich

des Bösen. Da wir das von Anfang an vermuteten, haben wir bei seiner Handhabung stets größte Vor-sicht walten lassen… Es tut mir leid, daß ich ihn un-ter diesem Stapel Umhänge liegengelassen habe. Auf den Gedanken, jemand könnte mit uns reisen und ihn irrtümlich zücken, bin ich gar nicht gekommen.«

Der Junge nickte, und der Wagen schaukelte wei-ter; nur das Quietschen des Rades durchbrach mit seinem Rhythmus die schweigsame Stille. Damlo war ein wenig durcheinander; der Herr der Täu-schung, der Pein, der Angst – o ja, dachte er.

Aber nicht der Dunkelheit, des Schattens und auch nicht der Schwärze. Die Dunkelheit war ihm immer eine Freundin gewesen – genau wie die Schatten. Und er liebte die Schwärze ebenso wie alle anderen Farben. Und doch stimmte es in gewisser Hinsicht: Hand in Hand mit dem Haß waren Dunkelheit und Schwärze vorhin gegangen – eine Dunkelheit und ei-ne Schwärze, ganz anders beschaffen als sonst: schmierig und bösartig wie die Erscheinung des Fremden, der ihm in der Wirtsstube einen Tritt ver-setzt hatte.

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Er rief sich dieses Gefühl des Verlustes, das ihn beim Loslassen des Degens überkommen hatte, wie-der in Erinnerung – nach nur wenigen Augenblicken in seiner Hand verursachte die Trennung von ihm ei-ne echte Qual. In diesem Augenblick wurde Damlo klar, daß der Fremde aus der Apfelesche tot war.

»Was ist geschehen, nachdem ihr wieder nach Kurtin zurückgekehrt wart?«

»Wir hatten vor, zu den Steinbergen weiterzuzie-hen, um in den Palast zurückzukehren und das ganze Unternehmen neu zusammenzustellen. Doch als wir in die Stadt kamen, änderten wir unseren Entschluß; wir hatten schon zwanzig Tage Verspätung, und eine Rückkehr nach Hause hätte uns weitere zwanzig ge-kostet. Außerdem bestand die Möglichkeit, daß es Seine Majestät ablehnen würde, die Gegenstände ei-ner neuerlichen Gefährdung auszusetzen – schon beim ersten Mal hatte es großer Mühe bedurft, den König zu überzeugen. Daher war es unumgänglich, die Reise fortzusetzen, auch wenn wir nunmehr nur zu zweit waren. Und wir sagten uns, wenn sie tat-sächlich hinter uns her waren, würden die Banditen nach dem Erben des Steinernen Thrones Ausschau halten – nach einem Prinzen, der mit großem Pomp und in Begleitung seiner Elitekrieger reist. Daher ha-ben wir dieses Fuhrwerk gekauft und uns als Kauf-leute verkleidet in Richtung des Blauen Passes auf den Weg gemacht. Niemandem, so dachten wir,

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würden zwei einfache Kaufleute auffallen, die auf der Fahrt zum Jahrmarkt in Drassol waren. Und doch mußten wir kurz vor Waelton dem Besitzer dieses Degens begegnen, der uns sofort und ohne Vorwar-nung angriff.«

»Wie konnte er wissen, wer ihr seid?« »Das will mir auch nicht in den Kopf. Eine Brief-

taube vielleicht … Aber ich kann mir nicht vorstel-len, daß die Straßenräuber am Weißen Paß über ein Tier verfügten, das dazu abgerichtet war, genau in jene Gegend zu fliegen. Nicht einmal wir wußten vorher, daß wir zum Blauen Paß Weiterreisen wür-den, und die beiden Pässe sind dreihundert Meilen voneinander entfernt!«

»Der Rabe! Der Fremde trug einen Raben auf der Schulter, den er wie eine Brieftaube in die Luft warf!«

»Unmöglich. Raben lassen sich nicht dazu abrich-ten, Botschaften zu überbringen. Ihnen fehlt der In-stinkt, nach Hause zurückzukehren.«

»Ich habe es nicht persönlich gesehen; mein Vetter Trano hat es mir erzählt, aber es klang nicht wie eine Erfindung.«

»Wie hast du den Besitzer des Degens kennenge-lernt?« fragte der Alte.

Wegen der Sache mit dem Brennholz ein wenig verlegen, erzählte Damlo von dem Fremden.

»Dein Onkel hat Glück gehabt«, bemerkte Clevas,

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nachdem der Junge geendet hatte, »diese Männer sind gefährlich und kämpfen mit größter Virtuosi-tät.«

»Diese Männer?« »Der Anführer der Banditen am Weißen Paß hätte

ein Zwillingsbruder des Fremden sein können, der dich mißhandelt hat. Er schwang eine ebensolche Waffe und tötete während einer Gegenattacke vor dem Rückzug persönlich zwei unserer Krieger. Das kann ihm so schnell keiner nachmachen, möchte ich betonen. Und mit dem, den du kennengelernt hast, hatten wir ja auch einen Zusammenstoß. Er schlug los, sobald er uns erblickt hatte, und hätten wir uns nicht vom Wagen fallen lassen, wären wir beim ers-ten Angriff ums Leben gekommen. Sein Pferd wurde verletzt und unseres getötet, deshalb haben wir dann den Maulesel vom Gastwirt gekauft.«

»Glücklicherweise trug Clevas seine Streitaxt am Gürtel«, unterbrach ihn Irgenas, »denn meine war auf dem Wagen geblieben, und dieser Kerl ist wie der Blitz mit gezücktem Degen vor uns aufgetaucht. Er bewegte sich flink wie ein Wiesel, und hätte Cle-vas nicht, während er selbst noch über den Boden rollte, seine Axt nach ihm geschleudert…«

»Ja, ja, ist schon gut, ist schon gut!« fuhr der alte Zwerg dazwischen. »Jedenfalls befindet sich Kasn Sorn seither auf dem Grunde einer Schlucht, wo sie in der Brust dieses Schurken steckt.«

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»Kras… son?« stotterte Damlo. »Kasn Sorn. Das ist der Name meiner Streitaxt. In

der alten Sprache bedeutet das ›Musik des Todes‹. Wir hatten damals nicht die Zeit, sie heraufzuholen, aber du kannst sicher sein, sobald diese ganze Ge-schichte ein Ende hat, werde ich zu der Schlucht zu-rückkehren und alles durchkämmen, bis ich die Axt wiederhabe. Es ist eine hervorragende Waffe, und ich wüßte nicht, wie ich mir eine gleichwertige be-schaffen könnte.«

»Du bist ein alter Brummbart«, grinste Irgenas. »Aber es nützt dir nichts, wenn du das Thema wech-selst. Dieser Wurf war große Klasse – einer der bes-ten, die ich je gesehen habe.«

»Dummes Zeug! Jedenfalls, Damlo, hat der Mann, als ich ihn traf, seine Waffe fallen lassen, und des-halb befindet sich der Degen auf diesem Wagen.«

»Ich verstehe. Und bitte verzeiht mir, daß ich eure guten Absichten in Zweifel gezogen habe.«

»Du hattest allen Grund dazu«, erwiderte Clevas. »Unsere Verkleidung läßt ja einiges zu wünschen üb-rig.«

»Es liegt nicht an der Verkleidung, sondern an der Art, wie ihr sprecht«, berichtigte ihn der Junge. »Und wie ihr euch bewegt. Jetzt erst wird es mir klar: Ich habe von Anfang an instinktiv gespürt, daß ihr keine Kaufleute seid, aber bewußt wurde mir das erst, als ich es euch sagte. Und wenn ich es mir jetzt recht

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überlege, kommt mir der Gedanke, daß ein einfacher fahrender Händler wohl kaum so gegen die Wölfe gekämpft hätte, wie Irgenas es getan hat. Und was bedeutet eigentlich ›die blaue Flamme?‹«

»Das ist ein Schlachtruf«, antwortete Irgenas, »der eine ehrwürdige Tradition hat. Vor langer Zeit ent-deckte ein Schmied, dessen Name mittlerweile in Vergessenheit geraten ist, das Geheimnis einer äu-ßerst heißen Flamme ohne Rauch. Sie war blau. Dank dieser Flamme sind wir Zwerge in der Lage, Metalle auf eine Art und Weise zu bearbeiten, die uns seither viel Ruhm einbringt.«

Während Irgenas sprach, hatte Damlo in die Kiste mit dem Zwieback gegriffen und eine schöne Menge davon hervorgeholt, die er nun austeilte.

»Schmeckt gut«, sagte er sodann zu Clevas ge-wandt, »aber dein Geschmortes ist tausendmal bes-ser. Ich verspreche dir, daß ich einen Sack voll Kar-nickel fangen werde, bevor ich euch verlasse. Dann kannst du einen ganzen Berg Fleisch schmoren!«

»Bevor du uns verläßt?« »Sobald uns ein Wagen begegnet, kann ich mit

ihm nach Hause zurückfahren, nicht wahr?« »Es ist nicht so einfach…« seufzte der Alte. »Warum nicht?« unterbrach ihn Damlo beunru-

higt. »Ich muß nach Hause! Onkel und Tante werden schon glauben, daß ich irgendwo an einem Krampf-anfall gestorben bin!«

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»Hast du die Wölfe vergessen?« »Wenn ich nicht allein bin, droht mir keine Ge-

fahr! Ich will nach Hause! Ich will endlich zurück zu Onkel und Tante!«

»Komm her«, sagte Irgenas. Der Alte ging mit ihm zusammen nach vorn zum

Kutschersitz und hieß ihn, sich zwischen ihn und seinen Gefährten zu setzen. Dann legte er ihm den Arm um die Schultern. Eine Minute lang sprach kei-ner der drei.

»Sieh mal«, begann dann der Prinz, suchte nach den richtigen Worten und fand sie nicht. Also ver-suchte er es anders: »Was weißt du von der Art und Weise, wie Wölfe jagen?«

»Sie jagen im Rudel, wenn sie es auf eine Beute abgesehen haben, die größer ist als sie.«

»Richtig. Und weshalb jagen sie?« »Um zu fressen.« »Auch richtig. Und nun erinnere dich an unsere

Wölfe. Warum haben sie uns angefallen?« »Um uns zu fressen, das habe ich doch gerade ge-

sagt. Wölfe töten nur, wenn sie Hunger haben.« »Genau so ist es, Damlo. Und nun sag mir, warum

sie, bevor sie es mit uns, die wir bewaffnet waren, aufnahmen, nicht erst diesen halb zerfleischten Hir-schen aufgefressen haben.«

Damlo sah ihn mit offenem Mund an. »Das ist aber nicht alles. Jedes Wolfsrudel hat sein

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eigenes Territorium, und wenn zwei Gruppen zu-sammenkommen, so heißt das, eine der beiden hat die unsichtbare Grenze dazwischen überschritten. Die Folgen sind heftige Revierkämpfe. Wölfe kämp-fen untereinander auch dann, wenn sich zwei Grup-pen vereinigen, um ein größeres Rudel zu bilden. Dabei geht es darum, neue Hierarchien festzulegen. Vorgestern hingegen haben sie einander, bevor sie sich auf uns stürzten, nicht einmal beschnüffelt, ob-wohl viele Tiere von weither kamen und zweifellos verschiedenen Rudeln angehörten.«

Der Junge starrte ihn an und sagte kein Wort. Als der Zwerg nicht weitersprach, drehte er sich zu Cle-vas und starrte diesen an.

»Schau mich nicht an, als hätte ich achtzehn Au-gen!« rief der Alte. »Ich hab dir doch gesagt, daß hier dunkle Kräfte am Werk sind. Nur so kann man das Verhalten dieser Wölfe erklären.«

»Und außerdem haben sie einen Waeltoner ange-griffen«, murmelte Damlo nach einer Weile. Dann wandte er sich an Irgenas: »Diese heisere Stimme im Wald – was war das für eine Sprache?«

»Orkisch.« Wiederum blieb dem Jungen der Mund offen.

»Aber in dieser Gegend gibt es keine Orks!« »Eigentlich leben sie im Zentralmassiv und in den

Wäldern des Ostens«, nickte der Zwerg. »Aber dies sind keine gewöhnlichen Zeiten, und derjenige, der

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die Wölfe kommandierte, war ohne Zweifel ein Ork.«

»Begreifst du jetzt, warum du nicht nach Hause zurückkehren kannst?« fragte Clevas. »Dieser Ork liegt gewiß noch auf der Lauer, und seine Kumpane haben sich ihm inzwischen wohl zugesellt. Ihr hattet Glück, seinen Weg zu kreuzen, solange er noch al-lein war. Üblicherweise ziehen sie in Rotten umher.«

»Aber wenn wir einer Händlerkarawane begegnen, könnte ich mich ihr doch anschließen!«

»Nur wenn du bereit bist, das Risiko eines Kamp-fes auf dich zu nehmen. Ganz abgesehen davon sind wir seit Waelton niemandem begegnet. Gestern, als du schliefst, haben wir die Eibengabelung passiert: Der Schuppen des Straßenwärters war niederge-brannt, und die jüngsten Spuren waren einen Monat alt. Fünf Tagesreisen, Damlo, und kein einziger Händler, kein Bote, kein anderer Reisender. Nicht einmal ein einfacher Wanderer. Niemand.«

»Aber die Reisezeit über den Paß hat gerade erst begonnen«, murmelte der Junge wenig überzeugt. »Vielleicht sind die ersten Kaufleute spät dran. Oder vielleicht haben sie dieses Jahr auch den Weg über den Weißen Paß gewählt.«

Die Zwerge antworteten nicht; sie blickten unver-wandt auf die Straße, die vor ihnen lag: gerade, lang und leer.

Schwer senkte sich das Schweigen über die drei.

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Nach einer Weile beugte sich Damlo vor und vergrub das Gesicht in seiner gesunden Hand. Die beiden Zwerge sahen einander über seine Schultern hinweg an, worauf sich Clevas räusperte.

»Also… was treibst du so den ganzen Tag in Waelton?«

Damlo hob den Kopf und starrte den Alten an, als hätte dieser den Verstand verloren. Dann wurde ihm klar, daß der Zwerg versuchte, ihn auf andere Ge-danken zu bringen. Er unterdrückte die Tränen und zwang sich, mit normaler Stimme zu antworten.

»Ich arbeite im Gasthaus meines Onkels und zweimal die Woche gehe ich vormittags zur Schule im Versammlungsbaum. Außerdem helfe ich Melvo Boscorame in der Bibliothek oder ich streife einfach durch den Wald.«

»Gut, gut«, sagte Clevas. Und dann wiederholte er: »Gut«, aber ganz ohne Grund. »Und sag mir«, fuhr er fort, »was lernst du dort – in der Schule?«

»Lesen und Schreiben. Und Geschichte, Geogra-phie, die Schnitzkunst und die Musik. Und auch die Zahlenkunde, aber darin bin ich nicht sehr gut.«

»Und was gefällt dir in der Schule am besten?« »Geschichte. In der Schnitzkunst bin ich der Bes-

te, aber Geschichte habe ich lieber.« »Ach ja, Geschichte. Ist etwas Schönes, die Ge-

schichte.« »Nicht nur die wahre! Mir gefallen auch die er-

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fundenen Geschichten. Ganz besonders mag ich die Legenden, aber in der Schule lesen wir nur wenige. Doch in der Bibliothek habe ich ganze Regale voll davon entdeckt, und hin und wieder leiht mir Melvo Boscorame einen Band. Natürlich nicht einen der ganz alten Wälzer, denn die darf überhaupt niemand anrühren. Einige davon sind schon mehr als tausend Jahre alt!«

»Und welche Legenden sind dir am liebsten?« »Diejenigen, in denen Drachen vorkommen –

nein, eigentlich alle aus der Zeit vor dem Raub der Magie durch die Zauberer.«

Die beiden Zwerge tauschten einen raschen Blick aus.

»Aber meine Lieblingsgeschichte ist die, in der es um Brabantis geht. Er wurde zum Orkjäger, nachdem diese Kreaturen seine Eltern umgebracht hatten, und oft spiele ich…« Damlo unterbrach sich rechtzeitig. »Ich wollte sagen, daß ich mir früher einmal, als ich noch ein Kind war, oft vorstellte, Brabantis zu sein, weil auch ich keine Eltern mehr habe.«

»Oh, das tut mir leid für dich«, sagte Clevas be-troffen. »Und woher kennst du die Legende von Bra-bantis?« fragte er nach einem Weilchen.

»Ich habe bei der Waelton-Legion spioniert«, er-klärte Damlo mit einigem Stolz. »Die Bande veran-staltet des öfteren epische Treffen, wo immer hau-fenweise Geschichten zum Besten gegeben werden.

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Von Proco Radicupo, in erster Linie. Wir sind zwar Feinde, aber ich muß zugeben, daß er beim Ge-schichtenerzählen wirklich gut ist.«

»Proco? Aber ist das nicht der Name des Maul-esels?«

Damlo errötete. »Eigentlich nicht. Nur ich nenne ihn so, weil ich der Meinung bin, daß er klüger ist als der wahre Proco und es eher als dieser verdient, ei-nen richtigen Namen zu tragen. Und außerdem…«, fügte er mit einem Kichern hinzu, »ist er ein Tier, das es liebt, beschimpft zu werden. Drum ist er we-gen der Namensgleichheit auch nicht beleidigt.«

Die Zwerge lachten auf, und Damlo wurde plötz-lich bewußt, wie gut er sich fühlte. Er erinnerte sich nicht, sich bei einer anderen Gelegenheit außerhalb des Gasthauses je so wohl gefühlt zu haben. Viel-leicht beim alten Melvo Boscorame, der ihn jedoch stets ein wenig von oben herab behandelte und nie lachte. Wären da nicht Tante Neila und Onkel Pelno gewesen, hätte er die Reise mit den Zwergen wohl mit allergrößter Freude fortgesetzt …

Eine Weile schwiegen alle drei. Der Wagen fuhr weiter auf seinem Weg, der zwischen Kiefern und Tannen, die nach Harz dufteten, hindurchführte. Dann und wann huschte weit vorn irgendein Tier-chen über die Straße.

Es war kurz vor Mittag, die Sonne stand hoch am

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Himmel. Doch die Temperatur war angenehm, noch war es nicht wirklich heiß. Und rundum lebte der Wald sein stilles Leben aus leisem Knistern und flüchtigem Rascheln.

»Aber die Karnickel fange ich euch trotzdem!« platzte Damlo mit einem Mal heraus.

»Sehr gut, sehr gut. Irgendwie habe ich den Ein-druck, daß hier ein gewisser Jemand noch Hunger hat«, kicherte Clevas.

»Wie ein Löwe«, gestand der Junge. »In den letz-ten fünf Tagen habe ich doch nur ein bißchen Schmorfleisch und ein paar Stück Zwieback geges-sen!«

»Davon gibt es noch genug. Nimm dir, soviel du willst«, sagte Clevas vom Kutschbock her und deute-te auf die Kiste.

Mit einem Satz war Damlo am hinteren Ende des Wagenkastens, besorgte sich Nachschub und fing an zu knabbern. »Aber dein Geschmortes ist natürlich schon etwas anderes«, rief er mit vollem Mund.

»Hab verstanden, hab schon verstanden!« lachte der Alte. »Aber ich kann’s nun mal nicht während der Fahrt zubereiten. Ich mache es heute abend, falls du diese famosen Karnickel vorher fängst!«

»Ich habe es doch versprochen, oder?« »Clevas, die Armbrust!« Irgenas’ Stimme schnitt

so scharf wie ein Peitschenschlag durch die Luft, während der Wagen sofort zum Stehen kam.

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Der Alte hatte das Gesicht zwar immer noch Dam-lo zugewandt, aber ganz offensichtlich kannte er die-sen Tonfall. Ohne Zeit zu verlieren, indem er sich erst umsah, stürzte er ans hintere Ende des Wagens, schnappte sich die Waffe und lud sie mit raschen, sparsamen Bewegungen, obwohl er immer noch Verbandsreste an den Händen trug. Er wandte sich erst um, als er schußbereit war.

Ein paar hundert Schritt weiter vorn standen vier Wagen am Straßenrand. Nichts regte sich, kein Le-bewesen war zu sehen, nicht einmal Pferde oder Maulesel. Irgenas hatte die Axt in der Hand und ei-nen großen Metallschild unter dem Kutschersitz her-vorgezogen. Angesteckt von der Spannung, zückte Damlo seinen Stacheldegen.

»Bleib unten, Junge! Streck dich zwischen den Kisten aus. Du auch, Clevas!«

Damlo gehorchte, und der Alte beugte sich eben-falls hinab, so tief es ging. Nach wie vor die Arm-brust im Anschlag suchte er den Wald zwischen den Bäumen an der Straße ab.

So blieben sie eine Weile, ohne sich zu bewegen oder zu reden, spitzten nur die Ohren, hörten aber nichts anderes als die wohlbekannten leisen Geräu-sche des Waldes.

Also ließ Irgenas das Maultier vorsichtig wieder losgehen; langsam, ganz langsam näherten sie sich den abgestellten Wagen. Damlo hob ein wenig den

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Kopf und lugte über die Seitenbretter des Laderau-mes. Die Wagen waren in loser Ordnung etwas ne-ben der Fahrspur abgestellt, was ihnen eine seitliche Neigung von der Straße weg verlieh. Dadurch war nicht zu sehen, was sie geladen hatten.

»Bleib unten, hab ich gesagt!« zischte Irgenas. »Möchtest du einen Pfeil ins Auge kriegen?«

Plötzlich stieß er einen gellenden Schrei aus und gab dem Maulesel die Peitsche. Wie der Blitz schos-sen sie an den vier Wagen vorbei und rasten noch zwei-, dreihundert Schritt weiter, ehe Irgenas die wilde Fahrt beendete.

»Es ist niemand dort«, stellte er fest. »Hätte je-mand auf der Lauer gelegen, wäre es jetzt zu einem Angriff gekommen, um unsere Flucht zu verhindern. Also können wir zurückfahren und einen Blick dar-auf werfen.«

Er ließ den Maulesel eine Wendung machen und lenkte den Wagen zu den abgestellten Gefährten zu-rück. Dort sprang er vom Kutschbock, gefolgt von Damlo und Clevas.

»Ein Überfall«, stellte Irgenas fest, nachdem er den ersten Wagen begutachtet hatte. »Seltsam, sie haben die Waren zurückgelassen.«

»Und kein einziger Leichnam weit und breit«, be-merkte Clevas.

»Genau. Und auch keine Reste davon. Also sind es nicht Wölfe oder Raben, denen wir die Schuld am

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Verschwinden der Leichen geben können.« »Vielleicht haben die Banditen die Leute als Skla-

ven mitgenommen«, schaltete sich Damlo aufgeregt ein.

»Nein«, entschied Irgenas. »Hier gab es einen ech-ten Kampf. Mit Toten und Verletzten. Die Händler waren bewaffnet, und sie haben sich verteidigt: Schau dir diesen Wagen an…«

Das rechte Hinterrad des Gefährtes war ebenso wie die rechten Hinterräder der anderen drei Wagen zertrümmert. Die Außenseite der Längswand war mit Matsch beschmiert, doch wenn man genau hinsah, bemerkte man die zahlreichen ausgesplitterten Lö-cher darin. Der obere Rand war zerklüftet, und auch hier hatte jemand alles mit nasser Erde bedeckt. An einigen Stellen waren die Einkerbungen besonders tief.

»Sieh dir die Kante an«, fuhr der Zwerg fort und kratzte mit einem kleinen Zweig den Lehm aus ei-nem der Löcher. »Siehst du? Hier sind die Pfeile ein-gedrungen. Nach dem Kampf hat sich jedoch jemand die Mühe gemacht, sie wieder herauszuziehen, und dabei das Holz zersplittert. Danach hat er die Spuren mit Schlamm bedeckt. Diese Einschnitte in der Kante der Seitenwand stammen von Hieben, die ihr Ziel verfehlt haben. Wenn du dir ihren Neigungswinkel genauer betrachtest, kannst du unterscheiden, welche von den Angreifern und welche von den Verteidigern

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geführt wurden. Dies hier sind Säbelhiebe, und diese tieferen dort stammen von Äxten.«

Damlo lauschte begierig jedem Wort. Er meinte fast, sich mitten in einem seiner Spiele zu befinden.

»Komische Banditen, die Stunden damit zubrin-gen, ihre Pfeile aus den Wagenkästen zu ziehen«, kommentierte Clevas.

»Aber nicht so komisch wie diejenigen, die eine Karawane überfallen und dann die Ladung zurück-lassen!« entgegnete Irgenas.

»Doch wenn es keine Banditen waren, wer war es dann?« fragte Damlo.

»Die einzige Antwort darauf, die mir in den Sinn kommt, gefällt mir gar nicht«, antwortete Clevas nachdenklich. »Jedenfalls ging es ihnen um genau das: zu verschleiern, wer sie sind. Abgesehen vom Matsch in den Löchern vertrödelt man doch keine Zeit damit, unbrauchbare Pfeile einzusammeln, wenn man dadurch nicht einen Hinweis entfernen will. Denn beim genaueren Untersuchen eines Pfeiles kann man leicht auf seinen Hersteller schließen. Du wirst auch sehen, daß sie jede Spur vom Boden be-seitigt haben – und selbst das Blut von den Wagen. Ist das nicht beunruhigend? Es wird ja nicht eine Ka-rawane von Gespenstern gewesen sein! Ein unkundi-ger Betrachter schlichten Gemütes mag es ohne wei-teres einem übernatürlichen Phänomen zuschreiben, daß alle Lebewesen, die zu diesen vier Wagen gehör-

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ten, verschwunden sind. Die Angreifer haben sogar das Geschirr der Zug-

tiere auf dem Boden ausgelegt, offenbar um anzu-deuten, diese hätten sich in Luft aufgelöst!«

»Aber warum?« fragte der Junge. »Um Angst zu erzeugen«, antwortete der Zwerg.

»Eine Sache ist es, einer Gefahr entgegenzutreten, die man kennt: Dazu ist zwar Mut nötig, aber man kann sich dagegen rüsten. Etwas ganz anderes ist es, sich einem Feind zu stellen, den man nicht kennt und nicht begreift. Angst ist ansteckend, Damlo, Gerüch-te verbreiten sich schnell und wachsen von ganz al-lein. Irgend jemand will, daß diese Straße nicht be-nutzt wird. Wenn dieser Jemand das gleiche Schau-spiel wie hier auch schon anderswo über die Bühne gehen ließ, dann wundert es mich nicht, daß diese Straße so ganz und gar verlassen ist. Und das erklärt auch, warum sich dein Ork nicht gezeigt hat, sondern lieber im Verborgenen blieb: Er war allein und des-halb nicht sicher, uns alle umbringen zu können. Und er wollte nicht bekannt werden lassen, daß es in die-sen Wäldern Orks gibt.«

Während Clevas und der Junge von Wagen zu Wagen gingen und nach Hinweisen suchten, über-querte Irgenas die Straße und drang in den Wald auf der anderen Seite ein, wobei er die Augen nach oben gerichtet hielt.

Nach einigen Minuten lief Damlo hinüber. »Hast

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du noch etwas entdeckt?« fragte er aufgeregt. »Noch nicht«, antwortete der Zwergenprinz. »Wonach suchst du denn?« »Mmmm… Vielleicht sind wir schon zu weit ent-

fernt.« Er kehrte zum Straßenrand zurück und fing wieder

an, eingehend die Bäume zu betrachten. Der Junge folgte ihm wie ein Hündchen.

»Dal« rief Irgenas plötzlich und wollte eine Tanne hochklettern.

»Das mach ich!« schrie Damlo und überholte ihn flink wie ein Eichhörnchen, obwohl er immer noch den Arm in der Schlinge trug. »Wonach soll ich su-chen?«

»Wir wollen mal sehen, ob du aus eigener Beo-bachtung etwas entdeckst«, antwortete der Zwerg und ließ sich auf einem der unteren Äste nieder.

Damlo verlangsamte seine Kletterei und ging dar-an, Stamm und Äste genauer zu mustern. »Hier ist jemand gewesen!« rief er plötzlich. »Ein Ast ist ab-gebrochen und der darunter abgeschürft! Im Holz sind Schrammen, die so aussehen, als wäre jemand mit Nägeln an den Schuhsohlen davon abgerutscht!«

»Bravo! Siehst du sonst noch etwas?« »Nein«, antwortete Damlo kurz darauf. »Geh höher!« »Hier ist ein Einschnitt im Holz… leicht schräg…

Es ist nur ein Kratzer, aber er stammt von einer

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scharfen Klinge, da bin ich ganz sicher!« »Sehr gut! Mach weiter!« Also kletterte der Junge noch höher. Bald war er

fast an der Spitze angelangt, und der Stamm bog sich unter seinem Gewicht. Er schob den Kopf zwischen zwei engstehenden Ästen hindurch – und da sah er sie plötzlich: die roten und schwarzen Federn eines Pfeiles, der sich nicht ins Holz gebohrt hatte, sondern frei auf den Zweigen lag. Da der Schaft nicht im Stamm des Baumes steckte, war der Pfeil von unten nicht zu sehen.

»Gefunden!« schrie Damlo triumphierend. »Aber wie hast du es geschafft, ihn hier oben zu entde-cken?«

»Wer hat denn behauptet, daß ich ihn entdeckt ha-be?« schmunzelte Irgenas, während ihm der Junge den Pfeil brachte. »Ich sah den abgebrochenen Ast und habe gehofft, daß der, der ihn geknickt hatte, zu schwer war, um weit nach oben zu kommen. Der Rest war reine Vermutung: Er wäre nicht hochge-klettert, hätte er nicht einen Pfeil heruntergeholt. Und wenn einer oben war, dann vielleicht auch ein zwei-ter.«

Irgenas ging hinüber zu Clevas und gab ihm den Pfeil. Der Alte studierte ihn eingehend, seufzte nach einer Weile und legte ihn wortlos in die Kiste, in der sich nunmehr auch der schwarze Degen befand.

Irgenas hatte sich bereits auf den Kutschbock ge-

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schwungen. »Los, Junge, wir fahren weiter!« rief er Damlo zu.

»Lassen wir das alles zurück?« »Der Schaden ist nun mal angerichtet, und wir ha-

ben schon genug geladen. Beeil dich!« Damlo lief zum ersten der abgestellten Wagen,

bückte sich und hob die auf dem Boden liegenden Gurte und Riemen auf. Er wollte sich gerade wieder aufrichten, als sein Blick auf etwas fiel, das unter dem Kutschersitz herabhing, und als er wieder zu seinen beiden Gefährten stieß, trug er zusammen mit den Riemen ein Fäßchen in Händen.

»Was willst du denn mit alldem?« fragte ihn Cle-vas.

»Damit fange ich natürlich die Karnickel. Wie kann ich dich denn sonst erpressen?« grinste der Junge.

»Mich erpressen?« »Na sicher! Erst erklärst du mir, daß man aus der

Art, wie ein Pfeil gemacht ist, auf den Schützen schließen kann. Dann, als dir Irgenas den gibt, den ich vom Baum geholt habe, studierst du ihn eine Stunde lang und räumst ihn weg, ohne ein Wort zu sagen. Ich bekomme schon Bauchweh vor lauter Neugier! Hör also zu: Entweder du erzählst mir jetzt alles über diesen Pfeil, oder ich fresse meine Hasen ganz allein – roh und mitsamt dem Fell!«

»Also gut!« japste der Alte. »Zuerst muß ich aber

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nach deinem Arm sehen.« Er nahm Damlo den Verband ab. Die tiefen, von

den Reißzähnen des Wolfes verursachten Löcher hat-ten sich fast geschlossen, und die langen klaffenden Wunden waren verkrustet und nur ihre Ränder noch rot und angeschwollen. Auch der Rest der Verlet-zungen war dabei zu verheilen.

»Da wird dir wohl eine schöne Narbe zurückblei-ben«, stellte Clevas fest. »Aber es wird schon. Ra-scher als erwartet.«

»Es juckt.« »Gut! Das ist ein gutes Zeichen. Ein sehr gutes so-

gar. Meiner Meinung nach brauchst du die Schlinge nicht mehr.«

Er verband den Arm von neuem und kontrollierte dann die Kopfverletzung. »Auch hier heilt alles schneller als vorhergesehen. Vielleicht seid ihr Wael-toner ein wenig wie eure Bäume«, lachte der alte Zwerg in sich hinein. Und Damlo lachte mit ihm.

Dann holte Clevas den Pfeil aus der Kiste und reichte ihn dem Jungen.

»Also«, begann er, »schau dir diese Kerbe hier an. Siehst du, wie unregelmäßig sie ist? Schlampig ge-macht, findest du nicht? Und jetzt die Darmsaiten, die die Spitze und die Federn am Schaft festmachen: die an der Spitze ist schlecht gebunden. Sie hält, aber die Knoten sind groß und unordentlich gesetzt. Und die Art und Weise, wie sie zum Fixieren der Feder-

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kiele um den Schaft gewickelt ist, verrät das Fehlen von Handfertigkeit und Sorgfalt. Dieser Pfeil kann zwar tödlich sein, aber ganz gewiß ist er nicht von Qualität. Meinst du nicht auch?«

Damlo nickte. »Gut. Und jetzt sieh dir einen Orkpfeil an.« Damlo ertappte sich dabei, wie er den Pfeil gera-

dezu mit einer Art Hochachtung ergriff: Wie unend-lich vielen dieser todbringenden Geschosse war er in seinen Phantasien schon entgangen! Und jetzt hielt er tatsächlich ein echtes in der Hand!

»Beachte besonders die Spitze«, forderte ihn Cle-vas auf.

Sie bestand aus einem grauen, mit einer dünnen Rostschicht bedeckten Metalldreieck; an ihrem Ende war sie nadelspitz und an den Kanten scharf wie ein Rasiermesser. Eine der anderen beiden Spitzen besaß eine hakenförmige Verlängerung nach unten und zum Schaft hin, die mit Zacken versehen war.

»Beeindruckend«, hauchte Damlo. »Richtig. Aber fällt dir sonst nichts auf?« »Sie ist sehr scharf und spitz.« »Mmmhmm … Ach ja, ich habe ganz vergessen,

daß du kein Zwerg bist. Diese Spitze ist aus Stahl, Damlo.«

»Ist das denn schlecht?« »Stahl! Begreifst du nicht? Die Orks können Stahl

nicht bearbeiten! Ihre Waffen sind minderwertig, und

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das wenige Eisen, das sie verwenden, ist ihren Sä-beln vorbehalten! Bloß ihre Anführer haben gele-gentlich ordentliche Waffen – aber nur, weil es sich um gestohlene handelt. Diese Spitze hingegen ist, bei meinem Barte, aus Stahl!«

»Dann ist es vielleicht gar kein Orkpfeil.« »Natürlich ist es einer«, brauste der Alte auf.

»Diese Machart ist unverwechselbar.« »Und wie ist das möglich?« »Ich weiß es nicht, zum Geier! Dieser verflixte

Wagenfriedhof war zwar eine wahre Goldgrube an Neuigkeiten, aber je mehr ich davon bekomme, desto wirrer geht es in meinem Kopf zu! Die Speere zum Beispiel.«

»Aber es waren doch gar keine Speere da!« »Weil sie sie wieder eingesammelt und mitge-

nommen haben. Hast du nicht bemerkt, daß jeder Wagen auf der Waldseite ein zertrümmertes Rad hat-te?«

»Doch.« »Das passiert, wenn eine Metallstange zwischen

die Speichen gerät. Ich habe das bei einer Belage-rung miterlebt. Die Nomaden aus dem Westen grif-fen die Festung an, in der ich Dienst tat. Das Ge-schoß einer Speerschleuder prallte ab und flog in das Rad einer Kutsche. Aber der Trick gelingt nicht mit gewöhnlichen Speeren. Der Schaft muß aus solidem Metall sein, und dann wird er zu schwer, um ihn

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händisch zu schleudern. Dazu würde man eben ein Katapult brauchen, und es ist undenkbar, daß Orks über eines verfügen – das heißt, sogar über mehr als eines, weil die Wagen ziemlich dicht hintereinander standen und daher mehr oder weniger gleichzeitig zum Halten gebracht wurden. Außerdem befanden sich die Gefährte in Bewegung, und ein Katapult ist nicht irgendein Spielzeug, das man mit dem kleinen Finger aufs Ziel richtet.«

»Und das heißt?« »Das heißt, daß nur ein Troll kräftig genug wäre,

um mit der Hand einen Speer aus Eisen schleudern zu können – falls ihm irgend jemand einen schenkt. Aber die Trolle leben im Zentralmassiv und schlie-ßen sich ohnehin nie mit den Orks zusammen. Bei denen schauen sie nur vorbei, wenn es Zeit fürs Abendessen ist.«

»Vielleicht sind sie Sklaven des Herrn der Angst. Es wäre ein Beweis dafür, daß er wieder erwacht ist.«

»Das ist nicht gesagt. Wahrscheinlicher ist, daß ih-re Anwesenheit in diesem Teil der Welt mit den Problemen der Hegemonie zu tun hat.«

»Aber es sind doch beide außergewöhnlich, so-wohl die Trolle als auch die Schwarzen Degen. Wäre es dann nicht logisch, daß es einen Zusammenhang zwischen ihnen gibt?«

»Die Welt ist groß, mein Sohn«, seufzte der Alte,

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»und wir wissen so wenig davon. Es gibt viel Außer-gewöhnliches darin, und nicht alles hängt miteinan-der zusammen. In Waelton mag das Leben ruhig da-hinfließen, aber anderswo trifft man häufig auf uner-klärliche Dinge, und zum größten Teil haben sie nichts miteinander zu tun. Außerdem – würde man deiner Argumentation folgen, könnte man sogar dich für einen Diener der Finsternis halten, denn es ist ebenfalls außergewöhnlich, auf welche Weise du bei uns aufgetaucht bist. Wie auch immer, wir werden mehr wissen, wenn wir zu Ailaram kommen.«

»Wer ist das?« »Die Gegenstände, die wir transportieren, sind für

ihn bestimmt. Du wirst ihn kennenlernen, Damlo, denn jetzt kannst du ganz gewiß nicht mehr nach Waelton zurückkehren. Gegen Trolle käme nicht einmal eine große Karawane an.«

Ganz sanft legte sich der Abend über den Wald; es gab keinen feurigen Sonnenuntergang wie an den Tagen zuvor. Dagegen schien es fast, als wäre auch der Himmel freudlos und voll Sorge: Das Licht wur-de grauer und grauer, weniger und weniger, und schließlich ließ sich der Tag von der Nacht weg-schieben, ohne Widerstand zu leisten.

Für das Nachtlager wählte Irgenas eine Stelle, wo dichte Brombeersträucher und Dornbüsche wuchsen. Mit raschen Axthieben vergrößerte er den Platz für

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den Wagen, unterließ aber jede Verstärkung des Schutzwalles mit kleinen Bäumchen – wie beim letz-ten Mal. Gegen Wölfe reichte es auch so… und ge-gen Trolle gab es ohnehin keinen wirksamen Schutz.

Sie vermieden es auch, ein Feuer zu entzünden, und Damlo kümmerte sich beim matten Licht des Mondes um den Maulesel. In dieser Nacht war nahe-zu Vollmond, doch er verbarg sich zumeist hinter den Wolken.

Die Zwerge ließen sich neben dem Wagen nieder, und beide hatten ihre Waffen griffbereit. Ihr Verhal-ten war so auffallend, daß Damlo auf den Wagen stieg und seinen Zauberdegen holte. Alle drei schwiegen, versunken in die eigenen Gedanken, und stillten ihren Hunger mit Zwieback. Dann und wann schaute der Mond hinter den Wolken hervor und er-hellte den Brombeerschlag. Als Clevas bemerkte, daß Damlo vor Kälte zitterte, schickte er ihn mit dem Auftrag auf den Wagen, sich unter den Waren einen Umhang auszusuchen.

»Es ist alles Wolle aus Kurtin«, rief er ihm nach, »sehr warm!«

Bei seiner Rückkehr zu den anderen traf Damlo ein aufblitzender Reflex von Irgenas’ Axt.

»Darf ich deine Axt ansehen?« fragte er. Der Zwerg hielt sie ihm schweigend hin. Sie war

erstaunlich schwer. Die beiden Klingen waren so ge-schmiedet, daß sie an Pergamentblätter denken lie-

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ßen, die sich von einer mittleren Walze abrollten, in der der Stiel steckte. Auf jeder Seite der »Walze« waren antike Runen eingraviert. Ungeachtet ihres todbringenden Aussehens schien sie ein wahres Kunstwerk zu sein.

Der Mond würde sich wohl noch ein Weilchen zeigen, also ging Damlo daran, langsam die Inschrift zu entziffern.

»Kasn Trait«, las er laut, »was heißt das?« »Du steckst wirklich voller Überraschungen«, rief

Irgenas aus. »Wo hast du die zwergische Runen-schrift gelernt?«

»In der Bibliothek von Waelton. Einige Geschich-ten sind in Runenschrift verfaßt, und ich wollte sie lesen können.«

»Dann wirst du auch die antike Sprache lernen müssen, denn mit dem Alphabet allein kommst du nicht weit. Im alten Zwergisch bedeutet ›Kasn‹ Tod und ›Trait‹ heißt so viel wie Portal.«

»Diese Axt ist wirklich ein herrliches Stück«, murmelte der Junge.

Das war seine ehrliche Meinung, auch wenn ihm ein kleiner Schönheitsfehler nicht hatte entgehen können: Der zweite Abstrich der Rune Tyr im Wort ›Trait‹ war, obgleich so dünn wie die anderen, zu lang geraten. Hier mußte dem Graveur der Stichel entglitten sein. Der Fehler maß nur den Bruchteil ei-nes Zolls, dennoch beleidigte diese winzige Un-

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ebenmäßigkeit Damlos fachmännisches Auge. Hätte ein Waeltoner diese Arbeit durchgeführt, dachte er voller Stolz, so wäre das Ergebnis ohne jeden Makel!

»Weil wir schon bei den Waffen sind«, fuhr Irge-nas nach einer Weile fort. »Während du vorgestern ohne Bewußtsein warst, habe ich mir deinen Stachel-degen angesehen. Wenn man seine Farbe und die ungewöhnliche Länge einmal beiseite läßt, könnte man sagen, es handele sich um den Stachel eines Tie-res. Woher hast du ihn?«

»Ich habe ihn auf dem Boden einer Höhle gefun-den. Er ist viel zu groß, um von einem Stachel-schwein zu stammen, und auch die Färbung paßt nicht. In Waelton haben wir eine Legende, die von einem Drachen spricht, und ich…« Verschämt zöger-te Damlo ein wenig. »Also ich dachte, es könnte sich um einen Drachenzahn handeln.«

Die Zwerge wechselten einen raschen Blick. »Nein«, sagte Clevas dann, »auch wenn die Dra-

chen seit geraumer Zeit ausgestorben sind, existieren doch noch Reste von ihnen auf der Welt. Ich hatte einmal Gelegenheit, einen Drachenzahn zu betrach-ten, und ich versichere dir, er sah völlig anders aus.«

»Das macht nichts. Es geschah ja nur in meiner Phantasie. Als ich ihn fand, war ich noch klein und stellte mir die verrücktesten Dinge vor.«

»Aber vielleicht lagst du doch nicht so ganz falsch«, sinnierte der alte Zwerg. »Manche Drachen

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waren mit Stacheln bewehrt, und der deine könnte gerade ein solcher sein. Auch weil er, wie Irgenas überzeugt ist, ohne Zweifel magische Kräfte besitzt.«

»Magische…« flüsterte Damlo. Er zog ihn aus dem Gürtel und betrachtete ihn, als sähe er ihn zum ersten Mal. Vor Aufregung schlug sein Herz so hef-tig, daß er es bis in die Finger fühlte, die den Degen umklammerten.

»Komm, komm, Damlo!« schaltete sich Irgenas ein, »sag mir bloß nicht, daß du das nicht selbst schon angenommen hast!«

»Um die Wahrheit zu sagen, ja. Aber es schien mir zugleich unmöglich, und da mir alle immer vorwer-fen, zu viel Phantasie zu haben, sagte ich mir, auch das wäre nur eine Einbildung.«

»Ich kenne da ein paar Wölfe, die durchaus nicht dieser Meinung wären«, schmunzelte Clevas.

»Aber ich frage mich immerzu, weshalb der Sta-chel einmal wie ein Rasiermesser schneidet und das andere Mal wie ein Schlagstock trifft. Er hat eine Lanze aus Eschenholz durchtrennt wie einen Stroh-halm, doch vor kurzem – mit euch – hat er mich doch blamiert. Dann hat er diese Wölfe zweigeteilt wie Rauch, aber demjenigen, der sich in Irgenas’ Arm verbissen hatte, konnte er nicht mal einen Kratzer zu-fügen!«

»Ich verstehe nichts von Magie«, erklärte Clevas, »alles, was ich weiß, ist, daß die Wirkungsweise ma-

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gischer Gegenstände – sämtlicher magischer Ge-genstände – nach genauen Regeln vor sich geht. Du wirst sehen, mit der Zeit wird dir auch die deines Degens klar.«

»Ob es wirklich ein Stachel von Kaxalandrill ist?« fragte sich der Junge leise.

»Von wem?« »Von Kaxalandrill, der Drachin aus der Entste-

hungslegende von Waelton. Irgendwann werde ich sie euch erzählen. Sie und Maspo Gemmalampo ha-ben vor tausend Jahren Waelton gegründet, dann sind beide verschwunden. Vielleicht haben sie sich in meiner Höhle versteckt.«

»Oder du hast ihre Höhle entdeckt!« lachte Clevas vor sich hin.

»Es könnte wirklich so sein, oder? Denn wäre der Stachel nicht so uralt, könnte er keine Zauberkräfte haben, weil die Magie ja schon vor tausend Jahren geraubt wurde.«

»Also sperr die Ohren gut auf, denn das, was ich dir nun erzähle, ist eine historische Wahrheit und nicht irgendeine Legende. Und vorab laß dir gesagt sein: Jedes Mal, wenn es heißt: ›Vor tausend Jahren …‹, dann richte deine Antennen auf wie eine Ameise und sei mißtrauisch, denn mit dieser Wendung be-ginnen alle Sagen und Legenden. Sie bedeutet ganz einfach ›vor langer Zeit‹.«

Der alte Zwerg griff nach einem Stück Zwieback

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und fing an, daran zu knabbern, während er seine Gedanken ordnete.

»Bis vor einigen Jahrhunderten«, begann er schließlich, »war die Zauberkunst recht verbreitet, wie du ganz richtig sagtest. In jener Zeit existierten auch noch Zaubertiere – etwa Greife und Einhörner. Aber sie hatten nichts mit der menschlichen Magie zu tun, und du kannst versichert sein, daß die Zaube-rer sie nicht aßen. Es stimmt, fast in jedem Dorf gab es einen Zauberer, der vermochte, Brände zum Erlie-gen zu bringen oder die Felder fruchtbar und die Herden gebärfreudig zu machen. Seine magischen Kräfte brachten es fertig, mächtige Felsblöcke zu bewegen, Überschwemmungen vorauszusagen oder aufzuhalten und Ernteschäden zu beheben, die durch Trockenheit entstanden waren. Aber das waren nur Dorfzauberer – also nicht sehr mächtig. Die besten von ihnen, die talentiertesten, lebten in einem großen Gebäude am Rande des Zentralmassivs: im Turm von Belsin.«

»Den kenne ich!« unterbrach ihn Damlo. »Er war ganz weiß, so hoch wie zehn Bäume, und die Tevila-ner haben ihn niedergebrannt!«

»So hoch war er gar nicht, und die Einwohner von Tevilan waren nicht einmal imstande, ihn zu finden. Wenn du mich nicht dauernd unterbrichst, dann komme ich gleich darauf zurück.«

Damlo hielt den Mund, und der Alte fuhr mit sei-

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ner Erzählung fort. »Der Turm von Belsin, auch Weißer Turm ge-

nannt, war der wichtigste von allen Magiertürmen; wie es scheint, hat es, verstreut über die ganze Welt, viele von ihnen gegeben. Ich kenne jenen von Gothror, der im Osten zwischen dem Fluß Sloprol und dem Lissomrim steht, und ich weiß, daß es noch einen gegeben hat: in der Stadt Eria. Dieser wurde wirklich niedergebrannt, schon vor langer Zeit. Je-denfalls wurden in jener Epoche viele Menschen mit magischen Talenten geboren, und wer ausreichend begabt war, wurde Zauberer und machte sich auf zum Turm von Belsin, um seine Fähigkeiten zu ver-vollkommnen. Denn wie auf allen Gebieten reicht auch in der Magie Talent allein nicht aus: Man muß hart daran arbeiten, um echten Nutzen daraus ziehen zu können.

Die Geschicke des Weißen Turmes wurden von einer Ratsversammlung gelenkt, an deren Spitze ein von den Mitgliedern gewählter Magiarch stand. Er versah sein Amt auf Lebenszeit – und an diesem Ort hieß ›auf Lebenszeit‹ sehr, sehr lange. Denn die Ma-gier verfügten über das Geheimnis der Langlebigkeit. In Belsin erlangten Ausbildung und Wissen ein da-nach nie mehr erreichtes Niveau; hier fanden sich die maßgeblichsten und fähigsten Magier der Welt ein, um sich jahrelang in das Studium komplizierter und heikler Prozesse der Zauberkunst zu versenken.

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Dann jedoch kam es zu den Ereignissen von Gothror. Die wirst du ja wohl kennen, wenn man deine Liebe zu den Legenden in Betracht zieht.«

»Eigentlich nicht. Vielleicht wird in einem Buch davon berichtet, dessen Lektüre mir Melvo Bosco-rame noch nicht erlaubt hat.«

»Es ist eine lange Geschichte, und daher werde ich sie dir ein andermal erzählen. Für den Augenblick reicht es, wenn du hörst, daß es dem Fürst der Fins-ternis eines Tages gelang, sich Ghaznevs zu bemäch-tigen, des Magiarchen des Turmes von Gothror. Es folgte ein großer Krieg, der letzte, in dem Zwerge, Elfen und Menschen Seite an Seite kämpften. Schließlich wurde Ghaznev getötet, und mit seinem Tod war der Schatten besiegt. Der Turm am Fluß Sloprol, der den Namen ›Schwarzer Turm‹ trug, wurde der Obhut der Elfen anvertraut, die heute im-mer noch dort leben.«

»Hast du sie schon gesehen?« »Ja, aber ich sprach gerade über den Turm von

Belsin. Einige Zeit nach den Ereignissen von Gothror, aber im Zusammenhang damit – und mit der Entdeckung eines ganz besonders mächtigen Zaubers – erklärte es der Magiarch für notwendig, die menschliche Zauberei abzustellen. Vollständig und überall auf der Welt.«

»Warum?« »Das kann ich dir auch nicht sagen. Aber er war

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ganz gewiß nicht verrückt. Die Wahl eines Magiar-chen war ein ernster, wohlüberlegter Vorgang und wurde nie auf die leichte Schulter genommen, daher kann man davon ausgehen, daß er der beste der da-mals lebenden Magier gewesen ist. Wie auch immer, für seinen Wunsch mußte es gewichtige Gründe ge-geben haben, denn der Vorschlag wurde über ein Jahr lang von den Räten verhandelt, ehe sie zu dem Schluß kamen, daß der Magiarch mit seiner Meinung recht hatte. Und so wurden alle Bücher über die Zau-berkunst verbrannt, und die Magier des Weißen Turmes sprachen einen mächtigen Gegenzauber aus – alle gemeinsam, denn die dazu nötige Magie über-stieg bei weitem die Möglichkeiten jedes einzelnen von ihnen. So geschah es, daß die von Menschen ausgeübte Zauberei von der ganzen Welt ver-schwand; und von diesem Augenblick an wurde kein Mensch mit magischen Talenten mehr geboren.«

»Wie kommt es, daß du all diese Dinge weißt? In den Geschichtsbüchern steht nichts davon!«

»Rinelkind hat mir davon berichtet, ein Elfenprinz, den ich vor langer Zeit kennengelernt habe. Verstehst du jetzt, Damlo? Die Magie wurde nicht geraubt, sie wurde ausgelöscht! Nicht einmal die Zauberer des Turmes konnten danach auch nur das kleinste Flämmchen entfachen, ohne einen Feuerstein zu be-nutzen! Und die ältesten von ihnen starben fast un-mittelbar danach an Altersschwäche. Einschließlich

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des Magiarchen. Das hätte eigentlich schon reichen sollen, um zu

erkennen, daß der Beschluß der Magier seine guten Gründe gehabt haben mußte, aber die gewöhnlichen Leute haben das nie begriffen. Alles, was sie wußten, war, daß sie nun niemand mehr vor den Über-schwemmungen bewahrte und daß die Felder weni-ger Frucht gaben. Und sogleich stand irgendein Idiot auf und behauptete, daß die Zauberer logen, daß sie die Zauberei nur ganz für sich allein haben wollten. Bald darauf begannen auch die Gewalttätigkeiten. Fast alle Dorfzauberer wurden lebendig verbrannt, während die Zuschauer sie aufforderten, doch die Flammen der Scheiterhaufen mit Hilfe der geraubten Magie zu löschen. Und erst als diese armen Teufel tatsächlich starben, wurde ihren Folterern klar, daß die Zauberei wirklich nicht mehr wirkte. Aber wie immer, die üblichen Dummköpfe waren damit nicht zufrieden: Das konnte nur heißen, behaupteten sie, daß irgend jemand auch den Dorfzauberern ihre Ma-gie gestohlen hatte! Und natürlich konnte das nie-mand anders sein als jene Zauberer, die noch größere magische Kräfte besaßen: diejenigen in den Türmen. Und so wurden viele Türme niedergebrannt, wie auch jener in Eria. Und die Einwohner von Tevilan hatten vor, auch den von Belsin anzuzünden. Damit hattest du recht, Damlo, aber nicht mit dem Rest, denn die Tevilaner fanden den Turm einfach nicht. In

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seinem Inneren waren die Magier immer noch damit beschäftigt, den Gegenzauber – die einzige mensch-liche Magie, die auf der Welt noch vorhanden war – zu stabilisieren. Und die dabei eingesetzten Zauber-kräfte waren so groß, daß sie den Turm für jeden, der davor stand, unsichtbar machten. Der wütende Mob teilte sich in Gruppen auf und durchstreifte wochen-lang den Wald von Belsin. Irgendwann bemerkten die Tevilaner Rauch, der von einem Hügel aufstieg, und als sie näher herankamen, sahen sie, daß ein Ge-bäude brannte. Der Turm! frohlockten sie und nah-men an, das Feuer wäre von einer anderen Bande ge-legt worden. Sie blieben dort, bis vom Gebäude nichts mehr übrig war als rauchende Trümmer, und kehrten dann nach Tevilan zurück, um zu berichten, sie hätten den Weißen Turm in Schutt und Asche ge-legt. In Wirklichkeit war aber nur ein abgelegenes Haus abgebrannt. Niemand, der schon einmal vor dem Turm gestanden hatte, wäre je einer Verwechs-lung erlegen. Aber so übermächtig kann das Gerede der Leute sein, daß die wenigen vernünftigen Stim-men ganz einfach nicht beachtet werden. Und so steht der Turm von Belsin immer noch an seinem Platz, unversehrt und versteckt, irgendwo in diesen Wäldern.«

Plötzlich fing es an zu regnen. Irgenas, Clevas und der Junge schafften es gerade noch, die Ladung

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rechtzeitig mit der wasserundurchlässigen Plane zu bedecken, da begann es schon in Strömen zu gießen. Rasch krochen die drei unter den Wagen. Der Alte bot Damlo an, unter der Plane auf dem Wagen zu schlafen, aber dort gab es nur Platz für eine Person, und der Junge wollte nicht allein sein. So streckte er sich zusammen mit den Zwergen unter dem Wagen aus und nahm die Wasserspritzer in Kauf, die die von den Speichen der Räder abprallenden Tropfen verur-sachten. Glücklicherweise war die Wolle des Man-tels so dicht gewebt, daß sie das Wasser abwies. So rollten die Tropfen vom Stoff, ohne einzudringen. Damlo schlang ihn fest um sich und zog die Kapuze bis an die Nase.

Hoffen wir, daß er auch die Feuchtigkeit nicht aufnimmt, dachte er.

Es wurde keine angenehme Nacht. Der Regen und die Angst vor den Trollen bewirkten, daß der Junge sehr wenig schlief. Die Zwerge hingegen, die ans Reisen gewöhnt waren, wechselten sich beim Wa-chehalten regelmäßig ab und schliefen tief und fest, sobald sie abgelöst wurden.

Als die Sonne hinter den Wolken aufging, lag Damlo mit offenen Augen auf dem Rücken. Ganz langsam und wie mit einem Pinsel auf der Schwärze der Nacht aufgetragen, erschienen ihm die Umrisse des Wagens über sich. Da er nichts anderes zu tun hatte, betrachtete er die Unterseite des Kastenbodens,

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dessen Einzelheiten mit zunehmendem Licht immer deutlicher erkennbar wurden. Irgend etwas daran war eigenartig, aber Damlo konnte nicht den Finger dar-auf legen – bis das Morgengrauen zu hellem Tag wurde.

Er hatte die Achsen bereits länger als eine Viertel-stunde betrachtet, ehe es ihm auffiel: ein doppelter Boden! Das war bei Fuhrwerken von Händlern an sich gar nicht so selten, ganz besonders bei jenen von Zwergen, die oft Juwelen und Edelsteine transpor-tierten. Doch üblicherweise handelte es sich dann um kleine Fächer oder um flache Ausnehmungen im Bo-den, zugänglich von oben, sobald alles andere abge-laden war. Dieser Behälter jedoch war ziemlich groß, konnte nur von unten geöffnet werden – und dann auch nur von jemandem, der genau wußte, wonach er suchen mußte, denn er war recht gut getarnt. Doch Damlo war ein echter Waeltoner, und als solcher verstand er etwas von Holzarbeiten. Jetzt wurde ihm klar, warum sich Irgenas immerzu darauf versteifte, unter dem Wagen zu schlafen: Die besonderen Ge-genstände befanden sich im Unterbau, nicht in einer der Kisten der Ladung!

Daß er das Geheimnis der Zwerge entdeckt hatte, gab Damlo seine gute Laune zurück. Er schob sich unter dem Wagen hervor und streckte sich wie eine Katze.

»Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?« Clevas

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saß an einen Ahornbaum gelehnt im Gras, die Arm-brust auf dem Schoß. Eingehüllt in seinen dunklen Umhang, dessen Kapuze er bis über die Augen he-rabgezogen hatte, war er fast nicht zu erkennen.

»Ganz und gar nicht«, antwortete Damlo fröhlich, »aber in den letzten fünf Tagen habe ich mir ja einen netten Vorrat an Schlaf angelegt.«

»Hol dir ein paar Stücke Zwieback unter der Plane hervor«, lächelte der alte Zwerg, »und wenn du schon dabei bist, bring mir auch ein Stück mit.«

Als der Junge mit dem Frühstückszwieback kam, hielt er die Riemen, die er bei den verlassenen Wa-gen aufgelesen hatte, unter den Arm geklemmt und ein Tranchiermesser in der Hand.

»Das ist alles für die Kaninchen«, grinste er, als er den verwunderten Blick des Alten sah. »Ich habe dein Geschmortes nicht vergessen!«

»Hör mal, wir haben keine Zeit für eine Falle!« »Falle? Wer redet denn von einer Falle?« lachte

Damlo. »Tu nicht so geheimnisvoll, Junge!« »Wer, ich?« scherzte Damlo. »Laß mir nur die

Zeit, das alles zurechtzuschneiden, dann wirst du es verstehen.«

Er rollte einen der Riemen flach aus und kappte die Enden, so daß er einen Lederstreifen von etwa zwei Armlängen hatte. Diesen legte er auf einen ab-gestorbenen Ast und schnitt ihn der Länge nach ent-

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zwei. Clevas verfolgte sein Tun mit großem Interes-se. Die Lederhaube hatte, nach ihrem Zustand zu ur-teilen, schon den Kopf diverser Generationen von Mauleseln bedeckt. Der Junge schnitt sie so zu, daß er ein rautenförmiges Stück erhielt, das in der Mitte etwas eingebuchtet war. Schließlich griff er nach ei-ner der dünnen Leinen, die er zuvor zugeschnitten hatte, bog sie in Höhe der Hälfte und legte die Leder-raute ins Ende der Schlinge.

»Eine Steinschleuder!« »Richtig. Ich hoffe, auf dem Wagen findet sich ei-

ne Schnur, mit der ich dieses Lederstück in der Schlinge befestigen kann, sonst war die ganze Mühe umsonst.«

»Wir haben genügend Darmsaiten, nimm einfach, soviel du brauchst.«

Damlo stand auf und sammelte geeignete Steine. »Was ist in dem kleinen Faß, das du zusammen

mit den Riemen mitgenommen hast?« fragte Clevas. »Eine Medizin.« »Eine Medizin?« »Allerdings«, kicherte Damlo. »Für die Ohren!« »Junge! Halt mich nicht zum Narren!« Ohne darauf einzugehen, verstaute Damlo die

Steine und die Teile der Schleuder unter der Plane. Dann ergriff er ebenso schweigend das Fäßchen, öff-nete den Deckel und starrte lange wortlos hinein. Dann und wann warf er einen verstohlenen Seiten-

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blick auf den Zwerg, der vor Neugier schon ganz kribbelig war.

»Bei meinem Barte, du wirst mich noch umbrin-gen!« platzte Clevas schließlich heraus. »Was ist in dem Ding drin?«

Kichernd griff Damlo nach dem kurzen Spatel, der in dem Faß steckte, und holte damit ein Klümpchen der Substanz heraus, mit der es gefüllt war. Er hielt es eine Weile hoch, ohne ein Wort dazu zu sagen. Dann entschloß er sich, Barmherzigkeit zu zeigen.

»Siehst du? Es ist wirklich Medizin für die Ohren! Oder bist du es nicht auch leid, mit diesem ewigen Gewinsel im Unterbau durch die Welt zu ziehen?« Er schritt zum rechten Hinterrad des Wagens und schmierte die Nabe.

»Und das konntest du mir nicht gleich sagen?« »Was ist denn los?« erkundigte sich Irgenas, der

sich soeben unter dem Wagen hervorrollte. »Dieser junge Fant will mich zum Narren machen!

Das ist los! Schau, was er da tut!« »Er schmiert das Rad. Wozu das Gejammer? Ich

finde den Einfall großartig!« Irgenas, der die Vorgänge offenbar schon seit län-

gerem verfolgt hatte, zwinkerte Damlo zu; der Junge unterdrückte sein Kichern und fuhr mit der Arbeit fort.

»Aha! Aha! Jetzt verbünden sich alle gegen mich!« protestierte der Alte.

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»Komm, Clevas, reg dich nicht auf«, unterbrach ihn Damlo, während er das Fäßchen mit der Wagen-schmiere wegstellte, »du warst so schön neugie-rig…!«

»Damit ich mich aufrege, ist schon etwas mehr nö-tig!« gackerte der alte Zwerg. Aber er unterhielt sich dabei prächtig.

Damlo wandte sich dem Maulesel zu. Es war das erste Mal, daß er mit jemandem auf so vertraulichem Fuß stand, ihn offen auf den Arm nehmen zu können. Gelegentlich hatte er mit der Tante gescherzt, nicht ganz so oft mit dem Onkel, aber das waren Scherze vollkommen anderer Art gewesen. Sie hatten über den einen oder anderen Gast gelacht oder über die Einwohner des Dorfes – manchmal sogar ziemlich ausgelassen, aber immer in Abwesenheit der Betrof-fenen. Sich so frech über jemanden lustig zu machen, der einem gegenüberstand, das war eine ganz neue Erfahrung für Damlo. Eine prickelnde Erfahrung. Pa-radoxerweise erfüllte sie ihn mit Empfindungen wie Eintracht und Freundschaft: Er fühlte sich jetzt, nachdem er ihn verulkt hatte, Clevas viel enger ver-bunden.

Da wurde ihm klar, warum sich die Mitglieder der Waelton-Legion andauernd gegenseitig aufzogen; gewiß, sie taten das nicht in liebevoller Herzlichkeit – sie gingen miteinander fast ebenso schonungslos um wie mit ihm. Doch auch unter Aufrechterhaltung

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all dessen, was er von Busco und Proco hielt, verstand er sie jetzt besser. Und in gewisser Weise fühlte er sich nun auch erwachsener, so als hätte er sie in diesem Augenblick erst vollendet, die so in-ständig herbeigesehnten vierzehn Jahre.

Fröhlich band Damlo den Maulesel los und be-schimpfte ihn gehörig, während ihn das Tier zur Antwort liebevoll und sanft mit der Nase anstupste. Dann führte er es zur Deichsel des Wagens.

Da wußte er noch nicht, daß er ihm zum letzten Mal Beleidigungen an den Kopf geworfen hatte.

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Am Vormittag verließ der Wagen der Zwer-ge den Wald. Damlo hatte die letzten Hand-griffe an der Schleuder erledigt und schnitz-te an einem Stück Holz, das wie ein asym-

metrisches Kreuz geformt war: Es sollte ein Storch im Fluge werden. Als ihn die Zwerge riefen, eilte er nach vorn und setzte sich zu ihnen auf den Kutsch-bock. Er hatte das unermeßliche, flache Grasland noch nie gesehen und es sich einfach als eine sehr große Waldlichtung vorgestellt. So blieb ihm beinahe der Atem weg, als sie die Bäume schlagartig allesamt hinter sich ließen.

Vor ihm dehnte sich eine grenzenlose, hellgrüne Weite aus, deren Unendlichkeit unter dem tausend-mal so gewaltigen wolkenverhangenen Himmel fast zu schrumpfen schien. Soweit das Auge reichte, war die Ebene mit hohen, meist gelb oder weiß blühen-den Grasbüscheln bedeckt, die so dicht standen, daß

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sie sich nur durch die Höhe der abgerundeten Kissen, die sie bildeten, voneinander unterschieden. In der Ferne und in einiger Distanz voneinander waren spärliche Fleckchen höher wachsender Vegetation zu erkennen, doch der Blick wurde von Schleiern ge-trübt, die wie leichte Nebel dazwischenhingen. In Wahrheit jedoch handelte es sich um Regenschauer, die fast ohne Unterlaß aufeinanderfolgten und die langen Stengel der Gräser zu Tausenden bogen. Und während die Tropfen mit den Windböen darin wettei-ferten, an den kleinen Blüten herumzuzerren, schie-nen sie geheimnisvolle Litaneien vor sich hinzu-murmeln.

Die Weite des Horizontes verursachte Damlo ein so starkes Schwindelgefühl, daß er rasch nach der Sitzbank des Kutschbocks faßte und sich daran fest-klammerte. Doch mit einem Schlag löste sich etwas in seinem Inneren, und den Jungen überkam die Empfindung, er werde sogleich mit dieser Großartig-keit vor seinen Augen verschmelzen – er werde so sehr Teil von ihr wie früher Schnee, der in einen Quelltopf fiel. Zutiefst bewegt schwieg er.

»Du bist noch nie aus den Wäldern herausgekom-men, stimmt’s?« fragte nach einem Weilchen Clevas, der dieses Schweigen falsch deutete. Ohne eine Ant-wort abzuwarten, fuhr er fort: »Am Anfang ist dieses völlig ebene Land furchterregend, ich weiß. Ich erin-nere mich noch daran, als ich es zum ersten Mal vor

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mir sah. Wir waren im Krieg mit den Nomaden der westlichen Steppen, und um an die Front zu kom-men, mußte man die Ebene von Tresin durchqueren. Ich reiste zusammen mit dem Troß, und die Sache gefiel mir überhaupt nicht. Ich hielt mich für einen Krieger und so wollte ich bei der kämpfenden Trup-pe sein. Daher war ich überglücklich, als mich Bra-venas Scuotiroccia, unser Ausbilder, zusammen mit anderen vortreten ließ. Es fiel mir nicht auf, daß er alle Neulinge versammelte, und ich bemerkte auch die belustigten Seitenblicke und das verhaltene Ki-chern der erfahreneren Krieger nicht. Also mar-schierten wir Grünschnäbel fröhlich dahin und san-gen aus voller Kehle. Doch als die Berge nach und nach hinter uns am Horizont verschwanden, verloren unsere Lieder ihren forschen Klang, und bald danach verstummten wir ganz. Keiner wollte als erster zugeben, daß er sich elend fühlte, und um uns das nicht anmerken zu lassen, vollbrachten wir wahre Heldentaten, während die Veteranen Wetten darauf abschlossen, wer von uns als erster klein beigab. Ich entsinne mich, mit einem Blick marschiert zu sein, der starr auf meine Stiefelspitzen gerichtet war. Ich konnte deutlich sehen, wie sie bei jedem Schritt fest auf dem Boden aufsetzten, und trotzdem hatte ich die ganze Zeit über das Gefühl, jeden Augenblick umzu-fallen. Mir, einem Zwerg, aufgewachsen zwischen schroffen Felswänden, war schwindlig! Ich wagte

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nicht einmal mehr, den Kopf zu heben, denn beim ersten und einzigen Versuch war mir, als würde ich in einer gigantischen Pfanne aus Gras herumwanken.

Also, darum verstehe ich, was du durchmachst, mein Junge. Es ist ein fürchterliches Gefühl. Richtig grauenhaft!«

»Und wie ist es ausgegangen?« fragte Damlo, der sich großartig fühlte.

»Bravenas hat die Sache auf seine Art bewerkstel-ligt. Sobald sich der erste von uns bückte, um sich an einem Grasbüschel festzuhalten, fing Scuotiroccia wie ein verwundeter Bär zu brüllen an. Er wollte uns damit natürlich nur ablenken, und das gelang ihm auch ganz wunderbar. Ich erinnere mich daran, nur noch den Wunsch gehabt zu haben, ein Erdloch aus-zubuddeln und mich darin zu verkriechen. Statt des-sen entdeckte ich plötzlich, daß ich dabei war, Helm und Rüstung mit einem Eifer zu polieren, als ginge es darum, alles um die Hälfte dünner zu schleifen. Wenn ein Ausbilder einen Neuling ausschelten will, dann nimmt er dazu für gewöhnlich die Ausrüstung aufs Korn. Und so marschierten wir unter Bravenas’ pausenlosem Gebrüll mehr als drei Stunden, während wir die Gurte der Tornister richtig einstellten und un-sichtbare Rostfleckchen von den Schilden entfernten. Schließlich mußte auch er kapitulieren: Wir glitzer-ten und glänzten so prächtig, daß das einzige, was es zwischen einem Schritt und dem nächsten noch zu

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putzen gegeben hätte, die Sohlen unserer Stiefel wa-ren…«

»Und in der Zwischenzeit war euch die Furcht vergangen!« lachte Damlo.

»Wo denkst du hin!« grinste Clevas. »Wir hatten eine Heidenangst – aber jetzt vor Scuotiroccia! Er war wirklich famos, der Alte: ein dreistündiges Wut-gebrüll! Das ist gar nicht so leicht, weißt du? Gut, an der Ausrüstung eines Rekruten gibt es immer ir-gendwas herumzumeckern. Aber versuche mal, alle Teile aufzulisten: Dazu brauchst du eine Minute, nicht länger. Füge die Beschreibung – meinetwegen sogar mit einer farbigen Schilderung – irgendwelcher Mängel hinzu, und du kommst auf zwei, drei Minu-ten, mehr nicht. Zusammen mit den gängigen Flü-chen und Verwünschungen macht das äußerstenfalls fünf Minuten. Verdoppeln wir auf zehn… Aber drei Stunden! Und bedenke, daß du dich dabei nicht wie-derholen darfst, sonst verliert die Sache ihren Biß! Bravenas war wirklich ein Spitzenkönner. Bei jedem Feldzug schlossen die Veteranen Wetten auf die Dauer seiner Brüllerei ab. Nach geraumer Zeit wurde auch ich Ausbilder, aber ich habe es nie geschafft, ihn zu schlagen.«

»Und was war deine Höchstleistung?« erkundigte sich Damlo.

»Zwei Stunden und drei Viertel«, raunte Irgenas, sorgfältig darauf achtend, daß es sein alter Lehrer hö-

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ren konnte. »Er hat Scuotiroccia nur deshalb nicht überboten, weil mein Großvater ihn nach kaum zwei Jahren in der königlichen Garde haben wollte!«

»Zugegeben, auch ich hab es gar nicht so übel ge-macht«, plusterte sich der alte Zwerg in aller Be-scheidenheit auf.

»Wie wahr«, pflichtete ihm Irgenas – diesmal mit lauter Stimme – bei, sah Damlo an und kniff ein Au-ge zusammen. »Und wenn ich es recht bedenke, ken-ne ich wirklich niemanden sonst mit dieser Fähigkeit, derart endlos wegen solch unbedeutender Dinge zu jammern!«

»Wie? Wie?« fuhr Clevas hoch. »Ich jammere nie! Und vor allem nicht wegen Lappalien! Andauernd beschuldigst du mich völlig grundlos, weil du kein Verständnis aufbringen kannst für manche…«

Während Irgenas damit fortfuhr, den Freund auf den Arm zu nehmen, und dieser willig in jede kleine Falle tappte, um dann den Beleidigten zu spielen, setzte der Wagen seinen Weg über das grüne baum- und strauchlose Flachland fort. Die Straße hatte sich auf kaum mehr als zwei parallele, von tausend Rä-dern hinterlassene Furchen verengt, und die Hufe des Maulesels verursachten auf dem Gras, das dazwi-schen wuchs, kein Geräusch mehr. Nur in den Pau-sen zwischen den Regenschauern hörte man, wie die Halme am Unterboden des Wagens entlangstrichen.

Doch nach einigen Stunden mehrten sich die Stel-

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len, an denen höher wachsende Pflanzen gediehen, und die Straße begann sich an winzigen, meist lich-ten Wäldchen entlangzuschlängeln, hinter deren ma-geren Baumstämmen und Sträuchern die Fortsetzung des ebenen Graslandes auf der anderen Seite zu er-kennen war. Manchmal jedoch standen die Bäume schon dichter, und am Nachmittag wurden aus den Wäldchen richtige kleine Wälder, die die Straße durchquerte.

Als der Wagen gerade eines dieser dunklen Ge-hölze verließ und der Regen aufhörte, bemerkte Damlo, daß der Maulesel hinkte.

»Nichts Ernstes«, versicherte er den Zwergen, nachdem er sich den rechten Vorderhuf des Tieres angesehen hatte, »er hat nur ein Eisen verloren.«

»Es ist trotzdem ein Problem«, brummte der Zwergenprinz. »Wir haben keinen Ersatz, und außer-dem wüßte ich ohnehin nicht, wie man einen Huf be-schlägt.«

»Zugesehen habe ich schon dabei«, sagte Damlo. »Mit den richtigen Nägeln würde ich es mir zutrau-en. Aber ohne das Hufeisen…«

»Wir kommen sehr bald zum Sweldal, es ist nicht mehr weit bis zum Fluß. Und in der Hütte des Fähr-mannes finden wir ganz sicher…«

Plötzlich erstarrte Irgenas, und verblüfft folgte Damlo seinem Blick. In Richtung Süden verlief die Straße noch etwa eine Viertelmeile über offenes Ge-

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lände, ehe sie in einem ausgedehnten Wald ver-schwand. Und dort, unter den Bäumen, war soeben ein Reiter in vollem Galopp aufgetaucht. Er hing windschief im Sattel, festgekrallt in der Mähne sei-nes Rosses. Und in seinem Rücken steckte ein Pfeil.

Für etwa hundert Schritt folgte das Pferd in vollem Lauf der Straße, ehe es nach rechts davon abbog und das hohe Gras durchpflügte. Ganz offensichtlich hat-te der Verletzte vor, in einem nicht weit entfernten Gehölz Zuflucht zu suchen. Doch er erreichte es nicht rechtzeitig: Aus dem Wald weiter vorn brachen jetzt weitere Reiter hervor – ein Dutzend etwa, die ihre Pferde nun auch ins hohe Gras lenkten und sich ihrem Opfer von der Seite her näherten. Sie schrieen und schossen vereinzelt weitere Pfeile in Richtung des Verletzten ab, doch ohne ihn zu treffen. Alle Verfolger waren in Wolfspelze gehüllt – mit Aus-nahme des Reiters an der Spitze: Er trug einen schwarzen Umhang.

»Beweg dich nicht, was immer geschieht!« flüster-te Irgenas Damlo zu. »Wir sind voll in ihrem Blick-feld, selbst die kleinste Bewegung würde ihre Auf-merksamkeit erregen!«

Wie durch ein Wunder schaffte es der verwundete Reiter, im Sattel zu bleiben und seine Flucht fortzu-setzen. Er verschwand in dem Wäldchen, nach eini-gen Augenblicken gefolgt von den Banditen. In einer Mischung aus Furcht und Aufregung sah Damlo die

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Zwerge an. »Es gibt keine Möglichkeit, ihm beizustehen«, er-

klärte Irgenas und schüttelte den Kopf. »Wir müssen schon froh sein, wenn wir den Fluß ohne Schwierig-keiten überqueren können. Diese Leute kamen von dort.«

»Habt ihr es gesehen? Ihr Anführer war ein Schwarzer Degen!« sagte Damlo.

»Man sollte nie etwas Fragliches als gegeben an-nehmen«, rügte ihn Clevas. »In Wahrheit haben wir nur einen Mann gesehen, der einen schwarzen Um-hang trug.«

Irgenas ließ den Maulesel wieder losgehen. Nachdem sie das offene Stück Straße so rasch wie

möglich hinter sich gelassen hatten, tauchten sie in den Wald ein, aus dem die Reiter hervorgaloppiert waren und der sich als die Uferbewaldung des Swel-dal herausstellte, denn zwanzig Minuten später er-reichten Damlo und die Zwerge den Fluß.

Eine große Holzhütte stand auf einer Seite eines weiten baumlosen Platzes unmittelbar am Ufer. Etwa dreißig Schritt hinter der Hütte erhob sich ein pyra-midenförmiges Gerüst aus Baumstämmen, neben dem ein hölzernes Floß schwamm, das links und rechts mit Geländern versehen war.

»Wir haben Glück«, bemerkte Irgenas. »Die Fähre liegt an diesem Ufer.«

Er fuhr den Wagen bis vor die Hütte, deren Fens-

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ter mit schweren hölzernen Läden verschlossen wa-ren.

»Der Fährmann war verheiratet«, erklärte der Prinz und sprang vom Wagen. »Möglicherweise ist die Frau noch am Leben. Ich werfe nur einen Blick ins Haus, dann überqueren wir den Fluß.«

»Vielleicht ist sie gefesselt und hat die Augen ver-bunden!« fügte Damlo atemlos hinzu. »Erst wird sie uns für die Banditen halten, aber wir sind ihre Ret-ter!«

Mit einem weiten Satz vom Wagen eilte er an Ir-genas’ Seite, der bereits im Begriff war, die Tür zu öffnen.

Zunächst war die große Blockhütte nichts als ein Unterstand für den Fährmann gewesen. Doch dann hatte sich der Mann verheiratet, und nach dem Vor-beiziehen der ersten Karawane nahm seine Frau eini-ge Veränderungen darin vor. Das Floß konnte jeweils nur einen Wagen aufnehmen, und so bildeten die an-deren Fahrzeuge, während sie darauf warteten, an die Reihe zu kommen, lange Schlangen, die sich über den ganzen Platz hinzogen. Die Kundschaft im Frei-en warten zu lassen, so erklärte die Frau in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, stelle eine grobe Unhöflichkeit dar. Und so verwandelte sich die Hütte im Laufe der folgenden beiden Tage in eine gastliche Stätte der Rast: Nach den Anweisungen der jungen Frau brachten Karawanenführer und Händler

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– als Gegenleistung für eine Gratisüberfahrt – im of-fenen Herd jene Halterungen an, die nötig waren, um große Fleischstücke am Spieß braten zu können. Und nachdem zwei Tische aus grob behauenem Holz und etwa zwanzig Schemel in der großen Stube standen, plünderte sie das Versteck unter dem dritten Boden-brett und gab das gesamte Ersparte des Mannes für Trinkkrüge und Fässer mit Bier aus. Die Neueinfüh-rung ermöglichte den beiden kein Luxusleben, aber sie genügte, um die Einnahmen der kleinen Familie hübsch aufzurunden.

Damlo erwartete, beim Eintreten etwas in der Art einer Schenke zu sehen, und bereitete sich schon auf einen Vergleich mit der Gaststube der Apfelesche vor. Doch als Irgenas die Tür der Hütte öffnete, ver-schlug es sowohl ihm als auch dem Zwerg den Atem.

Das wenige Licht reichte aus, um eine weibliche Gestalt zu erkennen, die wie ein Haufen alter, achtlos in einen Winkel geworfener Lumpen dalag. Auf dem Fensterbrett gegenüber hockte ein großer schwarzer Rabe mit rot verschmiertem Schnabel, und in der Mitte des Raumes saßen vier dicht behaarte, vor Schmutz starrende Männer, alle in Wolfspelze ge-hüllt. Auf dem Tisch hatten sich etwa fünfzehn Krü-ge angesammelt, und vor jedem der finsteren Gesel-len steckte ein langes Messer im Holz der Tischplat-te.

Eine Sekunde lang wirkten alle wie erstarrt; dann

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bewegten sich die Banditen und der Zwerg gleichzei-tig.

»Clevas, die Waffen!« schrie Irgenas nach drau-ßen und stürzte auf den Tisch zu.

»Sieh an, Besuch«, knurrte einer der Männer, wäh-rend er mit einem Ruck aufstand und sein Messer aus der Tischplatte riß. Die plötzliche Bewegung ließ ihn zwei, drei Schritte zurücktaumeln.

Auch die anderen drei sprangen so heftig auf, daß die Schemel davonrollten. Dann streckten sie die Klauen nach ihren Klingen aus. Zweien von ihnen gelang es, sie aus dem Holz zu ziehen, doch der drit-te Mann, der sich der Tür am nächsten befand, ließ sich zuviel Zeit. Noch während sich seine Hand un-sicher um den Griff des Messers schloß, stieß ihm Ir-genas die Faust in die Seite, was ihm mit einem Schlag die Luft aus den Lungen jagte. Während er sich noch japsend krümmte, riß der Prinz in Sekun-denschnelle das Messer des Mannes an sich und brach ihm mit dem massiven Griff seiner eigenen Waffe das Genick.

Es lag auf der Hand, daß die Banditen betrunken waren, doch keiner von ihnen war ein Anfänger. Durch den blitzschnellen Tod ihres Kumpanen vor-sichtig geworden, verteilten sie sich im Raum. Wäh-rend der Rabe wie eine aufgeschreckte Fledermaus durch die Hütte flatterte, maßen sie Damlo mit einem raschen Seitenblick, schätzten ihn als harmlos ein

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und beachteten ihn nicht weiter. Mit konzentriertem Gesichtsausdruck sprang der

Zwerg von einem Gegner zum anderen und täuschte Hiebe und Ausfälle vor. Er brüllte, er trampelte mit den Füßen auf dem Holzboden, er reihte Finte an Finte – alles in dem Bemühen, die Männer irre zu machen und durcheinanderzubringen, während er ei-ne Öffnung in ihrer Deckung suchte. Doch die Arme von gewöhnlichen Menschen sind länger als jene von Zwergen, und die Banditen hielten ihn sich vom Leib, indem sie ihm einfach ihre Messer entgegen-streckten.

Wie erstarrt sah Damlo zu; er spürte, wie ihm die Knie weich wurden, während sich seine Arme an-fühlten, als wären sie aus Granit. Und ihr ganzes Gewicht schienen sie auf seinen Magen zu legen. Sein Herz hämmerte so schnell wie ein hungriger Specht.

Drei gegen einen, dachte der Junge, und gleich werden sie sich alle auf Irgenas stürzen! Er hatte zwar seinen Stacheldegen am Gürtel hängen, doch seine Hand wollte einfach nichts davon wissen, ihn auch zu zücken: Das Hirn gab den Befehl, aber der Körper gehorchte nicht. Obwohl Damlo spürte, wie sein Inneres vor Energie vibrierte, schaffte er es nicht, sie einzusetzen; sie erfüllte seine ganze Brust – mit dem einzigen Ergebnis, daß sie ihm die Luft ab-schnürte. Weit, weit weg, tief in seiner Seele, zirpte

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ein Stimmchen: »Feigling!« Aber es war nicht laut genug, um ihn aus seiner Erstarrung aufzurütteln.

Dann umringten die Gauner den Zwerg und be-gannen, den Kreis immer enger zu ziehen, indem sie sich aus drei Richtungen auf ihn zubewegten. Irgenas fing an, sich um die eigene Achse zu drehen, wobei er darauf achtete, keinem der Männer Gelegenheit zu geben, ihm das Messer in den ungedeckten Rücken zu stoßen. Damlo fragte sich, wieso um alles in der Welt Clevas nicht längst an Irgenas’ Seite war – und da wurde ihm zu seiner Verblüffung bewußt, daß seit ihrem Eintreten in die Hütte kaum ein Augenblick vergangen war.

Man durfte also nicht darauf zählen, daß der Alte jeden Augenblick erscheinen mußte, und es war klar, daß Irgenas nicht mehr lange Widerstand leisten konnte. Jetzt lag es wirklich an Damlo, etwas zu un-ternehmen! Mit einer geradezu übermenschlichen Anstrengung wollte er sich zwingen, die Hand an seinen Degen zu bringen, doch sie bewegte sich kei-nen halben Zoll. Wut, Scham und das Gefühl der Machtlosigkeit verschmolzen zu einem zähen, un-überwindlichen Block.

Fast ohne es zu bemerken, sog der Junge die Luft zwischen den Zähnen ein, und plötzlich, völlig über-raschend, löste sich seine ganze Verzweiflung in ei-nem Aufschrei. Heiser und schrill vor Angst bahnte er sich den Weg aus Damlos Innerem wie ein unwi-

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derstehlicher Brechreiz, der in der Kehle schmerzte, drang nach draußen und erfüllte jede Ecke der Kate. Der Schrei dauerte an – stundenlang, so schien es dem Jungen, und als stünde ihm der endlose Atem al-ler Versager dieser Welt zur Verfügung.

Und dann gaben seine Knie nach. Er fiel heftig zit-ternd zu Boden und hatte nicht die Kraft, seinen Schrei wenigstens mit der Hand vor dem Mund zu dämpfen.

»Die blaue Flamme!« Clevas’ Stimme hallte durch den Raum, und Dam-

lo bemerkte ein rasches Aufblitzen, vernahm ein lei-ses Zischen und sah etwas Metallisches zwischen den Schulterblättern eines Banditen erscheinen. Der Mann fiel um wie ein Sack. Mit zwei weiten Sätzen stand der Alte neben dem Toten, riß ihm Irgenas’ Streitaxt aus dem Rücken, und während er sie über dem Kopfkreisen ließ, fing er an, die Hymne seines Regimentes zu singen.

Das war einfach zuviel. Die beiden Überlebenden waren ganz und gar nicht bereit, sich auf einen Kampf Mann gegen Mann einzulassen. Also ergrif-fen sie die Flucht. Von Panik erfaßt stürzte einer zu dem Fenster, das am weitesten von den beiden Zwergen entfernt war, schaffte es aber nicht, den Riegel zu öffnen und versuchte daraufhin, die Läden mit einem wuchtigen Faustschlag aufzubrechen. Das Krachen splitternder Knochen, gefolgt von einer

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Reihe gotteslästerlicher Flüche hallte durch die ganze Hütte. Mit seiner unbrauchbaren rechten Hand war der Gauner nun außer Gefecht gesetzt, und die Zwerge nahmen sich den einzigen noch Verbliebe-nen vor.

Hätte nicht immer noch der Leichnam der Frau dort drüben in der Ecke gelegen, dem letzten echten Gegner wäre vielleicht noch eine Chance geblieben. Aber so nicht. Mit einer flüssigen Handbewegung schleuderte Clevas die Axt gegen den Kopf des Mannes, der sich, obwohl betrunken, rasch duckte – was ihn zwar der Axt entgehen ließ, nicht aber dem Tod: Der Dolch des Prinzen schoß ihm unter dem Kinn in den Hals, und er fiel wie vom Blitz getroffen um.

Während der Leichnam auf dem Boden noch ein wenig zuckte, fiel ein plötzlicher Lichtschein ins In-nere der Hütte. Dem letzten Banditen war es schließ-lich doch gelungen, die Läden zu entriegeln. Er ver-suchte hektisch, aus dem Fenster zu klettern. Blitz-schnell holte sich Irgenas die Axt zurück und schleu-derte sie dem Fliehenden nach. Einen kurzen Mo-ment lang flog sie Seite an Seite mit dem Raben, der sodann durchs offene Fenster verschwand; die Axt hingegen fand ihr Ziel, und der voll getroffene Mann sackte leblos über dem Fensterbrett zusammen.

Im Raum verbreitete sich ein stechender Geruch, und Damlo fühlte sich augenblicklich in die Gaststu-

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be seines Onkels versetzt, ein Buch unter dem Arm – dazu Trano mit wütendem Gesicht und derselbe Ge-ruch in der Luft.

Während sich Clevas über die tote Frau beugte, holte Irgenas die Axt. Im Fallen hatte der Bandit ein Tonfläschchen zerbrochen; der Zwerg hob eine der Scherben auf, die mit einer roten, körnigen Substanz bedeckt war, roch daran und rümpfte die Nase.

»Es ist für den Raben«, versuchte Damlo zu sagen, aber er brachte nur ein schwaches, quiekendes Äch-zen hervor, und seine Worte blieben unverständlich. Die Stimme eines Feiglings, hörte er tief in seinem Inneren etwas flüstern.

In diesem Augenblick verabscheute er sich. Ganz bewußt. Heftig, wütend und verzweifelt. Und er senkte die Augen, weil er den Anblick der beiden Zwerge einfach nicht aushalten konnte.

»Wir haben nicht einmal genug Zeit, um die Frau zu begraben«, sagte Clevas. »Die anderen Banditen werden wohl jeden Augenblick zurückkommen.«

Bei diesen Worten wurde Damlo von einer neuen Woge des Entsetzens erfaßt; überdeutlich drängten sich die Schweißperlen, die ihm gerade über die Stirn liefen, in sein Bewußtsein. Die Angst verursachte ihm Höllenqualen – doch mehr noch quälte ihn, daß er überhaupt Angst hatte, daß er sich deswegen ver-achtete und nicht wußte, wie er anders reagieren soll-te als mit diesem Groll auf sich selbst.

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Dunkel bemerkte er, daß der alte Zwerg den Leichnam der Frau mit einem Mantel der Banditen bedeckte, und kurz danach spürte er, wie er vom Bo-den hochgehoben und sachte an einem Arm ins Freie geführt wurde.

Clevas hatte Mitleid mit ihm! Bei diesem Gedan-ken wurde ihm ganz übel. Er fühlte sich wie ein Kranker behandelt und hörte unausgesprochene Wor-te durch die Luft wehen: »Armer Kerl, Feigheit ist leider unheilbar…« Tränen stiegen ihm in die Augen, und sein Blick trübte sich. Er konzentrierte sich so angestrengt auf seine eigene Qual, als wollte er kei-nen einzigen Hauch davon versäumen. Und während seine Pein die Verachtung seiner selbst noch steiger-te, tauchte der Junge vollständig in diesen Schmerz ein.

»Los, fahren wir!« rief Irgenas. »Sie dürfen uns an diesem Ufer nicht mehr erreichen!«

Wie ein Schlafwandler kletterte Damlo auf den Wagen. Er wollte nicht, daß die Banditen rechtzeitig kamen und ihn umbrachten, denn auf diese Weise hätten sie seinem Leiden ein Ende gesetzt. Er jedoch brauchte es weiter, denn er hatte das Gefühl, die ei-gene Feigheit nicht ertragen zu können, wenn er nicht auf diese Weise dafür bezahlte.

Mit einem Mal wurde ihm bewußt, wie er vor Selbstmitleid zerfloß, und der Ekel vor sich selbst wurde übergangslos zu loderndem Zorn, der mit wil-

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der Heftigkeit in ihm anschwoll. Und mit diesem Zorn erwachte die Bestie: Brüllend raste sie aus ih-rem Schlupfloch, und Damlo erschrak zu Tode. Doch diesmal nährte die Angst nur seine Wut, und statt ei-nes Versuches, die Bestie zu besänftigen, zu unter-drücken, warf er ihr den Fehdehandschuh hin. Er wollte sie vernichten, niedermetzeln, in Stücke rei-ßen! Er hatte das unbändige Bedürfnis draufloszu-schlagen, und der ganze Zorn, all die Verachtung seiner selbst, die Qual, die ihm sein fehlender Mut verursachte – das alles verwandelte sich in eine furchtbare, zerstörerische Kraft.

Und plötzlich war es an dem verborgen in ihm existierenden Untier, Angst zu haben. Der Junge ver-folgte es in jeden Winkel seines Inneren und schrie ihm seinen Triumph so lange nach, bis es sich in Rauch auflöste und die Wut, die wilde Gewalt und den Schmerz mitnahm.

Er hatte auch nicht die leiseste Andeutung eines Krampfanfalles verspürt.

»Verdammt!« brach es plötzlich aus Irgenas her-vor.

Der Schrei rüttelte Damlo auf, er sah den Prinzen erschrocken an. In verständnisvollem Schweigen hat-ten die beiden Zwerge den Wagen bis ans Ufer des Flusses gefahren und an dem pyramidenförmigen Holzgerüst gehalten. Die Struktur bestand aus fünf oder sechs dicken, entrindeten Baumstämmen, die

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man tief in die Erde gerammt und untereinander mit mittlerweile verrosteten Eisenbändern fest verbunden hatte. Von ihrem höchsten Punkt hing ein Stück Hanfseil, so dick wie der Schenkel eines Mannes, dessen Ende ausgefranst war.

»Sie haben das Führungsseil gekappt!« rief Irge-nas. »Die Fähre ist nicht benutzbar!«

Die drei sahen einander wortlos an. Keiner hatte einen Zweifel, was geschehen würde, falls die Bandi-ten zurückkamen.

»Gibt es keine Ruder?« fragte Damlo. Der schwere Gefühlssturm hatte ihn zwar ge-

schwächt, doch in anderer Hinsicht fühlte sich der Junge gestärkt: Er spürte, daß er durch die Art und Weise, wie er »diese Sache« niedergerungen hatte, es wieder verdiente, den Freunden in die Augen zu schauen.

»Nein, die Fähre wurde ja am Seil entlangbe-wegt«, erwiderte Irgenas und blickte besorgt über den Fluß; an dieser Stelle war der Sweldal mehr als zweihundert Ellen breit.

»Wir könnten uns selber welche herstellen.« »Dazu ist keine Zeit.« »Vielleicht gibt es bei der Hütte lange Stangen!« »In der Mitte ist der Fluß zu tief. Mit Stangen

könnte man den Untergrund nicht erreichen, und die Strömung würde uns davontreiben.«

»Na und? Wir würden den Fluß überqueren, indem

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wir uns abtreiben lassen!« »Das ist doch nur ein Floß! Wir würden sicher un-

tergehen.« »Es kann nicht untergehen! Es besteht aus Baum-

stämmen, auf die ein glatter Boden genagelt ist!« »Wer weiß? Darauf verlasse ich mich nicht.« »Hinge es am Seil, würdest du dich doch auch

darauf verlassen! Warum willst du es nicht mit den Stangen probieren?«

»Darum, zum Geier!« explodierte Irgenas. »Ich bin ein Zwerg! Gib mir Berge und eine Spitzhacke, und ich grabe dir ganz allein ein Bergwerk! Meinet-wegen trage ich dir sogar den gesamten Berg ab, aber, beim Barte meines Vaters, sag mir nicht, ich soll zum Schiffsjungen werden!«

»Hast du eine bessere Idee?« warf Clevas ruhig ein.

Der Prinz starrte ihn eine Minute lang an, als hätte ihm der Alte einen Schlag versetzt. »Also gut!« rief er schließlich und setzte sich umgehend Richtung Hütte in Trab. »Aber glaubt nicht, daß ich euch eine Hilfe sein werde, wenn wir untergehen, denn da bin ich schon drei Fuß unter Wasser!«

Er suchte in aller Eile in der Hütte und ihrer Um-gebung und kehrte schließlich mit nichts als einem langen Stock zum Wagen zurück. »Damit werden wir uns gerade noch vom Ufer abstoßen können, mehr nicht, denke ich.«

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»Dann wird es wohl nötig sein, einen kleinen Baum umzuschneiden«, seufzte Damlo.

Irgenas warf den Stock auf den Wagen, griff nach seiner Axt und verschwand im Wald. »Bringt inzwi-schen den Wagen auf die Fähre!« rief er ihnen noch zu.

Damlo ging zum Maulesel und streichelte ihn. Das Tier spürte die Spannung, die in der Luft lag, und bewegte sich unruhig in der Deichsel. Nur mit Mühe konnte ihn der Junge zu dem winzigen Landungssteg führen.

An dieser Stelle hatte der Sweldal schon fast zweihundert Meilen zurückgelegt und sich aus so vielen Nebenflüssen gespeist, daß seine Wasserfüh-rung je nach Jahreszeit beträchtlichen Schwankungen unterworfen war. Der Landungssteg befand sich je-doch stets auf gleichbleibender Höhe. Da sich der Wasserstand des Flusses nun aber häufig änderte, hatte der Fährmann robuste Bretter bereitgestellt, die den Wagen erlauben sollten, vom Ufer auf die Fähre und wieder zurück zu gelangen.

Clevas und der Junge schleppten sie als erstes her-bei und legten sie so zurecht, daß sie drei schmale Rampen bildeten: zwei für die Wagenräder und eine in der Mitte für den Maulesel. Damlo sprang auf die Bretter, hüpfte ein paarmal auf und ab und drehte sich, zufrieden mit der Festigkeit der kleinen Brü-cken, zu Clevas um.

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Da blieb ihm fast das Herz stehen. Hinter dem Al-ten erblickte er Irgenas, der sich auf halbem Weg zwischen dem Platz vor der Hütte und der Fähre be-fand und in Richtung Fluß rannte, als wären die Dä-monen hinter ihm her. Schon von weitem schrie er: »Sie kommen! Los, auf die Fähre!«

Damlo spürte, wie ihm selbst nun die Knie weich wurden, während die Energie aus seinem ganzen Körper in die Magengegend strömte und sich dort aufzustauen schien. Einen Augenblick lang stand er wie gelähmt da, ehe es ihm gelang, sich zusammen-zureißen. Er rannte zu den Zügeln und zerrte den wi-derstrebenden Maulesel auf die Bretter.

»Geh in Deckung!« rief Clevas und spannte die Armbrust. »Gleich fliegen die Pfeile!«

Unter Aufbietung aller Kräfte brachte Damlo Maultier und Wagen auf das Floß. Dann schob er Bremsklötze unter, um die Räder zu blockieren, und drehte sich um.

Irgenas war nur noch wenige Schritte vom Fluß entfernt, doch drüben im Wald galoppierten schon die Banditen die Straße entlang. Mit einem weiten Satz sprang der Zwerg auf die Fähre; fünf Sekunden später waren bereits die Leinen durchschnitten und Irgenas stieß mit dem langen Stock, den er gegen den Landungssteg stemmte, das Floß in die Strömung.

Die Reiter waren nun mitten auf dem Platz. Ihr Anführer ritt einen prachtvollen Fuchshengst und

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hätte ein Zwillingsbruder des Schwarzen Degens in Waelton sein können. Über seinem Kopf flog der Rabe, der aus der Hütte verschwunden war, und krächzte ohne Unterlaß. Mit seinem wilden, wüten-den Gebrüll schien der schwarze Reiter die anderen anzutreiben, von denen einige Bogen mit eingelegten Pfeilen in Händen hielten – bereit zum Abschuß, so-bald sich eine Gelegenheit bot.

»Ist deine Steinschleuder eigentlich zu irgend et-was gut?« fragte Clevas mit größter Ruhe, während er zielte.

Damlo sprang auf den Wagen. Die Angst schoß ihm jetzt wie ein reißender Fluß durch die Adern. Sie vibrierte in seinem Inneren und ließ ihn hochschnel-len, noch ehe er wußte, was er tun wollte. Er merkte, daß er aufgeregt herumflatterte, ohne etwas damit zu erreichen, so als wäre das hastige Hin und Her wich-tiger als das Vollbringen der jeweiligen Tätigkeit. Nachdem es ihm bewußt geworden war, bemühte er sich innezuhalten, aber das schaffte er nicht, und so versuchte er, wenigstens seine Bewegungen zu ver-langsamen; auf diese Weise gelang es ihm, die Kon-trolle über sich zurückzugewinnen. Während er unter der Plane herumwühlte, hörte er das Schnappen der Armbrust und hob gerade rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie sich eines der Pferde drüben auf der Erde wälzte und den Reiter mitriß.

Endlich fand er die Schleuder und einen der Stei-

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ne, die für die Kaninchen gedacht waren, und ließ sie über dem Kopf rotieren. Das pfeifende Geräusch ver-setzte den Jungen ein paar Tage zurück in die Ver-gangenheit, nach Waelton: Da war die Legion, die ihn verfolgte, da war auch Busco Sinistronco, und da war dieser Stein auf seiner flachen Flugbahn, der Damlo am Ohr vorbeipfiff …

Das zweite Schnappen der Armbrust riß ihn wie-der in die Wirklichkeit zurück, und kurz darauf, wäh-rend ein Bandit mit einem Bolzen in der Brust aus dem Sattel kippte, streifte das Geschoß des Jungen einen anderen Reiter am Kopf. Da gerieten die Män-ner sichtlich ins Wanken und zögerten unschlüssig. Der Angriff schien fast zum Erliegen zu kommen.

Doch sofort erhob sich der Schwarze Degen in den Steigbügeln und drehte sich zu seinen Gefolgsleuten um. »Ins Wasser, ihr Hundesöhne!« tobte er. »Ins Wasser, bevor das Floß abtreibt! Und benutzt endlich eure verdammten Bogen!«

Durch das Abstoßen vom Landungssteg hatte sich das Floß etwa fünfzehn Ellen weit vom Ufer entfernt; dort war es von der Strömung erfaßt worden und trieb nun flußabwärts. Vorangepeitscht vom wüten-den Ton des Mannes in Schwarz schlossen die Ban-diten die Reihen wieder, ritten eilig auf das Flußufer zu und deckten das Floß dabei mit einem Pfeilhagel ein. Bei dem Tempo, das die Pferde hatten, war das Zielen schwierig, aber einige Pfeile blieben dennoch

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zitternd im Holz des Wagens stecken. »Bei meinem Barte, geh in Deckung!« schrie Cle-

vas mit schriller Stimme. Damlo sprang vom Wagen neben den Maulesel

suchte Schutz hinter dem Tier. »Wenn ich in De-ckung bin, kann ich die Schleuder nicht benutzen«, murmelte er vor sich hin. Doch dann bemerkte er, daß der Maulesel im höchsten Maße nervös war, ging nach vorn und sprach beruhigend auf ihn ein.

Mittlerweile war die Bande am Ufer angelangt, wo der Schwarze Degen, gefolgt von einem seiner Män-ner, abbog und flußabwärts am Wasser entlang wei-territt, um das Floß zu überholen.

Die anderen Reiter hingegen warfen sich beim Landungssteg wie befohlen voller Eifer in die Wo-gen und spornten ihre Tiere zum schnellen Schwim-men an. Doch die Strömung so nahe am Ufer war weitaus schwächer als jene weiter draußen, und die Pferde schafften es nicht, dem Floß näherzukommen.

Als der Schwarze Degen seinen Irrtum bemerkte, schien er vor Wut außer sich zu geraten. Brüllend wie ein Besessener deckte er seine Männer mit Schimpfkanonaden ein, ehe er dem Reiter, der ihm gefolgt war, einen barschen Befehl zubellte. Sorgfäl-tig zielend spannte der Mann den Bogen und schoß in rascher Folge vier Pfeile ab. Die ersten beiden landeten in den Brettern des Wagens, und der dritte flog dicht an Damlos Kopf vorbei, um dann im Fluß

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zu verschwinden. Der letzte traf den Maulesel. Mit einem leisen, dumpfen Geräusch bohrte er

sich bis zu den Federn in den Hals des Tieres und trat auf der anderen Seite, wo sich Damlo befand, wieder aus. Die Spitze tauchte vor den Augen des Jungen wie eine plötzlich aufbrechende leuchtendrote Blüte auf.

Damlo schrie auf, als wäre er selbst getroffen, doch zu seiner Stimme gesellte sich das gurgelnde Röcheln des Maulesels, der mit einem Mal einen Satz nach vorn machte, wie um dem Tod zu entflie-hen, der schon in ihm steckte. Doch vor ihm war nichts als die Kante des Floßes – ohne Reling oder sonstiger Sicherung –, und hätte Damlo nicht zuvor die Bremsklötze untergeschoben, wäre das Tier mit-samt dem Wagen in den Fluten verschwunden.

Der Wagen war zwar schwer und die Räder waren blockiert, aber die Nähe des Todes verlieh dem Tier eine geradezu übermächtige Kraft. Fast ohne sichtba-re Bewegung und am ganzen Körper zitternd setzte der Maulesel auf dem Bretterboden kratzend und scharrend die Hufe ein und zog den Wagen Zoll für Zoll auf die Kante des Floßes zu.

Doch das Blut drang in einem dicken Schwall aus der Halswunde, und die Kräfte, die ihm der Todes-kampf verliehen hatte, schwanden immer mehr da-hin. Schließlich durchzuckte ein letztes Beben seinen Körper, und mit einem heftigen Ruck versetzte der

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Maulesel den Wagen um fast drei Fuß, ehe er genau über der Kante des Floßes zusammenbrach; nur die Hinterbeine lagen noch auf dem Floß, so als wäre er im Begriff, sich mit aller Gewalt in den Fluß zu wer-fen. Dann hörte das Herz der armen Kreatur auf zu schlagen, und sie fiel zur Seite, den Kopf im Wasser treibend.

Entsetzt wandte sich Damlo den Freunden zu – und warf sich augenblicklich flach zu Boden: Durch den Tod des Maulesels fiel jede Deckung weg, und er war den Pfeilen der Gegner schutzlos ausgesetzt. Rasch schob er sich unter den Wagen und kroch wei-ter bis zu den Zwergen.

»Mir bleiben gerade noch zwei Bolzen!« hörte er Clevas soeben sagen.

»Schick sie als netten Gruß an den Schwarzen De-gen, wie Damlo ihn nennt«, seufzte Irgenas zur Ant-wort. »Er wird entzückt sein.«

Der Anführer der Banditen hatte am Flußufer an-gehalten, von wo aus er seine Männer im Wasser mit Obszönitäten überschüttete. Der Bolzen drang ihm in die Brust ein, während die Bogensehne der Armbrust noch vibrierte. Ohne den geringsten Ton von sich zu geben und steif wie ein Holzpflock kippte der Mann vom Pferd.

Als sie ihn fallen sahen, starrten die anderen ein-ander verblüfft und verunsichert an. Dann wendeten sie die Pferde und dirigierten sie zurück zum Ufer.

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Nur der eine Mann, der dem Schwarzen Degen ge-folgt war, gab nicht auf. Er sprang vom Pferd, beugte sich über den gefallenen Reiter, griff nach der furchtbaren Waffe des Toten und riß sie aus der Scheide.

Damlo konnte deutlich erkennen, wie sich sein Ge-sichtsausdruck daraufhin veränderte; bei dem Gedan-ken an das, was der Mann vorhatte, schauderte es ihn.

Ohne auch nur die Steigbügel zu berühren, sprang der Bandit auf seinen Hengst und galoppierte in we-nigen Augenblicken an den Rand des freien Vorplat-zes – dorthin, wo der Wald, der das Ufer säumte, wieder begann, und somit auf jene Höhe, die auch das Floß soeben erreichte.

Der Bandit sprang vom Pferd und stürzte sich in die Fluten des Flusses. Er war ein ausgezeichneter Schwimmer und kam weitaus rascher voran, als es jedem Pferd möglich gewesen wäre. Den schwarzen Degen zwischen den Zähnen, näherte er sich dem Floß.

»Schaut euch sein Gesicht an!« murmelte Irgenas verhalten.

Damlo konnte es genau sehen: Es war übersät von tiefen Kratzern, auf denen sich noch keine Kruste gebildet hatte.

»Diese arme Frau hat sich heftig gewehrt«, sagte Clevas und spannte den letzten Bolzen in die Arm-brust.

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»Nein!« gebot ihm Irgenas Einhalt. »Ich habe ihm etwas auszurichten.«

Mit zwei Sätzen stand er am Rand des Floßes und hob die Axt. Tapfer zückte der Schwimmer seinen schwarzen Degen, aber für mehr ließ ihm der Zwerg keine Zeit.

»Schönen Gruß von der Frau des Fährmanns!« knurrte Irgenas und spaltete ihm den Schädel. Dann jedoch kehrte er unter den Flüchen und Verwün-schungen der Zuschauer, die am Ufer standen, eiligst in seine Deckung zurück.

Einen Augenblick später und während ein wir-kungsloser Pfeilregen auf die Seitenbretter des Wa-gens niederging, ließ das Floß den baumlosen Vor-platz hinter sich und setzte seinen Weg den Fluß hin-ab fort.

In der Mitte war die Strömung des Sweldal ziemlich stark, doch zwanzig Ellen vom Ufer entfernt, dort, wo sich das Floß nunmehr befand, floß das Wasser mit weniger Temperament dahin. Das bewaldete Ufer zog langsam und majestätisch vorbei; giganti-sche Platanen wuchsen zwischen Weiden, Erlen und Eschen. Hohe weiße Pappeln überragten da und dort eine Trauerweide, deren Schwall junger Blätter sich in einer grünen Pracht, die der letzte Regen mit star-kem Leuchten erfüllt hatte, vor dem Fluß verneigte.

Im Laufe der Zeit waren viele der alten Bäume

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abgestorben, und die am Ufer liegenden Stämme rag-ten des öfteren über das Wasser hinaus. Die dicksten von ihnen hatten der Gewalt sämtlicher Hochwasser widerstanden und waren von Pflanzen, die sich auf totem Holz wohlfühlen, überwuchert. Diese Stämme, von hundert Grünschattierungen bedeckt, streckten sich dann und wann dem Floß entgegen.

Und es war einer von diesen, an dem das Floß schließlich zum Halten kam, nachdem es mehrere Meilen flußabwärts getrieben war. Die hundertjähri-ge Platane ragte kerzengerade vom Ufer weg über die Wellen. Im Fall war sie so weit hinabgesunken, daß sich ihre halbe Krone unter der Wasseroberflä-che befand. Doch das konnte nicht lange her sein, da das Holz noch keine Zeit gehabt hatte zu faulen. Die restlichen Äste streckten sich aus dem Fluß nach oben – wie winterlich unbelaubte Bäumchen, die irr-tümlicherweise zu weit vom Ufer entfernt Fuß gefaßt hatten.

Mit einem dumpfen Geräusch, gefolgt von einem harten, knirschenden Scharren und dem Knacken der brechenden kleineren Äste blieb das Floß daran hän-gen. Nach kurzem Innehalten drehte es sich langsam um die eigene Achse, weil die Strömung des Sweldal offenbar alles daransetzte, es an dem Hindernis vor-beizuführen.

Irgenas Cuorsaldo war bei Freund und Feind als hervorragender Kämpfer bekannt, und in der

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Schlacht übertraf ihn keiner an Mut und Geschick-lichkeit. Schon als Jüngling, im Alter von fünfund-zwanzig Jahren, hatte er es allein mit mehr als zwan-zig Nomadenkriegern aufgenommen, die vier seiner Gefährten umzingelt hatten. Mit den mächtigen Hie-ben seiner Streitaxt hatte er eine blutige Bresche in die Mauer dieser gefährlichen Kämpfer geschlagen und, nachdem er zu seinen bedrängten Waffenbrü-dern vorgedrungen war, den Ring erneut durchbro-chen, um sie hinaus und in Sicherheit zu bringen.

Doch obwohl man ihn als einen der kühnsten und unerschrockensten Zwerge kannte, war es Irgenas nie gelungen, die natürliche und kompromißlose Abnei-gung seiner Rasse gegen tiefes Wasser auch nur teil-weise abzulegen. Und so hatte er sich sogleich, nachdem der Rausch des Kampfes verflogen war, an die Reling des Floßes geklammert und danach die kurze, ruhige Floßfahrt damit verbracht, die grauen Wogen des Flusses mit mißtrauischen Blicken zu durchbohren.

Nachdem er sich vergewissert hatte, daß der Zu-sammenstoß mit dem Baumstamm das Floß nicht zum Untergehen verurteilte, ließ er die Reling los, kletterte auf den Wagen und ergriff zwei Rollen neu-es Seil. Damit eilte er zu dem abgestorbenen Baum und machte das Floß – Knoten um Knoten in Form eines sonderbaren, jedoch äußerst robusten Spinnen-netzes – daran fest. Danach verfolgte er mit angehal-

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tenem Atem die leichte Bewegung des Floßes, die von der Strömung immer noch verursacht wurde, und erst als er sicher war, daß die einstige Fähre weder die Äste abbrechen würde, an denen sie vertäut war, noch die ganze morsche Platane losreißen und hinaus in die übelwollenden Fluten mitschleppen würde, ließ er sich erschöpft auf den Bretterboden sinken.

»Außer Gefahr«, atmete er auf. Eine Weile schwiegen alle drei: die Zwerge, be-

sorgt und nachdenklich, weil nach dem Tod des Maulesels die Dauer ihrer Reise völlig ungewiß wur-de, und Damlo, der sich neben dem halb ins Wasser hängenden toten Tier niedergelassen hatte, weil ihm die Trauer das Herz beschwerte.

Während der ganzen Flußfahrt hatte der Junge ge-zittert, unfähig, die Augen von den Pfeilen abzuwen-den, die im Holz des Wagens steckten. Der Sieg über das Wüten in seinem Inneren bedeutete nicht das En-de der Angst, soviel war ihm mittlerweile klar ge-worden. Und nun schien er vollends bedeutungslos, denn jetzt mischte sich Furcht mit Schande: Die Zwerge wußten alles. Sie würden es ihn nicht fühlen lassen, weil sie anders waren als Proco und Busco; doch von jetzt an würde er in ihren Mienen bei jeder Gelegenheit nach Anzeichen von Mitleid forschen. Würde es ein unbewußter Gesichtsausdruck sein? Ein rascher Blick von einem zum anderen? Oder vielleicht sogar ein halb unterdrücktes Zucken um

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die Lippen? Wie auch immer, er würde es bemerken und so tun, als wäre nichts gewesen, und dabei am liebsten sterben.

Um nicht in Tränen auszubrechen, ging er daran, den Maulesel abzuschirren. Das war kein einfaches Unterfangen, weil sich die vordere Hälfte des Tieres im Wasser befand. Einmal mußte er sogar vom Floß springen, wobei die Zwerge jede seiner Bewegungen beunruhigt verfolgten. Damlo kam das Bad jedoch nicht ungelegen: Die Kälte des Wassers rechtfertigte sein Zittern.

»Armer Proco«, seufzte er schließlich, während er sich wieder ankleidete und der Fluß den Maulesel davontrug. »Er wird mir fehlen.«

»Genauso wie uns«, fügte Irgenas hinzu. »Beson-ders, wenn wir den Fluß überquert haben werden.«

»Wie sollen wir dann weiterkommen?« murmelte Damlo.

»Das überlegen wir uns, wenn wir am anderen Ufer angelangt sind«, antwortete der Zwerg.

»Und es werden keine einfachen Überlegungen sein«, schaltete sich Clevas ein. »Ohne Straße kommt der Wagen wohl kaum vom Ufer weg.«

»Das ist nicht gesagt«, widersprach Irgenas. »Das südliche Ufer des Sweldal ist nicht sehr bewaldet, und eine Landung sollte uns keine Schwierigkeiten machen. Dann werden wir uns eine Lösung einfallen lassen. Wahrscheinlich laufe ich bis Drassol und kau-

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fe dort ein Pferd. Das sind etwa neunzig Meilen, und wenn das Tier mit mir Schritt halten kann, sollte ich in vier, fünf Tagen zurück sein.«

»Hundertachtzig Meilen in vier Tagen?« fragte Damlo entgeistert.

»Wir Zwerge sind ausdauernd. Wir brauchen kei-ne Rastpausen und schlafen wenig – sofern es über-haupt notwendig ist. Die wahren Schwierigkeiten liegen woanders: Zum einen die weitere Verzöge-rung, die dadurch entstehen würde, und zum zweiten die Banditen, denn wenn sie den Fluß überqueren, könnt ihr sie euch zu zweit nicht vom Leibe halten.«

Damlo forschte im Gesicht des Prinzen nach Hin-weisen, daß Irgenas nur deshalb »zu zweit« gesagt hatte, weil er ihn nicht kränken wollte.

»Clevas«, fuhr der Zwerg fort, »hast du eine Vor-stellung, wie Ruder aussehen müßten, die ein schwe-res Floß wie dieses kontrollierbar machen sollen?«

Damlo schwieg, während die beiden Zwerge die Frage erörterten. Er fand nicht den Mut, darüber zu sprechen, aber in seinem Kopf formte sich eine Idee.

Die Verspätung seiner beiden Freunde war so ge-waltig und folgenschwer, überlegte er, daß sie sich gezwungen fühlten, einen Unbekannten mitzuneh-men, um nicht weitere zwei Tage zu verlieren. Und das, was sie ihm in der Folge berichtet hatten, recht-fertigte ihre Eile. Aus Zeitmangel hatte Clevas sogar seine Axt im Leichnam des Schwarzen Degens zu-

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rücklassen müssen! Und doch hatte sich der Erbe des Steinernen Thrones auf die Suche nach ihm, Damlo, gemacht, um ihn vor den Wölfen zu retten, und dafür das eigene Leben und den Erfolg der Mission aufs Spiel gesetzt.

Und er? Bei erster Gelegenheit hatte er sich von seiner Angst völlig verblöden lassen und war in der Gefahr für Irgenas keinerlei Beistand gewesen. Und jetzt, da er wußte, wie und wo man ein Pferd für die Zwerge auftreiben könnte, wagte er nicht einmal, dies vor sich selbst zuzugeben. Er seufzte. Und dann hatte er mit einem Mal vor Augen, wie er der Wael-ton-Legion hinterherspionierte.

Schließlich sind die Banditen doch stockbetrun-ken, sagte er sich. Ich könnte wenigstens nachsehen gehen. Nur einen Blick auf sie werfen, ohne jeman-dem etwas davon zu sagen. Wenn ich zu viel Angst habe, kehre ich um, und die Zwerge werden es nie erfahren. Das heißt – ich kehre in jedem Fall um, ich will ja nur ein Auge riskieren!

Er stand auf und kämpfte gegen eine plötzliche Übelkeit an; unter dem Umhang rückte er die Schei-de mit dem Stacheldegen an seinem Gürtel zurecht und band sich die Steinschleuder um die Mitte.

»Ich gehe auf die Suche nach Kaninchen«, log er und balancierte auf dem Stamm der abgestorbenen Platane zum Ufer.

»Geh nicht zu weit«, trug ihm Clevas geistesabwe-

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send auf und konzentrierte sich gleich wieder auf die Auseinandersetzung mit Irgenas.

Auf festem Boden angelangt, drehte sich der Junge noch einmal zum Floß um und warf einen langen Blick auf die Freunde. Dann drang er in den Wald ein und verschwand mit ihrem Bild vor Augen zwi-schen den Bäumen.

Er war eine gute halbe Stunde lang unterwegs, um-geben vom Duft feuchter Blätter und verborgen blü-hender Blumen, und schlängelte sich durch Gewirre aus Stämmen, Sträuchern und Kletterpflanzen. Ob-wohl er in den Wäldern aufgewachsen war, hatte er seine Mühe mit dem Weiterkommen. Er setzte alles daran, möglichst am Ufer des Sweldal zu bleiben, und wagte sich nur dann weg davon, wenn die Dichte der Vegetation ein Durchkommen verhinderte. Aber immer kehrte er ans Wasser zurück, sobald der Weg halbwegs frei war.

Auch die Bäume standen in diesem Wald in enger Nachbarschaft zueinander. Außer den unzähligen jungen Pflanzen gab es viele Baumriesen, von denen einige ein wahrhaft ehrwürdiges Alter hatten. So blieb Damlo dann und wann stehen und legte die Handflächen an ihre Rinden, um sie zu grüßen. Ihr Anblick und die Berührung machten ihm Freude, ebenso wie die Schwierigkeiten, die ihm der Marsch bereitete – und alles zusammen half, seine Gedanken

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von den Banditen abzulenken. Es geschah mit einer Hängebuche. Sie wuchs un-

mittelbar am Flußufer, und das Wasser lief glasklar an ihren gewaltigen Wurzeln vorbei, umschmeichelte die tief hängenden Blätterbüschel und säumte sie mit sanften Wellen und winzigen Wirbeln. Die Buche wirkte so stattlich und ihre Äste waren so ausladend, daß Damlo sie auf den ersten Blick für einen ganzen Bestand aus mehreren Bäumen gehalten hatte. Dabei handelte es sich natürlich um einen normalen Baum, denn Riesenbäume existierten nur in Waelton. Den-noch war es für Damlo ein fast heimatliches Gefühl, unter die Kaskaden aus Laubwerk zu schlüpfen. Die langen, gewundenen Äste schienen direkt vom Himmel herabzuhängen – wie dichte Haarsträhnen, von denen jede einzelne von leuchtendgrünen Blät-terspiralen umgeben war. Obwohl sich der Junge mit größter Rücksichtnahme zwischen ihnen hindurch-tastete, schwankten und wogten sie noch lange, nachdem er vorbei war, und rauschten dazu majestä-tisch.

Schließlich griff Damlos Hand ins Leere. Ein zwei Ellen breiter freier Gürtel umgab den Stamm, bei dem sechs erwachsene Männer Mühe gehabt hätten, ihn zu umfassen. Kerzengerade und glatt ragte er mindestens fünfzig Fuß hoch auf; erst in dieser Höhe führten die Hauptäste, von denen jeder so dick war wie ein gewöhnlicher Baumstamm, davon weg.

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»Du bist ganz wunderbar!« murmelte der Junge und legte die Hände an die Rinde.

»Ich bedanke mich für das Kompliment«, erwider-te eine tiefe, feste Stimme.

Einen Augenblick lang blieb Damlo das Herz ste-hen. Dann drehte er sich ruckartig um: Diesmal hatte er die Worte deutlich verstanden.

»Wer ist da?« fragte er; der schrille Ton seiner ei-genen Stimme wollte ihm jedoch nicht gefallen.

»Du bist ein komischer Kauz, mein roter Freund – erst sprichst du zu mir und dann fragst du ›Wer ist da?‹, als hättest nicht zuerst du das Wort an mich ge-richtet!«

»Bist du die Buche?« »Selbstverständlich! Das heißt – nicht genau. Aber

eigentlich doch. Also ich bin es, du hast mir ein Kompliment gemacht, und ich habe mich dafür be-dankt.«

»Aber Bäume sprechen nicht!« »Das ist allerdings wahr.« »Wer bist du also?« »Hab ich dir doch gerade gesagt! Ich bin es. Das

heißt, eigentlich ›wir‹. Das heißt: wiederum ich. Lie-ber Himmel! Es ist in deiner Sprache so schwer zu erklären… Hör mal, machen wir es so: nenn mich einfach ›Wald‹.«

»Aber auch Wälder sprechen nicht!« »Ich habe ›Wald‹ gesagt, nicht irgendein Wald!«

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»Ich verstehe es trotzdem nicht.« »Wenn du mir einen Augenblick Gesellschaft leis-

tet, werde ich versuchen, es dir besser zu erklären.« Mittlerweile hatte Damlo zwei- oder dreimal den

Stamm umrundet und war dabei hin und her ge-sprungen, um die Person zu ertappen, die sich einen Scherz mit ihm erlaubte. Sonderbarerweise verspürte er auch nicht die leiseste Angst.

Zum Fluß hin ragten dicke, gewundene Wurzeln aus der Erde, und auf die Worte des »Waldes« hin ließ sich der Junge sofort auf einer davon nieder. Ei-ne Sekunde lang dachte er an die Wurzeln des Ver-sammlungsbaumes und seinen heimlichen Traum, ehe er wieder hochschnellte. »Entschuldige! Darf ich mich auf diese Wurzel setzen?«

»Du hast gute Manieren, junger roter Freund. Setz dich nur hin wo du willst.«

»Warum nennst du mich ›junger, roter Freund‹?« »Weil du jung bist und weil du rot bist.« »Ach so, meine Haare.« Er verzog das Gesicht. »Auch die.« »Was soll das heißen: ›auch die‹?« »Es heißt: auch die. Du hast viel Rotes an dir.

Nicht nur die Haare.« »Ich verstehe nicht. Was habe ich sonst noch für

Rotes an mir?« »Sehr viel. Zum Beispiel die Farbe auf dem langen

dünnen Schweif.«

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»Aber ich habe keinen Schweif!« »Ach nein? Und was ist das, was dir da hinten run-

terhängt?« Sofort griff sich Damlo mit beiden Händen ans

Hinterteil und merkte, daß sich der Stacheldegen un-terwegs von der Hüfte zum Rücken hin verschoben hatte. Dummkopf, schalt er sich, was dachtest du denn, daß du da entdecken würdest? Hast du einen roten Fuchsschwanz erwartet, der dir da hinten plötz-lich rausgewachsen wäre?

Er zog seine Waffe unter dem Mantel hervor. »Der hier?« lachte er und fuchtelte damit vor dem Stamm der Buche herum. »Das ist bloß ein langer Stachel!«

»Ja, sag ich doch. Jeder verwendet die Wörter nach seiner Fasson und nennt die Dinge so, wie es ihm gefällt.«

»Du hast recht. Ich nenne ihn meinen Zauberde-gen, auch wenn es nur ein Stachel ist. Ich habe ihn in einer Höhle gefunden.«

»Erstaunlich. Ich hätte ihn wirklich für deinen Schweif gehalten.«

»Aber Menschen haben keinen Schweif!« lachte Damlo.

»Wenn du es so betrachtest… Es ist wie mit den Wörtern, jeder glaubt auf seine Art – und nur das, was er glauben will.«

»Das ist wirklich ein kurioser Sachverhalt«, mischte sich eine zweite Stimme ein, »und wenn du

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wissen willst, wie ich darüber denke, mein Freund, dann sage ich dir, meiner Meinung nach hat er keine Ahnung.«

Die Stimme kam vom Wasser her und klang deut-lich anders als die erste: flüssiger, murmelnder, aber ebenso majestätisch. Obwohl Damlo die einzelnen Wörter nicht genau verstanden hatte, verstummte er und blickte sich um.

»In diesem Fall muß er noch jünger sein, als es den Anschein hat«, entgegnete die Buche.

»Es ist eine Weile her, daß ich zum letzten Mal etwas so Interessantes miterlebt habe!« Je länger die zweite Stimme sprach, desto besser konnte sich Damlo auf die Art und Weise einstellen, wie sie die Wörter aussprach. Und so wurde ihm auch die Be-deutung klarer.

»Was ist so interessant?« fragte der Junge. »Mir geht es genauso, mein grauer Freund«, sagte

die Buche, ohne Damlo zu antworten. »Es muß Tau-sende und Tausende von Jahreszeiten her sein, würde ich sagen.«

»Tausende?« wiederholte Damlo ungläubig. »Natürlich! Diesen Ort gibt es seit Ewigkeiten!« »Dieser Ort?« »Ja: ich. Wald. Das heißt eigentlich: wir. Oder

doch besser: ich.« »Ich verstehe kein Wort«, sagte Damlo. »Hmmm… Wie soll ich es erklären? Versuch du

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es, Freund Sweldal. Du kommst ja auch durch Städ-te, da kannst du dich gewiß besser in seiner Sprache ausdrücken als ich.«

»Sweldal? Ich spreche mit dem Fluß Sweldal?« »Um ehrlich zu sein, ich habe den Eindruck, du

sprichst mit mir und nicht mit ihm.« »Ja, aber ich wollte sagen: Du bist der Wald und

der andere ist der Fluß.« »Das ist aber nicht nett von dir, mich ›der andere‹

zu nennen«, schmollte die Stimme vom Wasser her. »Oh, das tut mir leid, ich wollte dich nicht beleidi-

gen! Ich bin nur sehr verwirrt und begreife nicht recht, was hier geschieht.«

»Vergeben und vergessen«, gluckerte die zweite Stimme. »Man weiß ja, daß die jungen Bächlein in alle Richtungen spritzen, wenn sie zum ersten Mal auf Felsen stoßen.«

»Also du bist der Fluß und er, das heißt: du –«, Damlo wandte sich der Buche zu, »bist der Wald. Also: nur ›Wald‹.«

»Weder das eine noch das andere, rote Kostbar-keit«, kam die Stimme vom Wasser, »aber etwas ähnliches. Ich bin zwar Sweldal, dennoch bin ich nicht der Fluß selbst, und mein grüner Freund ist zwar Wald, ohne jedoch der Wald selbst zu sein. Die Menschenwesen würden uns vermutlich ›Ortsgeister‹ nennen. Weiter unten in der Stadt Botinar lebt ein al-ter Sklave, der mich zwar nicht hören kann und mich

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nicht gerade kennt, mir aber dennoch eine Freund-schaft entgegenbringt, die ich erwidere. Er nennt mich Seele des Flusses, und ich glaube, das Gleiche könnte man von uns allen sagen: Wir sind die Seele, das Wesen der Orte. Aber damit verhält es sich wie mit den Wörtern: Jeder verwendet die Begriffe nach seinem Dafürhalten. Also kannst du uns ruhig Orts-geister nennen, wenn du willst. Es gibt viele Flüsse und viele Wälder auf dieser Welt. Ich bin der Geist dieses Flusses, während mein grüner Freund der Geist dieses Waldes ist. Und das ist auch der Grund, weshalb er nicht ein Wald genannt werden will. Weil er eben er ist und kein anderer.«

»Ich wußte nicht, daß Ortsgeister sprechen kön-nen.«

»Natürlich können sie sprechen«, schaltete sich Wald ein. »Es ist nur so, daß nicht alle sie zu hören verstehen.«

»Und warum höre ich euch?« »Weil du ein rotes Juwel bist.« »Und was soll das bedeuten?« »Wenn du es nicht weißt, so heißt das, daß es zu

früh für dich ist, es zu wissen«, erklärte Sweldal. »Du mußt Geduld haben. Zur rechten Zeit wirst du es erfahren. In der Natur hat alles seinen Rhythmus; es wäre falsch, der Zeit vorgreifen zu wollen.«

»Jetzt verstehe ich vieles. Ich höre euch seit Mo-naten, aber dies ist das erste Mal, daß ich auch die

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einzelnen Wörter unterscheiden kann.« »Siehst du? Alles zu seiner Zeit.« »Also seid ihr auch dieses Zucken?« »Welches Zucken?« »Ich kann es nicht erklären, aber in meinen Ge-

danken waren sie immer so etwas wie Luftkobolde.« »Wollen mal sehen«, sagte Wald. »Also marsch,

marsch! Beeilt euch! Versammelt euch! Formiert euch! Los, wir spielen miteinander!«

Seine Stimme nahm den Tonfall eines stürmischen Rauschens in den Blättern an, und mit einem Mal entstand ein fröhliches Flattern und Flitzen rundum. Dutzende und Aberdutzende Figürchen schwebten durch die Luft, stießen einander an und trieben närri-sche Spaße.

»Genau! Die sind es!« rief Damlo lachend aus. »Es sind die Kinder«, sagte Wald und lachte mit. »Eure Kinder?« »Nein, ich habe sie bloß so genannt, damit du es

leichter begreifst. Nenn sie nur Kobolde, wenn du willst. Sie sind ich, aber vor langer, langer Zeit, und ich bin sie, aber in vielen, vielen Jahren.«

»Das verstehe ich nicht.« »Sieh mal«, versuchte es Sweldal, »an jeder Ört-

lichkeit haben zahllose Wesen teil, und jedes von ih-nen besitzt einen Geist. Jedes Blatt, jeder Zweig, jede Beere und jedes Samenkorn des Waldes; so wie jeder Tropfen Wasser, jede meiner Biegungen und jeder

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Fels, der mein Bett bildet.« »Auch die Felsen?« »Natürlich! Obwohl ihre Geister ziemlich träge

sind.« »Und wieso sehe ich nur einige Dutzend Kobolde?

Es sollten doch Tausende sein!« »Nicht Tausende – Millionen! Aber sie sind meist

winzigklein und nicht wahrnehmbar. Du siehst sie nur, wenn sie sich zusammentun, um zu spielen. So-lang sie jung sind, vergnügen sie sich und scherzen, indem sie immerzu miteinander verschmelzen und sich wieder trennen. Wenn sie älter werden, treffen manche von ihnen eine Auslese und verbringen mehr Zeit zusammen mit denen, auf die ihre Wahl gefallen ist und von denen sie sich dann weniger leicht tren-nen. Es sind weiterhin Kobolde, wie du sie nennst, aber als vielschichtige Einheit: ein Baum etwa und nicht nur ein Blättchen; ein ganzer Brombeerstrauch, und nicht nur eine Ranke oder eine Beere.«

»Wunderbar vorgetragen!« unterbrach ihn Wald. »Siehst du, rotes Kleinod, mit der Zeit schließen sich die Kobolde immer enger zusammen und kommen zu… einer Gestalt? Einem Namen? Hmmmm… Wie schwierig deine Sprache doch ist!«

»Persönlichkeit«, half ihm Sweldal auf die Sprün-ge.

»Ja, genau! Und dann, am Ende, vereinigen sie sich schließlich mit mir und tragen dazu bei, diesen

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Ort zu bilden.« »Und wie kommt es, daß sie hin und wieder

menschliche Gestalt annehmen?« »Weil sie dich hören«, antwortete Sweldal, »und

dann formen sie sich nach deinem Abbild. Sie haben noch keine umrissene Persönlichkeit und sind dau-ernd auf der Suche nach neuen Spielen. Es macht ih-nen Spaß, immer neue Gestalt anzunehmen, und da-bei lassen sie sich von Gefühlen und Erwartungen beeindrucken, die sie wahrnehmen.«

»Aber sie sprechen nicht, oder?« »Nicht wie wir, und in diesem Stadium können sie

auch nicht auf dich einwirken – dich berühren, etwa. Aber sie haben eine ganz eigene Art sich mitzuteilen und haben keine Mühe sich auszudrücken.«

»Das ist wahr. Einmal haben sie mich schon vor der Waelton-Legion gerettet und ein anderes Mal ha-ben sie mich dazu bringen wollen, die Hände von ei-nem gefährlichen Gegenstand zu lassen.«

»Seltsam«, bemerkte Sweldal, »sonst mischen wir uns nicht in die Angelegenheiten von Menschen.«

»Warum?« »Um ehrlich zu sein – ich weiß es nicht. Aber es

war immer schon so.« »Schade. Ich wollte euch gerade um euren Bei-

stand bitten, weil ich gleich etwas Gefährliches vor-habe.«

»Aber du weißt… aber weißt du nicht…

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hrrrmmm…« sagte Wald. »Also ich habe das Gefühl, du bist ein ganz besonderer Fall. Was denkst du, grauer Freund?«

»Vielleicht hast du recht, grüner Freund. Schließ-lich kann er uns hören und sehen.«

»Also sehen – nein«, sagte Damlo. »Ach nein?« entgegnete Wald und ließ sein

Laubwerk spöttisch rauschen. »Und an wen glaubst du vor kurzem deine Hände gelegt zu haben, hm?«

»An die Hängebuche, aber du bist der… Wenn du Wald bist, kannst du nicht eine einzelne Buche sein. Du bist doch dieser ganze Wald, oder?«

»Aber auch seine Teile, nicht nur das Ganze. Und im besonderen bin ich diese Buche. Wenn wir älter werden, suchen wir Ortsgeister uns lieber ein be-stimmtes Wesen aus, um es zu bewohnen, statt uns dauernd wie die Kinder herumzutreiben.«

»Ebenso ergeht es ja den Menschen«, erklärte Sweldal. »Jeder von ihnen hat in seiner Wohnung ei-ne Lieblingsecke. So verhält es sich auch bei uns, nur: Wir werden zu dieser Ecke.«

»Wo wohl der Geist von Waelton wohnt?« »Wenn es sich dabei um dein Dorf handelt, dann

hat es vielleicht gar keinen Geist. Künstlich geschaf-fene Orte, die einen besitzen, sind äußerst selten. In den Städten leben nur ganz wenige von uns, und wenn doch einmal, dann nur an den ältesten Stellen.«

»Waelton ist aber etwas Besonderes, und ich bin

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sicher, es hat einen Geist. Aber das ist wahr, im Dorf bin ich noch nie einem Luftkobold begegnet.«

»Sie zeigen sich nur, wenn es ihnen paßt. Sie ver-einigen und formieren sich eher, wenn du gerade von einem starken Gefühl beherrscht wirst, weil sie dich so besser wahrnehmen. Dann lassen sie sich davon beeinflussen. Aber selbst in diesem Fall hängt es von der Art des Gefühles ab – und von der Stimmung, in der sie sind.«

»Vorhin, in der Hütte des Fährmannes, habe ich sie nicht gesehen. Aber meine Gefühle hätten ihnen auch gewiß nicht gefallen.« Damlo verzog den Mund. »Jedenfalls muß ich jetzt dorthin zurück. Werdet ihr mir helfen?«

»Und wie denkst du dir das?« fragte Sweldal. »Ich weiß nicht. Ihr könntet die Banditen ablenken

oder sogar in der Hütte einsperren!« »Nein, rote Knospe«, sagte Wald, »das können wir

nicht. Aber ich kann dir verraten, daß sie drinnen schon vollzählig versammelt sind. Vielleicht könnte ich dich sogar warnen, falls sie rauskommen, aber ich wüßte nicht, wie ich so mit dir reden könnte, wie ich es hier tue. Das dort ist eine menschliche Behau-sung, und da fühle ich mich nicht wohl. In einer sol-chen Umgebung fühle ich mich viel weniger leben-dig.«

»Danke. Aber selbst ein plötzliches Blätterrau-schen in deiner Krone wäre schon eine unschätzbare

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Hilfe. Doch jetzt sage ich euch adieu; denn ich muß wirklich weg.«

»Das kommt aber überstürzt«, bemerkte Sweldal. »Du hast recht, entschuldige bitte. Auch du, Wald.

Aber meine Freunde erwarten mich, und ich muß mich beeilen, sonst denken sie, es ist mir etwas zuge-stoßen.«

»Er ist wirklich ein sehr junger Sproß«, sagte Wald. »Er ist noch nicht mal ganz ausgekeimt, und schon will er Blätter ansetzen!«

»Ja, ja«, fügte Sweldal wohlwollend hinzu, »ein richtiges Frühlingsbächlein.«

»Geh nur, mein roter Freund, geh nur. Es war uns eine Freude, dich kennenzulernen!« verabschiedete ihn Wald.

»Auch für mich!« rief Damlo und wand sich er-neut durch das Gewölbe aus Blättern, »auf Wieder-sehen euch beiden!«

Eine Dreiviertelstunde später hockte Damlo hinter einem buschigen Mäusedorn am äußersten Rand des Vorplatzes und beobachtete das Fährmannshaus. Es regnete wieder, und so hatte sich der Junge die Ka-puze des Umhanges über den Kopf gezogen. Wie von Wald vorhergesagt, war niemand zu sehen. Doch aus der angelehnten Tür der Holzhütte drang, ge-dämpft vom Rauschen des Regens, Geschrei und Ge-lächter. Immer darauf achtend, hinter den Bäumen in

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Deckung zu bleiben, umrundete der Junge den gan-zen freien Platz, bis er hinter der Hütte angelangt war.

An ihrer Rückseite standen dreizehn Pferde, fest-gebunden an einem langen waagerechten Balken.

Jetzt konnte sich Damlo nicht mehr einreden, er wolle nur einen schnellen Blick riskieren und sonst nichts. Er spürte schon, wie sich sein Herz ängstlich zusammenzog. Aber es war nicht wie sonst diese entsetzlich lähmende Angst, sondern ein seltsames Hochgefühl, das ihn mit Energie erfüllte und wie ein erregender Vorgeschmack dessen, was auf ihn zu-kam, durch seinen ganzen Körper lief. Als ginge es um einen gut geplanten Streich, auf den sich das Op-fer soeben anschickte hereinzufallen …

Das freie Gelände bis zur Hütte – etwa dreißig Schritt – war übersät von niedrigem Gestrüpp, Un-kraut und jungen Bäumchen. Ziemlich unordentlich, fand Damlo. Dann fiel ihm ein, daß der Fährmann erst seit kurzem verheiratet gewesen war – und dann dachte er an den Leichnam der jungen Frau und er-schauerte.

Gebückt von einem Strauch zum anderen hu-schend, näherte er sich den Pferden. Sie waren ner-vös; sie stampften mit den Hufen und schnaubten hin und wieder laut. Als er noch etwa zehn Schritte von ihnen entfernt war, nahm Damlo einen süßlichen und leicht ekelerregenden Geruch wahr. Er erinnerte ihn

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an etwas Bestimmtes, doch so sehr er sein Gedächt-nis auch anstrengte, es wollte ihm nicht einfallen. Doch kaum hatte er die Suche danach aufgegeben, stand ihm die Szene plötzlich vor Augen: Waelton, der Baum des Metzgers und ein Schwein, das mit dem Kopf nach unten über einem Faß hing.

Jetzt wußte er, wonach er suchen mußte, und tat-sächlich, er fand es sofort: Nicht weit entfernt und nur halb verborgen von dem allgegenwärtigen Ge-strüpp lagen die nackten Leichen der Banditen und des Schwarzen Degens. Auch der Rabe war dort; sein Schnabel stand weit offen und war von der ro-ten, körnigen Masse vollständig bedeckt. Der Geruch von Blut, dachte Damlo: Das ist der Grund, weshalb die Rösser so unruhig sind!

Er schlich noch näher. Im Grunde verstand er nicht viel von Pferden, aber unter diesen Tieren hätte wohl auch ein Blinder den Hengst des Schwarzen Degens erkannt. Hochbeinig und mit starken Schul-tern, elegantem Kopf und aufmerksam aufgerichteten Ohren hätte der Fuchs selbst in den Stallungen eines Königs keine schlechte Figur abgegeben. So wie die anderen Pferde war auch der Hengst noch gesattelt, doch im Gegensatz zu den übrigen Tieren schien ihn der Blutgeruch nicht zu stören. Damlo stellte sich ihn eingespannt in der Deichsel des Wagens vor – eine Krone aus Saphiren auf dem Schädel eines Schwei-nes…

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Immer noch besser als in der Hand der Banditen, sagte er sich und bewegte sich vorsichtig auf die Hütte zu. Auf dieser Seite gab es nur ein einziges Fenster, das halb offen stand. Von dort bis zu dem Balken, an dem die Pferde festgemacht waren, waren es weniger als drei Schritte, und um die Zügel zu lö-sen, mußte Damlo am Fenster vorbei, denn die Ner-vosität der Tiere war viel zu groß, um sich zwischen ihren stampfenden Hufen hindurchzuschlängeln.

Als er die Wand aus unbehauenen Stämmen er-reichte, hörte er fast unmittelbar neben sich Gebrüll, Flüche und Lachsalven. Jetzt präsentierte sich seine Angst in anderer Gestalt: Sie vibrierte nicht mehr er-regend in seinem Inneren, sondern verursachte ihm als zäher Klumpen ein beklemmendes Gefühl unter dem Brustbein.

Der Hengst war genau unter dem Fenster festge-bunden. Damlo wußte, es bedeutete ein verrücktes Risiko, ausgerechnet dieses Tier stehlen zu wollen; doch für den Fall, daß sich die Banditen an seine Verfolgung machten, würde er sie mit diesem Pferd weit hinter sich lassen können. Lautlos kam er bis zu den Fensterläden. Und in diesem Augenblick hörte es auf zu regnen.

Nun, da ihm die kümmerliche Sicherheit genom-men war, die ihm das Prasseln des Regens geschenkt hatte, fühlte sich der Junge völlig ausgeliefert und schutzlos. Ein paar Sekunden lang hörten alle seine

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Sinne auf zu arbeiten und ließen ihn in einer mit nichts als Panik gefüllten Leere zurück. Und dann erwachten sie mit einem Schlag in einer Explosion von Wahrnehmungen.

Er konnte jeden winzigen Splitter und jede Schramme in den Stämmen sehen, aus denen die Wand gefertigt war. Bei jedem einzelnen von ihnen traten die Linien der Maserung und ihre Farbe scharf hervor, wobei Damlo die Skala der Farbtöne unge-wöhnlich umfangreich erschien. Er konnte die ein-zelnen Haare im Fell der Pferde unterscheiden, und die Regentropfen, die noch an den Grasbüscheln hin-gen, waren so klar und rein wie kostbare Edelsteine. Vor dem beständigen Rauschen des Flusses im Hin-tergrund vernahm er das sporadische Tröpfeln des Wassers, das noch von den Blättern und vom Dach der Hütte troff. Es waren tausend einzelne Stimmen, die alle zu ihm sprachen, ohne sich zu überlagern, und die ihm jede für sich ihre eigene Geschichte er-zählten. In der Luft lag neben dem strengen Geruch der Pferde auch der Duft des nassen Grases und der Gestank nach Blut – dazu der Geruch nach Rauch, nach gebratenem Fleisch, nach schalem Bier und selbst ein feiner Einschlag der roten, körnigen Sub-stanz auf dem Rabenschnabel. Damlo war sogar in der Lage, den dumpfen Gestank nach Schmutz und ranzigem Fett auszumachen, den die Banditenkörper im Inneren der Hütte verströmten.

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Der Hengst sah ihn ruhig an und spitzte die Ohren in Damlos Richtung. Ganz langsam streckte der Jun-ge die Hand aus und löste die Zügel vom Balken. Dann kroch er auf allen vieren an das Tier heran und kraulte ihm das Fell über den Muskeln der Brust. Der Fuchs senkte den Kopf, verfolgte Damlos Tun ein Weilchen und hob ihn wieder, als wäre nichts ge-schehen. Der Junge spürte, wie sich ihm vor An-spannung die Haare sträubten, und richtete sich auf. Schritt für winzigen Schritt, damit sich das Geräusch der Hufe nicht vom leisen Scharren unterschied, wenn ein Tier die Haltung änderte, führte Damlo den Hengst rückwärts aus der Reihe.

Während er den Sattelgurt festhielt, überkam ihn ein überwältigendes Hochgefühl: Er hatte es ge-schafft! Selbst wenn die Banditen in diesem Augen-blick aus der Tür gestürmt wären, hätte er nur noch auf das Pferd springen und im Galopp davonreiten müssen.

Schon sah er sich im Geist bei den Zwergen her-anpreschen und hörte sich mit aller Nonchalance, die er aufbieten konnte, sagen: »Ich dachte mir, wozu mit dem Warten auf den neuen Esel vier Tage verlie-ren, wenn ich uns doch ganz leicht ein Pferd ver-schaffen kann…« Sie mochten ihn mit großen Augen anstarren und ihn fragen: »Und die Banditen?« Wor-auf er nur lässig antworten würde: »Sie haben mich natürlich verfolgt, aber ich habe das schnellste Pferd

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gewählt, und so konnten sie mich nicht einholen.« Er erstarrte. Die Banditen würden ihn tatsächlich

verfolgen, denn er konnte nicht zum Flußufer gelan-gen, ohne entdeckt zu werden. Und auch wenn ihre Pferde den Hengst nicht einholen konnten, sie wür-den ihn doch den Fluß hinabhetzen, bis sie alle mit-einander am Floß ankamen! Entsetzt zitterte er.

Es gab nur einen einzigen Weg, um zu verhindern, daß ihn die Männer verfolgten: Er mußte alle Pferde mitnehmen. Also bückte er sich, führte den Hengst behutsam an ein Ende der Reihe und schlang die Zü-gel lose um den Balken. Die Angst war nun zu einem massiven Block geworden, der schwer in seinem In-neren lastete und ihm den Atem raubte.

Langsam, Zoll für Zoll, schlich Damlo gebückt bis zu dem Pferd am anderen Ende der Reihe, und rich-tete sich wieder auf. Er hatte vor, die Tiere aneinan-der festzubinden, aber die Finger zitterten ihm der-maßen, daß er den Eindruck hatte, sie würden ab-sichtlich aneinanderschlagen. Schließlich gelang es ihm, die Zügel des ersten Tieres loszumachen.

In diesem Augenblick strich der Wind durch die Baumwipfel und pfiff hämisch an den halb offenen Fensterläden vorbei. Fast hätte Damlo vor Angst zu weinen begonnen, denn er mußte fürchten, daß jeden Augenblick einer der Banditen auf die Idee kam, das Fenster zu schließen – oder, noch schlimmer, es ganz zu öffnen. Er unterdrückte die Tränen, machte ein

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Pferd nach dem anderen vom Balken los und befes-tigte die Zügel am Sattel des Nachbarn.

Dann ergriff er den Fuchshengst am Zaum, brachte seinen Mund dicht ans Ohr des Tieres und erläuterte ihm in aller Kürze die Lage. Wenn es ihm nicht half, die anderen Pferde zum Fluß zu bringen, erklärte er, würden die Banditen erst ihn und dann die Zwerge ergreifen, um sie dann alle drei zu foltern und zu tö-ten – was ungefähr so häßlich wäre wie die Ermor-dung eines Fohlens durch ein Rudel Wölfe. Das Wichtigste, legte Damlo dem Tier ans Herz, war, sich leise zu bewegen und nicht zu wiehern, ehe sie nicht um die Hütte herum und drüben auf dem Vor-platz waren. Danach hinge alles vom Tempo ab.

Der Hengst sah Damlo mit einem so klugen Blick an, daß der Junge einen Augenblick lang schon fast mit einer Antwort rechnete. Er kraulte ihm den Hals, und das Tier revanchierte sich mit einem freundli-chen Stups gegen Damlos Brust.

Es schien, daß der Hengst die Lage tatsächlich vollkommen begriffen hatte, denn kaum saß der Jun-ge im Sattel, da machte er zwei langsame Schritt-chen, um der ganzen Pferdeschlange hinter sich ein Startzeichen zu geben, ehe er sich richtig in Bewe-gung setzte und um die Ecke der Hütte bog.

Dahinter stand ein Bandit.

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Erst in diesem Augenblick wurde Damlo bewußt, daß der Wald – oder besser nur »Wald« – seit einer ganzen Weile äußerst sonderbar gerauscht hatte. Der Mann hier

war jedenfalls damit beschäftigt, gegen die Hütten-wand zu pinkeln, und als er den Jungen auf dem Fuchshengst erblickte, riß er den Mund auf und schnappte nach Luft, ohne ein Wort hervorzubringen. Dann, als er bemerkte, daß Damlo auch alle anderen Pferde hinter sich herführte, versiegte ihm sogar das Wasser, das er abschlagen wollte.

Vor Angst erstarrt, hatte der Junge nur einen Ge-danken: wie ungerecht das alles war. Das Unterneh-men war doch beinahe schon gelungen! Dieser Mann durfte einfach nicht da sein! Und so entschied er – anstatt dem Hengst die Sporen zu geben und den Gegner einfach niederzureiten – ganz einfach und ohne zu denken, daß hier kein Bandit stand. Es lief

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ab wie in einem von seinen Spielen, wo Orks und Steinbrücken nach Lust und Laune zum Erscheinen oder zum Verschwinden gebracht werden konnten.

Ungläubig fuhr der Mann fort, Damlo mit offenem Mund anzustarren.

Der Junge wollte vor Scham in den Boden versin-ken; sie hatten wirklich recht, der Onkel und die Tan-te: Er mußte sich beherrschen und endlich seine Phantastereien sein lassen, sonst würde es mit ihm noch ein schlechtes Ende nehmen. Eigentlich hatte es schon ein schlechtes Ende genommen! Wenn er nicht bald etwas Kluges unternahm – ja, wenn er es nicht sofort unternahm …

»Einen schönen Tag, mein Herr!« rief er, um sich sogleich dumm und töricht zu schelten und noch starker zu erröten.

Der Mann antwortete mit einem unartikulierten Knurren, das immer lauter wurde und angesichts des-sen Damlo das Denken einstellte.

»Voller Galopp!« schrie Damlo und versetzte dem Hengst einen Klaps. »Schnell, schnell! Die Wölfe, die Wölfe!«

Der Bandit erschrak. Ohne sich auch nur die Ho-sen zu richten, stieß er eine Reihe lauter Flüche aus, holte ein langes Messer aus dem Gürtel und stürzte sich auf den Jungen.

Das erwies sich als Fehler. Damlos Geschrei hatte den Fuchs nicht aus der Ruhe gebracht, den Schlag

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auf die Kruppe hatte er vielmehr als freundschaftli-che Geste empfunden. Doch der Hengst war ein er-fahrenes Streitroß, und beim Anblick eines Mannes, der sich ihm, mit einer Klinge fuchtelnd, entgegen-warf, reagierte er blitzartig. Mit einem lauten Wie-hern stieg er hoch und versetzte dem Banditen mit den Vorderhufen ein, zwei heftige Stöße gegen die Stirn. Dann schüttelte er die Mähne, ehe er im Ga-lopp losrannte; und alles, was hinter ihm kam, hielt gezwungenermaßen mit ihm Schritt.

Die Herde stürmte schon an der Tür vorbei, als die ersten Banditen aus der Hütte auftauchten. Es gelang ihnen nicht, auch nur die Schwanzspitze des letzten Pferdes zu streifen.

Alles, was Damlo über das Reiten wußte, hatte er in Waelton gelernt, das gewiß nicht als typisches Rei-terdorf gelten konnte. Und so mußte Damlo entde-cken, daß zwischen dem Ritt auf einem Schlachtroß und dem gemächlichen Herumhocken auf den Kar-rengäulen der Händler ein gewaltiger Unterschied bestand. Dieses Tier schoß voran, als hätte es Feuer im Hintern, und in Kürze schaffte es der Junge kaum mehr, sich im Sattel zu halten. Außerdem hatte der Fuchs die Richtung zum Wald eingeschlagen und nicht zum Fluß.

Wie konnte ihn Damlo davon abbringen? Als der Hengst hochgestiegen war, hatte der Junge die Zügel

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fallen lassen und sich mit beiden Händen in die Mähne gekrallt. Wie zu erwarten, waren bereits nach wenigen Schritten die Lederriemen unter die Hufe des Hengstes gekommen und mit einem kurzen, tro-ckenen Schnalzen gerissen.

Tausendmal hatte Damlo gelesen, wie die Helden aus den Geschichten ihr Roß allein mit den Knien di-rigierten, und als er das Gefühl hatte, einigermaßen sicher im Sattel zu sitzen, probierte der Junge das auch.

Als er den Versuch schließlich aufgab, galoppierte der Pferdezug schon seit einer ganzen Weile durch den Wald und auf die Grasebene zu, aus der sie ge-kommen waren.

Doch dann blieb der Hengst plötzlich ohne Dam-los Zutun stehen und begann an einem Büschel jun-gen Grases zu knabbern. Die Hütte lag nun schon meilenweit hinter ihnen, und von den Banditen droh-te keine Gefahr mehr, also stieg Damlo ab und be-gann, in aller Ruhe in den Satteltaschen zu kramen. Er hatte Glück: Eigentlich war er nur auf der Suche nach einem Strick gewesen, doch was er fand, war ein fix und fertiger Halfter. Nachdem er also dem letzten Pferd in der Reihe die Zügel abgenommen hatte, um sie dem Fuchshengst anzulegen, konnte er es mühelos wieder mit dem Tier vor ihm verbinden. Dann war Damlo in der Lage, zum Fluß zurückzu-kehren.

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Die Zwerge brauchten jedoch nur ein Pferd. Was sollte er mit den anderen zwölfen anfangen? Er wuß-te, er konnte sie weder einzeln noch aneinander fest-gebunden freilassen. Im ersten Fall würde jedes für sich zur Hütte zurückkehren, im anderen Fall mußten die Banditen sie spätestens am nächsten Tag irgend-wo entdecken. Und wenn sie sich dann entschlossen, den Fluß schwimmend zu durchqueren, wäre es ih-nen zu Pferde ein leichtes, den Wagen einzuholen – vielleicht sogar des Nachts. Viel zu gefährlich.

Und so blieb Damlo nichts anderes übrig, als die ganze Herde mitzuschleppen. Aber wie war mit dem ganzen Rattenschwanz an Pferden ein Durchkommen im Wald möglich? Während seines Marsches zur Hütte hatte er mehr Zeit damit verbracht, sich unter Ästen durchzuducken, als mit einem normalen, auf-rechten Gang. Die Pferde konnten das nicht schaffen.

Er seufzte. Es blieb nichts anderes übrig, als wie-derum am Fährmannshaus vorbeizuziehen. Doch vermutlich waren die Banditen ohnehin wieder in die Hütte zurückgekehrt, denn welchen Grund hätten sie gehabt, draußen im Freien zu bleiben? Ganz gewiß rechneten sie nicht damit, daß Damlo sich nochmal in ihre Nähe wagte! Also würde er mit samt seinem Gefolge den Platz im Galopp überqueren und ihnen wieder einmal eine lange Nase drehen! Im vollen Bewußtsein des eigenen Übermutes grinste er vor sich hin, als er auf den Hengst kletterte.

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Jetzt, da der Junge nicht mehr so stark unter Span-nung stand, nahm er sich die Zeit, den prachtvollen Sattel genauer zu betrachten. Das mit Silber und Kupfer verzierte, rötlichbraune Antikleder war mit Öl behandelt und poliert, um es weich und glänzend zu halten. Der brünierte silberne Sattelknauf trug ein goldenes Täfelchen, auf dem ein Name eingraviert war: Zurkin von Eranto. Nach der Qualität von Pferd und Sattel zu schließen, mußte der Schwarze Degen äußerst wohlhabend gewesen sein.

»Zurkin«, murmelte er in Gedanken versunken vor sich hin. Der Hengst schnaubte leise, drehte den Kopf und sah den Jungen an. »Ja, du heißt Zurkin. Und ich heiße Damlo. Es freut mich, deine Bekannt-schaft zu machen.«

Er dirigierte den Hengst in die Richtung der Fähr-mannshütte. Dreizehn Pferde im Galopp geben einen ganz hübschen Lärm, dachte er; wie weit können wir uns heranwagen, ehe sie uns hören? Mit dem Rau-schen des morgendlichen Regenschauers im Hinter-grund wäre es wohl bis zum Rand des Platzes zu schaffen gewesen, schätzte Damlo. Aber nun regnete es nicht mehr, und er konnte nicht riskieren, von den Banditen zu früh gehört zu werden. Im Schrittempo bis zum Vorplatz, entschied er, und von dort weiter im vollen Galopp …

Eine halbe Stunde später konnte er aus der Ferne bereits die Stelle sehen, wo die Straße auf den Platz

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einmündete. »Jetzt heißt es dahinjagen, so schnell wie der Wind, Zurkin! Und danach gehen wir aus-giebig schwimmen.«

Sanft stieß er dem Hengst die Fersen in die Seiten. Das Tier stürmte los und wurde immer schneller, bis das Erdreich unter seinen Hufen wegflog. Es sah fast so aus, als könnte es das Tempo bis in alle Ewigkeit steigern, denn jeder Schritt schien leichtfüßiger als der vorangegangene. Die anderen Pferde ermüdeten nach und nach, und die Zügel, mit denen Damlo sie untereinander verbunden hatte, waren straff ge-spannt.

Der Boden dröhnte unter den Hufen, als sie auf dem Platz rund um die Hütte einritten und sich sofort zum Fluß wandten. Ein wenig mußte Damlo die Richtung korrigieren, indem er den Hengst etwas flußabwärts lenkte. Erst dort, wo der Uferwald be-gann, wollte er ins Wasser; schwimmend würden die Pferde nur langsam vorankommen, und er wollte vermeiden, daß die Banditen am Ufer entlangrennen und sie einholen konnten, um bei erster Gelegenheit ins Wasser zu springen und sich Damlo mit seiner Herde zu schnappen.

Mit keinem einzigen Blick streifte er die Hütte; er war viel zu beschäftigt damit, sich im Sattel zu hal-ten. Zurkin schien zu fliegen, und seine Hufe schleu-derten Steine und Matschklümpchen vom Boden hoch. Erst im letzten Augenblick wurde Damlo be-

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wußt, daß diese Geschwindigkeit im Wasser nicht aufrechtzuerhalten war, und blitzartig stellte er sich vor, wie ein Dutzend Pferde von hinten auf ihn ein-stürzte, weil der Hengst es einfach nicht schaffen konnte, sich rechtzeitig weit genug vom Ufer zu ent-fernen.

Doch es blieb ihm kaum Zeit, sich zu ängstigen. Mit dem letzten weiten Satz versank Zurkin in den Fluten, während rund um ihn enorme Fontänen hochspritzten. Der Junge hielt sich fest, starr vor Schreck. Doch dann geschah etwas Seltsames: Die Wassertröpfchen spielten verrückt; statt einfach zu-rückzufallen, drehten sie sich in der Luft, blähten sich auf und formten eine Woge aus perlendem Schaum, die den Fuchs etliche Fuß hochhob, ehe sie mit natürlicher Eleganz seitlich unter ihm wegglitt und ihn in Sicherheit entließ.

Und so spielte es sich bei allen Pferden ab. Jedes-mal, wenn eines ins Wasser des Sweldal sprang, wurde es von einer schäumenden Wiege empfangen, die das Tier umfaßte, es hochhob und aus der Gefahr trug.

Damlo war sofort klar, was geschehen war; froh-gemut brachte er die Tiere ein Dutzend Ellen vom Ufer weg, wo ihnen die Strömung helfen sollte, sich rascher von dem offenen Platz zu entfernen. Dann erst drehte er sich zur Hütte um. Die Banditen liefen keuchend in seine Richtung, ohne die geringste

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Hoffnung, ihn einholen zu können. Da brach der Junge in ein verrücktes Gelächter aus

und winkte ihnen grüßend zu. Dann senkte er, immer noch lachend, die Hand und streichelte die Wellen des Flusses. »Das bist du gewesen, richtig?«

»Wer sonst«, antwortete Sweldal. »Aber sieh zu, daß ich es nicht nochmals tun muß, verstanden? Es ist furchtbar anstrengend!«

»Bestimmt nicht!« versprach Damlo. »Und tau-send Dank! Tausend, tausend Dank!«

Er lachte auf der ganzen Strecke und kam derma-ßen aufgeregt und glücklich beim Floß an, daß er das lässige Gehabe, das er vorbereitet hatte, ganz vergaß.

In der Zwischenzeit hatten die Zwerge ihre Hausauf-gaben gemacht: ein Flechtwerk aus Zweigen, über-zogen mit einem Umhang und an einer Stange befes-tigt, das ihnen als Ruder jedoch keinen besonders hoffnungsvollen Eindruck machte.

Als er in der Ferne die Kolonne den Fluß herab-kommen sah, verlor Irgenas keine Sekunde, um den ärgerlichen Clevas darauf hinzuweisen. Es waren zwar nur Pünktchen zu erkennen, aber die Zwerge dachten sogleich an die Banditen, und als sie nach einer Weile Damlo an der Spitze des Zuges bemerk-ten, rissen sie verblüfft die Augen auf. Im ersten Moment nahmen sie an, der Junge wäre auf ein Bau-ernhaus gestoßen – doch dann erinnerten sie sich,

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daß es in der Umgebung keine Bauern gab, daß er nicht genügend Geld bei sich hatte und daß er jeden-falls nicht gleich eine ganze Herde gekauft hätte. Erst dann kamen ihnen die Pferde der Banditen in den Sinn, aber sie weigerten sich, an diese Möglichkeit zu glauben: Sie hielten Damlo für zu besonnen, um eine solche Narretei zu wagen. Und sie nahmen die Wahrheit nur darum hin, weil ihnen nach zahlreichen Erklärungsversuchen in alle denkbaren Richtungen keine plausible Alternative einfiel. Entgeistert sahen sie zu, wie der Junge mit seinem Gefolge näher kam.

Sichtlich vor Stolz platzend, brachte Damlo die Pferde nahe ans Ufer, wo sie mit den Hufen den Grund erreichen konnten; erst dann kletterte er auf das Floß, breitete die Arme aus und grinste.

Die Zwerge fanden die Sprache schlagartig wieder und fingen an, gleichzeitig auf Damlo einzureden. Sie schimpften den Jungen tüchtig aus, während sie ihm gleichzeitig wohlgefällig auf die Schultern klopften und sich schließlich auf eine Mischung aus Vorwürfen und Komplimenten einigten. Sie schienen darin wettzueifern, sich abwechselnd als der Stolzere und als der Wütendere zu erweisen.

Schließlich waren die Pferde am Floß festgemacht, und die drei ließen sich ans andere Ufer des Sweldal ziehen. Sie landeten zwar erst einige Meilen weiter flußabwärts, doch an einer mit Kies bedeckten Stelle, deren Hinterland einigermaßen frei von Bewuchs

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war, was es dem Wagen erlaubte, die Grasebene zu erreichen. Von dort aus wandten sie sich wieder in die Richtung, in der sie die Straße wußten, und erst nachdem sie sie erreicht hatten, schlugen sie ihr Nachtlager auf.

Später, am Feuer, mußte Damlo sein Unternehmen so oft in allen Einzelheiten schildern, daß er schließ-lich mitten im Wort einschlief.

An den folgenden Tagen blieb der Junge nur selten auf dem Wagen, und dann verbrachte er fast die gan-ze Zeit mit dem Schnitzen des Storches. Ansonsten durchstreifte er ungeachtet der darüber besorgten Zwerge das flache Grasland kreuz und quer auf Zur-kins Rücken.

Der Hengst war ein Tier von Rasse und Tempera-ment. Er lief nicht nur schnell wie der Wind, sondern zeigte seine lebhafte Persönlichkeit auch sonst in je-der Sekunde. Das bedeutete, daß anfangs nicht alles glatt ging und Zurkin einfach tat, was ihm gefiel. Wahrscheinlich fragte er sich, warum um alles in der Welt sich dieses Menschenjunge auf seiner Kruppe so unmanierlich hin und her warf und jedesmal, wenn er über das kleinste Hindernis hinwegsetzte, aus dem Sattel purzelte. Dennoch mußte Damlo seine Sympathie geweckt haben, denn nach einem kurzen, scharfen Galopp kehrte der Fuchs stets zu dem Jun-gen zurück, nachdem dieser im Gras gelandet war.

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Dann blickte er ihn mit seinen klugen Augen an, wie um zu sagen: »Also, wollen wir wieder?« Und der Junge wollte; hartnäckig, wie er war, ignorierte er Beulen und blaue Flecken ganz einfach.

Zum Glück begriff Damlo, daß sie beide dasselbe wollten, nämlich die Welt durchstreifen und den Wind, das Grasland und den Duft der Blumen genie-ßen. Und so gelang es ihm, den Hengst halbwegs zu-friedenstellend zu kontrollieren – wenn man neben-sächliche Kleinigkeiten wie die exakte Richtung, die einzuschlagen war, oder den genauen Moment, in dem man anhalten oder losgehen sollte, außer acht ließ.

Dann begann Damlo die Regeln des Spieles zu durchschauen. Zurkin war ein gut geschultes Pferd, das war ihm klar: Auf bestimmte Signale reagierte er ganz instinktiv mit bestimmten Handlungen. Aber andererseits war er auch ein zu nobles Tier, um schlichte Befehle auszuführen. Und daher, so schloß der Junge, betrachtete der Fuchs das Ganze zweifel-los als äußerst unterhaltsames Geschicklichkeitsspiel, bei dem seine Rolle darin bestand, blitzschnell zu re-agieren, und jene des Reiters darin, die eigenen Wünsche in klaren und präzisen Worten vorzutragen.

Angesichts der Feinfühligkeit des Hengstes erwies sich für Damlo das Beibehalten seiner Rolle als schwieriges Unterfangen. Es reichte, den Fuchs mit einem Absatz seines Schuhes zu streifen oder ein

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Bein zufällig in eine andere Lage zu bringen, daß er wie von der Tarantel gestochen hochfuhr, im Galopp davonschoß – oder schlagartig stehenblieb. Wenn dann Damlo – nachdem er den Sattel erneut erklom-men hatte – versuchte, den Befehl zu wiederholen, reagierte Zurkin ganz anders darauf als beim ersten Mal; üblicherweise fing er an, friedlich zu grasen.

Doch langsam gewöhnte sich der Junge daran, sei-ne Bewegungen zu dosieren. Er begann, die eigene Haltung auf dem Pferd zu spüren, und lernte, sich mit ihm zu verständigen, indem er einfach das eigene Gewicht verlagerte. Dies zusammen mit dem Um-stand, daß Damlo schließlich das richtige Maß an Kraft fand, das bei den Zügeln einzusetzen war, hatte zur Folge, daß Zurkin aufhörte, sich jedesmal, wenn Damlo ihn zu einer Richtungsänderung bewegen wollte, wie ein Kreisel zu drehen oder sich überhaupt nicht zu regen.

Am dritten Abend, als die Zwerge das Lager in ei-nem kleinen Eichenwäldchen aufschlugen, gesellte sich der Fuchs zum ersten Mal den dreien am Feuer zu, statt sich wie sonst bei den anderen Pferden auf-zuhalten.

Zwischen den Deichselstangen hatte Damlo das kräftigste Tier eingespannt – einen grottenhäßlichen Wallach, den der Junge »Seine Majestät« nannte. Obwohl ihn die mächtigen Muskelstränge geradezu deformiert wirken ließen, benahm er sich aufgebla-

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sen und behandelte die übrigen Tiere von oben her-ab. An diesem Abend nahm ihm Damlo, nachdem er Zurkin versorgt hatte, das Geschirr ab und striegelte ihn gehörig. Dann ergriff er seine Steinschleuder und verschwand zu Fuß zwischen den Bäumen.

Nach weniger als einer halben Stunde kehrte er ins Lager zurück; an seinem Gürtel hingen drei Kanin-chen. Sie waren an seinem letzten Sturz des Tages schuld gewesen, erzählte er den Zwergen: Bei der Rückkehr zum Wagen war Zurkin mit einem Huf in den Eingang eines Kaninchenbaues geraten. Der Fuchs hatte keinen Schaden genommen, doch er, Damlo, war durch die Luft geflogen und in einem Gewimmel herumhüpfender Pelztierchen gelandet, die in alle Richtungen davonstoben.

»Ich hab’s dir schon tausendmal gesagt«, brummte Clevas, während er zwei Kaninchen für den Schmor-topf vorbereitete, »du wirst dir noch den Hals bre-chen, wenn du weiter auf diesem Teufelsbraten rei-test!«

»Inzwischen habe ich gelernt zu fallen«, lachte Damlo. »Übung macht den Meister…«

»Na ja. Du bist wirklich ein Dickkopf. Könntest auch ein Zwerg sein«, schmunzelte Irgenas, während er das dritte Kaninchen enthäutete.

Sie hatten beschlossen, es gleich über dem Feuer zu braten. Lange genug hatten sie nur Zwieback ge-gessen, und das Geschmorte würde erst am nächsten

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Morgen fertig sein. »Hast du bei deinen Ausritten irgend jemanden

gesehen?« erkundigte sich Clevas. »Keine Seele. Nur ein Bauernhaus heute morgen,

aber es lag weit entfernt, und Zurkin hatte keine Lust auf einen Besuch dort.«

»Vieh?« fragte Irgenas nach. »Auch nicht.« »Seltsam. Es ist nur noch ein Fußmarsch von ei-

nem Tag bis nach Drassol; hier sollte es überall Viehherden geben.«

»Vielleicht waren sie in kleineren Gehegen. In weiter Ferne habe ich einen Lattenzaun gesehen.«

Irgenas seufzte und begann, in die soeben entzün-dete Feuerstelle zu blasen. Es war bereits dunkel ge-worden, und das einzige Licht stammte von den Flämmchen an den trockenen Zweigen. Außerdem war es ausgesprochen kalt.

»Es sind wirklich schlimme Zeiten, wenn sogar die Züchter auf dem flachen Land gezwungen sind, ihre Tiere in umzäunten Gehegen zu halten. Morgen werden wir nach einem Bauernhof Ausschau halten; wir brauchen Nachrichten über die Lage in Drassol. Die letzten, die ich erhalten habe, sind Monate alt und klangen schon damals nicht ermutigend.« Der Zwerg schnaubte verdrießlich.

Endlich loderten die Flammen lebhaft auf; der Wind hatte nachgelassen, und der bläulichgraue

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Rauch stieg kerzengerade zwischen den Ästen der Eiche hoch.

»Müssen wir denn unbedingt durch Drassol?« fragte der Junge.

»Ailaram lebt südlich des Eria-Sees, weit jenseits der Stadt Velat. Die einzige Straße führt durch Dras-sol. Sie zu verlassen hieße nur, Zeit zu verlieren. Falls es Schwierigkeiten gibt, werden wir die Stadt umgehen, aber nur, wenn es unbedingt nötig ist: In der Umgebung von Drassol sind die Äcker und Fel-der mit niedrigen Steinmauern umgeben, außerdem gibt es dort viele Kanäle – wir wären gezwungen, ei-ne Menge Umwege in Kauf zu nehmen.«

Plötzlich, während Irgenas dabei war, das Kanin-chen auf einen langen Eisenspieß zu stecken, ertönte von oben ein unterdrückter Hustenanfall.

Alle drei sprangen auf – Irgenas mit dem halb auf-gespießten Kaninchen in der Hand, Clevas mit der Axt des Freundes und Damlo, zu Tode erschrocken, mit gezücktem Stacheldegen.

»Wer ist da?« brüllte Irgenas. »Da oben in der Krone?«

Als einzige Antwort war ein weiteres unterdrück-tes Husten zu hören.

»Komm runter!« knurrte Clevas. »Wir haben dich gehört!«

»Ich hab gar nicht gehustet!« versicherte eine Kinderstimme. »Es war ein Eichhörnchen! Außer

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ihm ist niemand da!« Die Zwerge wechselten einen Blick; sie wirkten

sichtbar erleichtert. »Sag mal, kleines Eichhörnchen«, sagte Clevas

mit einem Lächeln auf dem runzligen Gesicht, »wa-rum kommst du eigentlich nicht herunter zum war-men Feuer? Es muß da oben doch schrecklich kalt sein. Außerdem gibt’s hier bald was zu futtern. Hast du keinen Hunger?«

»Ich kann dir nicht antworten«, antwortete die Kinderstimme etwas entrüstet, »Eichhörnchen spre-chen doch nicht!« Und dann fügte es, um Miß-verständnisse zu vermeiden, hinzu: »Aber sie hus-ten!«

»Soll ich es herunterholen?« raunte Damlo. »Nein, falls es versucht zu fliehen, könnte es zu

einem bösen Sturz kommen«, raunte Clevas zurück. »Du hast recht«, fuhr er nach oben gerichtet fort, »Eichhörnchen sprechen nicht. Aber es könnte ja sein, daß zufällig jemand neben ihm sitzt, der Hunger hat und friert und den der Rauch in der Kehle kitzelt. Dieser Jemand, finde ich, sollte vom Baum steigen und sich ans Feuer setzen. Was denkst du?«

»Papa hat gesagt, ich soll in meinem Versteck bleiben, bis er zurückkommt.«

»Sehr brav, man soll immer seinen Eltern gehor-chen. Und wann ist er weggegangen, dein Papa?«

»Gestern frühmorgens.«

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Da verstummten alle drei. Sie sahen sich an und wußten nicht, was sie sagen sollten: Dem Mann war gewiß etwas zugestoßen.

»Hör mal«, sagte Damlo schließlich nach oben, »dein Papa hat aber doch nichts davon gesagt, daß ich nicht zu dir hochklettern darf, oder?«

»Nein, aber er hat mir gesagt, ich muß gut ver-steckt bleiben, und wenn du mich sehen kannst, dann bin ich nicht gut versteckt.«

»Aber du hättest nichts gegen ein Schüsselchen warme Suppe?«

»Nein.« »Also dann machen wir es so: Sobald die Suppe

fertig ist, bringe ich sie dir nach oben, aber wenn ich bei dir bin, mache ich die Augen zu. Dann kann ich dich nicht sehen.«

»Von dem Kaninchen hätte ich auch gern was.« »Aber gewiß«, rief Clevas, der bereits mit seinen

Töpfen hantierte. »So viel Kaninchen, wie du willst, bei meinem Barte! Du mußt nur warten, bis es durchgebraten ist. In der Zwischenzeit bekommst du einen guten heißen Trank.«

Fünf Minuten später stieg Damlo auf den Baum, immer darauf achtend, die Schale nicht zu schräg zu halten. Es war eine große, etwa hundertjährige Eiche, deren unterste Aste fast bis auf den Boden hingen, und so machte ihm das Hochklettern trotz der Dun-kelheit keine Mühe. Etwa zwanzig Fuß weiter oben

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entdeckte er ein breites waagerechtes Brett mit einer festen, hohen Einfassung.

»Hast du die Augen zugemacht?« Die Stimme des Kindes kam von einem formlosen Bündel her, das am Stamm der Eiche lehnte.

»Nein«, flüsterte Damlo, »aber es wirkt hier so finster, daß mir ist, als hätte ich sie geschlossen. Wer hat denn diesen Ausguck hier gebaut?«

»Papa. Aber das ist kein Ausguck, das ist ein Schloß!«

»Ach so, das ist es! Bei dieser Dunkelheit kann man ja rein gar nichts sehen! Du, ich hab da einen sehr guten warmen Trank. Möchtest du ihn?«

»Ich kann mich einfach nicht rühren!« »Warte, ich helfe dir… Aber du bist ja ganz naß!« »Dafür kann ich nichts! Es hat den ganzen Tag ge-

regnet!« »Natürlich kannst du nichts dafür, aber du mußt

sofort aus diesen nassen Kleidern. Du willst doch nicht krank werden, oder?«

»Ich habe aber keine trockenen.« »Auf dem Wagen haben wir wollene Umhänge, in

die kannst du dich wickeln, bis alles wieder trocken ist.«

»Ich darf nicht runter. Papa hat gesagt…« »Aber er wußte doch nicht, daß es regnen würde!

Glaubst du, es wäre ihm recht, daß du hier völlig durchnäßt auf dem Baum bleibst? Los, jetzt trink

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mal. Dann klettern wir zusammen hinunter.« Die Kleine war nicht älter als fünf Jahre und von

der Kälte fast erstarrt. Kaum hatte sie fertig getrun-ken, erschauerte sie einmal heftig und fing dann an zu zittern und mit den Zähnen zu klappern. Ihr Män-telchen war triefnaß, und Damlo zog es ihr sofort aus und ersetzte es mit seiner Jacke. Dann nahm er das Mädchen auf den Arm. Es kuschelte sich sofort an ihn und legte den Kopf an seine Schulter.

»Was klapperst du mir denn so bedrohlich mit den Zähnen ins Ohr? Willst du mich beißen?« fragte Damlo und brachte die Kleine zum Lachen.

Als sie am Feuer angekommen waren, zog Clevas ihr das nasse Kleidchen aus und rubbelte sie mit ei-ner Decke trocken, während das Mädchen die Augen nicht von dem Spieß mit dem Kaninchen ließ, den Irgenas über dem Feuer drehte. Schließlich, als ihr ganzer Körper gerötet war, packte Clevas die Kleine in drei Wollumhänge ein.

»Wie heißt du denn?« fragte der Alte und hielt ihr wieder einen heißen Kräutertrank hin.

»Clina.« »Also, jetzt erzähl mir einmal, Clina, warum dein

Papa dir aufgetragen hat, dich zu verstecken.« »Das tut er immer, wenn er Brennholz holt. Da

bringt er mich zum Schloß, wegen der Hunde. Und hinterher holt er mich wieder und wir gehen nach Hause.«

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»Und gestern morgen waren die Hunde auch da?« »Nein, ein Drache.« »Ah, verstehe. Er hat dich auf dem Baum zurück-

gelassen, weil ein Drache da war?« »Nein, der Drache kam erst später. Da sagte Papa,

ich müßte versteckt bleiben und ist weggerannt.« »Er ist gerannt? Und wohin?« »Nach Hause, wegen des Rauches.« »Wegen welchen Rauches?« »Na, der vom Drachen kam! Drachen spucken

doch Feuer!« »Ah ja, gewiß. Das habe ich ganz vergessen.«

Clevas schüttelte langsam den Kopf und wandte sich auf Zwergisch an die Freunde: »Probiert ihr es, ich verstehe kein Wort.«

»Schauen wir mal, ob ich das richtig kapiert ha-be«, übernahm Damlo die Unterhaltung. »Gestern früh hast du deinen Papa zum Holzholen begleitet, und er hat dich auf den Baum geschickt, weil es hier wilde Hunde gibt. Richtig?«

Das Mädchen nickte ernsthaft. »Dann hat dein Papa Rauch gesehen. Er trug dir

auf, versteckt zu bleiben, bis er wiederkommt, und ist nach Hause gelaufen. Stimmt das?«

»Nein, vorher ist der Drache gekommen.« »Ich verstehe: Der Papa sagte dir, du müßtest dich

verstecken, weil ein Drache in der Nähe ist?« »Das brauchte er gar nicht, ich habe ihn ja zuerst

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gesehen.« »Also ist er weggelaufen, als er den Rauch sah?« »Nein, nein! Der Rauch kam erst nachher! Vorher

ist der Drache vorbeigeflogen. Papa hat es nicht ge-glaubt, bis ich hingezeigt habe! Da ist er zu mir aufs Schloß gekommen und hat gesagt, ich müßte ganz still sein. Und erst nach einer Weile haben wir den Rauch hinter dem Hügel dort gesehen.«

Damlo überlegte kurz und sagte dann auf Zwer-gisch zu den anderen beiden: »Wenn es immer noch Drachen gäbe, hätte die Geschichte Hand und Fuß.«

»Aber es gibt keine mehr«, antwortete Irgenas. »Du hast zuviel Phantasie. Die Kleine wird einen großen Vogel, einen Adler vielleicht, gesehen und sich erschreckt haben. Der Vater kletterte daraufhin zu ihr hoch, um sie zu trösten, und hat vom Baum aus den Rauch eines Brandes gesehen. Dann rannte er sofort los, um beim Löschen zu helfen.«

»Und warum ist er nicht zurückgekommen, um sie zu holen?«

»Keine Ahnung«, seufzte der Zwerg. »Aber wenn jemand seine Lieben in den Flammen weiß, könnte es sein, daß er in hoffnungsloser Hektik versucht, sie zu retten. Der arme Mann wird wohl im Feuer umge-kommen sein, und sonst wußte niemand, wo die Kleine steckt. Vielleicht suchen ihre Verwandten schon die ganze Gegend nach ihr ab.«

Einige Minuten lang hingen sie schweigend ihren

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Gedanken nach, während Clina das Kaninchen be-trachtete, das über der Glut briet. Abgesehen von der offensichtlichen Vorfreude, die ihr dieser Anblick bescherte, schien sie eine tiefgründige Frage von be-trächtlicher Wichtigkeit zu wälzen.

»Drachen müssen kein Feuer anzünden, wenn sie Kaninchen braten wollen, oder?« platzte sie schließ-lich heraus.

»Natürlich nicht!« antwortete Damlo, kniff ein Auge in Richtung der Zwerge zusammen und setzte seine Miene als weltberühmter Drachenexperte auf. »Du mußt wissen«, fuhr er fort, »daß die Schlechter-zogenen unter ihnen das Essen so zu sich nehmen, wie es ihnen in die Fänge gerät. Die Guterzogenen hingegen braten es zuerst mit ihrem Feuerhauch. Für einen Hasen würde ihnen ein kleiner Rülpser rei-chen; für eine Kuh brauchen sie aber schon einen starken Hustenanfall.«

»Jetzt weiß ich, wer die Herde gestohlen hat!« rief das Mädchen. »Papa hat sich furchtbar geärgert. Aber wenn es der Drache war, kann man wohl nichts machen. Drachen sind stark und bösartig, und man kann sie nicht in den Kerker werfen, nicht wahr?«

»Sehr richtig. Aber nicht alle Drachen sind böse, weißt du. Ich wohne in einem Dorf namens Waelton, wo es große, große Bäume gibt. Und wir haben eine Legende, die von einer guten Drachenfrau berichtet. Soll ich sie dir erzählen, während wir auf das Kanin-

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chen warten?« »Ja!« schrie Clina, und ihr Gesichtchen hellte sich

auf. »Vor tausend Jahren«, begann Damlo, schielte zu

Clevas, besann sich eines Besseren und fing noch mal an, während der Alte in seinen Bart kicherte. »Sagen wir: Vor langer, langer Zeit gab es Waelton noch gar nicht, und meine Vorfahren lebten in Hüt-ten. Sie waren Holzfäller und immerzu damit be-schäftigt, Bäume umzuschneiden. Auch die gesunden Bäume. Zu jener Zeit wurden die Menschen nicht äl-ter als vierzig oder fünfzig Jahre, weil die Arbeit schwer war und das Leben hart. Sie kamen auf die Welt, begannen schon sehr jung zu arbeiten, sie hei-rateten und nach einigen Jahren starben sie an Alters-schwäche. Viele starben schon als Kinder. Im Unter-schied zu heute wurden zwar viele Kinder geboren, aber die Krankheiten hatten verheerende Auswirkun-gen. Es war kein schönes Leben, meine Ahnen wuß-ten das jedoch nicht, weil sie kein anderes Leben kannten. Hin und wieder gelang es ihnen sogar, glücklich zu sein – wenn sie sich verliebten, zum Beispiel.

In diesem Dorf lebte ein Junge namens Maspo. Damals benutzte man dort noch keine Familienna-men, weil das Dorf nur wenige Einwohner hatte und alle einander kannten. Maspo war der hübscheste Junge in der ganzen Gegend. Mit achtzehn Jahren

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war er im besten Alter und voller Kraft. Niemand konnte so schnell wie er einen Baum fällen – und keiner schaffte es, ihn so genau in jene Richtung stürzen zu lassen, die er zuvor bestimmt hatte. Seine große Axt war im weiten Umkreis bekannt. Sie war so schwer, daß nur er sie schwingen konnte. Alle Mädchen waren in Maspo verliebt, aber er wollte sich noch nicht für eine von ihnen entscheiden. Er war unzufrieden und hatte vor, erst dann eine Frau zu nehmen, wenn er einen Sinn im Leben gefunden hät-te. So ging er dem Thema aus dem Weg und machte Ausflüchte, wenn die Sprache darauf kam. Seine we-nigen freien Stunden verbrachte er am liebsten im Wald, wo ihn, so flüsterten die Leute einander zu, sogar die wilden Tiere in Ruhe ließen.

Eines Tages kam eine rote Drachin an dem Dorf vorbei, die Kaxalandrill hieß. Alle glauben, daß die Drachen seit langem schon ausgestorben sind, aber das stimmt nicht. Kaxalandrill, die letzte ihrer Art, kam erst vor tausend Jahren durch den Wald, in dem Maspo lebte. Auch sie war traurig und schwermütig, denn obwohl Drachen über eine starke Zauberkraft verfügen, reicht diese doch nicht aus, um eine ganze ausgestorbene Rasse wieder auferstehen zu lassen. Und auch für einen Drachen ist es keine Freude, in einer Welt zu leben, in der man seinesgleichen nicht findet.

In ihrer Jugend hatte Kaxalandrill furchtbare Din-

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ge getan. Mit ihrem feurigen Atem hatte sie ganze Dörfer und Städte niedergebrannt, zuvor die Häuser geplündert und riesige Schätze angesammelt. Doch nun war sie alt geworden. Auf Drachenart, natürlich: Es blieben ihr nur noch zehn, zwölf Jahrhunderte Lebenszeit. Das Ausmaß ihrer Schwermut konnte man an dem Umstand ermessen, daß sie ihre Höhle zusammen mit all den Schätzen unbewacht zurück-gelassen hatte. Mit dem Alter und vielleicht als Folge der furchtbaren Einsamkeit war ihr sogar ihre An-griffslust vergangen. Sie zog über Berge und durch Täler, ohne zu plündern, und ihre Betrübnis ging so weit, daß sie selbst anderen Lebewesen gegenüber wohlgesinnt war. Um diese nicht zu erschrecken, hatte sie sogar aufgehört, in ihrer ursprünglichen Gestalt durchs Land zu streifen. Dank ihrer Zauber-kraft hatte sie sich in eine Frau verwandelt, und als solche zog sie durch die Welt. Um genau zu sein, hatte sie sich in ein junges Mädchen verwandelt und nicht in eine Frau, denn selbst wenn sie tieftraurig sind, hören Drachinnen nicht auf, eitel zu sein.«

»Jetzt begegnet sie Maspo, und sie heiraten«, warf die Kleine feierlich ein.

»Etwas in der Art, Clina. Gleich wirst du es hö-ren«, sagte Damlo und verkniff sich ein Lachen.

Clevas und Irgenas lauschten mit ebensolchem In-teresse wie das Mädchen, der erstere rührte dabei selbstvergessen im Schmorfleisch, der letztere drehte

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den Spieß. »Maspo und Kaxalandrill begegneten sich auf ei-

ner ringförmigen Waldlichtung, die von hundertjäh-rigen Baumriesen gesäumt war. Während die Sonne aufging und die Lerche ihr erstes Morgenlied triller-te, sahen sie einander in die Augen: Es war Liebe auf den ersten Blick. Den ganzen Tag verbrachten sie schweigend unter einer jungen Rotbuche, die mitten auf der Lichtung stand, und genossen stumm und glücklich die Anwesenheit des anderen. Dann gingen sie auseinander, ohne ein einziges Wort gewechselt oder einander berührt zu haben. Am nächsten Tag, als dieselbe Lerche die nächtliche Stille wiederum mit ihrem Gesang durchbrach und die Morgenröte verkündete, fanden sich die beiden erneut unter der Rotbuche ein, ohne sich verabredet zu haben.

Den ganzen Frühling hindurch fuhren sie fort, ein-ander zu sehen, und die Liebe, die zwischen den bei-den entflammte, war so stark und rein, daß alle Blu-men rundum erblühten und die Wölfe sanftmütig und zahm herankamen, um sich streicheln zu lassen. Doch erst in der Mittsommernacht wagte es Kaxa-landrill, Maspo zu enthüllen, daß sie in Wahrheit ei-ne Drachin war. Die Sterne strahlten in einem magi-schen und geheimnisvollen Licht, als Kaxalandrill sich Maspo zum ersten Mal in ihrer wahren Gestalt zeigte. Aber ihre Gefühle füreinander waren stärker als alle Hindernisse, und am Morgen lagen sich die

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beiden immer noch in den Armen und schworen ein-ander ewige Liebe.

Doch als sich diese Neuigkeit verbreitete, wurden die Dorfbewohner sehr aufgebracht, und es kam zu einem wahren Aufstand. Obwohl die junge Frau ver-sprochen hatte, sich nie mehr in einen Drachen zu verwandeln, machte sie den Leuten angst. Sie woll-ten sie nicht in ihrer Mitte dulden, weil sie einer an-deren Rasse angehörte. Ihre Fremdartigkeit, erklärten die Dorfältesten, sei untragbar und eine Beziehung zu ihr gegen Brauch und Sitte – und somit widerna-türlich, von Übel und sofort zu beenden. Außer eini-gen zuverlässigen Freunden stellten sich alle gegen Maspo und Kaxalandrill. Nur die allgemeine Angst, sie könnte wieder zur Drachin werden und er seine weithin berühmte Axt gebrauchen, verhinderte, daß es zu tätlichen Angriffen auf die beiden kam. Doch schließlich verbannten die Ältesten die beiden Lie-benden für immer aus dem Dorf.

Also zogen sich Maspo und Kaxalandrill auf die Waldlichtung zurück, wo sie sich kennengelernt hat-ten. Die restlichen Sommertage und den ganzen Herbst verbrachten sie unter der Rotbuche und ge-nossen ihre Liebe in vollen Zügen. Doch am ersten Wintertag wandte sich Kaxalandrill an Maspo.

›Mein Geliebter‹, sagte sie, ›wie tief unsere Ge-fühle füreinander auch sein mögen, so ist mir doch bewußt, daß du fern der Deinen nicht in Unbe-

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schwertheit leben kannst. Und auch ich kann nie ganz glücklich sein, wenn du es nur zur Hälfte bist. Mein Herz, heute hat der Winter begonnen – die Zeit der Nachdenklichkeit, der unterirdischen Regsamkeit in Vorbereitung auf den Frühling. Folgen wir dem Beispiel der Natur und gehen wir an die Arbeit. Es stimmt, daß uns die Dorfältesten verjagt haben, aber es stimmt auch, daß einige Rechtschaffene nicht da-mit einverstanden waren. Gründen wir doch ein neu-es Dorf! Im Frühling fragen wir dann diese Recht-schaffenen, ob sie mit uns leben wollen, um eine Gemeinschaft zu bilden, in der Unterschiede keine Angst machen, sondern gerne dazugehören.‹

Also ergriff Maspo seine schwere Axt und begann, die hundertjährigen Baumriesen auszuhöhlen, die die Lichtung säumten, wobei er darauf achtete, jene Schicht unter der Rinde nicht zu verletzen, die den Baum am Leben hält. Kaxalandrill blieb immerzu an seiner Seite, wischte ihm den Schweiß von der Stirn und befeuchtete mit diesen Tropfen die Wurzeln der Bäume. Das hatte wundersamerweise zur Folge, daß nach und nach der ausgehöhlte Raum im Inneren der Riesen größer wurde als die Bäume selbst. Und als der Frühling kam, war Waelton geboren.

Schüchtern wie die ersten Knospen, die aus den Zweigen hervorbrechen, ohne die gewaltige Kraft zu offenbaren, die sie treibt, begannen Maspos Freunde auf die Lichtung zu kommen, um die Behausungen

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zu bewundern, die dieser aus den Stämmen gehauen hatte. Und als sich der Sommer in all seiner Üppig-keit zeigte, waren schon alle Bäume von Waelton bewohnt.

Wie die Liebe zwischen Maspo und Kaxalandrill, so blühte und gedieh das ganze Dorf. Nach einem Dutzend Jahre war es zu einem stattlichen Ort ange-wachsen, während das alte Dörfchen nach und nach ausstarb und vom Wald überwuchert wurde. Die Waeltoner hörten mit dem Holzfällen auf und wand-ten sich Tätigkeiten zu, die besser mit der Natur in Einklang standen. Die Umgebung von Waelton war außergewöhnlich fruchtbares Land, wo die Saat üp-pige Frucht trug. Maspo, der Gründer des Dorfes und eine lebende Legende, wurde bald Gemmalampo ge-nannt, was soviel heißt wie ›ungestüme Knospe‹, und alle lebten in Frieden und Eintracht, ganz so, wie es die beiden Liebenden an jenem ersten Wintertag un-ter der Rotbuche vorhergesehen hatten.«

»Eine wirklich schöne Geschichte!« lobte Clevas. »Ganz recht«, rief Irgenas aus, »und vor allem die

Stelle, wo er die Axt nimmt und…« »Still!« unterbrach ihn das Mädchen, das ganz of-

fensichtlich etwas von Geschichten verstand, »sie ist doch noch nicht zu Ende!«

»Genau«, nickte Damlo. »Aber ich glaube, das Kaninchen ist jetzt gar. Daher wäre es besser, ihr würdet schon mit dem Essen beginnen, während ich

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die Geschichte noch fertig erzähle.« Clevas nahm den Spieß vom Feuer, schnitt das

Fleisch mit flinken Händen in Portionen und teilte es aus, während Damlo seine Gedanken sammelte und dort fortsetzte, wo er aufgehört hatte.

»Vor ungefähr tausend Jahren also lebten die Leu-te von Waelton in Harmonie, und das Dorf in den Bäumen des Waldes florierte. Die Waeltoner wurden wohlhabend, ganz ohne jemandem zu schaden, und alle waren glücklich und zufrieden. Alle außer Maspo und Kaxalandrill. Ihre Liebe blieb zwar stark und unerschöpflich, doch die Drachin hatte einen Kummer und konnte sich nicht dazu entschließen, ihn mit ihrem Gefährten zu teilen. Maspo hatte natür-lich etwas bemerkt, aber da zur wahren Liebe auch Respekt gehört, wartete er ab, bis die Drachin von sich aus über das sprechen wollte, was sie bedrückte.

Es kam ein Tag im Herbst, als Kaxalandrill sah, wie Maspo mit den Kindern des Dorfes spielte. Die junge Frau brach in bittere Tränen aus, und als ihr Liebster herbeieilte, um sie zu trösten, gestand sie ihm schluchzend den Grund für ihre Verzweiflung.

Die beiden verließen das Dorf, und als sie auf ei-ner großen Waldlichtung angelangt waren, nahm Kaxalandrill wieder ihre Drachengestalt an. ›Mein Herzblut‹, seufzte sie, immer noch unter Tränen, ›heute, als ich dich mit den Kindern spielen sah, fiel mir neben ihren dunklen Köpfchen das Grau in dei-

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nem Haar auf. Schau mich genau an – denn dafür habe ich meine ursprüngliche Gestalt gewählt: Auch meine Schuppen sind grau gestreift, siehst du das? Das schöne Rot meiner Jugend ist für immer dahin. Mein Herz, es stört mich nicht, alt zu werden, solan-ge es an deiner Seite geschieht. Aber deine Haare sind innerhalb von kaum zwei Dutzend Jahren grau geworden, während meine Schuppen dafür Dutzende von Jahrhunderten benötigten! In zehn, zwanzig oder dreißig Jahren wird deine Lebensuhr abgelaufen sein. Und was werde ich dann tun? Was fange ich mit den tausend Jahren ohne dich an, die mir dann noch bleiben?‹

Maspo wußte keine Antwort darauf. Den Herbst und Winter hindurch versuchte er vergebens, die Ge-liebte zu trösten, doch wenn sie nicht weinte, war die Drachin in Betrachtung versunken, so als würde sie über einem ganz bestimmten tiefen Gedanken grü-beln. Schließlich, am letzten Tag des Winters, führte Kaxalandrill Maspo unter ihre Rotbuche, deren Standort mittlerweile zum Hauptplatz des Ortes ge-worden war.

›Mein Liebling,‹ sagte sie, ›ich habe lange über-legt und bin zu einem Entschluß gekommen. Für uns gibt es nur einen Weg, den Tod zu besiegen: über ei-nen Zauber. Mein Herz, es handelt sich dabei um starke Magie, die, einmal ausgesprochen, nicht mehr widerrufen werden kann. Von jenem Augenblick an

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wird zwischen uns nichts mehr so sein wie vorher. Aber ich schwöre dir, wir werden genauso glücklich und für alle Ewigkeit vereint sein.‹

So groß war Maspos Liebe, daß er den Vorschlag annahm, ohne auch nur abzuwarten, daß ihm Kaxa-landrill den Zauber beschrieb. Und so gingen die beiden noch am selben Abend von Haus zu Haus und verabschiedeten sich für immer von Waelton. Über-all war die Bestürzung darüber groß, aber die beiden strahlten so viel Liebe und Glück aus, daß niemand vermochte, wirkliche Trauer zu verspüren, als Maspo und die junge Frau im Wald verschwanden.

Einige Stunden später, die erste Frühlingsnacht hatte seit wenigen Minuten begonnen, erschien über Waelton und seiner Umgebung ein roter Lichtschein. Geheimnisvoll und zart umhüllte er alle Lebewesen. Er legte sich auf die Pflanzen und den Boden und verschwand, noch ehe die Sonne aufging. Von dieser Nacht an, so berichtet die Legende, begannen die Bäume von Waelton auch nach außen zu wachsen und wurden zu riesigen Bäumen. Und von dieser Nacht an hörten die wilden Tiere auf, diesen Teil des Waldes zu durchstreifen, und änderten die Richtung, wenn ihnen ein Waeltoner entgegenkam. Von dieser Nacht an schließlich heilten die Verletzungen der Dorfbewohner rascher, sie genasen schneller von ih-ren Krankheiten und hatten ein längeres Leben.

Außerdem berichtet die Legende davon, daß es

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eineinhalb Jahrhunderte dauern sollte, bis die Wael-toner vom weiteren Schicksal Maspos und Kaxa-landrills Kenntnis erhielten: An jenem letzten Win-terabend unter der Rotbuche waren nicht zwei Perso-nen anwesend, sondern drei – die beiden Liebenden und ein kleines Mädchen von fünf Jahren, das sich hinter dem Stamm versteckt hatte, um Pipi zu ma-chen, und das, ohne es zu wollen, jedes Wort mitge-hört hatte. Und als dieses Mädchen dann nach ein-hundertfünfundvierzig Jahren friedvollen, glückli-chen Lebens auf dem Totenbett lag, wollte es nicht, daß sein Wissen für immer verlorenging, und es ent-hüllte das Geheimnis.

Maspo Gemmalampo und Kaxalandrill schliefen nicht weit entfernt von Waelton an einem sicheren Ort, berichtete die nunmehr alte Frau, wo sie einan-der in den Armen lagen und einen magischen Traum träumten, der ihre Körper vor dem Älterwerden be-wahrte und von dem sie nie wieder erwachen wür-den. Sie träumten und träumten ohne Unterbrechung, und in ihrem nie endenden Schlaf waren sie zusam-men und glücklich. Wie versprochen erlebten sie je-de Sekunde ihres Lebens gemeinsam, und so würde es bleiben, für immer und bis in alle Ewigkeit.«

Bei Damlos letzten Worten hatten sich wie auf Kommando die Wolken geöffnet, und nun erhellte das Mondlicht das Grasland draußen und sandte zarte Strahlen bis auf den Boden des Eichenwäldchens.

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Dies Geschehen riß das kleine Mädchen aus der Ver-zauberung und sie kehrte zurück zu ihrem Kanin-chenstück, das sie, gefesselt von Damlos Schilde-rung, nach den ersten Bissen unangetastet in der Hand gehalten hatte.

»Bravo!« rief Clevas. »Du kannst sehr lebendig vortragen!«

»Vielen Dank, aber das waren die Worte von Pro-co Radicupo«, gestand der Junge und schüttelte be-dauernd den Kopf. »Er, ja, er kann ganz ausgezeich-net vortragen. Diese Legende werde ich wohl schon an die hundertmal gehört haben, und langsam kann ich jedes Wort davon auswendig. Aber wenn er sie erzählt, scheint es sich um eine völlig andere Ge-schichte zu handeln.«

»Achtung, Damlo!« grinste Irgenas. »Denk daran, daß Clevas mein alter Lehrer ist: Du läufst Gefahr, dir einen langen und sterbenslangweiligen Rhetorik-vortrag anhören zu müssen.«

»Langweilig?« knurrte Clevas. »Undankbarer jun-ger Spund! Ohne meine ›langweiligen‹ Lektionen wärst du heute nicht einmal fähig, dich in einer Grußadresse an den Königlichen Rat zu wenden! Es gibt wirklich keine Ehrfurcht mehr vor dem Alter! Wo wird das noch enden, frage ich mich, wo wird das noch enden?«

»Auf dem Hof, wo die Kleine lebt, würde ich sa-gen«, hakte Irgenas, immer noch grinsend, ein. »Er

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kann ja nicht weit sein, und in diesem hellen Mond-schein müßten wir ihn bald finden.«

»Ja, ja, mach du nur deine Witze! Aber es wird noch der Tag kommen, an dem du deine Respektlo-sigkeiten bereust! Die Gewissensbisse werden dir den Schlaf rauben! Und sag dann nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!«

Der Alte schien sich immer mehr dafür zu erwär-men, den Beleidigten zu spielen, bis er bemerkte, daß ihn das kleine Mädchen mit weit aufgerissenen Au-gen anstarrte, offenbar im Zweifel, ob Tränen ange-bracht waren oder nicht. Da stellte Clevas schlagartig das Zetern ein, zwinkerte der Kleinen zu und ging daran, das Feuer auszudampfen, als wäre nichts ge-schehen.

Ein paar Minuten später saßen alle auf dem Wa-gen. Bis zum vergangenen Morgen hatte das Gras-land seinen völlig flachen Charakter beibehalten. Dann erhoben sich zum ersten Mal, seit das Südufer des Sweldal hinter ihnen lag, leichte Wellen aus der Landschaft, und am Nachmittag hatte sich die Straße bereits zwischen Hügelchen hindurchgewunden, die zwei-, dreihundert Schritt voneinander entfernt sanft bis in eine Höhe von etwa sechzig Fuß anstiegen. Jetzt, als der Wagen in dieser windlosen Nacht jenen Hügel erklomm, den Clina ihnen gewiesen hatte, bewegte sich das Gras kaum und erschien im Licht des Mondes als dichter silbergrauer Teppich. Der

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Regen war noch nicht ganz getrocknet, und an den Halmen hingen schimmernde Tröpfchen, die da und dort aufblitzten, als würden sie den Reisenden zu-blinzeln.

Nachdem sie die Kuppe des Hügels hinter sich ge-lassen hatten und auf Talfahrt waren, tauchte nach weniger als einer Meile der Bauernhof auf. Seine spitzen Dächer waren nur noch ein paar hundert Schritt entfernt; er bestand aus sieben Gebäuden, von denen eines völlig niedergebrannt war, die anderen ruhten jedoch unbeschadet im Mondlicht. Über dem ganzen Gehöft lag diese friedvolle Heiterkeit, die von Orten auszugehen scheint, an denen sich Arbeit und Liebe abwechseln wie die Jahreszeiten.

»Es hat sich offenbar so zugetragen, wie du ver-mutet hast, Irgenas«, murmelte Damlo auf Zwer-gisch.

»Mhmmm.« »Ich meine, mit dem Feuer.« »Mhmmm.« »Ich wollte sagen, du hattest recht, es hat tatsäch-

lich einen Brand gegeben, und der Vater der Kleinen ist hergeeilt, um zu helfen.«

»Die Hunde, Damlo«, sagte Clevas leise. »Und die Gänse. Sie hätten schon die ganze Welt aufwecken müssen! Vielleicht haben sie keine Gänse hier, aber wer hat je ein Bauernhaus ohne Hofhund gesehen!«

Gefolgt von seinem Troß aus Pferden, traf der

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Wagen vor der großen mittleren Tenne ein. Der freie Platz davor zeigte die deutlichen Spuren eines Bran-des. Es schien, als hätte hier jemand ein riesiges Feu-er entzündet, dessen Asche hinterher weggefegt und alles sorgfältig zu reinigen versucht.

Die Stille rundum wurde nur von den Hufschlägen der Pferde und den knarrenden Geräuschen unterbro-chen, die der Wagen von sich gab. Die Gebäude wirkten sauber und so gepflegt, als wären sie erst vor kurzem errichtet worden.

»Der Drache hat die Türen gestohlen!« rief Clina plötzlich aus.

Jetzt erst fiel es auch Damlo auf: An den Ausgän-gen der Häuser fehlten die Türflügel. Sie stiegen vom Wagen, und während Clevas die Kleine an der Hand nahm, griff Irgenas nach seiner Axt.

»Führe uns in dein Haus, Clina«, murmelte der Al-te.

Es war niemand da – weder in diesem Haus noch anderswo. Sie durchsuchten jedes Gebäude gründ-lich, doch der Bauernhof war gänzlich verlassen. Selbst die Stallungen – Kuhstall, Schweinestall und Hühnerstall – waren leer. Es schien, als wären Perso-nen und Tiere mit einem Schlag verschwunden, hät-ten alles liegen und stehen lassen und nichts mitge-nommen außer – absurderweise – den Haustüren. Überall befanden sich Spuren plötzlich unterbroche-ner Tätigkeiten. Unter einem kleinen Vordach stan-

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den neben dem eisernen Schuhabstreifer gleich ne-ben dem Eingang ordentlich aufgereiht zwei grobe Stiefelpaare aus Leder. Auf einem Schemel in der Küche lag eine Männerkappe, und auf dem Mittel-tisch befand sich eine Näharbeit, in der noch die Na-del steckte. Der Faden war nicht einmal ganz durch den Stoff gezogen. Im Kessel, der in dem großen kal-ten Kamin hing, vertrockneten die Reste einer Mahl-zeit, die allzulange über dem Feuer geschmort hatte. Die Szene wirkte ebenso unwirklich wie furchterre-gend: Sie schien sich in einem Bauernhof abzuspie-len, in dem es Geister gab.

Keiner erwähnte mit einem Wort die leeren Wa-gen, denen Damlo und die Zwerge im Wald begegnet waren, aber der Gedanke erfüllte die Luft mit der Hartnäckigkeit eines üblen Geruches. Sie machten wieder Feuer im Kamin, und Clevas ersetzte den Kessel mit seinem vollen Schmortopf. Damlo brach-te mittlerweile die Pferde in einen Stall und versorgte sie. Diese einfachen Tätigkeiten schienen dem Ge-höft ein wenig Leben zurückzugeben.

»Ich denke, jetzt ist es höchste Zeit zum Schla-fen«, sagte der Alte schließlich zu Clina.

Die Kleine hatte sie überall herumgeführt, wobei ihr Gesichtsausdruck von Minute zu Minute verstör-ter geworden war. Und nun, bei diesen Worten, brach sie in Tränen aus. Eine ganze Weile gelang es keinem der drei, sie zu trösten, und auch Damlo

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schaffte es schließlich nur, indem er ihr den Storch schenkte, den er während der Fahrt geschnitzt hatte. Er war zwar noch nicht ganz fertig, aber auch so schon ein echtes kleines Kunstwerk. Bedingt durch die unregelmäßige Form des Rohlings konnte der Storch die Flügel nicht richtig ausbreiten, aber Dam-lo hatte sich diese Schwierigkeit zunutze gemacht, und nun vollführte der Vogel eine Richtungsände-rung gegen einen starken Wind. Er blickte nach un-ten und wirkte in seiner Bewegung so echt, daß man den Eindruck hatte, er würde nach einem Schornstein Ausschau halten, um sein Nest darauf zu bauen.

Die Zwerge sahen ihn zum ersten Mal und bewun-derten ihn gebührlich. »Du solltest lernen, Metall zu bearbeiten«, rief Clevas. »Du hast wirklich eine künstlerische Ader!«

»Das ist doch gar nichts«, wehrte Damlo ab, »ich habe nur ein wenig geschnitzt, um mir die Zeit zu vertreiben, und bin damit nicht einmal fertig gewor-den. Mein Lehrer hätte mir kaum ein Genügend ge-geben.«

Clina verliebte sich sofort in das neue Spielzeug, aber auch der Storch konnte sie nicht dazu bewegen, in ihrem eigenen Bettchen zu schlafen. Kaum ließ man sie allein, fing sie wieder an zu weinen, und die Zwerge mußten sich damit abfinden, sie die Nacht über bei sich zu behalten. Also legten sie sie fest ein-gepackt in ihre Decken auf eine Küchenbank, wo sie

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gleich darauf einschlief. »Nun sind wir also zu viert«, seufzte Irgenas.

»Wenn es so weitergeht, können wir eine Stadt grün-den, sobald wir bei Ailaram angelangt sind.«

»Wir nehmen Clina mit?« fragte Damlo verblüfft. »Haben wir denn eine andere Wahl?« »Vielleicht hat sie noch lebende Verwandte – auf

einem anderen Hof in der Nähe oder in der Stadt.« »Das ist schon möglich, aber wir haben keine Zeit,

nach ihnen zu suchen.« »Wir könnten in Drassol haltmachen und die

Nachricht in Umlauf setzen, daß wir sie gefunden haben. Bei dieser Gelegenheit könnten wir auch gleich die Pferde verkaufen. Es würde ja reichen, die Kleine in der Obhut eines Herbergsvaters zurückzu-lassen, den man für eine Woche im voraus bezahlt. Früher oder später sollte sich doch jemand bei ihr melden, oder?«

»Darauf kannst du Gift nehmen: Ein so hübsches kleines Mädchen müßte auf dem Sklavenmarkt eine schöne Summe bringen.«

Bestürzt starrte Damlo den Prinzen an. »Weißt du«, erklärte Clevas schonungsvoll, »die

Welt da draußen ist nicht mit deinem Waelton zu vergleichen, und der Gefahren, vor denen wir uns vorsehen müssen, gibt es viele. Auch du wärst ein netter Happen für einen Sklavenhändler. Das ist einer der Gründe, weshalb wir dich nicht dem erstbesten

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Reisenden anvertrauen wollten, dem wir begegneten. Denk also daran, Damlo: Falls wir je getrennt wer-den sollten, traue keinem Fremden!«

Der Junge nickte und schluckte ein wenig. Mit ei-nem flauen Gefühl im Magen setzte er sich auf einen Schemel neben dem Kamin und lehnte sich an die Wand. Der Topf mit dem schmurgelnden Kaninchen-fleisch verströmte einen appetitlichen Duft, der die Atmosphäre in der Küche fast mehr erwärmte als das Feuer. Hin und wieder erhob sich Clevas und rührte im Topf, kostete vom Inhalt und tat eine Prise aus seinen Kräutersäckchen hinzu.

Die brennenden Holzscheite im Kamin prasselten und sirrten anheimelnd, und das war der Grund, wes-halb Damlo die Schritte nicht gleich hörte. Als ihm endlich bewußt wurde, daß ein Teil dieses Knisterns von draußen kam und daß das Geräusch dem Knir-schen von Stiefeln auf dem Kies ähnelte, hatte er es bereits seit einer ganzen Weile gehört. Erschrocken spitzte er die Ohren. Kein Zweifel, irgend jemand schlich um den Wagen, den Irgenas so abgestellt hat-te, daß er den Eingang zur Küche blockierte.

In Damlos Gedanken überschlugen sich die Vor-stellungen von Drachen und Orks mit bluttriefenden Säbeln. Schaudernd tastete der Junge nach seinem Stacheldegen und versuchte, den Blick der Freunde auf sich zu lenken. Sie hatten noch nichts bemerkt: Zwerge sind von Natur aus ein ziemlich lärmendes

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Volk, und das Gehör gehört nicht zu ihren schärfsten Sinnen. Also zog Damlo den Degen aus der Scheide und fing an, spielerisch mit seiner Spitze auf den Steinfußboden zu trommeln. Etwas genervt von dem leisen Geklapper drehte sich Irgenas schließlich zu dem Jungen.

Mit einem Blick erfaßte er Damlos angespannte Wachsamkeit und erstarrte. Seine Hand zuckte, um nach der Axt zu greifen, doch dann hielt der Zwerg in seiner Bewegung inne und tat so, als wollte er nur eine Faser vom Griff entfernen. Pfeile, dachte Dam-lo, wenn die Orks merken, daß wir sie entdeckt ha-ben, decken sie uns mit Pfeilen ein. Das haben sie nur deshalb noch nicht getan, weil dreizehn Pferde im Stall stehen und sie erst wissen wollen, wo die anderen Reiter stecken.

Die Atmosphäre im Raum hatte sich so merkbar verändert, daß Clevas den hölzernen Schöpflöffel auf den Rand des Topfes legte und ohne sich umzudre-hen mit gespielter Gleichgültigkeit nach einem lan-gen Eisenspieß griff.

»Kümmere du dich mal um das Schmorfleisch«, sagte er zu Irgenas. »Ich bin zu müde, um aufzublei-ben. Ich gehe nach oben und suche mir ein Bett. Cli-na nehme ich gleich mit und lege sie in das ihre.«

»Clina? Clina lebt?« Die Stimme, die aus dem Dunkel hinter dem Wagen kam, war die eines alten Mannes. »Mein Mädchen! Meine kleine Enkeltoch-

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ter! Ich bitte euch … Ich bitte euch!« Mit verblüffender Behendigkeit schwang sich ein

dürrer Greis draußen auf den Wagen und sprang nach zwei raschen Schritten in die Küche. Er kniff die Augen zusammen, wie um besser zu sehen, und als er das Bündel Decken auf der Bank entdeckte, stürz-te er darauf zu, ohne auf die übrigen Anwesenden zu achten, nahm das Kind behutsam in die Arme und fing an, unter heftigem Schluchzen abgerissene Wortfetzen vor sich hin zu nuscheln.

Eine halbe Stunde später schlief Clina friedlich in ih-rem Bettchen, und die Zwerge saßen zusammen mit Damlo und dem alten Mann um den Küchentisch, nachdem sie einen Kontrollgang durch den ganzen Hof gemacht hatten.

»Es war der Rauch!« stammelte der Mann. »Der Rauch und der Geruch von Essen. Er zog sich bis in den Wald. Nach einer Woche war der Hunger schon größer als meine Angst.«

»Eine Woche? Aber ist es nicht erst vorgestern passiert?« fragte Irgenas.

»Soviel Hunger, und dazu haut Pigrambar mir ab!« fuhr der Alte fort, ohne den Einwand zu beach-ten. »Nicht mal eine einzige Trüffel, dafür die Kälte! Hals über Kopf ist er davongerannt! Sie werden ihn gegessen haben, das geschieht ihm recht! Was für ein Hunger… Was für ein Hunger…!«

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Der Mann verstummte, legte den Kopf schief und blickte unverwandt die beiden Zwerge an. Er sah aus wie ein Vogel.

Mit einem überraschten Blick auf seine beiden Freunde stand Clevas auf und füllte eine Schüssel mit Schmorfleisch. »Es müßte noch eine Weile kö-cheln, aber man kann es schon essen«, sagte er zu dem Alten und stellte die Schüssel vor ihn hin.

Der Mann stürzte sich gierig darauf. Im Nu hatte er mehr als die Hälfte seiner Portion in sich hinein-geschlungen, als er plötzlich den Löffel hinlegte.

»Genug«, sagte er und betrachtete den Rest mit Bedauern. »Ein alter Magen ist bald voll. Ihr seid wohl doch auf Pigrambar gestoßen… Das geschieht ihm recht, es wird ihm eine Lehre sein, mich allein-zulassen…! Aber nein, das ist ja Karnickel!«

Damlo und die Zwerge sahen einander an und wußten nicht, was sie sagen sollten.

»Wer ist denn Pigrambar?« fragte schließlich der Junge.

»Ein Schwein. Ein Trüffelschwein. Er will immer welche aus meinem Korb haben, statt seine Pflicht zu tun und frische zu suchen! Bei einem solchen Tier muß man auf der Hut sein: Kaum hat er seinen Le-ckerbissen abgekriegt, bildet er sich ein, daß jetzt al-les nach seiner Pfeife tanzt, und arbeitet nichts mehr!« Unversehens brach der dürre alte Mann in Tränen aus. »Seine Angst hat mir das Leben geret-

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tet«, schluchzte er. »Er ist ein herrschsüchtiges Schwein, und auch weil die anderen alle kleiner sind als er, hielt ich ihn für stark und mutig. Aber nein, er hob an zu grunzen und zu zittern wie ein Spanferkel, und ich mußte mich neben ihn hocken und ihn beru-higen. So war ich hinter einem Gebüsch verborgen, als der Drache kam.«

»Der Drache?« wiederholten gemeinsam Damlo und die Zwerge.

»Er war so groß wie ein Kalb und flog über den Himmel; auf seinem Rücken saß ein Mann in schwarzen Kleidern.«

»Und der Drache spie Feuer?« fragte Irgenas mit skeptischem Gesicht.

»Das hab ich nicht bemerkt«, erwiderte der Alte, »denn da ist mir Pigrambar entwischt. Ich habe nur zugesehen und wußte nicht, was ich tun sollte.«

»Wobei hast du zugesehen, alter Mann?« fragte Clevas mit leiser Stimme.

»Wie sie kamen! Es waren so viele! Die Frauen und die Kinder konnten sich rechtzeitig im Haus ein-schließen, und mein ältester Sohn flüchtete sich mit den Männern auf den Heuspeicher. Aber die haben die Tore eingetreten, und der schwarze Reiter flog auf seinem Drachen Kreise um den Hof. Wie ein Schäferhund kam er mir vor. Er trieb Mensch und Tier in die Tenne, und dann haben sie den Heuspei-cher angesteckt. Wenn sie rauslaufen wollten, brach-

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ten sie sie mit den Pfeilen um. Der Rauch holte die Leute von den Feldern, und sowie sie eintrafen, en-deten sie alle in der Tenne. Und dann…«

Plötzlich hörte der Alte zu weinen auf und schien mit einem Mal seinen klaren Verstand wiedergefun-den zu haben. Er starrte Damlo und die Zwerge an, als sähe er sie zum ersten Mal. »Es war wie im Schlachthaus von Drassol«, schloß er mit ausdrucks-loser Stimme.

»Und wer waren ›die‹?« fragte Irgenas. »Meine Familie. Drei Generationen. Alle kamen

um. Jetzt habe ich nur noch Clina.« »Mein Freund meint die Angreifer«, schaltete sich

Clevas geduldig ein. »Ich weiß, was ihr von mir denkt! Daß ich ein al-

ter Narr bin, ein verkalkter Tattergreis! Aber ihr irrt euch, ich kann lesen und schreiben, und bevor meine Augen dafür zu schwach wurden, habe ich die Ab-rechnungen für den Hof erledigt und allen meinen Kindern das Lesen und Schreiben beigebracht. Ich weiß genau, daß es keine Drachen mehr gibt, aber ich weiß auch, was ich gesehen habe!«

»Du mußt aber zugeben, daß deine Geschichte nicht sehr alltäglich ist«, sagte Irgenas.

»Ich bin mit dem Leben davongekommen und ha-be mich versteckt. Und seit einer Woche denke ich daran, daß ich nur noch sterben möchte.«

»Seit einer Woche?«

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»Es war der Siebente, der Geburtstag meiner Tochter, die in Drassol lebte.«

»Heute haben wir den Neunten«, sagte Clevas nachsichtig. »Der Hunger und die Kälte haben dir zugesetzt.«

»Wie soll es mit mir und der Kleinen weitergehen? Ich bin zu alt für die Arbeit auf dem Feld, und das Vieh haben sie entweder umgebracht oder davonge-jagt!« Wieder schluchzte der Alte still. Er bebte am ganzen Körper, während sich die Tränen in seinen Runzeln fingen und daran entlangliefen.

Damlo hatte noch nie jemanden so weinen sehen und mußte sich sehr beherrschen, um es ihm nicht gleichzutun. Er flüsterte den Freunden auf Zwergisch etwas zu, und nachdem sie beide genickt hatten, wandte er sich an den Alten.

»Wir haben beschlossen, dir die Pferde zu lassen«, erklärte er ein wenig verlegen. »Ohne Majestät und Zurkin, die wir behalten, sind es elf. Es waren zu vie-le, um sie täglich zu striegeln, aber sie sind bei bester Gesundheit. Zwölf Sättel bekommst du auch. Du kannst alles auf dem Markt von Drassol verkaufen und damit Leute bezahlen, die dir auf den Feldern helfen. Es sollte auch für einen Aufseher reichen. So kommt ihr sicher bis zur nächsten Ernte.«

Wie vom Donner gerührt hörte der Alte zu weinen auf und sah Damlo an, als hätte sich dieser plötzlich in den Drachen verwandelt.

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»Was für eine fürstliche Gabe…« stammelte er; die Rührung schnürte ihm sichtlich die Kehle zu-sammen. »Eure Großzügigkeit… Ich weiß gar nicht, wie ich euch danken soll! Wenn ich etwas für euch tun kann… alles, was ihr wollt! Und damit rettet ihr auch Clina! Sagt mir, was ich…«

»Schon gut, schon gut«, unterbrach ihn Clevas. »Kurz gesagt, das nächste Mal, wenn wir hier vor-beikommen, werdet ihr beide uns gastlich aufneh-men, oder?«

»Eigentlich«, schaltete sich Irgenas ein, »könntest du uns schon jetzt einen Gefallen tun. Wir sind lange nicht in dieser Gegend gewesen und haben gehört, daß wir hier mit großen Schwierigkeiten rechnen müssen. Jede Nachricht hätte großen Wert für uns.«

»Es steht schlecht, sehr schlecht. In der Stadt hat es Unruhen gegeben, den Guten Grafen haben sie umgebracht, und dann kam es zu einem Volksauf-stand. Die Adeligen wünschen sich die Unabhängig-keit, und es wird schon von Krieg gesprochen.«

»Gegen Eria?« »Auch, aber zuvor gegen Irel und Mettenal. Dras-

sol quillt vor Lanzenreitern über!« »Die Lanzenreiter von Drassol!« rief Damlo auf-

geregt. »Ja, und die Steinschleuderer von Mettenal. Und

die Fußsoldaten von Irel. Die besten Männer des Heeres der Hegemonie. Bis vor kurzem. In meinen

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jungen Jahren war ich Lanzenreiter; dieses Land ha-be ich mit dem Lohn für zwanzig Jahre Schlachten-schlagen bezahlt. Aber jetzt haben alle vergessen, daß sie einst Seite an Seite gekämpft haben, und has-sen sich tödlich. Die Leute sagen, der Gute Graf sei von einem Fußsoldaten aus Irel umgebracht wor-den.«

»Wer war der Gute Graf?« erkundigte sich Damlo. »Der Graf von Eranto. Der beliebteste Edelmann

in ganz Drassol. Vor zwei Wochen hat man seinen Leichnam an der Straße nach Eria gefunden. Und ge-funden hat man in seiner Nähe auch eine Schnalle mit dem Wappen von Mettenal und den Schmuck ei-nes irellianischen Helmes.«

»Sieh an, was für ein merkwürdiges Zusammen-treffen«, bemerkte Irgenas.

»Ja, wirklich«, nickte der Alte, ohne die Ironie zu erfassen. »Als die Nachricht in Drassol eintraf, gab es einen Aufstand. Die Leute haben sich auf dem Hauptplatz versammelt und aus Rache irgendeinen Kerl aus Eria umgebracht – eine wichtige Persön-lichkeit, hört man.«

»Ich frage mich, ob wir die Stadt nicht überhaupt meiden sollten«, gab Clevas nach einer Minute des Überlegens zu bedenken.

»Das hängt davon ab, was ihr vorhabt«, antwortete der Alte. »In diesen Tagen findet der Frühlingsjahr-markt statt, und wenn ihr deswegen gekommen seid,

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dann müsst ihr wohl oder übel in die Stadt. Falls ihr aber nur auf der Durchreise seid, dann tätet ihr besser daran, die Stadtmauer außen zu umfahren und auf die Straße nach Pecsa einzubiegen. Bleibt in jedem Fall eine Weile auf dieser Strecke, denn wer von Drassol aus die Straße nach Mettenal oder nach Irel nimmt, riskiert allerlei Unannehmlichkeiten.«

»Danke dir dafür«, sagte Irgenas, »das wird uns gewiß sehr nützlich sein. Morgen werden wir uns entscheiden, wie es weitergehen soll.«

»Dann sehe ich jetzt nach meiner Enkelin. Ich werde heute Nacht dort schlafen, damit ich in ihrer Nähe bin, falls sie aufwacht.«

Der Alte schlurfte davon, und die drei Freunde blieben in nachdenklichem Schweigen versunken zu-rück. Clevas rührte im Schmortopf, Irgenas grübelte vor sich hin, und Damlo spielte mit seinem Stachel-degen.

»Habt ihr gehört? Es war ein Drache dabei!« sagte der Junge schließlich auf Zwergisch.

»Unsinn«, entgegnete Irgenas. »Die Drachensagen sind immer noch lebendig im Volk, und die Leute sind nur allzu willens, in jedem Tier, das sie nicht kennen, einen Drachen zu sehen. Letztes Jahr im Sommer war ich in der Stadt Gria, und auch dort machte das Gerücht die Runde, ein Drache sei aufge-taucht. Aber als ihn die Wachen schließlich fingen, stellte er sich als Eidechse heraus, nicht einmal so

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lang wie dein Unterarm.« »Aber dieser hier war so groß wie ein Kalb! Er

flog durch die Luft und trug einen Mann auf dem Rücken!«

»Ich weiß wirklich nicht, was unser Freund da ge-sehen hat«, griff Clevas ins Gespräch ein, während Irgenas nur abfällig schnaubte. »Aber du wirst sicher auch bemerkt haben, daß er seine fünf Sinne nicht recht beisammen hatte, zumindest anfangs, als er abwechselnd von Drachen und Schweinen sprach.

Jedenfalls sieht er nicht mehr besonders gut, und es gibt viele seltsame Tiere auf dieser Welt. Besser gesagt, fremdartige Tiere, die mit denen keine Ähn-lichkeit haben, an die wir gewöhnt sind.«

»Jedenfalls beweist gerade das, was der Alte er-zählt hat, daß es sich nicht um einen Drachen gehan-delt haben kann«, unterbrach ihn Irgenas.

»Und wieso?« »Weil die Drachen mächtige, mit großer Intelli-

genz ausgestattete Zauberwesen waren. Keiner von ihnen hätte es einem Mann erlaubt, ihn zu reiten, und noch weniger hätte er ihm den Schäferhund gemacht! Und was die Größe angeht, so waren sie weniger ei-nem Kalb als vielmehr einem ganzen Stall vergleich-bar!«

»Was für ein Tier war es dann aber?« »Jedenfalls kein Drache.« »Wie auch immer«, fuhr Clevas in seinen Überle-

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gungen fort, »diese Sache liefert uns wertvolle Neu-igkeiten. Erstens: die Orks, die Trolle und die Bandi-ten nördlich des Sweldal stehen auf irgendeine Weise mit denen in Verbindung, die diese Untat hier be-gangen haben; die Inszenierung ähnelt einfach zu sehr jener mit den verlassenen Wagen oben im Wald, um Zufall zu sein. Zweitens: Die Schwarzen Degen haben unsere Spur verloren.«

»Wie kannst du das wissen?« fragte Damlo. »Nach dem, was der Alte erzählt hat, wurde das

Massaker vermutlich von einem Schwarzen Degen kommandiert. Hätten sie gewußt, in welcher Gegend sie uns suchen müssen, wäre es ihnen mit einem sol-chen Tier leicht gefallen, uns zu finden: Sie hätten nur diese Straße überfliegen müssen.«

»Und warum haben sie das nicht getan?« »Nehmen wir an, daß die Schwarzen Degen unter-

einander in Kontakt stehen – das Verhalten desjeni-gen in Waelton würde jedenfalls dafür sprechen. Den letzten Hinweis auf uns, den sie ausgetauscht haben könnten, geht auf den Ork bei den Wölfen zurück, denn beim Sweldal wurden keine Brieftauben ausge-sandt. Daher weiß niemand, in welche Richtung wir gereist sind. Wir hätten an der Eibengabelung genau-sogut die andere Richtung einschlagen können – ja, das wäre sogar die einleuchtendere Wahl für uns ge-wesen, aber gerade deshalb entschieden wir uns, lie-ber den Weg nach Drassol zu nehmen. Ich weiß zwar

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nicht, was für ein Tier es ist, auf dem sie da reiten, aber so, wie sich die Schilderung anhört, werden sie wohl nicht viele davon haben. Und das Gebiet, das sie nach uns abzusuchen hätten, ist viel zu ausge-dehnt, um es ziellos zu überfliegen.«

»Noch etwas«, schaltete sich Irgenas ein. »Erinne-re dich an die Wagen und an den Ork bei den Wöl-fen, der sich so hartnäckig versteckt hielt. Ihre Stra-tegie gründet sich auf die Angst und das Mysteriöse, das Unerklärliche, und so können sie nicht einfach kreuz und quer über die ganze Hegemonie hinweg-flattern, denn dann würde man sie erkennen. Und wenn die Leute wissen, was sie zu erwarten haben, finden sie auch ihren Mut wieder.«

»Warum verlautbaren wir dann nicht, was wir wis-sen?«

»Wir haben keine Beweise. Egal, was wir sagen, es würde sich nahtlos an die Gerüchte anfügen, die schon zirkulieren, und nur die Verwirrung verstärken und jenen in die Hand spielen, die Angst und Schre-cken verbreiten wollen.«

»Alles, was wir tun können, ist«, sagte Clevas, »Ai-laram in größter Eile die gewissen Gegenstände zu überbringen. In größter Eile deshalb, weil ich mehr und mehr zu der Überzeugung komme, daß viele der Probleme, denen sich die Hegemonie gegenübersieht, Teil eines einzigen, umfassenden Planes sind. Und das würde unsere Befürchtungen bestätigen, was das

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Wiedererwachen des Schattens betrifft.« »Und wenn es so wäre – was könnte Ailaram un-

ternehmen?« fragte Damlo. »Er könnte feststellen, wer der Feind ist. Wie ich

dir schon gesagt habe, man kann den Fürst der Fins-ternis nur besiegen, wenn man seinen Ersten Diener tötet. Solange wir diesen nicht ausgemacht haben, sind wir machtlos.«

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Damlo und die Zwerge verließen den Bau-ernhof im Morgengrauen, noch ehe der Alte und das kleine Mädchen erwachten. Wäh-rend der Junge »Seine Majestät« an den

Wagen spannte, machte sich Irgenas ein Weilchen am Kutschbock zu schaffen. Das Schnappen eines Schlosses ertönte, und Damlo sah, wie sich das Tür-chen eines Geheimfaches öffnete. Es war wohl sein neugieriger Gesichtsausdruck, der den Prinzen veran-laßte, ihm zu antworten, noch ehe er Zeit gehabt hätte, eine Frage zu formulieren. »In Kurtin lebt ein Neffe des Seneschalles an unserem Hofe; er machte uns mit einem Händler bekannt, der bereit war, uns seinen Wagen zu verkaufen. So tauschten wir die Gefährte, wobei er sich verpflichtete, die königliche Kutsche in den Palast zurückzubringen. In diesem Geheimfach bewahrte er einige Schmuckwaren auf, und so fanden wir, es wäre ein gutes Versteck für diese hier.«

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Irgenas holte ein Stoffbeutelchen aus dem Fach, leerte den Inhalt auf seine flache Hand und füllte sie mit vielfarbigem Funkeln: mindestens fünfzehn E-delsteine, die so strahlten und glitzerten, daß Damlo sie im ersten Augenblick für doppelt so viele gehal-ten hätte. Der Junge starrte sie so bewundernd und neugierig an, daß ihm der Zwerg einen Stein nach dem anderen zeigte und Namen, Eigenschaften und Wert nannte. Schließlich holte er einen Smaragd reinster Farbe aus dem Häufchen und legte ihn gut sichtbar auf den Tisch in der Küche.

»Ehe ihn der Alte noch verkaufen kann, sind wir schon über alle Berge«, erklärte Irgenas schmun-zelnd. »Und wenn es eine dahergelaufene Rotznase schafft, das Unglück eines Verzweifelten mit elf Pferden zu lindern, dann ist dies das wenigste, was ein Prinz aus dem Geschlecht der Cuorsaldo tun kann – inkognito oder nicht.«

Mittlerweile hatte Clevas den Inhalt des Schmor-topfes in eine passende Kasserole aus der Küche ge-leert und den Topf ausgewaschen. »Wir essen wieder Zwieback«, meinte er fröhlich zu Damlo. »Und wenn du Fleisch haben willst, mußt du eben wieder auf Hasenjagd gehen.«

Schließlich fuhren sie ab. Je näher sie an die Stadt herankamen, desto offensichtlicher wurden die An-zeichen menschlicher Besiedelung, und nach und nach ersetzten bebaute Felder links und rechts der

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Straße die naturbelassenen Wiesen. Gegen Mittag traten unvermittelt alte Pflastersteine an die Stelle der Schotterung; Tausende und Abertausende Ge-fährte hatten zwei, drei Zoll tiefe Furchen in die Straße gegraben, und nun quetschten die Räder des Wagens den Schlamm, der sich darin angesammelt hatte, über ihre Ränder.

»Wir sind gleich in Drassol«, sagte Irgenas zu Damlo. »Bleib jetzt in der Nähe.«

»Ein letzter Galopp noch!« Eine leichte Gewichtsverlagerung auf dem Sattel,

und Zurkin preschte schon den kleinen Hügel hinauf. Nach den Regenfällen der letzten Tage war das

Wetter wieder prachtvoll, und Damlo hatte sich den ganzen Vormittag zu Pferde in der Gegend herumge-trieben. Jetzt konnte er schon einigermaßen mit dem Fuchs umgehen, und nun genoß er den Galoppritt hügelan in vollen Zügen.

Hochgestimmt erreichte er den höchsten Punkt der Erhebung – und brachte den Hengst jäh zum Stehen: Vor sich, in einer Entfernung von etwa fünf Meilen, erblickte er Drassol. Damlo hatte noch nie eine Stadt gesehen, und nun starrte er mit aufgerissenen Augen hinüber. Als hätte jemand einen Eimer voll gelbli-cher Häuser genommen, dachte er, und sie wie nas-sen Sand über die Hänge von drei Hügeln rieseln las-sen. Rinnsale aus Gebäuden setzten sich bis weit au-ßerhalb der Stadtmauer fort, doch innerhalb der

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Mauern standen die Häuser so eng beieinander, daß nicht der kleinste freie Platz zu erkennen war. Nur ein einziger Gebäudekomplex auf dem Gipfel des höchsten Hügels war von einem schmalen grünen Band umgeben. Das muß das königliche Schloß sein, dachte der Junge. Es hob sich wie eine grüne Krone vom vorherrschenden Gelb der Stadt ab. Umgeben war Drassol von einem engmaschigen Netz aus Ä-ckern, die mit niedrigen Steinmauern eingefriedet und von Bewässerungskanälen und Feldwegen durchzogen waren.

Fasziniert betrachtete er das Bild, bis er Irgenas’ Stimme hörte, die ihn vom höchsten Punkt eines an-deren Hügelchens aus rief. Er genoß den letzten Ga-loppritt und gesellte sich wieder zu den Freunden.

»Wir haben noch etwa sechshundert Meilen zu-rückzulegen«, sagte Clevas, »und wir wollen das Schicksal nicht herausfordern. Daher wäre es das beste, die Stadt gar nicht zu betreten.«

»Wir umfahren sie«, nickte Irgenas, »allerdings in der Nähe der Stadtmauer, wo die Nebenstraßen zahl-reicher sind. So vermeiden wir es auch, Zeit mit dem Suchen von Brücken und Durchgängen in den Mau-ern zu verlieren. Damlo, bleib von jetzt an beim Wa-gen, denn möglicherweise werden wir zur Kontrolle angehalten. Denk daran, wir sind Kaufleute, die nach Eria wollen. Du bist ein Junge aus Waelton, der sei-nen Onkel in der Hauptstadt besuchen soll. Dort ar-

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beitet er seit dem letzten Sommer als, sagen wir, Baumbildhauer; dafür sind die Waeltoner allerorts berühmt.«

Nach einer weiteren Stunde trafen sie auf die ers-ten Lanzenreiter. Es waren etwa dreißig Mann, und obwohl sie reichlich mit Schlamm bespritzt waren, starrte Damlo sie voller Bewunderung an. Sie trugen Eisenhelme, geschmückt mit den hochaufragenden Schwanzfedern von Hähnen; auf den mit Nieten ver-zierten Lederharnischen war in Gelb und Schwarz das Bild desselben Tieres – mit stolz emporgereck-tem Kopf – aufgemalt. An einer Seite des Sattels hingen die Säbel und auf der anderen die kleinen runden Schilde, auch sie mit dem Emblem von Dras-sol, dem Hahn, versehen.

Die Erde unter den Hufen der Pferde erzitterte, als sich die Schwadron von hinten näherte, wie eine Woge links und rechts am Wagen der Zwerge vor-beirollte und mit gleißenden Lanzenspitzen ihren Weg zur Stadt fortsetzte. Zurkin schien den Vorfall persönlich zu nehmen, und Damlo mußte alle seine Kräfte einsetzen, um ihn davon abzuhalten, den Rei-tern nachzusetzen. Es sei doch ohnehin nicht der Mühe wert, tröstete er den Hengst schließlich, da oh-nehin alle wüßten, daß er diese Klepper im Handum-drehen einholen und hinter sich lassen könnte …

Ehe sie zur Stadtmauer kamen, bogen die Zwerge wie geplant in eine schmale Straße zur Rechten ein

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und begannen so die Umfahrung von Drassol. Die Felder erstreckten sich bis zu den Häusern, und das Netz der schlammigen Wege zwang zu weiten Um-wegen. Die wenigen Menschen, die sie sahen, wür-digten den Wagen keines Blickes.

Nach zwei, drei Meilen begegneten sie sechs wei-teren Lanzenreitern, die von einem sehr jungen, sehr gutaussehenden Offizier angeführt wurden. Die Rei-ter befanden sich ganz offensichtlich auf Patrouille.

»Schlimme Zeiten«, murmelte Clevas auf Zwer-gisch, »wenn die Patrouillen aus mehr als zwei Mann bestehen.«

»Noch schlimmer«, fügte Irgenas hinzu, »wenn es nötig ist, einen Offizier an ihre Spitze zu stellen.«

Höfliche Grüße wurden ausgetauscht, als Wagen und Patrouille aneinander vorbeizogen und die Sol-daten Zurkin anerkennend musterten.

»Er fliegt dahin wie der Wind!« rief Damlo ihnen stolz zu.

»Das glaube ich«, antwortete der Patrouillenfüh-rer. »Was für ein prachtvolles Tier.«

Die Lanzenreiter schwenkten Richtung Stadt, tu-schelten miteinander, und gelegentlich drehte sich einer von ihnen um und sah dem Wagen nach.

Mit einem Mal befand sich Damlo wieder im Ver-sammlungsbaum von Waelton und wußte ganz ge-nau, daß Proco und die Bande beabsichtigten, ihm einen bösen Streich zu spielen.

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»Es gibt Probleme«, warnte er die Zwerge. »Ich weiß nicht warum, aber sie haben etwas gegen uns.«

»Wir können aber nicht fliehen«, erwiderte Irge-nas, »also tu so, als würdest du nichts merken.«

»Gut«, seufzte Damlo sarkastisch, »darin bin ich ein Meister!«

Wie befürchtet, machten die Lanzenreiter plötzlich kehrt, ritten zum Wagen zurück und hielten ihn an. »Junge, woher hast du dieses Pferd?« fragte der Of-fizier.

»Mein Onkel hat es mir geschenkt.« »Muß ein ziemlich reicher Onkel sein.« »Er wohnt in Eria und stellt dort Baumskulpturen

her.« »Ich verstehe. Auch die Kleider, die du trägst, sind

ein Geschenk deines Onkels?« »Danebengegangen!« murrte Clevas leise. In den letzten Tagen war Damlo dünner geworden,

und seine Kleider, die an sich schon sehr schlicht wa-ren, hingen ihm nun wie alte, verschrumpelte Säcke am Körper. Neben Zurkin und seinem kostbaren Sat-tel wirkten sie entschieden fehl am Platz.

»Das sind nur meine Reisekleider«, flunkerte Damlo in einer Augenblickseingebung.

»Und die guten befinden sich in einer dieser Kis-ten?«

»Also, eigentlich ist die Kiste mit meinen Kleidern in den Sweldal gefallen, als wir ihn überquerten.«

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»Ich wette, es war die einzige, die ins Wasser fiel.«

»Ja. Das heißt – nein. Auch ein Faß und eine zwei-te Kiste. Ich glaube, sogar eine dritte.«

»Schluß jetzt!« fuhr Irgenas dazwischen, während Damlo schamrot anfing, sich zu verhaspeln. »Der Junge hat das Pferd von Banditen gestohlen.«

»Einer ganzen Bande?« »Ganz recht. Dreizehn Banditen, um genau zu

sein.« »Was du nicht sagst! Und was machten die Bandi-

ten, während er ihnen das Pferd klaute?« »Sie betranken sich.« »Bemerkenswert. Nun verratet mir noch eines:

Wie kommt es, daß sie euch daraufhin nicht gefolgt sind?«

»Zu Fuß?« brauste Irgenas auf, den der Sarkasmus des Patrouillenführers allmählich zur Weißglut brachte.

»Zu Fuß! Das heißt, die Banditen haben es ge-schafft, sich auch die anderen Pferde abjagen zu las-sen?«

»Ganz recht.« »Und wo sind diese Tiere? Sind sie auch von der

Fähre gefallen?« »Wir haben sie verschenkt.« »Sehr lobenswert. Ganz besonders für fahrende

Händler.«

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»Dürfen fahrende Händler nicht großzügig sein?« »Gewiß, gewiß! Aber elf Pferde würden euch,

wenn sie nicht aus Holz sind, mehr bringen als eure ganze Ware mitsamt dem Wagen! Und es waren doch keine Holzpferde, oder?«

Irgenas würdigte ihn keiner Antwort. »Gut. Also folgt uns in die Kommandantur.« »Was soll das! Ist es ein Verbrechen, ein schönes

Pferd zu besitzen?« »Wenn ein dahergelaufener Bettlerjunge es besitzt,

dann wahrscheinlich ja.« Der Offizier hieß Damlo auf den Wagen steigen

und nahm Zurkin an den Zügeln. Er sah sich den Hengst genauer an, strich ihm über das Halsfell und ließ die Hand anerkennend über das weiche Leder des Sattels gleiten, bis sie an den silbernen Knauf stieß. Der Mann beugte sich darüber, zuckte zurück und verzog ungläubig das Gesicht. Er bellte einen kurzen Befehl, und im Nu war der Wagen von den Reitern der Patrouille umstellt. Diesmal waren ihre Lanzen zielgerichtet.

»Steigt vom Wagen.« »Warum?« »Runter vom Wagen und keine Diskussionen!« Bis jetzt hatte der junge Offizier seinen Spaß da-

mit gehabt, drei ertappte kleine Diebe lächerlich zu machen. Doch nun setzte er eine sehr ernste Miene auf und ließ den Wagen gründlich durchsuchen. Den

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Lanzenreitern entging zwar der doppelte Unterboden, sie beschlagnahmten jedoch Irgenas’ Axt, die Arm-brust, den schwarzen Degen und Damlos Stachel.

»Aber das ist doch nur ein Spielzeug!« protestierte der Junge.

»Es ist spitz«, entgegnete der Offizier kurz und warf einen Blick auf Irgenas’ Kettenhemd, Schild und Helm. »Händler, wie?« stieß er zwischen zu-sammengebissenen Zähnen hervor. »Fesselt sie!«

Die Männer taten wie geheißen, dann kletterte ei-ner von ihnen auf den Kutschbock. Die Zwerge und Damlo mußten sich nach hinten auf den Boden set-zen, und die ganze Gesellschaft machte sich auf den Weg in Richtung Stadt. Unaufhörlich wanderten die düsteren Blicke der Reiter zwischen Zurkin und den Gefangenen hin und her.

»Warum sagst du ihnen nicht, wer du bist?« flüs-terte Damlo Irgenas auf Zwergisch zu. »Sie werden uns beschuldigen, Zurkin gestohlen zu haben, und wir landen für eine ganze Weile im Gefängnis! Und das bedeutet weitaus mehr als vier Tage Verspä-tung!«

Da er wußte, wer sein Freund in Wirklichkeit war, verspürte Damlo keine Angst – ganz im Gegenteil, er kostete schon die Vorfreude auf die erschrockenen Gesichter der Lanzenreiter aus, sobald sich Irgenas zu erkennen geben würde.

»Ich hoffe immer noch, es vermeiden zu können«,

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flüsterte der Prinz zurück, »und in jedem Fall würde ich es nur einem höheren Offizier gegenüber tun und ihn bitten, es für sich zu behalten.«

Sie erreichten wieder die Hauptstraße und schlu-gen die Richtung zu den Stadttoren ein. Anfangs ging es an verstreut liegenden Häuschen – meist nicht viel mehr als Hütten – vorbei; dann führte der Weg zwischen richtigen Gebäuden hindurch. Damlo bestaunte sie mit weit aufgerissenen Augen: Sie klebten unglaublich dicht eines am anderen, und ihre glatten, spitzen Dächer schienen alle gleich zu sein. Durch das Fehlen von Ästen hoch oben wirkten sie sonderbar nackt, und die geraden Linien der kantigen Fassaden ließen sie noch bizarrer erscheinen. Auch die schnurgerade Straße hatte in Waelton nicht ihres-gleichen; dort zwangen die gerundeten Stämme der Riesenbäume den Wegen überall Kurven und Ein-buchtungen auf.

Zehn Minuten später begegneten sie einer zweiten Patrouille. Die Reiter tuschelten untereinander, und dann umringten die Neuankömmlinge den Wagen, um Zurkin und die Gefangenen eingehend zu mus-tern. Mit hasserfüllten Blicken.

Obwohl er die Hände am Rücken gefesselt hatte, versuchte Damlo, näher an die Rückwand des Wa-gens heranzukommen. Es gelang ihm, indem er sich an den Truhen entlangarbeitete und die Erschütte-rungen des Wagens ausnutzte. Aber die Soldaten un-

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terhielten sich mit leiser Stimme, und zwischen dem Knarren des Gefährtes und dem Klappern der Pfer-dehufe gelang es dem Jungen nicht, auch nur einen einzigen ganzen Satz aufzufangen.

Dann waren sie an der Stadtmauer von Drassol angelangt. Ungefähr fünfzig Fuß hoch und mehr als zehn Fuß dick ragte sie über den Toren auf, von de-nen jedes doppelt so breit war wie der Wagen der Zwerge. Sie wirkte wuchtig und einschüchternd, und Damlo starrte sie minutenlang an, ehe er hinter den Zinnen den einen oder anderen mit Pfeil und Bogen bewaffneten Wachposten entdeckte. Dann befand sich der Wagen plötzlich mitten unter den Leuten, die darauf warteten, den Zoll zu entrichten; sie alle fingen an, auf die Gefangenen einzuschreien, und et-liche von ihnen spuckten sie an.

»Nur keine Angst«, flüsterte Clevas dem Jungen zu. »Das passiert immer, wenn Gefangene durch eine Stadt transportiert werden.«

Damlo nickte, nicht sehr überzeugt. Die Sicher-heit, die ihm die Anwesenheit des Prinzen Cuorsaldo geschenkt hatte, war urplötzlich verflogen.

Langsam näherten sie sich der Stadtmitte, doch wo sie sich auch befanden, überall herrschte Einigkeit, wenn es darum ging, die Gefangenen auf dem Wa-gen zu beschimpfen und zu verspotten. Selbst als sie an einem großen Tempel vorbeikamen, den Damlo zu einem anderen Zeitpunkt staunend bewundert hät-

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te, strömten die Gläubigen aus seinem Inneren und schlossen sich der Horde an, die dem Wagen folgte. Irgendwann schleuderte ein Junge einen Stein, und wären die Lanzenreiter nicht dazwischengefahren, hätten es ihm aller Wahrscheinlichkeit nach seine Freunde gleichgetan.

Es war auf dem Stück, wo die Hauptstraße hügel-an führte, als Damlo aus dem Getuschel der Reiter den Namen »Zurkin von Eranto« heraushörte. Ganz klar, dachte er, alles dreht sich um den Hengst. Den-noch: daß er den ganzen Namen hörte, brachte eine Alarmglocke zum Klingeln. Eranto. Woran erinnerte ihn das?

Dann schnappte er das Wort »Mörder« auf – und da fiel es ihm endlich ein und sein Herz setzte aus. Der Graf von Eranto war der Edelmann, den man zwei Wochen zuvor tot aufgefunden hatte! Der »Gu-te Graf«, der vom Volk von Drassol so geliebt wor-den war! Derjenige, dessen Tod einen Aufstand zur Folge gehabt hatte. Und um diesen Tod zu rächen, hatte der Mob sogar eine prominente Persönlichkeit aus Eria umgebracht …

Der gleiche Mob, der jetzt den Wagen umringte. Mit einem Mal bekam Damlo Angst.

In Drassol fand gerade der Frühlingsjahrmarkt statt, und in der ganzen Stadt drängten sich die Massen. Rund um den Hauptplatz verlief eine fast ununter-

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brochene Reihe von Verkaufsständen mit Tischen, die schräg zur möglichen Käuferschaft geneigt wa-ren, um dieser die Waren besser sichtbar zu präsen-tieren. Manche Buden wurden von eigens dafür auf-gestellten Stützen gehalten, andere bestanden einfach aus den Transportkarren, die die Händler auf einer Seite durch große untergeschobene Steine angehoben hatten.

Fast alle Verkaufsstände wurden von bunten Mar-kisen beschirmt, unter denen eine Unzahl von Men-schen, die einander stießen und schoben, hierhin und dorthin drängelte. Viele tätigten ihre Einkäufe: hier Sandalen, dort einen Gürtel aus Leder, da die Klinge für ein Beil. Einer befühlte das Leinentuch, ein ande-rer betrachtete sich in einem Bronzespiegel, und ein dritter ließ sich grob gemahlenes Mehl abwiegen.

Obwohl der Radau bereits ohrenbetäubend war und alle schreien mußten, um sich Gehör zu ver-schaffen, übertönte das Gebrüll der fliegenden Händ-ler regelmäßig den allgemeinen Lärm. Die Krämer beschränkten sich nicht darauf, ihre Waren anzuprei-sen; jeder von ihnen hatte seine eigene Methode, die Aufmerksamkeit der unschlüssigen Kundschaft zu erregen.

»Na also! Na also! Hab ich es nicht gesagt?« kreischte ein dicker Marktschreier, ohne je zu erklä-ren, was er denn gesagt hatte und warum.

»Den Preis, den preis’ ich mir!« erklang ein sinn-

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loses Echo seitens eines seiner Kollegen, der Talg und Honig verkaufte.

»Hierher, schöne Dame! Was für eine schöne Da-me!« übertönte ihn eine Stentorstimme, die Schau-feln und Spitzhacken verkaufte und in deren Umfeld zwanzig Schritt weit kein weibliches Wesen zu sehen war. Aber die Männer sahen sich alle um, und der Händler hatte seinen Zweck erreicht.

Überall flatterten bunte Fähnchen. Etliche Buden verkauften am Spieß gebratenes Fleisch und Brot-scheiben, die als Unterlage dienten. Andere lieferten die Getränke – und das waren die Buden mit dem dichtesten Gedränge davor. Sie schenkten vor allem Bier aus, aber auch Wein, und gelegentlich wurde bei dem einen oder anderen ein Fäßchen unter dem Tisch hervorgeholt, ein wenig Likör daraus ausgegossen und daraufhin das Fäßchen wieder mit aller Sorgfalt verstaut. Die unverdrossensten ihrer Kunden waren mit eigenen Keramikbechern ausgerüstet und mach-ten die Runde – woraus sich die erhebliche Zahl an Betrunkenen ergab.

Um sich zu unterhalten, mußten die Passanten sehr laut reden, und so klang aus dem allgemeinen Gejoh-le das eine oder andere Wort an Damlos Ohr. Der Junge hatte noch nie so viele Menschen an einem Ort gesehen, und der Kopf schwirrte ihm von dem un-gewohnten Krach. Doch er hörte aus den Bemerkun-gen der Leute, daß das alles nur ein schwacher Ab-

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klatsch des gewöhnlichen Jahrmarktes von Drassol war. Und einige flüchtig aufgeschnappte Gesprächs-fetzen lenkten seine Aufmerksamkeit auf die Tatsa-che, daß es zwischen den einzelnen Verkaufsständen doch etliche leere Plätze gab, daß das Angebot an Waren spärlich war, und daß auf dem ganzen Platz kein einziger Jongleur seine Künste zeigte, kein Feu-erschlucker und auch sonst niemand aus dem Kreis der Gaukler, die auf der Suche nach Publikum im Land umherzogen.

Doch die Menschen wirkten unzufrieden und be-sorgt. Viele beklagten sich darüber, wie unsicher die Straßen geworden waren, und daß die Waren nicht so pünktlich und zahlreich eintrafen wie früher. Hier am Rande der Hegemonie gab es sogar Schwierigkeiten mit den normalen Verbindungen, aber es schien, daß selbst weiter drinnen nicht alles reibungslos lief. Schuld waren Irel und Mettenal, lautete der häufigste Kommentar: Die Soldaten dieser Städte verkleideten sich als Straßenräuber und überfielen die Wagenka-rawanen, die nach Drassol wollten. Und Eria unter-stützte sie ohne Zweifel, sonst hätte es schon einge-griffen.

Der Wagen bewegte sich nur langsam vorwärts und kämpfte sich durch das Gedränge. Die Menge, die gezwungenermaßen rund um das Gefährt zu-sammenrücken mußte, um ihm Platz zu machen, starrte die Gefangenen feindselig an. Und die Spu-

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cke, die aus den haßerfüllten Fratzen herüberflog, traf immer öfter ihr Ziel. Der Wagen fuhr so nah an den Leuten vorbei, daß sich Hände ausstreckten, die auf Damlo oder die Zwerge einschlagen wollten. Die Soldaten, offensichtlich an solches gewöhnt, schoben sie mit den Schäften ihrer Lanzen gutmütig zur Seite, stupsten sie leicht an die Brust oder die Schulter. Un-aufhörlich schlossen sich Vorbeikommende, ange-lockt von dem Tumult, dem Zug an und fragten nach dem Grund der Festnahme.

Hoffentlich erkennen sie Zurkin nicht, dachte Damlo immer wieder; auch diese Leute hätten den Rückschluß ziehen können, der auf der Hand lag. Jetzt wagte es der Junge nicht mehr, auch nur einen Blick auf den Hengst zu werfen.

Zwei Menschenschlangen folgten dem Wagen links und rechts über den ganzen Platz, und einige der Gesichter stachen aus der amorphen Masse her-vor. Die auffälligsten gehörten vier Betrunkenen, die Arm in Arm voranschwankten und denen offenbar das Geld ausgegangen war, weil sie nie stehenblie-ben, um ihre leeren Becher wieder auffüllen zu las-sen. Groß und grobschlächtig wankten sie neben dem Wagen her und benutzten das dichte Gedränge als Stütze, um sich auf den Beinen zu halten. Sie brüll-ten lauter als alle anderen und spuckten unentwegt in die Richtung der Gefangenen.

Und dann war da noch dieser verkrüppelte Bettler,

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der dem Wagen zwar folgte, sich aber ein wenig ab-seits hielt. Mit funkelnden Augen sah er herüber und wandte keine Sekunde lang den Blick ab. Sein Alter war schwer zu schätzen, aber die braunen Haarbü-schel, die man unter der zerlumpten Kapuze mehr er-ahnte als erblickte, schienen noch keine Spur von Grau zu zeigen. Er hinkte, und wenn er sich fortbe-wegte, ruckte er auf eine merkwürdige Art hin und her. Trotzdem gelang es ihm, mit überraschender Behendigkeit in dem Trubel voranzukommen. Und die drei auf dem Wagen zu beobachten. Er beobach-tete vor allem die Zwerge: Er fixierte sie nur, ohne zu schreien, ohne zu schimpfen, ohne zu spucken.

Eine andere Gestalt hingegen folgte dem Gespann, ohne es auch nur eines Blickes zu würdigen: ein kleiner, magerer Mann mit einem leicht pockennar-bigen Gesicht. Er war sorgfältig, jedoch keineswegs aufwendig gekleidet und schlängelte sich mit einer solchen Gewandtheit durch das Gewühl, daß er bei-nahe körperlos schien. Doch nach einer Weile merkte Damlo, daß er sich nicht ziellos bewegte, sondern hochkonzentriert nach Leuten Ausschau hielt, die ei-nen wohlhabenden Eindruck machten, ehe er wie ein Schatten an ihre Seite glitt. Ein Taschendieb! däm-merte es dem Jungen schließlich, aber kein einziges Mal konnte er mit seinem Blick verfolgen, wie der Mann tatsächlich jemanden bestahl. Jedesmal, wenn er um sein Opfer herumstrich, gab es irgendeinen

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kleinen Zwischenfall – entweder er stolperte, oder es stieß ihn jemand in die gewünschte Richtung, oder es war der wohlhabende Bürger, der strauchelte, und der Pockennarbige, der ihn auffing. Danach entfernte sich der Dieb blitzschnell und eilte an die Seite des nächsten Opfers, ohne daß Damlo eine Messerklinge im Einsatz gesehen hätte oder ein Beutelchen, das den Besitzer wechselte. Der Junge wunderte sich, daß noch kein einziger der Bestohlenen etwas be-merkt hatte.

Als es dann geschah, hatte Damlo keine Augen mehr für den kleinen Dieb. Der Wagen war schließ-lich am anderen Ende des Platzes angelangt und bog in eine breite Straße ein, wo sich der Markt zu beiden Seiten fortsetzte. Einer der Verkaufstische dort be-stand aus einem großen Karren, auf dem die Ware ausgezeichnet zu sehen war, obwohl ihn der Eigen-tümer nicht schräg gestellt hatte.

Sklaven. Zwei Jungen, ein kleines Mädchen und zwei jüngere Frauen. Sie waren mit nichts als einem leichten Umhang bekleidet, den der Händler dann und wann mit einem Stock zur Seite schob, um die Qualität seiner Ware sehen zu lassen.

Damlo wußte, daß die Sklaverei außerhalb von Waelton gang und gäbe war, hatte aber noch nie ei-nen dieser Unglücklichen zu Gesicht bekommen. Die Szene ekelte ihn an. Die Demütigung, der diese Menschen ausgesetzt waren, krampfte ihm den Ma-

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gen zusammen, und eine saure Wolke stieg ihm bis in den Mund hoch.

Viele Leute verloren nun das Interesse an dem Wagen mit den Gefangenen und begafften statt des-sen die Sklaven. Vermutlich stammte der erste Auf-schrei von einem, der gerade die Hand in die Tasche gesteckt hatte, um nachzusehen, ob er sich den Preis für eines der fünf Angebote leisten konnte. Es mußte sich um das letzte Opfer des Taschendiebes handeln, denn dieser stand noch neben ihm. Mit unschuldig-gelassener Miene blickte der Gauner um sich – auf-merksam, ruhig und konzentriert. Von den Schreien des Bestohlenen gewarnt, griffen alle nach ihren Börsen, und wer sie nicht fand, gesellte sich dem Chor hinzu.

Schließlich fiel der Blick des Taschendiebes auf den Wagen; er stand nur wenige Schritte entfernt, und die Gefangenen waren von allen Seiten gut zu sehen. Der Dieb kniff die Augen zusammen, betrach-tete auch die Lanzenreiter – und entdeckte schließ-lich Zurkin. Er erkannte ihn augenblicklich: Sein Mund klappte auf, das Kinn fiel ihm herab, und er ließ den Blick zu Damlo und den Zwergen zurück-wandern. Dann nahm er die gute Gelegenheit wahr und begann zu kreischen: »Das ist Zurkin von Eran-to! Schaut her! Es ist das Pferd des Guten Grafen! Sie haben seine Mörder gefaßt!«

Er hatte eine schrille, schwache Stimme, aber die

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Angst vor dem Entdecktwerden verlieh ihm die Kraft, die Aufschreie der Bestohlenen zu übertönen. Die Umstehenden verstanden, was er hinauskreisch-te, und mit einem Mal änderte sich der Tonfall des Gezeters. Niemand unternahm irgend etwas Be-stimmtes: Es wandten sich nur alle Augen dem Wa-gen zu, und plötzlich war die Atmosphäre bleiern und aufgeladen.

Damlo spürte, wie ihm die Angst die Kehle zu-sammenschnürte. Du hast nichts zu befürchten, ver-suchte er sich zu beruhigen, wir haben zwölf Lanzen-reiter zur Bewachung, und es droht uns nicht die ge-ringste Gefahr. Außerdem sind das alles anständige Leute: Familienväter, Mütter, Ehefrauen, Gatten … Es sind alles ganz normale Menschen, die nur zum Hauptplatz kamen, um zwischen den Buden herum-zuschlendern und sich am Jahrmarkt zu vergnügen.

Es gelang ihm jedoch nicht, sich zu beruhigen – auch weil die Lanzenreiter plötzlich sehr nervös schienen und die Gesichter der Zwerge – ohne je-doch ihre gleichmütige Würde zu verlieren – einen grauen Farbton angenommen hatten.

Niemand beachtete mehr die Klagen der Bestohle-nen, und der Taschendieb, der auf diese Weise sein Ziel erreicht hatte, machte sich ungehindert aus dem Staub. Bis zu diesem Augenblick hatten nur wenige Personen den Namen des Grafen von Eranto aufge-schnappt, aber alle bemerkten die schlagartige Ver-

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änderung der Atmosphäre. Es war in dem Grüppchen von Betrunkenen, wo

zum ersten Mal das Wort »Spion« fiel. Vielleicht klang es auch nur so ähnlich, aber wie beim Spiel »Stille Post« waren die Gefangenen nach einigen Minuten zu Spionen aus Eria, Irel und Mettenal ge-worden. Die Leute begannen am Wagen zu rütteln, und um sie zu vertreiben, wurden die Stöße der Lan-zenreiter ungeduldiger. Die ersten Steine flogen durch die Luft, und einer der Betrunkenen schleuder-te, vom allgemeinen Enthusiasmus erfaßt, sogar sei-nen Trinkbecher, der an der Kante einer Holzkiste zerschellte, keine Handbreit von Damlos Kopf ent-fernt.

Schließlich hörte die Menge auf, eine Menge zu sein – und wurde zum Pöbel. Und der Pöbel wurde zu einem wilden Tier mit tausend Köpfen und einer einzigen blutrünstigen Seele. Das Untier Pöbel: wild, mitleidlos und unkontrollierbar.

Selbst die Lanzenreiter wurden von Unruhe erfaßt. Einer von ihnen zog eine Trompete hervor, und über den allgemeinen Radau hinweg erscholl in höchster Dringlichkeit das Alarmsignal, das die Menge erst so richtig entfesselte. Mit wildem Gebrüll stürzte sie sich auf den Trompeter, zerrte ihn vom Pferd und zertrat sein Instrument, während er entkam, indem er zwischen den Beinen des eigenen Rosses hindurch-krabbelte. Die Lanzen waren nicht einsetzbar, und so

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ließen die Soldaten sie fallen. Sie zückten ihre Säbel und teilten links und rechts mit der flachen Klinge Schläge aus. Die sechs Mann der Nachhut bahnten sich einen Weg, um den Kameraden an der Spitze zu Hilfe zu kommen, und für einen Augenblick war die Menge gezwungen, von den Seiten des Wagens zu-rückzuweichen.

Vor Schreck erstarrt lehnte Damlo an einer Kiste nahe der Rückwand des Wagens, und in diesem Au-genblick der Ruhe wurde ihm plötzlich der Schmerz in seinem Oberschenkel bewußt. Der Junge drehte das Bein und bemerkte, daß ein Splitter des Trinkbe-chers durch den dicken Stoff der Hosen gedrungen war und im Fleisch steckte. Hektisch drehte und wendete er sich, bis es ihm gelang, an den Tonsplit-ter heranzukommen und ihn herauszuziehen. Den Tränen nahe, fing er an, mit der schärfsten Kante so gut es ging an seinen Fesseln zu säbeln.

In diesem Augenblick krachte eine sehr dicke Frau, von der Drängerei gestoßen, in einen Verkaufs-stand mit Naschwerk, der unter ihrem Gewicht zu-sammenbrach. Und da begannen die Plünderungen. Die Meute stürzte sich auf sämtliche Waren, die die Händler bis jetzt noch nicht fortgeräumt hatten, und im Nu waren die Tische der Stände und Buden wie leergefegt. Die Zuspätkommenden machten ihrer Wut über die entgangene Beute Luft, indem sie da-rangingen, in die Häuser an der Straße einzudringen.

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Es waren prächtige Gebäude, und der Überfall kam so unvorhergesehen, daß es nur den allerwenigsten Türstehern gelang, die Tore rechtzeitig zu schließen. Und die anderen wurden einfach zusammengeschla-gen.

Doch alles, was sich nahe genug bei den Gefange-nen befand, drängte nun noch dichter heran. Zahlrei-che Hände streckten sich nach Damlo und den Zwer-gen aus, die gezwungen waren, wild um sich zu tre-ten, um nicht vom Wagen gezerrt zu werden. Als der Soldat auf dem Kutschbock bemerkte, was hinter ihm vorging, und seine Schreie endlich von einem Kameraden gehört wurden, waren einige der Gewalt-täter bereits auf den Wagen geklettert. Aber die Lan-zenreiter waren ausgezeichnet trainiert und hatten nicht vor, ihre Gefangenen lynchen zu lassen; der Reiter sprang hoch, so daß er aufrecht auf dem Sattel stand, und schaffte es mit drei Sprüngen über den Rücken »Seiner Majestät« hinweg an die Seite des Kutschers. In einer gemeinsamen Aktion mit diesem gab es für die Angreifer von beiden Seiten Schläge mit flacher Klinge. Das wehrte sie wirkungsvoll ab.

Damlo befand sich jedoch im hinteren Teil des Wagens, und obwohl hier noch niemand hochgeklet-tert war, kamen ihm die Tentakel des Mobs bereits gefährlich nahe. Gierig streckten sich Dutzende Hände nach ihm aus und versuchten, ihn an der Jacke oder den Haaren zu fassen. Ohne seine Arbeit mit

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dem Tonsplitter an den Lederfesseln zu unterbre-chen, begann er wie ein Verrückter um sich zu treten, und unter Zurücklassung einiger Stoffetzchen und et-licher roter Haarbüschel in den Klauen der Meute ge-lang es ihm auch eine Zeitlang standzuhalten. Doch dann geschah das Unvermeidliche: Jemand brachte es fertig, ihn zu packen.

Er wurde genau in jenem Augenblick vom Wagen gezerrt, als er die allerletzte Faser seiner Fesseln durchschnitten hatte, und flog mit den Armen ru-dernd über die hintere Wand.

Er fiel nicht gleich zu Boden, dafür war das Ge-dränge zu dicht. Um sich schlagend und sich win-dend wie ein Aal befreite er sich vom Griff der Hand, die ihn festhielt, und rollte fast ein Dutzend Schritt weit über die Köpfe und Schultern des Hau-fens. Von dort aus gab man sich zwar alle Mühe, ihm Hiebe zu versetzen, doch die Leute waren einander im Weg, und so schüttelten sie ihn nur durch wie ein Hölzchen in den Stromschnellen.

Doch damit hatte es plötzlich ein Ende; Damlo fiel zu Boden und fand sich mitten unter Hunderten feindseliger Beine wieder, die alle nach ihm treten und auf ihm herumtrampeln wollten.

Er japste und winselte wie ein gefangenes Tier und versuchte, den Tritten zu entgehen, während er sich an Holzpantoffeln und Stiefeln vorbei einen Weg bahnte. Aus Mund und Nase floß ihm der zähe

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Schleim der Verzweiflung, der sich mit den Tränen mischte und sein ganzes Kinn bedeckte. Er überlegte nicht mehr. Er war nicht mehr imstande zu denken. Wie eine Maus in der Falle quiekte und kreischte er vor Schmerz und Wut, als er seinen Tonsplitter blind in diesen Wald von Beinen trieb, der ihn umgab. Doch dann brach die Spitze ab, und von diesem Au-genblick an ging es ihm nur noch darum, den schlimmsten aller Tritte auszuweichen.

Von irgendwoher hörte er jemand schreien, man hätte das Tor des Tidanles-Palastes aufgebrochen, und nun stünden die Reichtümer des Barons der All-gemeinheit zur Verfügung. Den Regen aus Münzen, die unter das Volk geworfen wurden, nahm Damlo nur halb wahr, und fast entging ihm auch die Män-nerstimme, die rief: »Gold! Es sind auch Goldmün-zen dabei, die gehört mir, du Lump, ich hab sie zu-erst gesehen!«

Das einzige, was ihm zu Bewußtsein kam, war, daß der Wald aus tödlichen Beinen ein wenig lichter wurde, und daß er nicht mehr der einzige war, der auf den Knien herumrutschte. Wie ein gehetzter Hase schlug er einen Haken nach dem anderen, bis er schließlich die richtige Richtung fand – ohne zu wis-sen, wohin sie führte, und ohne es wissen zu wollen. Jeder seiner Atemzüge klang wie das Jaulen eines verletzten Welpen.

Seine Flucht auf allen vieren endete erst, als er sie

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nicht mehr fortsetzen konnte. Er war an einer Haus-mauer angelangt und hatte sich aus purem Instinkt daran entlanggedrückt, bis er sich hinter einem um-gestürzten Karren befand. So eingekeilt zwischen der Mauer des Gebäudes und dem Boden der Ladeprit-sche hielt er inne, um Luft zu schnappen, bis er wie-der einigermaßen klar denken konnte.

Und dann spürte er in sich die rabiate Furie erwa-chen, neben der der soeben durchlebte Schrecken völlig verblaßte.

Jetzt weiß ich ja, wie ich sie besiegen kann! ver-suchte er sich zu beruhigen, während das erste wü-tende Gebrüll in seinem Inneren widerhallte: Ich muß nur zornig genug sein! Aber die Panik von kurz zuvor hatte sich erst zum Teil gelegt und köchelte unter der Oberfläche weiter, wo sie seinen Zorn zu einer schlammigen Angst schmelzen ließ.

Die Krämpfe kamen, und sie waren so heftig wie der Kampf gegen die brüllende Furie. Am Anfang wiederholte das Stimmchen in seinem Innern, das sich seine Klarheit noch erhalten hatte, immerzu, daß er diesmal ganz sicher sterben würde. Doch dann, während Damlo spürte, wie sein ganzer Körper zuck-te und rhythmisch gegen den Boden des umgestürz-ten Karrens schlug, erstarb die Stimme, und alles, was blieb, war der Kampf gegen »diese Sache«.

Er starb nicht. Langsam, ganz langsam kam er wie-

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der zu sich, erholte sich, ohne zu wissen, wie lange der Anfall gedauert hatte. Immer noch lärmte die Menge, und obwohl Damlo völlig erschöpft war, schreckte er bei jedem Schrei, der den allgemeinen Radau für einen Augenblick durchbrach, auf und stöhnte.

Plötzlich verdunkelte sich der Lichtschein, der zwischen Mauer und Karren fiel, und Damlo hob die Augen: Eine große schlanke Gestalt hatte sich über ihn gebeugt.

»Das hat aber gedauert, dich zu finden! Komm, schnell, gehen wir! Diese Leute haben dich noch nicht vergessen!«

Es war der verkrüppelte Bettler, der schon vor dem Aufruhr dem Wagen der Zwerge gefolgt war. In seinen Lumpen stand er nun aufrecht vor Damlo, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Er hatte die Kapuze zurückgeschlagen, und die Haare fielen ihm in zwei weichen Wellen über die Ohren nach hinten, wo sie im Nacken zusammengebunden waren. In seinen Augen blitzte es wie fernes Wetterleuchten.

Doch ungeachtet des durchdringenden Blickes schien er nichts Böses im Schilde zu führen – jeden-falls verstellte er Damlo den Weg, und so stand der Junge auf und ließ sich am Arm nehmen. Der Griff der Hand war fest und bestimmt – zu fest, zu be-stimmt, fiel Damlo plötzlich auf: Dieser Mann konn-te kein Bettler sein!

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Da entsann er sich Clevas’ Warnung: »… auch du wärst ein netter Happen für einen Sklavenhändler… Denk daran, falls wir je getrennt werden, und traue keinem Fremden!« Genau. Er hatte keinen Grund, diesem Fremden zu trauen, und der Fremde hatte keinen Grund, einem unbekannten Jungen zu helfen!

Es sei denn, er möchte einen Sklaven aus ihm ma-chen, dachte Damlo.

Mit einem Ruck entwand er dem Mann seinen Arm und schoß davon. Im Hinblick auf den kräftigen Griff seiner Hand hatte ihn der Junge damit offenbar überrascht, aber nach ein paar Flüchen in einer selt-sam trillernden Sprache heftete sich der Mann an seine Fersen.

Immer noch befanden sich sehr viele Menschen auf der Hauptstraße von Drassol, doch die Lage schien sich etwas beruhigt zu haben. So schien es. Aber bei jedem Aufruhr, wie aufgewiegelt die Mas-sen auch sein mögen, gibt es immer wieder Momen-te, in denen alle stehen und gehen, anstatt zu rennen, und sprechen, anstatt zu brüllen. Der Haß allerdings schwelt weiter, bereit, zum Sprung anzusetzen und aus Menschen wiederum mordlüsterne Bestien zu machen.

Die Verkaufsstände der Händler waren leergefegt, die herrlichen Häuser an der Straße ausgeplündert, und nun bildeten die Bürger Drassols Gruppen, be-sprachen das Vorgefallene und beklagten den Um-

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stand, daß die Mörder des Guten Grafen ihrer Rache entkommen waren.

Obwohl Damlo lief, so schnell er konnte, hätte ihn der Bettler nach wenigen Schritten eingeholt, wäre die Straße leer gewesen, denn er hatte plötzlich auf-gehört zu humpeln und bewegte sich mit der Ge-schmeidigkeit einer Wildkatze. So war der Junge ge-zwungen, im Zickzackkurs zwischen den Menschen hindurchzuflitzen wie ein Eichhörnchen durchs Ge-äst, und trotz allem blieb ihm der Verfolger dicht an den Fersen.

Grün und blau geschlagen, wie er war, müde und unter Schock stehend, wußte Damlo, daß er diesen Hindernislauf nicht mehr lange durchhalten konnte. Nur seinem Selbsterhaltungstrieb war es zuzuschrei-ben, daß er nicht jedesmal hinfiel, wenn er jäh die Richtung wechselte – dem Selbsterhaltungstrieb und dem Umstand, daß er ungeachtet der entrüsteten Re-aktionen, die er damit auslöste, absichtlich gegen die Leute stieß, um sie so als Puffer zu benutzen.

»Da ist er! Der mit den roten Haaren! Der Spion aus Irel! Der Mörder des Guten Grafen! Ergreift ihn! Ergreift ihn doch!« Die Stimme einer Frau, schrill und zornig, kam irgendwo aus dem Gewühl.

Von der Südseite des Platzes, die der Junge ent-langlief, zweigten mehrere Straßen ab. Sofort bog er in eine von diesen ein, als diese Stimme ertönte, aber schon rannten einige Leute hinter ihm her, weitere

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setzten sich in Bewegung und nach und nach drängte die ganze Menschenmenge blind in seine Richtung.

Der Junge warf einen kurzen Blick über die Schul-ter; die Bewegung brachte ihn aus dem Gleichge-wicht, er schwankte und taumelte zur Seite, stieß ge-gen eine Hausmauer und prallte zurück bis fast zur anderen Straßenseite, denn die Straße war mittler-weile zu einer engen Gasse geworden. Während er das Gleichgewicht mühsam wiedererlangte, fragte er sich plötzlich, weshalb der Bettler wohl zurückgefal-len war und sich von den Wildesten des wilden Hau-fens hatte überholen lassen. Er befand sich zwar im-mer noch in den vordersten Reihen seiner Verfolger, aber es hatte fast den Anschein, als wollte er keines-falls als ihr Anführer gelten.

Die Meute kam rasch näher, und Damlo, verwirrt und zerschlagen, wurde nur noch vom reinen Über-lebensinstinkt vorangetrieben. Er kannte die Stadt nicht, und die Häuser sahen für ihn alle gleich aus, also bog er bei Kreuzungen einfach dorthin ein, wo er die wenigsten Menschen erblickte, und fuhr fort zu laufen, zu laufen und zu laufen. Dennoch verlor er immer mehr an Terrain, während ihn schon jeder Atemzug schmerzhaft in der Brust stach.

Schließlich geriet er in eine Gegend, die nur aus gewundenen Sträßchen bestand, und als er merkte, daß die Meute nicht mehr unmittelbar hinter ihm war, trachtete er, sich in eine der Nebengassen zu

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verdrücken. Doch viele davon waren Sackgassen, und er verlor Zeit, weil er wieder umkehren mußte. Die anderen Gassen aber waren offenbar auch seinen Verfolgern bekannt, denn früher oder später hatte er immer die tobende, brüllende Schar an den Fersen.

Schließlich geschah das Unausbleibliche: Er geriet in eine Sackgasse und bemerkte es zu spät. Halbblind von den Tränen, befand er sich plötzlich vor einer hohen und glatten Mauer, die nirgendwo einen Halt bot, der ein Hinüberklettern möglich gemacht hätte. Es gab weder Türen noch Fenster, und die einzige Deckung hier boten ein altes Faß ohne Deckel, das in einer Ecke stand, und ein aufgeschichteter Stapel ka-putter Kisten.

Er drehte sich um und sah die Meute in das Gäß-chen drängen. Unter den Gesichtern erblickte er auch jenes des Bettlers, der einen gequälten Eindruck machte. Weil er seine Ware verloren hat, dachte Damlo; wenn dieses Pack mit mir fertig ist, wird nicht viel übrigbleiben, was er verkaufen kann…

Es wurde ihm klar, daß sein Tod bevorstand. Mit einem Mal verließen ihn alle Kräfte, und zusammen mit ihnen verschwand auch die Panik. Er wankte zu dem Faß in der Ecke und ließ sich daneben nieder-sinken, den Rücken an die Mauer gelehnt und den Kopf auf den Knien. Während er darauf wartete, daß die ersten Schläge auf ihn niederregneten, hatte er die glasklare Wahrnehmung jedes einzelnen Mus-

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kels, der sich entspannte, und jeder einzelnen Emp-findung, die seine Sinne verließ. Nicht einmal mehr Angst war da vorhanden, keine Spur davon. Er hörte die Meute näher kommen und akzeptierte sein Schicksal mit ruhiger Gelassenheit.

Unbeteiligt dachte er zurück an Waelton, an die Gaststube und an Onkel und Tante. In einem kurzen Augenblick der Erinnerung überflog er die letzten Jahre und entschied, daß sie ein unerwartetes Ge-schenk gewesen waren, denn wie alle seiner Art hätte er eigentlich beim ersten Krampfanfall sterben müs-sen. Nun würde die Rechnung aufgehen. Aber dem, was er zurückließ, weinte er nicht nach – außer viel-leicht ein wenig den Ortsgeistern und diesen letzten zehn Tagen der Reise mit den Zwergen. Aber er hatte sich schließlich doch nicht geirrt: Mit vierzehn Jah-ren hatte sich sein Leben tatsächlich grundlegend ge-ändert. Waelton war Vergangenheit, er hatte ein wahres Abenteuer bestanden, und nun wartete der Tod auf ihn.

Er hörte, wie die Verfolger an das Faß kamen. Er wußte, daß er ihnen nicht verborgen geblieben war, daß alle gesehen hatten, wie er hier hingesunken war. Aber, so sagte er sich, es war zu früh für ihre tödli-chen Schläge, er wollte sich noch ein wenig an Wald erinnern und an Sweldal und an die schönsten Au-genblicke, die er mit den Zwergen erlebt hatte: als er mit den Pferden am Floß angelangt war, zum Bei-

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spiel, oder als er es an der Seite von Irgenas mit ei-nem ganzen Rudel Wölfe aufgenommen hatte. Ge-dankenverloren beschloß er, daß die Leute ihn fürs erste einfach nicht sehen konnten. Es war wie in sei-ner Phantasie bei den Spielen oder bei den Alpträu-men, wenn er den »Ruck« einsetzte, um ihnen zu entkommen. Wie damals bei der Hütte des Fährman-nes, als er sich dem Banditen gegenübergesehen hat-te. Nur schämte er sich diesmal nicht, und sein Ver-halten erschien ihm auch nicht so unsinnig.

Da hörte er wütende Aufschreie und das Krachen des Holzes, als das Faß – keinen Schritt von ihm ent-fernt – in Trümmer ging. Und undeutlich nahm er auch die Aufregung der Menge wahr und sogar eini-ge nicht allzu heftige Schläge gegen die Beine, wie es geschieht, wenn jemand gegen einen stößt, ohne es zu bemerken. Er war völlig entspannt und wartete mit geschlossenen Augen still auf das Ende. Er erin-nerte sich daran, wie er seinen Scherz mit Clevas ge-trieben hatte, und an das unschuldige Lächeln von Irgenas, der kein Spielverderber war. Er rief sich das Bild ins Gedächtnis, wie die beiden Zwerge darange-gangen waren, ein Ruder zu basteln, und seinen ei-genen stummen Gruß vom Ufer aus, ehe er sich zur Fährmannshütte aufmachte. Ja, das Leben war ein Geschenk gewesen, mit diesen zehn abenteuerlichen Tagen als vielleicht schönstem Teil davon.

Plötzlich kam ihm zu Bewußtsein, daß irgend et-

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was nicht stimmte. Wieso prügelte niemand auf ihn ein? Die Meute umringte ihn doch schon eine ganze Weile! Er öffnete die Augen und hob den Kopf: Das Gäßchen war gedrängt voll mit Menschen. Er hörte, wie jemand die Kisten auf der anderen Seite zer-schmetterte, und sah neben sich die Reste des Fasses: ein Häufchen gekrümmter, zersplitterter Hölzer, vermischt mit dem einen oder anderen rostigen Rei-fen.

Unverständlicherweise schienen ihn die Leute überhaupt nicht zu beachten. Sie sahen sich um, und ihre Blicke, die ihn streiften, gingen ins Leere. Doch auch wenn er hier am Fuß der Wand kauerte, war er vollständig zu sehen!

Aus einiger Entfernung beobachtete der Bettler die Meute mit verschränkten Armen. Lächelnd.

»Jedenfalls«, rief er plötzlich, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden, »würde ich mir etwas über die Haare tun, wenn ich er wäre!« Und dann ließ er einen Lumpen zwischen die Trümmer des Fasses fal-len.

Eine Minute später waren Trompetenstöße aus der Ferne zu hören, und das Gedränge löste sich hastig auf. Der Bettler ging als letzter, leise vor sich hin trällernd.

Völlig durcheinander, blieb Damlo die nächste halbe Stunde reglos sitzen; dann fröstelte es ihn, und er er-

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hob sich. Sein Blick fiel auf den Lappen, den der Bettler zurückgelassen hatte, aber er wußte nichts damit anzufangen und verließ das Gäßchen, ohne ihn aufzuheben.

Erschöpft, mit zerfetzten Kleidern und am ganzen Körper blau geschlagen, irrte er wie ein Schlafwand-ler durch die Stadt, ohne zu wissen, wohin sein Weg führte, und ohne sich auch nur im mindesten dafür zu interessieren. Hin und wieder bemerkte er eine Rauchsäule vor sich und änderte die Richtung. Wenn er eine Ansammlung von Menschen ausmachte, ver-drückte er sich schleunigst. Wenn er Soldaten be-merkte, verdrückte er sich schleunigst. Wenn er ei-nen Bettler sah, verdrückte er sich schleunigst. Aus einem Reflex heraus – ohne zu denken und ohne eine bestimmte Vorstellung, der er folgte.

Allmählich ließ er das Stadtzentrum hinter sich. Instinktiv wählte er einen Weg, der den Hügel hinab-führte, und so befand er sich nach einer Weile direkt an der Stadtmauer. Daran wanderte er entlang, bis er die Stadttore erblickte. Doch dort waren Lanzenrei-ter. Sofort kehrte er um und ging den Weg zurück, den er gekommen war.

Lange Zeit marschierte Damlo so dahin, ohne zu bemerken, daß die Häuser immer baufälliger wurden und sich langsam zu richtigen Bruchbuden wandel-ten. Er bemerkte auch nicht, daß die Sonne bereits unterging, und da er keine Ahnung hatte, was eine

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verrufene Gegend war und wie sie aussah, wurde ihm nicht bewußt, daß er längst in das entsprechende Stadtviertel eingedrungen war.

»Wie hübschl Schau an, was für schöne rote Haa-re!« Die Stimme der Frau klang vulgär und heiser vom Alkohol.

Eine Hand strich Damlo über den Kopf. Er bückte sich, wich ihr aus und stürzte sofort los.

»Wo rennst du denn hin, Rotznase? Ich beiß dich doch nicht!«

»Dafür hat sie nicht mehr genug Zähne!« Das war ein ganzer Chor aus Gewieher, aber es

klang nicht besonders bösartig. Niemand folgte Damlo, und so drehte er sich um und ging ein paar Schritte zurück. Drei in die Jahre gekommene Frauen musterten ihn grinsend, von denen eine tatsächlich keinen einzigen Zahn im Mund zu haben schien. Alle drei trugen zerlumpte Kleider und lehnten neben der Tür einer klapprigen Hütte. Ihre Füße waren nackt, und der eingetrocknete Schlamm der Straße bedeckte ihre Beine bis zur halben Wade.

»Na, junger Mann, wo willst du denn so eilig hin?«

»Hast du vielleicht ein Geldstück für mich?« »Sei still! Ich hab ihn zuerst gesehen!« »Nein, du hast bloß zuerst die Hand nach ihm aus-

gestreckt! Gesehen habe ich ihn!« »Hört auf zu streiten! Er ist doch bloß ein Junge!«

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»Du, misch dich nicht ein! Du treibst es ja sogar mit Aussätzigen!«

Und im nächsten Augenblick schrieen sie alle drei durcheinander. Als die Fäuste zu fliegen begannen, ergriff Damlo schleunigst die Flucht. Obwohl ihm niemand folgte, stürmte er einige Minuten lang da-hin, ohne auf die Richtung zu achten; nur hin und wieder warf er einen Blick über seine Schulter zu-rück.

Und das war der Grund, warum er in den Jungen hineinrannte. Er verspürte einen heftigen Schlag, und im nächsten Augenblick saß er schon im Schlamm.

»Das hast du absichtlich getan!« Der Rüpel war wieder aufgesprungen und stand mit verschränkten Armen und unverschämter Miene drohend vor ihm. Eine lange Narbe zog sich über seinen Hals und seit-lich nach oben bis zur Wange.

Damlo sah ihn verständnislos an, ohne zu antwor-ten.

»Ich hab gesagt, das hast du absichtlich gemacht!« »Gar nicht wahr«, murmelte Damlo. »Klar doch!« An dieser Stelle hatte sich die Straße zu einem

kleinen matschigen Platz erweitert, der von wind-schiefen Buden und Gestrüpp gesäumt war. Das ein-zige Licht stammte vom Mond und von dem schwa-chen Schein aus den Fenstern der Hütten, die wie durch ein Wunder nicht in sich zusammenfielen. Aus

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einer der Hütten kamen in diesem Augenblick gerade weitere sieben Jungen.

»Was ist los, Frusta?« fragte der größte von ihnen. »Er hat mich zu Boden geschlagen!« »Wieso läßt du dir das gefallen?« »Er ist gerannt, und ich sah ihn nicht kommen.« »Das geschieht dir recht! So lernst du vielleicht

aufzupassen, wenn du Wache hast!« Der Wortführer versetzte ihm einen Stoß, und er

landete wiederum im Schlamm. Dann wandte er sich an Damlo: »Was willst du? Was suchst du hier? Das da ist mein Territorium!«

Anstelle einer Antwort fuhr Damlo fort, ihn wie ein Idiot anzustarren.

»Rede schon! Was machst du hier?« Ohne ein Wort zu sagen, stand Damlo langsam

auf. »Hast du nicht verstanden? Bist du stumm oder

nicht ganz dicht?« Damlo setzte sich wieder in Bewegung, wobei er

einen sorgfältigen Bogen um den langen Kerl schlug. Dabei umgab ihn eine so sonderbare, weltfremde Ausstrahlung, daß der Lange einen Moment lang zauderte und ihn vorbeiließ. Doch sofort riß er sich wieder zusammen: Ein einziger Eindringling reichte schon, und als nächstes würden alle so tun, als könn-te man in seinem Revier ungestraft herumhängen! Mit einem Satz war er an Damlos Seite, packte ihn

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am Handgelenk und drehte ihm den Arm auf den Rücken.

»Wenn ich mit jemandem rede, will ich eine Ant-wort, klar?«

»Also ich glaube, der ist besoffen«, kicherte ein anderer.

Damlo machte einen schwachen Versuch, sich zu befreien, aber der Griff des großen Jungen war ei-sern.

»Besoffen oder nicht, er antwortet mir oder er kriegt ne Abreibung!«

In diesem Augenblick ertönte die Stimme eines Mannes: »He, du! Laß ihn los!«

Der Griff seines Angreifers lockerte sich eine Se-kunde lang, und Damlo gelang es, ihm seinen Arm zu entwinden. Ohne den neu Hinzugekommenen auch nur mit einem Blick zu streifen, rannte er wie-der los. Doch er kam nur drei Schritte weit, dann packte ihn eine rohe Hand an den Haaren und riß ihn zurück, so daß er fast das Gleichgewicht verlor.

»Wo soll’s denn hingehen, Kleiner?« fragte der Mann und drehte Damlo zu sich. »Dich kenne ich doch, wie? Ich hab dich auf dem Markt gesehen!«

Es war ein Bulle von einem Mann, gekleidet in ei-ne weite Tunika und einen gut gearbeiteten Umhang. Er hatte eine flache, unglaublich verbogene Nase und war fast kahl, aber der Spitzbart war parfümiert, und das Haar, das ihm geblieben war und bis an die

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Schultern hing, wirkte gepflegt. »Er gehört uns!« knurrte der Kopf der Bande. »Macht euch aus dem Staub, Bettlerpack!« Der lange Kerl murmelte etwas, und der Kreis sei-

ner Anhänger machte einen Schritt zurück; plötzlich hatte jeder von ihnen ein Messer in der Hand.

»Laß ihn los!« »Ist schon gut«, sagte der Mann hastig, ohne je-

doch die Finger aus Damlos Haaren zu nehmen. »Ich gebe zu, er gehört euch. Aber ich bin bereit, für ihn zu bezahlen.«

»Wieviel?« »Zwei Kupfermünzen.« »Du hast sie wohl nicht alle! Er ist mindestens

fünf Silberlinge wert!« »Auf dem Markt vielleicht. Hier nicht. Außerdem

– seht ihn euch doch an: Er ist voller blauer Flecken! Also sagen wir, vier Kupfermünzen.«

»Zu wenig. Wir verkaufen ihn auf dem Markt.« »Rede kein dummes Zeug!« lachte der Mann auf.

»Wenn du dich dort blicken läßt, wirst du selber ver-kauft! Fünf Kupfermünzen.«

»Es könnten auch fünf Messerstiche werden!« »Gut möglich, aber einer von euch läßt dabei ganz

sicher sein Leben!« Mit diesen Worten zog der Mann in aller Ruhe einen langen Dolch unter dem Umhang hervor. »Acht Kupfermünzen – eine pro Kopf.«

»Zehn! Drei für mich, ich bin der Anführer.«

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»Also gut. Zehn Stück. Und jetzt weg mit den Messern!«

Die Jungen steckten die Waffen ein, und zuletzt tat es ihnen der Mann gleich. Er holte eine Silbermünze hervor und warf sie dem Kopf der Bande zu, der sie im Flug auffing.

»Und so«, sagte er zu Damlo, nachdem sich die anderen verzogen hatten, »bist du noch mal davon gekommen.«

Der Junge antwortete nicht, gab sich nur weiterhin hartnäckig alle Mühe freizukommen. Der Mann packte ihn am Handgelenk und ließ seine Haare los. Dann betrachtete er Damlo eingehend von Kopf bis Fuß.

»Schöne Haut«, stellte er fest, »glatt und flecken-los, wenn man von den blutunterlaufenen Stellen ab-sieht. Auch die Zähne sind gar nicht schlecht, und al-les in allem bist du recht hübsch. Sie werden sich in die Haare geraten, um dich zu kriegen, da kannst du ganz sicher sein. Wenn ich mich richtig dahin-terklemme, könntest du mir sogar fünfzehn Silber-linge bringen. Natürlich müssen wir dir den Schopf komplett abrasieren, denn so bist du zu leicht er-kennbar. Aber das ist kein Problem, viele Leute mö-gen Jungs mit glattrasiertem Kopf. Gehen wir.«

Damlo folgte ihm widerstandslos. Sie marschier-ten zwanzig Minuten lang durch die verwinkelten, übelriechenden Gassen und kamen in eine Gegend

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mit höheren, jedoch halb verfallenen Gebäuden. Der Mann steuerte zielstrebig auf eines davon zu, dessen Fenster fast alle vergittert, zum Teil sogar zugemau-ert waren.

Die beiden befanden sich immer noch etwa hun-dert Schritt vom Tor des Hauses entfernt, als aus ei-nem dunklen Winkel der hinkende Bettler auftauch-te. Er strebte demselben Gebäude zu, ohne Damlo und den Mann zu bemerken. Doch bevor er klopfte, blickte er sich um, und da sah er die beiden. Er kniff die Augen zusammen und kam ihnen entgegen; er lä-chelte – aber nur mit dem Mund. Damlo spürte, wie der Mann an seiner Seite erstarrte.

»Gut gemacht, Faner. Ich sehe, daß du mir den Jungen zurückgebracht hast.«

»Du mußt dich irren, Uwaen! Dieser Junge gehört mir!«

»O nein!« lachte der Bettler auf, ohne wirklich amüsiert zu klingen. »Ich kann mich nicht irren. Nicht bei diesen Haaren!«

»Er kann dir gar nicht gehören, weil er erst heute nachmittag in die Stadt gekommen ist. Er war es, der den ganzen Tumult auf dem Marktplatz verursacht hat! Ich habe ihn gerade eben gekauft. Und außer-dem hat er noch kein Brandmal.«

»Ich muß dich wohl mißverstanden haben. Einen Augenblick lang dachte ich schon, du würdest mich einen Lügner nennen.«

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Damlo nahm die Bewegung wahr, mit der die Hand des Mannes unter den Umhang glitt, aber noch war der Dolch nicht zum Vorschein gekommen.

»Ich will keinen Unfrieden, Uwaen. Ich habe fünf-zehn Silberstücke für diesen Jungen bezahlt: drei Goldstücke – und die ist er auch wert.«

»Man hat dich übers Ohr gehauen, Faner, denn da er schon mir gehört, stand dieser Junge nie zum Ver-kauf!«

»Zwinge mich nicht zum Kampf, Uwaen. Es wür-de dir nicht gut tun.«

»Ich zwinge dich zu gar nichts. Ich habe dir nur gedankt, weil du mir den Jungen zurückgebracht hast. Und da die Sache damit erledigt ist, kannst du ihn auch loslassen.«

Der Bettler stand fest mit beiden Beinen auf dem Boden, die Arme ließ er schlaff und abwartend he-rabhängen, und so sah er seinem Gegenüber in die Augen. Nichts an der Situation schien ihn nervös zu machen – ganz im Gegenteil: eher wurde er immer ruhiger. »Und zwar sofort«, fügte er mit leiser Stim-me hinzu.

Es war schon eine Weile her, da hatte Damlo eines Tages einen Luchs entdeckt, der ausgestreckt unter einem wilden Apfelbaum lag. Er schlummerte tief und fest, seidenweich und entspannt. Plötzlich war ein Apfel vom Baum gefallen. Doch noch ehe der Apfel den Boden berührte, war der Luchs schon zwei

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Ellen hoch in die Luft gesprungen, alle viere von sich gestreckt, sämtliche Krallen ausgefahren und die Zähne gebleckt. Damals hatte der Junge ungefähr ei-ne halbe Stunde lang gelacht, doch die blitzschnelle Reaktion und das Tempo des Sprunges hatten sich ihm ins Gedächtnis gegraben. Jetzt erinnerte ihn der Tonfall des Bettlers an diesen Luchs, und mit einem Mal erschien er ihm gefährlicher als jeder verborge-ne Dolch. Das mußte offenbar auch der Sklaven-händler so empfunden haben, denn unversehens ließ er Damlos Handgelenk los.

»Den Hals sollst du dir brechen!« fauchte er und schleuderte Damlo mit einem heftigen Stoß dem Bettler in die Arme.

Nun packte Uwaen ihn seinerseits am Handgelenk, und ohne den anderen aus den Augen zu lassen, wich er zusammen mit Damlo ein paar Schritte in Rich-tung Straßenmitte zurück. »Nach dir«, sagte er zu Faner.

»Das hat noch ein Nachspiel, Uwaen« knurrte der Mann und trat ans Tor.

»Stets zu deiner Verfügung.« Der Sklavenhändler schlug in einer unregelmäßi-

gen Abfolge von Klopfzeichen ans Tor, worauf sich in einem der großen Flügel eine Tür öffnete und ein übler Typ heraustrat, gefolgt von einem Schwall Ge-lächter, Geschrei und Gefluche. Er musterte die Neu-ankömmlinge, nickte und gab den Weg frei. Nur Fa-

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ner trat ein. Mit einer Handbewegung hieß Uwaen den Mann die Tür wieder schließen, und als sie allein zurückgeblieben waren, wandte er sich an Damlo.

»Und jetzt stellen wir eines klar, mein Junge, denn ich habe nicht vor, dich mein Leben lang an der Hand zu führen. Also: wenn du die Absicht hast, dich aus dem Staub zu machen, dann bringst du dich in Schwierigkeiten. Verstanden?«

»Viel mehr in Schwierigkeiten als jetzt…«, mur-melte Damlo und hob die Schultern. Aller Wahr-scheinlichkeit nach war Uwaen ein Konkurrent von Faner, und für ihn, Damlo, machte es keinen Unter-schied, wer von den beiden ihn nun weiterverkaufte. Er fühlte sich so müde und erschöpft, daß er nicht einmal mehr Angst verspüren konnte.

»Genau: viel mehr in Schwierigkeiten als jetzt!« betonte Uwaen. »Die Aufregung hat sich noch nicht gelegt, und ich versichere dir, diesen Leuten hat dein Spielchen nicht gefallen.«

»Was für ein Spielchen?« »Ja, ja. Du weißt genau, wovon ich rede. Aber für

den Augenblick reicht es, wenn du nicht abhaust, so-bald ich dich loslasse. Das hier ist der Sitz der Bett-lerküste, und für diese Nacht bleibst du hier. Geh mir nicht von der Seite und sag nichts, auch wenn sie dich ausfragen.«

Damlo nickte.

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Bevor er die Klopfzeichen an die Tür schlug, ließ Uwaen ihn los. Ohne irgendeine Gefühlsregung folg-te ihm der Junge durch einen engen Korridor. Auf halber Länge befand sich ein offener Durchgang, aus dem der Lärm und das Geschrei drang, das bis auf die Straße zu hören gewesen war. Sie gingen an dem Torbogen vorbei, aber Damlo gelang ein schneller Blick in den Raum dahinter: Tische, Schemel und ei-ne Menge Leute, und dazu eine Frau, die sich dazwi-schen hindurchdrängte, sechs Tonkrüge in jeder Hand.

Die Wirtshausatmosphäre war so greifbar, daß den Jungen das Heimweh wie ein schmerzhafter Stich durchfuhr und ihn aus seiner Apathie aufrüttelte. Doch sofort überkam ihn wieder stumpfe Gleichgül-tigkeit, und er wußte, daß dieses Leben für ihn ein für allemal zu Ende war: In der Schenke hatte er drei kleine Jungen mit Ketten an den Knöcheln erblickt. Zwei kauerten unter einem Tisch zu Füßen ihrer Her-ren; der dritte stand aufrecht hinter dem seinen und wartete offenbar auf Befehle.

Der Korridor führte bis zu einem rechteckigen, fens-terlosen Raum, der von einer Öllampe und einer Kerze erhellt wurde. Von einer Seite führte eine Holztreppe nach oben, und auf der anderen befand sich ein Tresen, hinter dem ein alter Mann saß, der Damlo neugierig musterte.

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»Hat sich dein Geschmack geändert?« grinste der Alte.

»Den Schlüssel«, entgegnete Uwaen kurz. »Gehört er dir?« ließ der Alte nicht locker und

deutete auf Damlo. »Den Schlüssel.« »Wer zahlt für ihn?« »Ich.« »In Ordnung. Viel Vergnügen.« Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, nahm U-

waen den Schlüssel und eine Kerze, die er an jener entzündete, die auf dem Tresen stand. Dann führte er Damlo über die Treppe nach oben und wieder einen langen Korridor entlang, von dem zahlreiche Türen abgingen.

Der Junge folgte ihm apathisch; er fragte sich, wie lange er wohl noch ohne Ketten herumlaufen würde.

Als sie in die Kammer traten, steckte Uwaen als erstes die Kerze in einen Leuchter, der auf einem Tischchen neben dem Bett stand, während der Junge reglos und ohne großes Interesse vermerkte, was es sonst noch zu sehen gab: eine nackte graue Wand, einen Schemel, eine Truhe und einen Dreifuß mit ei-nem Waschbecken voll Wasser.

»Wie heißt du?« »Damlo Rindgren.« »Wie alt bist du?« »Vierzehn.«

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»Wie bist du bloß in dieses Schlamassel geraten?« Der Junge antwortete nicht. »Na gut. Zieh dich aus.« Damlo gehorchte mechanisch, ohne ein Wort des

Widerspruchs. »Was ist denn da mit deinem Arm geschehen?« »Ein Wolf.« »Wurde gut verarztet.« Uwaen zog sich das Hemd aus, wusch sich und

trocknete sich mit einem Tuch ab, das er aus der Truhe holte.

»Los, an die Arbeit«, sagte er und zeigte auf das Waschbecken. »Danach wasch auch deine Kleider. Und wenn du schon dabei bist, kannst du dich auch meines Hemdes annehmen.«

Damlo tat, wie geheißen, wobei er jedes Mal zu-sammenzuckte, wenn die Seife über seine blauen Flecken und Abschürfungen glitt.

»Und jetzt die Kleider. Wir befinden uns fast ge-nau über dem Kamin der Schenke, und morgen früh wird alles trocken sein. Das ist einer der Gründe, wa-rum ich mir immer diese Kammer geben lasse, wenn ich in Drassol bin.«

Uwaen hatte sich aufs Bett gesetzt, den Rücken an die Wand gelehnt, und aß Brot und Käse.

»Wasch es ordentlich, dieses Hemd. Du zahlst dir damit die Unterkunft für diese Nacht. Ja – und hör endlich auf, dich dauernd bei mir zu bedanken, weil

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ich deine Haut gerettet habe!« »Danke«, sagte der Junge mit tonloser Stimme. »Gib acht, daß du nicht vor lauter Dankbarkeit

zerfließt! Es ist dir doch hoffentlich klar, daß du mich die Hälfte des Geldes gekostet hast, das ich schon hatte – drüben auf dem Hauptplatz!«

Vor Damlos geistigem Auge zogen wirre Bilder von Menschen auf allen vieren vorbei, von Tritten und von Münzen, die auf der Erde in alle Richtungen rollten.

»Die Goldstücke?« »Kupfer, nur Kupfer«, lachte Uwaen leise in sich

hinein. »Ich schrie nur deshalb ›Gold‹, um die Leute auf andere Gedanken zu bringen und dir Gelegenheit zum Verschwinden zu geben. Danach haben sie so lange nach den Dukaten gesucht, bis sie alle davon überzeugt waren, ein anderer hätte sie längst gefun-den.«

Nachdem er die nassen Kleider auf dem überra-schend sauberen Fußboden ausgebreitet hatte, blieb Damlo mitten in der Kammer stehen. Die Aufgabe hatte ihm gut getan, hatte ihn ein wenig aus seiner Benommenheit aufgerüttelt.

Uwaen legte die Reste seiner Mahlzeit auf den Schemel; dann löste er das Beutelchen mit den Mün-zen vom Gürtel und ließ es daneben hinfallen, ehe er eine Decke aus der Truhe holte und sie dem Jungen zuwarf. »Such dir eine Ecke und schlaf jetzt.« Wor-

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auf er den Rest seiner Kleider auszog und sich ins Bett legte.

»Keine Ketten?« fragte Damlo. »Zufälligerweise bin ich kein Sklavenhändler.« »Warum bist du mir dann durch die ganze Stadt

gefolgt?« »Ich bin dir überhaupt nicht gefolgt. Nach dem

kleinen Scherz bei der Mauer in diesem Gäßchen hab ich dich aus den Augen verloren.« Er lachte leise auf. »Und das kann man durchaus wörtlich nehmen.«

Er sah Damlo abwartend an, aber da er nur einen verständnislosen Blick zurückbekam, seufzte er und ergriff wieder das Wort.

»Also bitte: Nachdem du dich in Luft aufgelöst hattest, habe ich noch einige Dinge in der Stadt erle-digt und bin dann hierher zurückgekehrt.«

Damlo nickte unsicher, streckte sich ohne jeden weiteren Kommentar auf dem Boden aus, wickelte sich in seine Decke und schlief auf der Stelle ein.

Uwaen betrachtete ihn noch eine ganze Weile schweigend und nachdenklich.

»Ob er es tatsächlich nicht weiß?« murmelte er dann, löschte die Kerze und drehte sich zur Wand.

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Damlo erwachte mitten in der Nacht. Durch das vergitterte Fenster erfüllte der unterge-hende Mond die Kammer mit einem bläuli-chen, silbrigen Schein. Von irgendwoher

kamen Stimmen: Es hörte sich ganz so an, als würde sich da ein Streit zusammenbrauen. Der Junge fühlte sich hellwach; er entsann sich zwar nicht vollständig sämtlicher Vorkommnisse des vorangegangenen Ta-ges, aber es reichte aus, um zu wissen, weshalb ihm jeder Knochen im Leibe weh tat.

Er dachte an die Zwerge. Vor sich hatte er das Bild der Soldaten, die ihre Gefangenen ernsthaft ver-teidigten, und das war ihm eine gewisse Beruhigung. Wahrscheinlich befanden sie sich längst in der Kommandantur der Lanzenreiter, und es ging ihnen gut. Und falls sich Irgenas schließlich doch dafür entschieden haben sollte zu offenbaren, wer er war, dann schliefen sie vielleicht in diesem Augenblick

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schon behaglich im königlichen Palast. Vom Bett her kamen Uwaens gleichmäßige Atem-

züge. Warum hatte er ihm, Damlo, das Leben geret-tet? Warum hatte er mit solcher Entschlossenheit ei-nem unbekannten Jungen geholfen?

Das fragte sich Damlo ein Weilchen, ohne eine Erklärung zu finden, und kam am Ende zu dem Schluß, daß er wohl zu wenig Lebenserfahrung be-saß, um Uwaens Verhalten zu durchschauen. Doch er wußte, daß der schlafende Mann dort ein falscher Bettler und ein falscher Krüppel war; Damlo konnte einfach nicht glauben, daß es ausschließlich Her-zensgüte war, die hinter Uwaens Hilfsbereitschaft steckte. Und so entschied er sich für eine sofortige Flucht. Nachdem er sich mit den Zwergen beraten haben würde – und wenn er dann noch Gelegenheit dazu haben sollte –, konnte er ja zurückkommen und Uwaen, falls er es verdiente, für alles danken.

Er setzte sich auf. Durch die Bewegung verschob sich die Decke auf dem Fußboden, und ein gelblicher Lichtstrahl erschien in der Kammer. Neugierig ge-worden beugte sich der Junge über die Stelle auf dem Boden, aus der das Licht kam.

Die Dielen, die ohnehin schon etwas lose aufla-gen, waren voller Astknoten, von denen einer her-ausgefallen war; er hatte ein Loch hinterlassen, durch das ein Teil der Spelunke darunter zu sehen war. Gewöhnt an das volle Holz der Riesenbäume zu

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Hause, hätte Damlo nie gedacht, daß man durch ei-nen Fußboden den Raum darunter sehen könnte. Staunend ging er daran, das Treiben da unten zu be-obachten.

Er sah eine Art Hinterzimmer, ein paar Tische, das Ende des Schanktisches und den Durchgang zur Kü-che. Zwei einander gegenübersitzende Betrunkene waren in Kampfstimmung. Sie warfen sich tödliche Beleidigungen an den Kopf und schienen sich schließlich so richtig in die Haare zu geraten. Sie sprangen auf und zogen die Messer. Damlo erwarte-te, daß jeden Augenblick Blut fließen würde, doch nachdem die beiden Streithähne einander bis auf eine Handbreit auf den Leib gerückt waren, hielten sie plötzlich inne. Sie verlegten sich darauf, einander wie verrückt brüllend das Gewerbe jedes einzelnen Familienmitgliedes des anderen in allen Farben zu beschreiben, wobei sie nicht anstanden, auch mehre-re Generationen zurückzugehen.

Niemand hielt die beiden zurück – ganz im Gegen-teil: um selbst nicht in die Sache hineingezogen zu werden, waren alle zur Seite gerückt. Für Damlo blieb es ein Rätsel, wieso die beiden ihre Messer nicht längst einsetzten. Doch plötzlich steuerte einer der Hitzköpfe auf den Ausgang der Kaschemme zu, und der andere folgte ihm auf dem Fuß. Sie ver-schwanden aus Damlos Gesichtsfeld, während sie schworen, einander die Bäuche aufzuschlitzen. Und

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ein Teil der übrigen Gäste schloß sich ihnen an. Der Junge wunderte sich. In Waelton erfreute sich

der Birkenschnaps der Apfelesche größter Beliebt-heit, und von Angetrunkenen verstand er eine Men-ge. Aber noch nie zuvor hatte er bei zwei wutent-brannten Besoffenen eine solche Selbstbeherrschung gesehen] Völlig perplex ließ er den Blick über jenen Ausschnitt des Raumes wandern, den er sehen konn-te.

Plötzlich erstarrte Damlo. Neben dem Durchgang zur Küche, im finstersten Winkel der Spelunke, saß ein Schwarzer Degen. Er führte eine geflüsterte Un-terhaltung mit einem anderen Mann, und Damlo wußte, er irrte sich nicht: der gleiche schwarze Um-hang, die gleiche grünliche Gesichtsfarbe, der glei-che Obsidianknauf am Griff des Degens, den er zwi-schen die Knie geklemmt hielt. Immer wieder unter-brach er das Gespräch und sah sich um: sogar der Gesichtsausdruck ähnelte dem des schwarzgekleide-ten Fremden in Waelton.

Da so viele Gäste nach draußen gegangen waren, hatte sich eine fast völlige Stille über den Raum ge-legt, und obwohl Damlo die einzelnen Worte des lei-sen Gespräches nicht verstehen konnte, hörte er doch die Stimmen. Der Schwarze Degen schob seine Waf-fe zur Seite und spannte den Saum des Umhanges zwischen die Knie, um sogleich einen Beutel mit Goldmünzen auf dieser Unterlage zu entleeren. Er

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teilte die Münzen in drei Häufchen, von denen er ei-nes in den Beutel zurückzählte und diesen wieder einsteckte. Die ganze Zeit über fuhr er fort zu flüs-tern, und Damlo kam auf die Idee, statt des Auges sein Ohr an das Loch zu legen. Es gelang; er konnte zwar nichts sehen, aber nun verstand er jedes Wort.

»Das ist für dich, und das ist für den Soldaten. Achte genau darauf, daß es auch der richtige Wagen ist, es könnte sein, daß mehrere auf dem Hof stehen. Wann wirst du es tun?«

»Nicht vor morgen«, antwortete der andere. »In dieser Kaserne kenne ich nur einen bestechlichen Lanzenreiter, und der hat heute nacht keinen Dienst.«

»Morgen also. So früh wie möglich!« »Mach ich.« Damlo preßte wieder ein Auge an das Loch und

sah gerade noch, wie der Schwarze Degen den Raum über die Küche verließ. Auch sein Gesprächspartner hatte sich erhoben, und als er sich nun auf den Platz setzte, den zuvor der Schwarze Degen eingenommen hatte – nämlich mit dem Rücken zur Wand –, er-kannte ihn der Junge wieder: Es war der Taschen-dieb, der das Startsignal für den Tumult auf dem Marktplatz gegeben hatte.

So leise es ging, stand Damlo auf, sammelte seine Kleider ein und zog sich an. Alles war so zerfetzt, daß er Mühe hatte, Arme und Beine in die dafür vor-gesehenen Öffnungen zu stecken. Sklavenhändler,

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falsche Hinkebeine, Schwarze Degen, Taschendiebe – wo war er da bloß hingeraten!

Wie auch immer, der Gauner da unten mußte da-von abgehalten werden, den Wagen der Zwerge zu stehlen. Das Gespann befand sich im Hof der Kaser-ne, also hatte Irgenas entschieden, sein Geheimnis nicht preiszugeben. Und nun lag alles an ihm, dem roten Hasenfuß… Er mußte die Kaserne finden und versuchen, eine Wache zu bestechen, noch ehe es der Taschendieb tat. Mit bedecktem Kopf und auf Kre-dit, denn die Edelsteine befanden sich im Wagen. Er seufzte tief und lautlos. Es würde nicht einfach sein.

Plötzlich fiel ihm der Geldbeutel ein, den Uwaen auf dem Schemel neben dem Bett abgelegt hatte. Damlo war nun fertig und bereit zu verschwinden, also schlich er zum Schemel. Schachbrettartig vom Mondlicht beleuchtet lagen da Geld, Käse und Brot. Damlo zögerte nicht lange; er nahm ein Stück Brot, brach den Käse entzwei und ließ den Geldbeutel, wo er war. Dann schlich er weiter zur Tür.

Gewiß war es nicht so schwer wie das lautlose Vo-rankommen in einem Wald, dennoch war Damlo stolz darauf, wie leise er sich bewegte. Auch die Tür sollte, wenn er sich recht erinnerte, beim Offnen kein Geräusch machen. Er blieb noch einmal stehen, um auf Uwaens Atemzüge zu hören: Sie kamen ruhig und gleichmäßig. Also drückte er leicht gegen die Tür, um zu gewährleisten, daß der Riegel nicht an

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der Halterung scharrte, dann drückte er die Klinke und öffnete die Tür einen halben Zoll.

Er erstarrte. Uwaen hatte sich im Schlaf herumge-dreht. Damlo wartete, bis sich die Atemzüge des Mannes wieder anhörten wie zuvor, dann öffnete er die Tür so langsam, wie es nur ging. Im Grunde war er doch nicht so sicher, daß nichts quietschte oder knarrte. Er benötigte fast zwei Minuten, bis er die Tür eine Haaresbreite um die andere und ohne das geringste Geräusch aufgedrückt hatte, dann war das Schlimmste geschafft. Er würde sie nicht wieder schließen, nachdem er draußen war. Er streckte den Kopf nach draußen und kontrollierte, ob der Korridor auch wirklich menschenleer war.

Da legte sich eine Hand auf seine Schulter. »Du gehst, ohne dich zu verabschieden?« fragte

Uwaen leise lachend. Damlo brauchte ein Weilchen, um sich von dem

Schrecken zu erholen. Währenddessen schloß Uwaen die Tür, zündete die Kerze an und setzte sich wieder aufs Bett, den Rücken an die Wand gelehnt.

»Wohin wolltest du denn gehen?« fragte er. »Weg.« »Warum?« »Was ist das hier für ein Ort?« »Ein sicherer. Und das ist gar nicht so wenig in

deiner Lage.« »Ich muß gehen.«

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»Wohin?« »Bin ich ein Sklave oder nicht?« »Das habe ich dir doch schon gesagt: nein!« »Also muß ich gehen.« »Nur nicht so eilig, Junge. Du hast doch gar kei-

nen Grund dazu.« »Man sieht und hört alles, was da unten ge-

schieht.« »Genau deswegen lasse ich mir immer diese

Kammer geben, wenn ich nach Drassol komme.« »Meine Freunde sind in Gefahr.« »Im Gefängnis sind sie in Sicherheit.« »Woher weißt du das?« »Ich habe mich davon überzeugt, gestern nachmit-

tag, ehe ich hierher zurückkam.« »Warum? Und warum hast du mir geholfen? Wer

bist du?« »Ich heiße Uwaen. Uwaen der Krüppel, wie sie

mich in dieser Gegend nennen, oder Uwaen der Sän-ger, wie ich anderswo heiße. Ich ziehe durch die Welt und spiele und singe.«

»Indem du dich als hinkender Bettler verkleidest?« »Gute Frage. Und was hat ein Menschenjunge bei

zwei Zwergen zu suchen?« »Sie begleiten mich nach Eria, zu meinem Onkel.« »Dann mußt du die beiden ja gut kennen.« »Einigermaßen, ja.« »Sie wollen auch nach Eria?«

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»Warum interessieren sie dich?« »Sie erinnern mich an jemanden«, sagte Uwaen. »Du warst schon in den Steinbergen?« »Möglicherweise habe ich sie anderswo getroffen.

Kaufleute reisen viel.« »Allerdings.« Die beiden starrten sich minutenlang schweigend

an. »Aber es stimmt, ich war schon in den Bergen, wo

die Zwerge leben«, sagte Uwaen schließlich. »Um dort zu singen?« »Ja. Am Hofe von König Thundras.« »Ach ja?« »Und ich hatte auch das Vergnügen, seinen Sohn

Irgenas kennenzulernen.« »Ach ja?« »Kennst du ihn?« »Soll das ein Witz sein?« »Ich muß feststellen, wieviel du weißt«, erklärte

Uwaen. »Sie müssen gerettet werden. Es ist äußerst wich-

tig!« »Wie hast du sie getroffen?« »Zu Hause, in Waelton. Sie haben im Wirtshaus

meines Onkels Rast gemacht.« »Wo habt ihr das Pferd des Grafen von Eranto ge-

funden?« »Ich habe es Banditen abgenommen. Da wußte ich

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noch nicht, wem es gehört hat.« »Schönes Pech. Und jetzt wolltest du deine Freun-

de ganz allein befreien, wie?« »Ja.« »Und wie hättest du das angestellt?« »Ich hätte einen Lanzenreiter bestochen, denke

ich.« »Womit?« »Weiß ich nicht.« »Warum hast du nicht den Geldbeutel mitgenom-

men?« »Mir gefiel der Gedanke nicht.« »Aber das Brot hast du genommen.« »Ich hatte Hunger!« brauste Damlo auf. »Gestern

hast du gegessen, ohne mir was davon zu geben!« »Du hast mich nicht darum gebeten.« »Ich bin kein Bettler!« »Irrtum. Du hast kein Geld und bist allein in einer

Stadt, die du nicht kennst. Niemand wird dir je etwas geben, wenn du nicht darum bittest.«

»Ich bitte nicht gern.« »Das ist eine Unannehmlichkeit, mit der man le-

ben muß.« »Du hast mir geholfen, ohne daß ich dich darum

gebeten hätte.« »Weil ich Irgenas wiedererkannt habe.« »Jetzt muß ich aber gehen«, stieß Damlo eine Mi-

nute später hervor.

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»Das kannst du jederzeit tun«, sagte Uwaen, »aber erst iß noch etwas.«

»Du läßt mich gehen?« »Wenn ich dich als Sklaven gewollt hätte, hätte

ich dich unten am Eingang zu einem solchen erklärt, und schon wärst du es für immer gewesen.«

»Warum?« »Weil wir hier an einem Ort sind, der sich ›Bett-

lerküste‹ nennt.« »Und was ist das?« fragte Damlo und biß ins Brot. »Die Bettlerküste regelt die Tätigkeiten der Un-

terwelt. Sie gibt die Bettellizenzen aus und bestimmt den Zehent, der zu zahlen ist. Sie schlichtet Streite-reien. Sie ist neutraler und geschützter Boden. Wenn du einen gedungenen Mörder brauchst, einen Fäl-scher oder jemanden, der einen Diebstahl für dich ausführt – hier kannst du ihn finden. Die Bettlerküste hat einen Sitz in jeder Stadt, der mit allen anderen Niederlassungen in Verbindung steht. Und überall ist man sehr wachsam, was den Schutz der Mitglieder betrifft.«

»Und die offiziellen Ordnungshüter wissen das nicht?«

»Doch, doch, aber ein Kontrollorgan für die Kri-minalität kommt allen gelegen, weil es verhindert, daß es zu wirklich großen Unannehmlichkeiten kommt.«

»Und die Sklaven?«

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»Hier gibt es auch viele entlaufene Sklaven, aber keinen, der einem Mitglied der Küste gehören würde. Für einen solchen gibt es nirgendwo einen sicheren Unterschlupf. Auf der ganzen Welt nicht.«

Während Uwaen sprach, war Damlo ein Stück Kä-se zu Boden gefallen, und nun bückte er sich, um da-nach zu suchen. »Also bist du ein Dieb?« fragte er, während er unter dem Bett Ausschau hielt.

»In gewissem Sinn.« »Was soll das heißen? Entweder man ist ein Dieb

oder man ist es nicht!« »Bist du einer?« »Nein!« »Aber du hast ein Pferd gestohlen.« »Das waren doch Banditen!« »Was soll das heißen?« lachte Uwaen. »Entweder

man ist ein Dieb oder man ist es nicht!« Der Junge antwortete nicht. Statt auf den Käse wa-

ren seine Hände auf einen langen, dünnen Gegens-tand gestoßen. Damlo tastete daran entlang, und dann zog er ihn unter dem Bett hervor. Der Anblick ver-schlug ihm den Atem: Es war ein Bogen, sehr dünn, sehr leicht und von äußerst eleganter Krümmung; außerdem waren deutlich antike Runen darauf zu er-kennen.

Damlo hatte keinen Zweifel. »Ein Elfenbogen!« rief er aufgeregt. »Wie der von Brabantis!«

»Was, zum Teufel, meinst du damit?« fragte U-

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waen barsch. »Daß Brabantis einen Elfenbogen hatte. Brabantis

war ein Orkjäger. Über ihn gibt es eine wunderbare Geschichte, kennst du sie nicht?«

»Irgend etwas in dieser Richtung habe ich schon mal gehört, ja.«

»Er hatte einen Degen mit goldener Schneide, und sein Elfenbogen war fast noch berühmter als er. Nach der Legende war er so leicht wie ein Blatt und tödlicher als ein Katapult!«

»Geh den Legenden aus dem Weg, Junge, sie sind alle randvoll mit Lügen. Alle Elfenbogen sind leicht und dünn, und obwohl sie weiter tragen als eine Armbrust, kommen sie auch nicht annähernd an die tödliche Kraft eines Katapultes heran.«

»Der von Brabantis doch!« widersprach Damlo ei-gensinnig. »Außerdem – was weißt du schon von alldem?«

»Ich habe lange Zeit unter den Elfen gelebt.« »Das ist nicht wahr! Elfen lassen keine Menschen

an sich heran!« »Da hast du nicht ganz recht«, entgegnete Uwaen,

schob sein Haar zur Seite und entblößte ein Ohr. Es war deutlich spitz geformt.

»Ein Elf …! Aber du hast keine Elfenaugen!« »Und wie genau sollen Elfenaugen aussehen?« »Fremdartig und … also gut, ich weiß es nicht.

Aber die Legenden …«

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»Ach ja, die Legenden«, lächelte Uwaen. »Aber du hast nicht ganz unrecht: Mein Vater war ein Mensch.«

»Dann bist du ein Halbelf!« »So sieht es wohl aus«, antwortete Uwaen ein we-

nig bitter. »Ein ›Halber‹, wie sie uns manchmal nen-nen. Weder das eine noch das andere, aber zuviel von einem und auch zuviel vom anderen. Und immer das Falsche.«

»Versteh ich nicht.« »Besser für dich. Das Leben ist nicht leicht, wenn

man das Blut zweier Rassen in den Adern hat.« Damlo stiegen die Tränen in die Augen, aber er

hatte keine Zeit, sich nach dem Grund zu fragen. »Kehren wir doch zu deinen Freunden zurück«,

drängte Uwaen. »Meine Freunde?« »Ich kenne Irgenas nicht persönlich. Ich habe ihn

damals, im königlichen Palast, nur aus der Ferne ge-sehen.«

»Ach?« machte Damlo, erneut mißtrauisch gewor-den.

»Aber mir ist bekannt, was er vorhat.« »Seinen Feinden auch«, bemerkte der Junge. »Unmöglich! Niemand weiß von den beiden.« »O doch.« »Was willst du damit sagen? Wer weiß was?« »Der eine oder der andere. Das eine oder das ande-

re.«

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»Also du kannst wirklich Geheimnisse bei dir be-halten, Junge.«

»Ich heiße Damlo.« »Also gut: Damlo. Das, was du behauptest, ist sehr

ernst.« »Allerdings. Daher muß ich jetzt los.« »Hast du kein Vertrauen zu mir? Ich habe dir das

Leben gerettet, ich beschütze dich und ich kenne deine Begleiter.«

»Vom Sehen.« »Wir arbeiten für dieselbe Person.« »Und wie heißt die?« Uwaen schüttelte den Kopf. »Wie kann ich dir trauen«, protestierte der Junge,

»wenn du mir nicht beweist, daß du die Wahrheit sagst?«

»Es ist ein Name, den ich nicht nennen kann, Damlo. Ich weiß nicht, wie weit Irgenas dich einwei-hen wollte.«

»Also ist es besser, ich gehe.« »Vielleicht hast du recht. Aber wenn tatsächlich

jemand die Mission des Prinzen kennt, dann ist die Lage bedenklich. Die Zwerge müssen so rasch wie möglich freikommen. Willst du nicht, daß ich dir hel-fe?«

Damlo überlegte eine ganze Weile. »Du könntest mir Geld leihen«, sagte er dann. »Einer der Lanzen-reiter, die uns gefangennahmen, heißt Ailaram; er

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sah so aus, als würde er sich bestechen lassen.« »Ailaram, ja?« lachte Uwaen leise. »Guter Einfall,

Junge! Da du offenbar von Ailaram weißt, kann ich dir sagen, daß ich Ende letzten Jahres zwei Tage nach Irgenas’ Abreise in Belsin eintraf.«

»In Belsin?« Aufgeregt fuhr Damlo hoch. »Im Weißen Turm?«

»Verdammt! Das hast du nicht gewußt?« »Wir haben darüber gesprochen. Aber ich wußte

nicht, daß Ailaram dort lebt.« »Bravo!« lachte Uwaen. »Jetzt ist es dir doch noch

gelungen, mir eine Neuigkeit abzuluchsen! Natürlich lebt Ailaram dort: Er ist der gegenwärtige Magiarch des Turmes!«

»Magiarch? Aber die Magie wurde doch gerau… Ich will sagen, die Zauberei wurde doch vor vielen Jahrhunderten ausgelöscht! Wie kommt es, daß es in Belsin immer noch einen Magier gibt?«

»Nun, nicht jeder Zauber wurde ausgelöscht. Die Elfenmagie zum Beispiel blieb unangetastet beste-hen.«

»Ich weiß, aber ich hatte angenommen, daß Aila-ram ein Mensch wäre.«

»Das ist er auch. Doch das ist eine lange Ge-schichte, Damlo. Wenn du dich hinsetzt, erzähle ich sie dir. Schließlich können wir deine Freunde ohne-hin nicht vor morgen befreien.«

»Nein, hör mal! Da gibt es etwas, das du nicht

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weißt: Morgen sehr früh wird der Schwarze Degen den Wagen stehlen lassen!«

»Der Schwarze Degen?« Für den Fall, daß sein Mißtrauen gerechtfertigt

war, achtete er sorgfältig darauf, sämtliche Einzelhei-ten zu vermeiden, die den Schwarzen Degen mögli-cherweise unbekannt waren. So erzählte Damlo U-waen von den Vorfällen am Weißen Paß, dem Frem-den in Waelton und den Banditen am Sweldal.

»Es fällt mir schwer, das zu glauben, Junge. Ande-rerseits würde das, was du gesagt hast, einiges erklä-ren und anderes bestätigen.«

»Und was?« »Ich weiß nicht, wieviel ich dir sagen kann. Es ist

besser, wenn die Feinde über das Ausmaß dessen, was wir alles über sie wissen, im Unklaren bleiben. Und falls sie dich schnappen, wenn du nach Waelton zurückkehrst…«

»Ich muß ja sowieso zusammen mit Irgenas und Clevas nach Belsin.«

»Sehr begeistert klingst du nicht.« »Weil mir lieber wäre, ich könnte Onkel und Tan-

te beruhigen, daß sie sich keine Sorgen machen müs-sen. Aber ich habe keine Wahl. Ich werde nie mehr nach Hause kommen.«

»Die Weiterreise könnte genauso gefährlich sein. Du könntest in Drassol bleiben.«

»Ohne Geld? Allein? Um wiederum Faner in die

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Hände zu fallen?« »Wir werden sehen. Jetzt beschäftigen wir uns

einmal mit dem Wagen.« »Einen Augenblick. Ich möchte dich nicht beleidi-

gen, aber ich weiß immer noch nicht, auf welcher Seite du stehst. Schließlich kennen auch die Schwar-zen Degen die Namen von Irgenas, Ailaram und Bel-sin!«

»Damlo«, seufzte Uwaen, »wäre ich dein Feind, würde es doch reichen, dich hier festzubinden und darauf zu warten, daß meine Komplizen den Wagen an sich bringen.«

Der Junge starrte Uwaen mit offenem Mund an und senkte dann niedergeschlagen den Blick.

»Aber da du weder den Turm noch den Magiar-chen kennst«, fuhr der Halbelf fort, »habe ich keine Möglichkeit, dich davon zu überzeugen, daß ich wirklich in Belsin gewesen bin. Hingegen kann ich dir sagen, daß Ailaram in Schwierigkeiten steckt. Seine Magie wird blockiert, und es gelingt ihm nicht mehr, in die Ferne zu blicken. Er hofft zwar immer noch, daß der Grund dafür in einem Fehler seiner-seits liegt, fürchtet aber dennoch, daß es sich um ei-nen Gegenzauber von außen handelt. Falls das stimmt, dann heißt das, irgend jemand ist tatsächlich in der Lage, einen Blockadezauber selbst über den Weißen Turm zu legen.«

»Der Herr der Angst!«

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»Nun, es scheint mir, du weißt wirklich sehr viel. Wie auch immer, du hast recht: Eine Sache dieser Größenordnung wäre nur mit seiner Hilfe zu ma-chen.«

»Also ist er wahrhaftig wieder erwacht!« »Wir wissen es nicht, auch wenn einiges darauf

hindeutet. Doch wir hoffen alle, daß die sonderbaren Vorfälle, die sich in der Hegemonie ereignet haben, anderen Ursprunges sind. Das ist der Grund, warum ich hier bin. In Belsin sind widersprüchliche Nach-richten angelangt, und da Ailaram nicht aus dem Turm wegkann, haben sich einige seiner Freunde auf den Weg gemacht, um Nachforschungen anzustellen. Sollte der Schatten tatsächlich wieder erwacht sein, muß sein Erster Diener umgehend ermittelt werden.«

»Mit Hilfe der Gegenstände, die Irgenas beför-dert.«

»Genau so ist es. Durch ihren Einsatz wäre es Ai-laram möglich, den Gegenzauber des Ersten Dieners zu entkräften, falls es sich wirklich um einen solchen handelt.«

»Also machen wir uns gleich auf, den Wagen in Sicherheit zu bringen!«

»Ich werde mich auf den Weg machen, Damlo. Du kannst nicht mitkommen.«

»Du scherzt!« »Ohne die Hilfe der Bettlerküste ist es einfach

nicht zu schaffen, den Wagen zu stehlen. Wer aber

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nicht Mitglied ist, kann an den Taten der Küste nicht teilnehmen. Eiserne Regel.«

»Also hilf mir, ihr beizutreten!« »Das ist nicht so einfach. Um Mitglied zu werden,

muß man eine Probe bestehen.« »Was für eine Probe?« »Etwas, das deine Fähigkeiten in dem Gewerbe

beweist: einen Mord, einen Diebstahl, einen Betrug, eine Fälschung – je nachdem, als was du dich ein-schreiben lassen willst. Außerdem ist ein Eintritt in die Bettlerküste nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Es gibt da viele Regeln, und sie sind sehr streng. Wer sie übertritt, stirbt – auch wenn er bis ans Ende der Welt flieht. Die Bettlerküste ist überall und vergißt nie!«

»Wäre ich dann gezwungen, zu stehlen oder zu morden?«

»Das nicht. Aber auch wenn du dein Gewerbe nicht ausübst, hättest du die Verpflichtung, dich je-desmal, wenn du eine Stadt betrittst, bei der Küste zu melden; und einen gewissen Prozentsatz deiner Ein-künfte an sie abzuführen.«

»Aber das ist alles Nebensache! Los, zeig mir, wie man ihr beitritt!«

»Nicht heute nacht. Du hast keine Zeit, die Probe zu absolvieren.«

»Warte: ein Delikt, das man in der Vergangenheit begangen hat – kann das als Probe gelten?«

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»Sicher. Aber mach dir keine Illusionen: Es sind zuverlässige Zeugen nötig. Es ist nicht leicht, die Küste zu betrügen.«

»Eine ganze Stadt ist doch als Zeuge zuverlässig genug, oder?«

Uwaen sah ihn einen Augenblick lang verständnis-los an, dann bedachte er ihn mit einem anerkennen-den Blick, sprang vom Bett auf und schoß aus der Kammer. Nach zwei Minuten kam er mit einem schlaftrunkenen Kerl im Schlepptau zurück, der nur mit einem Nachthemd und Handschuhen aus feins-tem Gewebe bekleidet war.

»Das ist Oljed. Man benötigt zwei Paten, um in die Küste aufgenommen zu werden. Nachher wird er uns dann mit dem Wagen helfen.«

»Ach ja?« warf Oljed ein und gähnte. »Mit wel-chem Wagen?«

»Später, später. Gehen wir zu Trax.« Sie eilten über den Korridor, und dann führte U-

waen sie die Treppe hoch bis zu einer Tür, die von einem bis an die Zähne bewaffneten Riesen bewacht wurde.

»Wir müssen zu Trax. Es handelt sich um eine Aufnahme.«

»Um diese Uhrzeit?« »Wir brauchen den Jungen heute nacht. Außerdem

– was macht es für einen Unterschied? Trax schläft ohnehin nie!«

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Der Wachposten verschwand, und nach kurzer Zeit ließ er sie eintreten.

Es war ein ehemaliger Dachboden: Die Höhe bei der Eingangstür betrug mehr als zwanzig Fuß und am anderen Ende weniger als sechs. Auf einem Stein-fundament nicht ganz in der Mitte des Raumes brannte ein Feuer. An den Wänden standen vier Kommoden unterschiedlicher Machart, von denen die eine wunderbare Intarsien aufwies; als braver Waeltoner wußte Damlo dieses Werk selbstverständ-lich zu würdigen. Einige Truhen waren zu sehen so-wie zahlreiche übereinander geschichtete Kisten. Vor einem Schreibtisch stand ein Stuhl mit gepolsterten Armlehnen, der genau wie der Tisch mit Akten über-häuft war.

Trax war sehr groß, sehr mager und völlig kahl. Sein Adamsapfel sprang vor wie eine große spitze Beule, was Damlo an eine Schlange denken ließ, die eine Teekanne verschluckt hatte. Der Mann lief ohne Unterlaß auf und ab.

»Der hier soll es sein?« Er starrte Damlo an; seine Augen standen so weit vor, daß er wie ein Besesse-ner aussah.

Uwaen nickte, und Oljed gähnte. »Kleine Jungen wie diesen hier haben wir zu Hun-

derten. Wozu braucht ihr ausgerechnet ihn?« Trax sprach sehr hastig und türmte die Wörter regelrecht übereinander.

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»Er ist einzigartig«, erwiderte der Halbelf. Nun betrachtete der Mann Damlo eingehender.

Die vorstehenden Augen verliehen ihm etwas Ag-gressives, Mißtrauisches. »Welche Probe?« fragte er schließlich.

»Ich habe dem Mörder des Guten Grafen Zurkin von Eranto gestohlen.«

»Zeugen?« »Die ganze Stadt! Der ganze Tumult heute ist nur

meinetwegen entstanden!« »Für diesen Diebstahl wurden bereits zwei Zwerge

festgenommen.« »Zwei Zwerge und ich, aber mir ist die Flucht ge-

lungen. Zurkin habe jedenfalls ich gestohlen!« »Beweis es!« »Wie soll ich das machen? Ich war allein!« »Dein Wort genügt mir nicht.« Alle waren verstummt, während Trax zwischen

seinen Kisten und Truhen hin und her lief. »Ihr könnt gehen«, sagte er unvermittelt und griff

nach einem Schriftstück auf dem Schreibtisch. »Einen Augenblick!« rief Damlo. »Ich kann den

Mörder des Grafen beschreiben.« »Wir kennen ihn nicht.« Damlo spürte, wie Mutlosigkeit ihn zu überman-

nen drohte. Vage kehrten bestimmte Eindrücke in seine Erinnerung zurück – die aufgebrachte Menge, die Angst, Uwaen, der humpelnd dem Wagen folgte,

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die Betrunkenen und… der Taschendieb. Und dessen Verblüffung, als er Zurkin erblickte.

»Aber ein Mitglied der Bettlerküste kennt ihn!« ging er das Wagnis ein.

»Ach ja?« »Ich weiß nicht, wie er heißt, aber er ist ein Ta-

schendieb! Vor kurzem war er noch in der Taverne im Erdgeschoß.«

»Vodars«, stellte Oljed gelangweilt fest. »Ein ziemlicher Stümper. Ich habe ihn gesehen, bevor ich schlafen ging.«

Fünf Minuten später trat der Taschendieb, von ei-nem Wachposten hereingeführt, durch die Tür. Als er Damlo erblickte, riß er die Augen auf.

»Du kennst ihn?« fragte Trax. »Er war heute auf dem Wagen, zusammen mit den

Zwergen. Ich verstehe nicht, wieso er immer noch am Leben ist!«

»Er sagt, du weißt, wer den Grafen von Eranto umgebracht hat.«

»Ja, und?« »Groß, mager, schwarz gekleidet«, sagte Damlo.

»Blaß, fast grün im Gesicht. Dunkle Augen mit klei-nen Pupillen. Er benutzt einen Degen mit schwarzer Klinge. Der Knauf am Griff ist aus Obsidian.«

»Kann sein. Was hat das mit mir zu tun?« »Ja oder nein?« schnauzte ihn Trax an. »Ja.«

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»Verschwinde.« Der eigentliche Akt seiner Aufnahme in die Bett-

lerküste war schnell erledigt, aber für Damlo war es wie eine Krönung: Uwaen und Oljed nahmen ihn in ihre Mitte und legten ihm je eine Hand auf die Schul-ter.

»Ist er einer von uns?« fragte Trax und zog einen Dolch hervor.

»Nein«, antworteten unisono die beiden Paten. »Also muß er sterben.« Mit einer blitzschnellen Bewegung zog Trax die

Klinge über Damlos Kehle. Der Junge spürte einen kurzen, brennenden stechenden Schmerz.

»Schließ die Augen und laß sie zu!« murmelte Uwaen.

»Wir bringen einen Neugeborenen«, sagte Oljed, als Damlo gehorcht hatte.

»Mit wessen Augen sieht er?« »Mit den unseren.« »Mit wessen Ohren hört er?« »Mit den unseren.« »Mit wessen Mund spricht er?« »Mit dem unseren.« »Mit wessen Herz lebt er?« »Mit dem unseren.« Bei jeder Antwort der Paten strich Trax mit der

Dolchspitze über den genannten Körperteil. »Dann existiert er«, schloß Trax.

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»Öffne die Augen«, flüsterte Oljed. »Wer bist du?« fragte Trax. »Damlo Rindgren.« »Gehörst du zur Bettlerküste?« »Ja.« »Schwöre auf dein Leben.« »Ich schwöre.« Trax trug Damlos Namen in ein umfangreiches

Register ein. Dann ergriff er den Daumen des Jun-gen, strich damit über das Blut, das ihm aus dem kleinen Schnitt an der Kehle lief, und forderte ihn auf, einen Abdruck neben seinem Namen im Register zu hinterlassen. Am Ende erklärte er ihm die Regeln und brachte ihm eine Reihe geheimer Handzeichen bei.

»Damlo der Dieb, du kannst gehen«, sagte er dann. »Jetzt bist du einer von uns.«

Dem Jungen stiegen die Tränen in die Augen.

Eine Stunde später standen Damlo, Uwaen, Oljed und drei Freunde im Dunkel an der Mauer, die die Kaserne der Lanzenreiter umgab. Auf dem Weg dorthin hatten sie sich einige Male rasch verstecken müssen, weil zahlreiche Patrouillen zu Pferde die Stadt durchkämmten. Aber der Junge hatte keine Angst verspürt. Zusammen mit dem Halbelf fühlte er sich sicher, und ungeachtet dessen permanent zur Schau getragenen Langeweile mochte er auch Oljed

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recht gern. Er war der erfolgreichste Einbrecher der ganzen Hegemonie, hatte Uwaen erklärt, und zudem ein hervorragender Taschendieb. Eine Seltenheit in-sofern, als es sich um zwei völlig unterschiedliche Spezialgebiete des Stehlens handelte, von denen je-des zu seiner Vervollkommnung eine lebenslange Er-fahrung voraussetzte.

Ganz in der Nähe, in einem morastigen Gäßchen, standen ein Wagen und ein Karren mit Stroh. Die sechs hatten sie in wilder Hast mit den Ballen bela-den, die aus den Stallungen eines Edelmannes stammten. Der Nachtwächter des Edelmannes gehör-te zur Bettlerküste.

Plötzlich erschien eine dunkel gekleidete Gestalt auf der Mauerkrone und ließ sich neben die Warten-den herabgleiten.

»Alles in Ordnung«, flüsterte der Mann. »Aber es kostet uns mehr als vorgesehen.«

»Geld ist kein Problem«, antwortete Uwaen. Sie brachten die beiden Gefährte dicht an die

Mauer heran und verlagerten das Stroh auf das Dach der Stallungen, die sich auf der anderen Seite der Mauer befanden.

Ein Wachposten verfolgte das ganze Unternehmen nervös und wandte sich dann an Uwaen: »Die Pferde dürfen keinerlei Schaden nehmen!«

»Keine Sorge, wir brauchen sie schön lebendig und aufgeschreckt!«

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Durch eine Falltür führte der Soldat die Gruppe ins Innere des Gebäudes und half, während sich Damlo um Seine Majestät kümmerte, den anderen, die Pfer-de loszubinden. Es waren fast hundert Tiere, und obwohl sie zu acht arbeiteten, dauerte es ein Weil-chen.

»Ich sehe Zurkin nicht«, sagte Damlo. »Er steht im Stall von Krider«, erklärte der Lan-

zenreiter. »Dem dritten Ratsherrn von König Vi-nathes.«

»Wie das?« »Krider hat einen Blick auf den Hengst geworfen,

und…« »Gib das Zeichen!« unterbrach ihn Uwaen. Der Soldat öffnete einen Flügel des großen Tores

und schaute hinaus. »Die fixen Wachposten sind be-zahlt«, sagte er dann, »aber die Streife nicht. Doch einer der drei schuldet mir Geld. Ich warte ab, bis sie hinter dem Gebäude sind, dann tue ich mein Bestes, um sie aufzuhalten. Aber macht schnell, die Männer sind nicht dumm, und ich will keine Schwierigkeiten bekommen.«

Kurz darauf stieß er das Tor auf und setzte sich in Trab.

»Gib mir fünf Minuten, um das Pferd einzuspan-nen«, sagte Uwaen zu Oljed, »dann zünde den Dach-boden an und hau ab!«

»Geh nur!«

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Damlo und der Halbelf traten mit Seiner Majestät aus dem Stall und steuerten auf die gegenüberliegen-de Seite des großen Hofes zu, wo neben dem Gebäu-de sechs Wagen aufgereiht standen. Der Lanzenreiter am Eingang der Kaserne sowie die Soldaten neben dem Tor in der Einfriedungsmauer drehten sich auf die andere Seite.

Der Wagen der Zwerge war der erste in der Reihe. Ohne Furcht, aber mit einem Herz, das vor Aufre-gung wild hämmerte, führte Damlo in aller Eile das Pferd an die Deichsel und spannte es ein, während Uwaen das Gebäude im Auge behielt.

»Bei meinem Barte! Bist du das, Damlo?« Clevas’ Stimme kam als ein so lautes Flüstern, daß

sie dem Jungen fast wie ein Schrei ans Ohr drang. Er zuckte heftig zusammen und drehte sich um. Nie-mand zu sehen.

»Hier unter dir! Schau nach unten!« In den Boden des Hofes war in einer Linie mit der

Kasernenmauer ein horizontales Gitter eingelassen, das aus dicken Eisenstäben bestand. Die Grube dar-unter war zwar nur zwei, drei Fuß hoch, aber seitlich führte eine Öffnung in der Gebäudemauer in einen dunklen Raum. Clevas war bis an die Gitterstäbe hochgeklettert und starrte Damlo erstaunt an.

»Bei meinem vermaledeiten Barte!« wiederholte der Zwerg. »Wie kommt es, daß du noch lebst, Jun-ge?«

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»Das weiß ich selber nicht. Dir geht’s gut? Wo ist Irgenas?«

»Neben mir. Das da ist das Gefängnis der Kaserne. Aber was tust du hier?«

»Wir müssen den Wagen wegbringen. Die Schwarzen Degen wissen alles und wollen ihn mor-gen früh stehlen!«

»Wie willst du das anstellen? Und außerdem… Donnerwetter, wie hast du es überhaupt bis hierher geschafft?«

»Ich habe einen Freund von Ailaram getroffen.« »Ahaaa… Warte, ich rufe Irgenas.« Clevas ließ sich nach hinten durch die Öffnung

gleiten. Es gab ein kleines Durcheinander, dann er-schien das Gesicht des Prinzen.

»Was ist mit dir passiert?« rief Damlo. Die Augen des Zwerges waren ganz verschwollen,

und sein prachtvoller Bart war mit verkrustetem Blut bedeckt.

»Zuerst eine Auseinandersetzung mit dem Ge-fängniswärter und dann eine zweite mit den Insassen des Kerkers. Da ging es darum, wer den Platz an die-sem Luftloch haben darf. Bin ich froh, daß du lebst, Junge!«

»Sie haben dich verprügelt! Warum hast du nicht gesagt, wer du bist!«

»Das habe ich ja versucht, aber wie du siehst, hat man mir nicht geglaubt. Ist das der Freund, von dem

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Clevas sprach?« Mittlerweile war Uwaen, ohne das Dach der Stal-

lungen aus den Augen zu verlieren, an das Gitter he-rangekommen. »Jawohl, Hoheit. Mein Name ist U-waen.«

»Irgenas, nicht Hoheit. So haben wir also einen gemeinsamen Freund?«

»Ich kam zwei Tage, nachdem du abgereist warst, bei ihm an, und er hat mich sofort nach Norden zu-rückgeschickt, um weitere Nachrichten zu sam-meln.«

»Wie ging es seinem Fuß?« »Bestens«, lachte Uwaen leise. »Weil es nicht er

war, der ihn sich verstaucht hatte, sondern Pheron, sein Assistent. Falls es Euch wirklich interessiert, war sein Knöchel so angeschwollen wie eine Melo-ne, als ich abreiste.«

»Nun ja. Und jetzt sag mir: Wie ist die Lage hier?«

»Eine einzige Katastrophe«, antwortete der Halb-elf. »Aber wir haben nur wenige Minuten, also nimm es mir nicht übel, wenn ich dich mitten im Satz ver-lassen muß.«

»Keine Sorge. Sprich.« »In der Hauptstadt schieben die Söhne des Zanter

von Eria einander die Schuld am Tod des Vaters zu«, begann Uwaen zu berichten, während er ohne Unter-laß zu den Stallungen hinüberstarrte. »Um die beiden

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haben sich zwei Parteien gebildet, aber keiner der Flügel kann sich durchsetzen, und die Palastkämpfe machen ein Regieren in der Hegemonie fast unmög-lich. De facto regiert Gevan Bedaran.«

»Wer ist das?« »Ein alter Freund von Zanter. Er hat kein offiziel-

les Mandat, genießt aber beträchtliches persönliches Ansehen. Er herrscht nur dank dieses Ansehens, un-terstützt von dem Umstand, daß ihm der Souverän, ehe er starb, noch sein Siegel anvertrauen konnte.«

»Und hier in dieser Gegend?« »Es gibt gewichtige Probleme, Irgenas. König Vi-

nathes ist nicht der, der er einmal war, und das Herr-schaftsvakuum in Eria hat den aufrührerischen Adel gestärkt. Darüber hinaus spinnt hier irgend jemand Intrigen, und es sieht so aus, als würde sich ein regel-rechter Bürgerkrieg anbahnen.«

»In Drassol?« »Im ganzen Norden. Bevor sie vom Großen König

erobert wurden, waren die Städte Drassol, Irel und Mettenal Todfeinde. Danach erloschen die Feindse-ligkeiten, die Truppen der einstigen Gegner kämpf-ten Seite an Seite und wurden zur Elite des Heeres der Hegemonie. Nachdem Zanter vergiftet wurde, sind die alten Rivalitäten wiederaufgeflammt.«

»Warum das?« »Ich versuche seit Monaten, es zu verstehen, und

bin auf kein einziges triftiges Motiv gestoßen. Tatsa-

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che ist, daß der Haß seinen Höhepunkt erreicht hat und die Städte sich auf den Krieg vorbereiten.«

»Wer steckt dahinter? Die Schwarzen Degen?« »Ich weiß es nicht. Bis heute abend hatte ich noch

nie von ihnen gehört. Aber wer auch immer es ist, er bleibt im dunkeln und agiert äußerst wirkungsvoll. Nehmen wir die Sache mit dem Grafen von Eranto, zum Beispiel. Anfang des Jahres wurde der Konvoi ausgeraubt, der die Abgaben Drassols nach Eria zu bringen hatte. Nun mußt du wissen, daß die Steuern nicht als abgeführt gelten, ehe sie nicht in der Haupt-stadt angelangt sind, und so …«

»…müssen die Drassoler sie noch mal bezahlen!« »Ja – es sei denn, das Diebesgut kann sicherge-

stellt werden. Nun, und an dem Ort, wo der Hinter-halt gelegt wurde, hat man einige Fragmente irellia-nischer Waffen entdeckt…«

»Ts, ts…« »Genau. Es fehlte nur ein Schildchen mit Namen

und Adressen. Aber der Haß unter den Städten ist einfach blind, und keiner hat den Braten gerochen. Jedenfalls hat König Vinathes, um die Frage zu erör-tern, den Grafen von Eranto nach Eria gesandt. Er war mit Gevan Bedaran befreundet, und alle vertrau-ten auf seine diplomatischen Fähigkeiten. Leider hat ihn jemand umgebracht, und in der Hauptstadt kam nur der offizielle Bericht an. Die Folge: Drassol muß die Steuern ein zweites Mal entrichten. Kaum hatte

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sich diese Nachricht verbreitet, da kam es zu einer Volkserhebung, die Menge stürmte die Botschaft von Eria, und der Gesandte wurde in Stücke gerissen.«

»Ein Gesandter der Hegemonie! Unglaublich!« »In der Tat, es ist eine sehr ernste Angelegenheit.

Wäre Zanter noch am Leben, er würde wohl ganz Drassol dem Erdboden gleichmachen. Heute verfügt zwar niemand über die Macht, etwas in dieser Rich-tung zu befehlen, aber König Vinathes hat dennoch allen Grund zur Sorge. Vielleicht wird Gevan Beda-ran nicht sofort reagieren, denn seit einiger Zeit sind die Nomaden in den westlichen Steppen äußerst um-triebig, und so befindet sich das ganze Heer im Wes-ten; aber früher oder später wird die Bestrafung ein-treffen, und sie wird hart sein. Daher muß es nicht überraschen, wenn die hiesigen Verfechter der Un-abhängigkeit darauf dringen, daß außer dem Krieg gegen Irel und Mettenal auch jener gegen Eria vorbe-reitet wird.«

In diesem Augenblick erschien auf dem Dach der Stallungen gegenüber ein heller Lichtschein. Wäh-rend einige schattenhafte Gestalten über die Mauer kletterten, sprach Uwaen hastig weiter: »Wir bringen jetzt den Wagen weg. Am Morgen werde ich in den Palast gehen und versuchen, mit König Vinathes zu sprechen. Kann ich ihm sagen, wer du bist?«

»Du hast freie Hand. Schließlich haben uns die Schwarzen Degen schon aufgespürt.«

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Plötzlich waren Schreie zu hören, und jemand fing an, gegen eine Eisenstange zu schlagen. Unmittelbar darauf ertönten Trompetenstöße, und während die Flammen hochschlugen, wurden die Tore der Stal-lungen aufgestoßen. Ein endloser Strom von Pferden galoppierte heraus und füllte den Hof.

In wenigen Minuten war das Tohuwabohu kom-plett. Dutzende und Dutzende von Lanzenreitern stürzten in voller Bewaffnung aus der Kaserne, nur um sich in einem Chaos aus Schreien, Befehlen, Flammen und Rauch wiederzufinden. In diesem Durcheinander kam niemandem zu Bewußtsein, daß sich das Feuer auf das Dach der Stallungen be-schränkte, und daß der Brand zwar beeindruckend aussah, in der Wirkung aber einigermaßen harmlos war. Die Pferde liefen ziellos hierhin und dorthin und verhinderten, daß sich die Lanzenreiter organisieren und eine Kette mit Wassereimern bilden konnten; al-le schrieen, und niemand unternahm etwas. Schließ-lich brüllte ein Offizier den Befehl, die Tore zu öff-nen, und als die Soldaten taten wie geheißen, setzte Uwaen den Wagen in Bewegung.

Sie verließen den Kasernenhof zusammen mit den Pferden und ohne daß jemand daran dachte, sich ih-nen in den Weg zu stellen. Wie besprochen, warteten sie nicht auf ihre Komplizen, sondern entfernten sich so schnell wie möglich, und kurze Zeit später stand der Wagen in einem privaten Hinterhof in Sicherheit.

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»Ich kannte ihn schon vor meiner Heirat«, lachte Norya, »und auch damals hat er sich nur gemeldet, wenn er etwas von mir brauchte.«

Die hochgewachsene und ziemlich beleibte Frau mit den grauen Strähnen im Haar sah Uwaen mit ei-nem warmen, offenen Blick an, in dem ein Hauch al-ter Ironie lag. Nachdem der Halbelf mit gespielter Strenge und Damlo mit einem Lächeln empfangen worden waren, hatte sie die beiden sofort in die Kü-che geführt. Und nun saßen alle drei an dem breiten Tisch, auf dem ein großer Topf dampfender Milch, eine Schüssel mit Honig und ein Körbchen mit Ge-bäck standen.

»Wenn er etwas brauchte oder etwas wollte«, füg-te die Frau hinzu, und einen Augenblick lang war ihr Blick der eines schelmischen jungen Mädchens; merkwürdigerweise wirkte er in diesem reifen Ge-sicht gar nicht fehl am Platze.

»Also hör mal, Norya«, sagte Uwaen, sichtlich verlegen, »du weißt, daß das nicht wahr ist. Ich komme dich jedesmal besuchen, wenn ich in Drassol bin. Und außerdem – müssen wir denn unbedingt von der Vergangenheit reden?«

»Nun, noch vor dem Morgengrauen geweckt zu werden, weil du an die Fensterläden hämmerst, das hat nun mal Erinnerungen in mir geweckt.«

»Wie geht es Erwan?« »Sehr gut, danke«, lachte die Frau. »Heute nacht

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hat er mit unserem größeren Sohn im Laden geschla-fen. Nur für den Fall, daß jemand den fröhlichen Trubel von gestern nachmittag fortsetzen möchte.«

»Habt ihr Schäden erlitten?« »Glücklicherweise konnte ich den Laden rechtzei-

tig schließen, so haben wir nur die Stoffe verloren, die draußen im Freien ausgestellt waren. Los, Damlo, nimm dir noch!«

»Danke, die sind wirklich gut«, nickte der Junge und holte sich eine vierte Hand voller Kekse aus dem Korb.

»Du fällst ja schon um vor Müdigkeit«, sagte sie. »Wenn du gegessen hast, wäschst du dich erstmal gründlich und dann ab ins Bett! Inzwischen suche ich unter den Sachen meiner Söhne etwas heraus, das dir passen wird.«

»Da bin ich dir dankbar, Norya«, sagte Uwaen. »Wir müssen in den Palast, und wir haben keine Zeit, ihm etwas Ordentliches nähen zu lassen.«

»Sei still, du Gauner«, lächelte die Frau. »Auch wenn du nicht mehr der Uwaen meiner Jugend bist… Aber weißt du, daß mir Erwan inzwischen alles er-zählt hat? Ohne dich wäre er immer noch Sklave der Orks, drüben im Osten. Du warst wunderbar!«

»Ich bitte dich! Ich dachte doch nur daran, meine eigene Haut zu retten!«

»Abgefeimter Lügner! Nachdem du die anderen befreit hattest, bist du fünf Meilen zurückgeritten,

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nur um ihn zu retten …« »Das war doch klar! Er hatte noch keinen einzigen

Umtrunk gezahlt – von all denen, die er mir schuldig war!«

»… und bliebst über zehn Minuten auf dieser Lichtung, um ihm das Blut zu stillen! Mit Tausenden von Orks, die den ganzen Wald nach ihm durch-kämmten! Und danach – wer hat ihn da bis zum Fluß auf dem Rücken geschleppt?«

»Also, du hast es heute wirklich mit der Vergan-genheit! Ich denke, jetzt ist es Zeit, den Jungen ins Bett zu schicken.«

Tatsächlich konnte sich Damlo kaum mehr auf-recht halten. Nicht einmal der Aussicht auf eine Ge-schichte über die Orks gelang es, ihn wachzurütteln. So ließ er sich von Norya in einen Bottich mit hei-ßem Wasser stecken, wo er sich schrubben mußte, bis er dachte, die Haut würde sich abziehen lassen. Dann geleitete Norya ihn in ein Zimmer, wo ein rie-siges, nach Sauberkeit duftendes Bett stand. Noch ehe sie ihn fertig zugedeckt hatte, war der Junge ein-geschlafen.

Als Uwaen ihn mitten am Vormittag weckte, lagen frische Kleider auf einem Schemel am Fenster. Dam-lo zog sie mit einem seltsamen Gefühl an: Er hatte noch nie so hübsche Kleider getragen. Hosen und Ja-cke waren aus grünem Samt, das weiße Hemd aus feinstem Leinen und der Ledergürtel leuchtete so rot

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wie Damlos Haar. Nachdem sie sich von Norya verabschiedet und ihr

für alles gedankt hatten, machten sich Uwaen und der Junge auf den Weg zum königlichen Palast. Nun war auch der Halbelf elegant gekleidet.

»Eines mußt du wissen«, sagte er zu Damlo, als sie einen Hügel hochstiegen, »die Verhältnisse im Palast sind etwas…« Er verstummte, überlegte ein Weilchen und sprach weiter: »Mir ist klar geworden, daß das, was gestern vorgefallen ist, interessante Möglichkeiten eröffnet hat. Wenn wir sie jedoch nut-zen wollen, müssen wir so rasch wie möglich Zu-gang zu König Vinathes erlangen. Aber in diesen Tagen ist es nicht einfach, zu einer Audienz zu kommen. Außerdem ist meine Situation im Palast ein wenig… kompliziert. Um zum König zu kommen, muß ich mit einer gewissen Person sprechen, und das wird nur möglich sein, wenn eine bestimmte Dame ihre Einstellung mir gegenüber ändert. Glücklicher-weise hast du rote Haare und… Also, vielleicht habe ich einen Weg gefunden. Aber ich brauche deine Hil-fe.«

»Natürlich. Was muß ich tun?« »In erster Linie schweigen. Immer, wenn du etwas

gefragt wirst, mußt du mich an deiner Stelle antwor-ten lassen. Du darfst erst reden, wenn ich das Wort ›Söhnchen‹ sage. Und in diesem Fall antwortest du, indem du mich ›Papa‹ nennst. Verstanden?«

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»Klar. Aber warum?« »Es ist keine einfache Angelegenheit. Mein Plan

baut auf dem Charakter einer gewissen Person auf. Wir müssen sie glauben machen, daß du mein Sohn bist, aber erst in dem Augenblick, in dem diese Ent-hüllung die größte Wirkung erbringt.«

Der Königspalast von Drassol war von einer drei-ßig Fuß hohen Mauer umgeben. Damlo und Uwaen umrundeten die Mauer auf einer breiten Straße, die daran entlangführte, bis sie zu einem Seitentor ka-men, das von einigen Lanzenreitern bewacht wurde.

»Gib acht, Bänkelsänger!« lachte einer der Solda-ten, als er sie passieren ließ, »Madame Krider geht um!«

»Genau die suche ich ja!« antwortete der Halbelf mit einem Kichern.

»Wenn überhaupt, dann ist es wohl sie, die dich sucht!« rief der andere, und alle lachten.

»Heute nicht«, entgegnete Uwaen und ging rasch weiter.

»Binde uns keinen Bären auf!« »Du bist doch höchstens hinter einer ihrer Zofen

her!« »Bleib wachsam, Sänger! Auch ihr Gatte, der

Ratsherr, ist im Palast!« »Und für diese Warnung schuldest du uns ein

Lied!« Abgesehen vom eigentlichen Schloß, das sich, mit

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Zinnen versehen, hinter einem weiteren Mauergürtel erhob, bestand der königliche Palast aus zahlreichen, eher niedrigen Gebäuden mitten im Grünen. Der Hauptteil des Parks lag an der Vorderseite des Schlosses; jenes Stück seitlich davon, das Uwaen und Damlo durchquerten, wirkte ziemlich unge-pflegt, aber die Vegetation war gleichermaßen üppig, und der Junge bewunderte erstaunt die vielen Bäume, die er nicht kannte. Einer davon fiel ihm besonders auf: Er wurzelte geschützt in einem großen Pavillon, aus dessen Dach er durch ein rundes Loch hervor-wuchs, wo sich sein Stamm weitere dreißig Fuß dem Himmel entgegenreckte, ehe die Hauptäste davon abzweigten. Seine Rinde war rissig und löchrig, und die großen, länglichen Blätter mit dem gezähnten Rand waren von einem so tiefen Grün, daß es schien, als wären sie von innen her erleuchtet. Unter den dürren Blättern auf dem Boden lagen seine Früchte, die wie winzige Stachelschweine aussahen.

»Man kann ihr Inneres auch roh essen«, erklärte Uwaen, »aber gekocht oder geröstet schmecken sie viel besser. In Eria macht man Konfekt daraus, in-dem man sie mit Zuckerguß überzieht.«

Schließlich betraten sie das eigentliche Schloß. Auch hier wurde der Halbelf von den Scherzworten der Palastgarde willkommen geheißen, und nachdem er mit allen ein wenig gelacht hatte, zog er einen der Soldaten zur Seite. Sie tuschelten zwei Minuten lang,

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worauf der Mann Damlo mit einer Reihe von Blicken bedachte. Dann brach er plötzlich in schallendes Ge-lächter aus.

»Varusa!« rief er mit Tränen in den Augen. »Also ausgerechnet Varusa?«

»Genau«, schmunzelte Uwaen. »Du wirst doch nicht am Ende eifersüchtig sein?«

Vor Lachen mußte sich der Soldat an der Wand festhalten. Er schaffte es nicht, damit aufzuhören, selbst als er sich kurz mit seinen Kameraden be-sprach und daraufhin Damlo und Uwaen durch ein Labyrinth von Korridoren geleitete.

»Hör mit dem Gekicher auf!« platzte der Halbelf nach einer Weile heraus, obwohl er selbst Mühe hat-te, das Lachen zu unterdrücken. »Wenn du’s nicht schaffst, dann hol jemand anderen!«

»Nein, nein, ich hör schon auf damit. Das will ich doch wirklich nicht versäumen! Aber es wird ein har-ter Brocken werden, sie in die Küche zu bringen; sie ist nicht von der Sorte, die sich so herablassen…«

»Überlaß es nur Sedrina. Die Frauen, du weißt…« Sie setzten sich in Marsch und durchquerten meh-

rere Salons, wobei sie auffallend bunt gekleideten Pagen, gelangweilten Höflingen und lautlosen Die-nern begegneten. Mehr als einmal mußte Uwaen Damlo auffangen, der, um einen Wandteppich oder ein Schlachtengemälde zu bewundern, Gefahr lief, über irgendeinen Sockel zu stolpern oder eine Vase

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oder Statuette umzuwerfen. Endlich stießen sie in ei-nem großen Saal, der sich zu einem Innenhof hin öffnete, auf die beiden Frauen, nach denen sie such-ten.

»Uwaen! Mein allerliebster Sänger!« jauchzte eine von ihnen auf und klatschte in die Hände. Sie war nicht mehr die Jüngste. Ihr Gesicht war mit feinstem Puder bedeckt, die Lippen leuchteten grellrot, und sie war über und über mit Juwelen behängt.

»Was für ein glücklicher Zufall, Madame Krider!« sagte Uwaen und verbeugte sich artig.

»Bösewicht!« beschwerte sie sich. »Ihr habt mir ein Lied versprochen und Euer Wort nicht gehalten!«

»Ich bin immer noch dabei, es zu komponieren, meine Gebieterin, denn auf dieser Welt existieren keine Lieder, die Eurem Liebreiz und Eurer Huld ge-recht werden. Und ich fürchte, daß auch das meine – trotz aller meiner Bemühungen – Euren Tugenden nicht wird Genüge tun können.«

»Wie galant Ihr seid!« schnurrte die Dame und warf ihm einen schelmischen Blick zu. »Und wer ist dieser hübsche Junge?«

Damlo entging der Liebkosung nur, weil er sich hastig und tief verbeugte. Als er den Kopf wieder hob, zögerte Uwaen immer noch mit der Antwort.

»Er?« sagte er, nachdem er die Pause bis an die Grenzen der Höflichkeit hinausgezogen hatte. »Oh, das ist nur der Sohn eines Küchenmädchens, Mada-

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me Krider. Sein Vater ist Lautenbauer. Ich fand, daß kein schon einmal benutztes Instrument würdig ist, unter Eurem Lied zu erklingen, und so habe ich ein neues in Auftrag gegeben. Nachdem ich für Euch darauf gespielt habe, werde ich es verbrennen, wenn Ihr gestattet.«

»Uwaen! Wer soll Euch nur widerstehen! Ihr seid schrecklich!«

Während die Matrone aus dem Häuschen geriet, warf Damlo einen schnellen Blick auf ihre Begleite-rin. Sie war jung, hübsch, trug ein einfaches, elegan-tes Kleid und konnte die Augen keine Sekunde lang von Uwaen abwenden. Jedes Mal, wenn sich ihr Blick mit dem seinen kreuzte, errötete sie. Sie blieb die ganze Zeit über einen Schritt hinter der Dame und biß sich mit ihren weißen Zähnen des öfteren auf die Unterlippe, um nicht zu lachen.

Der Halbelf fuhr fort, Madame Krider mit Nich-tigkeiten und übertriebenen Schmeicheleien abzulen-ken, so daß der Lanzenreiter sich an ihre junge Begleiterin heranmachen konnte. Er flüsterte ihr ins Ohr, wobei er sich vergebens um eine unbewegte, gleichmütige Miene bemühte. Aber auch sie hatte ih-re Schwierigkeiten damit, und schließlich nickte sie, doch nicht ohne sich ein ersticktes Glucksen ent-schlüpfen zu lassen, das gerade noch rechtzeitig mit einem Hustenanfall getarnt wurde.

Die Dame fuhr herum.

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»Sedrina! Ist es denn die Möglichkeit, daß du uns jedesmal, wenn ich mit Uwaen spreche, umschwirrst wie eine Motte das Licht? Verschwinde! Hol meine Näharbeit und warte im gelben Pavillon auf mich!«

»Jawohl, Madame Krider«, sagte das Mädchen und verneigte sich.

»Und hör auf, allen Soldaten, die dir über den Weg laufen, schöne Augen zu machen!« fügte die Matrone schroff hinzu.

»Jawohl, Madame Krider.« »Meine Beste, ich lasse dich schon überall su-

chen!« Die leicht raunzende, herrische Männerstim-me ließ die Atmosphäre augenblicklich abkühlen.

In der Tür stand ein sehr dicker, kostbar gekleide-ter Mann, der bis auf zwei schmale graue Haarstrei-fen links und rechts völlig kahl auf dem Kopf war. Ein sehr schmaler Schnurrbart, der ihm ein öliges, aalglattes Aussehen verlieh, zierte seine Oberlippe.

»Verbeug dich!« flüsterte Uwaen Damlo zu. »Aber Liebster, ich war die ganze Zeit hier, nicht

wahr, Sedrina?« »Jawohl, Madame Krider. Meine Hochachtung,

Ratsherr Krider.« Indem er Sedrina, Damlo und den Soldaten nicht

beachtete und sich darauf beschränkte, Uwaen einen giftigen Blick zuzuwerfen, befahl er seiner Gattin mit einem Grunzen und einer barschen Kopfbewegung, ihm zu folgen, worauf er sich umdrehte und da-

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vonstapfte. »Himmel, wie eifersüchtig er ist!« gluckerte die

Dame. »Und dabei hat er doch gar keinen Grund da-zu, nicht wahr, Uwaen?« Der Blick, mit dem sie den Halbelf bedachte, hätte selbst Trax die Schamröte ins Gesicht getrieben.

»Selbstverständlich nicht«, säuselte Uwaen, »denn Euer Herz ist rein wie der Morgentau, Madame Kri-der. Doch Eure Schönheit ist so berückend, daß jeder Mann, dem es vergönnt wäre, Eure Gunst zu erobern, fürderhin sein Leben in steter Furcht verbringen müßte, diese wieder zu verlieren. Seid daher nach-sichtig gegenüber jenen, die Euch lieben, ich bitte Euch.«

»O Uwaen!« Überwältigt neigte sie den Kopf und sah ihn unter den gesenkten Lidern hervor an. »Welch eine Hochherzigkeit!« gurrte sie. »Es müßte doch einen Weg geben, diese edle Seele zu beloh-nen!«

Bei diesen Worten konnten sich Sedrina und der Lanzenreiter nicht mehr zurückhalten, und um das Lachen zu verschleiern, nahmen sie erneut Zuflucht zu einem heftigen Hustenanfall.

Was die Dame wieder in die Wirklichkeit zu-rückriß. »Bist du immer noch da?« schrie sie Sedrina an. »Habe ich nicht gesagt, du sollst verschwinden? Jetzt geh mir aus den Augen! Und vergiß meine Näharbeit nicht!«

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Sie wartete, bis das Mädchen gegangen war, dann warf sie dem Halbelf einen letzten schmachtenden Blick zu, ehe auch sie, einherschreitend wie eine ade-lige Kuh, den Saal verließ.

»Du bist grandios, Uwaen!« lachte der Soldat und gab Uwaen einen mächtigen Schlag auf die Schulter.

»Jetzt liegt alles in den Händen von Sedrina«, sag-te der Halbelf. »Und was uns betrifft, so ist es höchs-te Zeit, etwas zwischen die Zähne zu bekommen.«

In den großen Küchen herrschte frenetische Um-triebigkeit. Dutzende Köche, Hilfsköche, Küchen-mägde, Dienstmädchen und Diener bewegten sich flink durch Wolken von Dampf und Rauch – wie un-scharfe Gespenster. Jeder schleppte etwas: Töpfe, Wassereimer, Körbe mit Gemüse, riesige, noch leere Servierplatten.

Im ersten Augenblick fragte sich Damlo, wie sie es anstellten, einander nicht unentwegt anzurempeln, doch nach und nach merkte er, daß dieses Durchein-ander weitaus weniger chaotisch war als es schien: Die Arbeit war streng nach Rangordnung organisiert, und jeder Küchenmeister betreute zusammen mit seinem Hilfspersonal zwei Feuerstellen. Der Radau und das unablässige Gebrüll entstanden dadurch, daß jeder dieser Köche seine Befehle in voller Lautstärke gab und seine Untergebenen einzig und allein auf die Stimme ihres eigenen Meisters achteten. Die gleiche Organisation herrschte an den großen Tischen, von

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denen jeder für eine besondere Aufgabe vorgesehen war: Hier wurden die Gemüse geputzt und geschnit-ten, dort fertige Speisen auf Servierplatten arrangiert, und weiter entfernt bereitete man rohe Zutaten zum Garen vor. Scharen von Küchenmägden, komman-diert von einer gewaltigen Weibsperson mit roten Haaren, brachten benutzte Pfannen und Teller in ei-nen Nebenraum, wo irgend jemand sie waschen wür-de.

Uwaen wurde als alter Bekannter willkommen ge-heißen. Jedesmal, wenn jemand an ihm vorbeiging, flogen Scherzworte und Gelächter. Der Halbelf führ-te Damlo in einen Winkel, und um nicht im Weg zu stehen, lehnten sich beide an die Wand. Doch plötz-lich halbierten sich wie durch Zauberei alle Tätigkei-ten. Die Vorspeisen waren fertig, die folgenden Gän-ge brodelten in den Pfannen, das Fleisch briet auf ei-nem Spieß, und nur mehr die Speisenträger waren in Bewegung. Während eine geordnete Reihe von liv-rierten Dienern ausschwärmte und die fertigen Ge-richte wegtrug, näherte sich Uwaen der Frau mit den roten Haaren.

Ihre Frisur schien aus einer Handvoll trockenem Stroh zu bestehen, das zufälligerweise auf ihrem Kopf gelandet war. Auf der Spitze ihrer großen Ha-kennase saß eine Warze, und auf dem Kinn hatte sie ein Muttermal, aus dem drei dicke, lange, rötliche Haare hervorsprossen; ein zweites, größeres verun-

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staltete ihre Wange mit einem ganzen Büschel schwarzer Borsten. Wenn ihr Damlo ins Gesicht sah, mußte er an die Hexen aus den Märchen denken. Doch die rothaarige Frau war fast sechs Fuß groß, hielt sich sehr gerade und hatte Oberarme, so kräftig wie Schinken. Ihre Hände waren zwei entsprechend große Schaufeln, und bis vor kurzem hatte ihre tiefe Altstimme alle anderen übertönt und eine Armee von Küchenmägden und -jungen herumkommandiert wie Rekruten auf dem Exerzierplatz. Leicht eingeschüch-tert folgte Damlo Uwaen auf dem Fuß.

»Wie geht es dir, Varusa?« Der Junge war perplex: Der Halbelf richtete das

Wort an sie, und die Frau errötete mit einem scheuen Lächeln auf den Lippen. Doch dann fing sie sich wieder und bellte einem völlig unschuldigen Kü-chenjungen einen scharfen Verweis hinterher, worauf dieser wie ein Blitz im Nebenraum verschwand.

»Darf ich dir meinen Freund vorstellen? Er heißt Damlo und ist ein kluger Kopf.«

Nun war es an Damlo zu erröten, während ihn die Frau ansah. Sie hatte einen seltsam eindringlichen, gütigen Blick, und der Junge spürte, wie ihm warm ums Herz wurde.

»Hallo, Damlo.« »Guten Tag, gnädige Frau.« »Gnädige Frau!« lachte sie und gab ihm einen

freundschaftlichen Klaps, der ihn drei Schritte seit-

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wärts versetzte. »Hast du mich nicht angesehen? Sag Varusa zu mir, so wie alle anderen.«

»Würdest du es einen angemessenen Tausch nen-nen, wenn du Damlo zu essen gibst und ich dir dafür ein Lied widme?« fragte Uwaen.

»Das kannst du dir für deine mageren Dämchen aufheben, du Gauner. Der Junge kann essen, bis er platzt, ohne daß du dir die Kehle heiser singen mußt.«

Varusa führte Damlo zu einem Tisch in der Nähe der Tür, hieß ihn auf einem Schemel Platz nehmen und türmte eine solche Unmenge an Speisen vor ihm auf, daß es für eine ganze Armee gereicht hätte.

»Du iß auch!« forderte sie Uwaen auf. Ohne auf ihre Worte zu achten, setzte sich der

Halbelf Varusa gegenüber auf den Tisch und sang. Seine Stimme erfüllte die ganze Küche.

Jede Tätigkeit kam augenblicklich zum Stillstand, und selbst die Küchenmeister vergaßen für den Mo-ment auf ihre Feuerstellen. Uwaen war wie verwan-delt. In seinem Blick lagen nie verblaßte Erinnerun-gen, Einsamkeit und unendliche Fernen. Er sang in einer fremdartige trillernden Sprache, die für sich al-lein schon melodisch klang. Obwohl er natürlich die Worte nicht verstand, wußte Damlo, daß es sich um ein Liebeslied handelte, dem es gelang, heiter und melancholisch zugleich zu sein: voller Lebensfreude und verzehrender Sehnsucht. Der Junge bemerkte,

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daß er nicht der einzige war, dem es die Kehle zu-schnürte.

Als Uwaen geendet hatte, blieb es sekundenlang still, ehe der Applaus durch die Küchen brandete. Ohne darauf zu warten, daß er endete, begann der Halbelf mit einem neuen Lied, diesmal in einer Spra-che, die alle verstanden; wieder ging es um die Lie-be. Doch es war ein sehr fröhliches Lied, das auch mit witzigen Derbheiten nicht sparte. Alle klatschten sich wie wild auf die Schenkel vor Lachen, denn es stand außer Frage, daß Uwaen das Lied Varusa wid-mete. Sie spielte zwar mit, war aber sichtlich verle-gen, und bei jedem neuerlichen Aufbranden von Ge-lächter setzte sie eine grimmige Miene auf.

Doch mit einem Mal änderte sich die Atmosphäre in der Küche schlagartig, und Damlo gewahrte einige Anwesende, die sich eilig und verstohlen davon-machten. Auch Uwaen war es aufgefallen, merkte der Junge. Aber deswegen hörte er nicht auf zu sin-gen – ganz im Gegenteil: Nachdem er aus dem Au-genwinkel nach der Eingangstür geschielt hatte, griff er auf eine Strophe zurück, die er bereits gesungen hatte, und zwar auf die vulgärste von allen. Varusa, die mit dem Rücken zur Tür saß, bemerkte nichts; sie hatte ihren Spaß und wandte dem Halbelf ihre ganze Aufmerksamkeit zu.

Nun warf auch Damlo einen Blick zum Eingang – und war verblüfft: In der Tür stand Madame Krider

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und verfolgte die Vorgänge mit offenem Mund und angewidertem Gesichtsausdruck. Neben ihr stand Sedrina, die ihr mit leicht boshafter Miene ins Ohr flüsterte und mit dem Finger auf ihn und Varusa zeigte, während sie sich wiederholt das Haar berühr-te.

In diesem Augenblick beendete Uwaen sein Lied. Er wartete den Applaus ab und wandte sich dann an Damlo: »Nun, wie habe ich diesmal gesungen, Söhn-chen?«

»Wunderschön!« antwortete der Junge. Dann ent-sann er sich der Instruktionen des Freundes und fügte hinzu: »Wie immer, Papa.«

»Oh!« Bei diesem Aufschrei drehten sich alle um. Eine

Hand an die Brust gepresst, hielt sich Madame Kri-der am Türpfosten fest. Während alle hastig zu ihren Pflichten zurückkehrten, sprang Uwaen vom Tisch und verbeugte sich galant.

»Was für ein glücklicher Zufall, Madame Krider!« »Oh!« Zu mehr als einer Wiederholung reichte es

nicht. Uwaen eilte auf sie zu – zu schnell und zu offen-

sichtlich in dem Wunsch, sich von Varusa und Dam-lo zu entfernen.

»Oh!« rief die Dame neuerlich aus und trat einen Schritt zurück.

»Ich vermutete Euch bei Tisch mit Seiner Majes-

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tät«, sagte Uwaen. »Sonst wäre ich oben in den Kor-ridoren verweilt – in der Hoffnung, einen Blick auf Euch zu erhaschen!«

»Oh!« »Aber ich sehe, heute ist mir das Schicksal wohl-

gesinnt«, fuhr Uwaen fort und trat noch näher an die Dame heran, »weil es Euch dorthin sandte, wo mein Herz, betrübt über Eure Abwesenheit, für Euch schlägt.«

»Aus dem Weg, ordinärer Kerl!« kreischte die Dame mit schriller Stimme. Uwaen erstarrte, und ei-nen Augenblick später hatte sie sich wieder gefan-gen. An alle und niemanden gewandt rief sie: »Der Sohn des Lautenmachers… Widerlich!«

Dann rauschte sie davon, gefolgt von Sedrina. Der Halbelf jedoch lachte leise vor sich hin, setzte

sich an den Tisch, als wäre nichts gewesen, und aß. »Ich sehe mich fast jeden Tag im Spiegel«, knurrte

Varusa, »und kann sagen, wann ein Freund einen Scherz treibt. Aber es gefällt mir nicht, benutzt zu werden!«

»Du hast recht, liebe Freundin«, erwiderte Uwaen. »Aber das erste Lied war wirklich für dich. Und wenn du eine Minute Zeit hast, erzähle ich dir alles.«

Mit einem Fuß zog sich Varusa einen Schemel heran, ließ sich schwer darauffallen und stützte einen Ellbogen auf dem Tisch auf, eine Faust unter dem Kinn und die andere auf dem Knie.

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»Sieh mal, leider hegt Madame Krider romanti-sche Gefühle für mich …«

»Ich weiß. Und dir gefällt Sedrina. Auch wenn es im Palast nicht in aller Leute Mund wäre, habe ich Augen im Kopf, um von ganz allein darauf zu kom-men!«

»Eben. Es geht aber um etwas anderes. Der Rats-herr Krider ist eifersüchtig geworden und verhindert, daß ich mich im Palast frei bewegen kann.«

»Was dich wiederum daran hindert, Sedrina zu treffen.«

»Nein«, lachte Uwaen, »dafür hat bis jetzt schon die Dame gesorgt. Das wirkliche Problem ist, daß ich von der Musik lebe und die Möglichkeit haben muß, bei Empfängen aufzutreten. Wenn mich Krider nicht dabeihaben will, habe ich jedoch keinen Zugang mehr.«

»Du bleibst nicht bei der Wahrheit. Zumindest sagst du nicht alles.«

Mit einer schnellen Geste strich ihr Uwaen zart über die entstellte Wange. Die Frau zuckte zusam-men und erstarrte.

»Auch damit hast du recht, Varusa«, sagte der Halbelf und senkte die Stimme. »Und ich kann dir nicht alles erklären. Aber ich gebe dir mein Wort, daß ich nichts Böses im Sinn habe. Ich brauche drin-gend eine Audienz bei König Vinathes, und die kann ich nur mit Hilfe der jetzigen Favoritin, der Schwes-

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ter von Sedrina, erhalten. Daher mußte ich mir freien Zugang zu dem Edelfräulein verschaffen, und das habe ich erreicht, indem ich den Hochmut ihrer Her-rin ausnutzte.«

»So klingt es schon besser«, knurrte Varusa. Dann erhob sie sich, holte einen Humpen Wein und stellte ihn vor dem Halbelf hin. »Ersticken sollst du daran«, sagte sie liebevoll und kehrte an ihre Arbeit zurück.

Vinathes von Drassol war schon alt und müde. Nur wenig war noch von dem kraftstrotzenden jungen Mann voller Begeisterung übrig, dem es damals, als Zanter von Eria die Hegemonie begründet hatte, ge-lungen war, für Drassol die Anerkennung zu erlan-gen, ein eigener Teilstaat zu sein. Über fünfzig Jahre lang hatte der Herrscher mit sicherer Hand und in unerschütterlicher Treue gegenüber der Hegemonie die Geschicke der Stadt gelenkt. Ausgestattet mit po-litischer Intelligenz war er immer der Überzeugung gewesen, daß der von Eria aufgezwungene Friede für Drassol günstiger war als eine Freiheit, die nur mit größten Opfern an Menschen und Gold zu verteidi-gen wäre. So hatte er den nach Unabhängigkeit stre-benden Adel an den Rand gedrängt – und die Ge-schichte hatte ihm recht gegeben. Für den Preis jähr-licher Tribute, die nicht einmal besonders drückend waren, hatte sich Drassol unter seiner Regierung zu einem blühenden Gemeinwesen entwickelt und zur

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wichtigsten aller nördlichen Städte. Doch dann, im vergangenen Jahr, war die ganze

Jagdgesellschaft, an der die Söhne des Königs teil-nahmen, einfach vom Erdboden verschwunden: mehr als zwanzig Teilnehmer an der Treibjagd – Damen und Herren und ihr ganzes Gefolge aus Köchen, La-kaien, Rössern und Hunden. Sie waren bei Sonnen-aufgang aufgebrochen und einfach nicht zurückge-kehrt.

Unterstützt von den besten Jägern des Reiches hat-ten sie die Lanzenreiter überall gesucht und nicht die geringste Spur von ihnen gefunden.

Obwohl er immer noch gesund und bei Kräften war, hatte der König seit vielen Jahren seine Zeu-gungsfähigkeit eingebüßt; nun raubte ihm das Wis-sen um das Aussterben der eigenen Dynastie den Le-bensmut. Und so erledigte er die Staatsgeschäfte seit fünfzehn Monaten nur noch aus purer Gewohnheit. Diese seine Passivität hatte beträchtlich zum Entste-hen der Feindseligkeiten mit den Nachbarstädten bei-getragen, sowie zur Stärkung jener Strömungen im Palast, die die Unabhängigkeit von Eria wünschten.

Kefrin, Sedrinas Schwester, ließ Damlo und U-waen durch eine Seitentür in den Thronsaal ein. Zu diesem Zeitpunkt gewährte der König gerade einer dichtgedrängten Gruppe von Kaufleuten und Vertre-tern der Zünfte von Drassol eine Audienz.

Im Saal herrschte ein unglaublicher Lärm. In offe-

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ner Respektlosigkeit redeten alle zugleich und hoben dreist die Stimme, um jene des Nachbarn zu übertö-nen; die Vorsteher der Gilden schrieen durcheinander und jammerten über die Schäden, die durch die Tu-multe am Vortag entstanden waren, und einige der Kaufleute versicherten dem König kreischend, alles verloren zu haben. Andere wiederum lamentierten über die unsicheren Straßen, die sie daran hinderten, ihre traditionellen Frühjahrsfahrten anzutreten. Viele wiesen den König in voller Lautstärke darauf hin, daß sie ohne die Erträge dieser Reisen die Ersatz-steuern, die sie Eria nunmehr schuldeten, nicht wür-den bezahlen können. Fünf oder sechs Männer wand-ten dem Herrscher sogar den Rücken zu und stritten darum, welcher von ihnen den Fall mit dem größten Gewicht vorzutragen hätte.

Und während die Ratsherren und Kämmerer ohne großen Erfolg versuchten, die Wogen zu glätten, saß König Vinathes auf dem Thron, das Kinn in die Hand gestützt, und blickte ins Leere.

Damlo, Uwaen und die junge Frau blieben ein we-nig abseits stehen, um sich erst einmal alles anzuse-hen. Kefrin hatte beabsichtigt, sie beide sofort dem Herrscher vorzustellen, aber der Halbelf bat sie, et-was zu warten. Das, was in diesem Saal vor sich ging, erklärte er, konnte sich als nützlich erweisen. Doch er brauchte einen Augenblick, um zu überle-gen.

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Er nahm sich eine gute Viertelstunde dazu, wobei er die meiste Zeit die Augen geschlossen hielt. Dann benötigte er noch einige Minuten, um Damlo leise Anweisungen zu geben. Doch schließlich nickte er Kefrin zu.

Mit weichen, sinnlichen Bewegungen näherte sich die junge Frau dem König, neigte sich zu seinem Ohr und sprach auf ihn ein, während sie ihm mit den rot-lackierten Fingernägeln über den Nacken strich. Nach einer Weile nickte der König einmal müde, oh-ne das Kinn aus der Hand zu heben, und Kefrin be-deutete Uwaen und Damlo näherzukommen.

So groß war das Durcheinander, daß außer den Lanzenreitern der königlichen Garde niemand die Neuankömmlinge bemerkt hatte. Damlo und der Halbelf traten von der Seite an den Herrscher heran, und da es auf dem Podest, auf dem der Thron stand, keinen Platz für einen Kniefall gab, beschränkten sich die beiden auf eine tiefe Verbeugung. Dann war-teten sie darauf, daß der König als erster das Wort ergriff.

»Die nächsten Probleme, nehme ich an«, brummte Vinathes ohne aufzublicken.

»So könnte es scheinen, Eure Majestät«, sagte Uwaen mit ehrerbietiger und dennoch fester Stimme. »Eigentlich aber bringen wir Lösungen.«

»Wie schön, einmal etwas anderes.« »Erlaubt Ihr uns, Euch die Sache vorzutragen?«

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»Nur zu.« »Aufgrund eines bedauerlichen Irrtums befindet

sich in diesem Augenblick der Erbe des Steinernen Thrones in einem Eurer Kerker.«

Jetzt hob Vinathes schließlich doch den Kopf und sah Uwaen an, als hätte dieser den Verstand verloren.

»Ihr müßt mir natürlich nicht glauben, Majestät. Aber könnt Ihr das Risiko eingehen, nicht nachprü-fen zu lassen, ob ich nicht doch die Wahrheit sage?«

»Wie wäre das möglich?« »Erzähl, Damlo.« Bei der Vorstellung, einem echten König entge-

genzutreten, hatte sich der Junge dem Thronsaal mit einer Mischung aus Aufregung und Furcht genähert. Nach dem Eintreten war er von dem lauten Durch-einander wie betäubt gewesen, und obwohl Vinathes auf den ersten Blick den Eindruck eines armen alten Mannes machte, hatte seine Nähe Damlo einge-schüchtert. Doch dann, als ihm Uwaen seine Anwei-sungen ins Ohr flüsterte, war ihm bewußt geworden, daß er sich unmittelbar an den Herrscher wenden und ihn »Majestät« nennen sollte – genau wie den häßli-chen Gaul, der den Wagen der Zwerge zog. Da war seine Befangenheit augenblicklich verflogen, und er hatte sich sogar ein Auflachen verkneifen müssen.

Wie von Uwaen angewiesen, erzählte er nun von allen Vorfällen, wobei er es so darstellte, als würde Irgenas zum eigenen Vergnügen inkognito reisen.

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Von den unangenehmen Erlebnissen, die er und die Zwerge gehabt hatten, erwähnte er nur die Sache am Sweldal, die verlassene Wagenreihe im Wald und den Aufruhr des Vortages in der Stadt.

»Gütiger Himmel!« ächzte der König, »jetzt fehlt uns nur noch ein Krieg mit den Zwergen! Jedermann weiß, wie empfindlich König Thundras sein kann!«

»Verzeiht, wenn ich Euch widerspreche«, schalte-te sich Uwaen ein, »aber es muß doch nicht sein, daß König Thundras von dem Vorgefallenen erfährt. Au-ßerdem könnte das, was geschehen ist, viele der Probleme lösen, die Euch quälen.«

»Sprich, Sänger.« »Wenn ich recht gehört habe – und wenn wir für

einen Augenblick den jungen Cuorsaldo beiseite las-sen –, dann habt Ihr gegenwärtig Schwierigkeiten mit den Händlern, die unter sicheren Bedingungen reisen wollen; außerdem mit dem Volk, das nicht ein zwei-tes Mal die Steuern bezahlen will; mit dem Umstand, daß die Fähre nach Norden zerstört wurde; mit der Furcht vor einem drohenden Vergeltungsschlag, den Eria für die Ermordung seines Gesandten führen könnte; mit dem Vorhandensein von Banditen nörd-lich des Sweldal; und mit den Zünften der Stadt, die sich über die erlittenen Schäden beschweren.«

»Das ist nicht alles«, seufzte König Vinathes. »Deiner Liste wäre noch hinzuzufügen, daß wir uns beinahe im Krieg mit Irel und Mettenal befinden, daß

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der Adel mich mit absurden Vorschlägen quält und daß das Volk die Zwerge am Strick baumeln sehen will, weil sie seiner Meinung nach den Grafen von Eranto umgebracht haben.«

»Oh, aber das ist wirklich kein Problem, Majes-tät.«

»Was willst du damit sagen? Ich kann doch nicht den Erben des Steinernen Thrones aufhängen!«

»Natürlich nicht, Eure Majestät. Aber zufällig ist heute nacht in der Kaserne, in der die Zwerge gefan-gengehalten werden, ein Feuer ausgebrochen. Nichts hindert Euch daran, dem Volk mitzuteilen, daß die Mörder des Grafen bei lebendigem Leib verbrannt sind. Das würde Eure Untertanen zufriedenstellen und Euch zugleich erlauben, den Prinzen Cuorsaldo unter Wahrung seines Inkognitos ziehen zu lassen.«

Zum ersten Mal seit Beginn der Audienz glaubte Damlo, so etwas wie einen Funken von Interesse in den Augen des Herrschers zu entdecken.

»Du hast eine Reihe anderer Probleme erwähnt«, sagte der König zu Uwaen.

»Jawohl, Majestät. Ich habe keine Lösung für den Unfrieden, der zwischen Euch und den Nachbarstäd-ten herrscht, und ich habe nicht vor, mich in innen-politische Dinge einzumischen, die nur Euch und Eu-re Edelleute etwas angehen. Doch was den Rest be-trifft, so bin ich vielleicht in der Lage, Euch eine Lö-sung anzubieten. Dürfte ich zu allererst einmal vor-

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schlagen, die Verantwortlichen für dieses unwürdige Gezeter hier aus Eurer Gegenwart zu entfernen?«

Erst in diesem Augenblick schien sich der König des Krachs bewußt zu werden, der im Thronsaal herrschte. Er erhob sich augenblicklich; seine Augen blitzten, aber niemand bemerkte es. Zornbebend zog Vinathes das Zepter aus der Halterung in der Arm-lehne des Thrones, trat an den Gong, der dazu diente, die königlichen Beschlüsse zu bestätigen, und ließ ihn unter einem gewaltigen Schlag erdröhnen.

Alle drehten sich um; als sie sahen, wie wutent-brannt ihr Herrscher das Zepter schwang, erstarrten sie in der Stellung, die sie gerade einnahmen.

»Elendes Gelichter! So benehmt ihr euch in Ge-genwart Eures Königs? Garde! Werft sie alle in den Kerker!«

Die Soldaten trieben Händler und Vertreter der Zünfte wie eine Viehherde aus dem Saal, wobei sie die Schäfte ihrer Lanzen mit offensichtlicher Genug-tuung einsetzten.

»Und was euch betrifft«, wandte sich Vinathes an die Kämmerer, »die ihr dieses schändliche Gezänk im Thronsaal geduldet habt, so verschwindet aus meinen Augen und kehrt nicht zurück, ehe ihr geru-fen werdet!«

Alle Würdenträger verließen den Saal – einige niedergeschlagen und besorgt, andere beleidigt und wieder andere sichtlich zufrieden, ihren König so re-

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agieren zu sehen, wie er es seit langer Zeit nicht ge-tan hatte. Vinathes machte Anstalten, sich wieder zu setzen, doch dann überlegte er es sich anders und fing an, vor dem Thron auf und ab zu schreiten.

»Also gut«, sagte er zu Uwaen, nachdem er einige Minuten schweigend nachgedacht hatte, »laß uns deine Lösungen hören.«

»Erstens: die Zwerge. Ich weiß, daß Irgenas Cuor-saldo größten Wert auf diese Reise legt, gegen die sein Vater einiges einzuwenden hatte. Ich bin sicher, daß der Prinz das Vorgefallene geheimhalten möch-te, besonders dann, wenn Eure Majestät sich ent-schließt, seiner sofortigen Abreise zuzustimmen und ihn aus allen offiziellen Verpflichtungen zu entlas-sen, denen eine Person seines Ranges beim Besuch eines befreundeten Reiches nachkommen müßte.«

»Falls du die Wahrheit sagst, können wir diese Sa-che als erledigt betrachten.«

»Zweitens: die Proteste der Zünfte wegen der erlit-tenen Schäden. Ich habe keine Vorstellung, welche Strafe Ihr ihnen für die Beleidigung auferlegen wollt, die sie Euch vorhin zugefügt haben. Ich kann mir je-doch vorstellen, daß niemand Einwände dagegen hät-te, würdet Ihr ihnen eine Bußzahlung androhen, die den bei dem Aufruhr erlittenen Schäden entspräche. In der Folge könnt Ihr erklären, daß es der Thron ü-bernimmt, die Zünfte zu entschädigen. Auf diese Weise müssen sie keinen einzigen Dukaten locker-

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machen, vermeiden die Peitschenhiebe, die sie ver-dient hätten, und haben etwas Vernünftiges, das sie ihren Mitgliedern berichten können. Auch wenn sie sich bei Euch beschweren, wissen sie genau, daß die Schuld an dem Aufruhr nicht bei der Regierung liegt.«

»Gute Lösung. Um sie empfänglicher dafür zu machen, gebe ich vor, sie aufhängen zu lassen, bevor ich ihnen meinen Entschluß mitteile. Die Majestäts-beleidigung war schwerwiegend, und unter ihnen ist der eine oder andere, der sich an Zeiten erinnern kann, als ich es vielleicht wirklich getan hätte. Fahr fort.«

»Drittens, viertens, fünftens und möglicherweise sechstens: die Händler, die Banditen, die zerstörte Fähre und – vielleicht – Euer Adel. Wir wissen, daß die Hegemonie eine schwierige Zeit durchmacht, daß die Straßen unsicher sind, und daß die Lage hier im Norden besonders schwierig ist. Wir wissen auch, daß die Fähre über den Sweldal den einzig mögli-chen Übergang über den Fluß darstellte, und ich bin sicher, daß Euch die wirtschaftliche Bedeutung die-ses Verlustes nicht entgangen ist.«

Vinathes nickte. »Nun, Majestät, warum also nicht ein umfangrei-

ches Kontingent von Lanzenreitern Richtung Norden in Marsch setzen? Sie könnten die Kaufleute eskor-tieren, die Fähre wieder instand setzen und die Straße

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bis zum Blauen Paß von Banditen säubern.« »Ich brauche die Lanzenreiter hier, für den Fall,

daß ein Krieg ausbricht.« »Genau, Majestät. Dies ist der sechste Punkt, auf

den ich mich bezog. Korrigiert mich, wenn ich irre: Drassol ist den anderen Städten militärisch überle-gen, und wenn von Krieg gesprochen wird, dann nur deshalb, weil ihn sich einige Eurer Edelleute wün-schen.«

»Nicht nur, Sänger. Gerade weil wir die Stärksten sind, haben Irel und Mettenal mit Raubzügen und Plünderungen auf unserem Territorium angefangen, wonach sie sich jedesmal wie die Banditen aus dem Staub machen. Daher schreit das ganze Volk nach Rache und nicht nur ein Teil des Adels.«

»Mir fällt jedoch auf, daß sich Eure Majestät nicht zum Kreis jener zählt, die den Krieg wollen.«

»Weil ich weiß, was er mit sich bringt. Ich kenne den Blutzoll und den Schmerz, die ein Krieg auch dem Sieger auferlegt.«

»Ihr würdet also eine diplomatische Lösung nicht von vornherein ablehnen, falls eine solche sich bie-tet?«

»Ganz recht, aber dafür ist es wohl zu spät. Der Haß sitzt schon zu tief, die Edelleute scharren unge-duldig mit den Füßen, und das Heer ist beinahe einsatzbereit.«

»Eben, Majestät. Mit der Entsendung einiger hun-

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dert Lanzenreiter, die mit der Wiederherstellung ei-nes Fährbetriebes über den Sweldal beauftragt wä-ren, würdet Ihr eine Konfrontation hinauszögern. Ihr könnt zwei Monate Zeit gewinnen, vielleicht sogar drei. Und sie für Verhandlungen nutzen. Außerdem gründen sich die Einkünfte Eurer Aristokratie teil-weise auf den Handel und die Steuern der Kaufleute. Wer würde sich da der Wiedereröffnung eines so le-benswichtigen Verbindungsweges widersetzen?«

»Ein überzeugendes Argument. Bleibt also nur das Problem Eria.«

»Ausgehend von dem, was ich weiß, sieht sich Gevan Bedaran beim Lenken der Geschicke der He-gemonie zahlreichen Schwierigkeiten gegenüber; die Bestrafung Drassols bedeutet für ihn sicher eine zu-sätzliche Kalamität. Leider ist die Ermordung des Gesandten ein Vorkommnis, über das er nicht ein-fach hinweggehen kann. Aber ich bin sicher, er wäre äußerst froh, wenn sich eine unblutige Lösung finden ließe.«

»›Ausgehend von dem, was du weißt‹«, wieder-holte Vinathes ironisch, »du scheinst mir eher ein Politikexperte als ein fahrender Sänger zu sein!«

»Ich besuche seit vielen Jahren die Königshöfe dieser Welt, Majestät, und aufgrund dessen habe ich mir viele Erkenntnisse angeeignet.«

»Fahr fort.« »Irgenas Cuorsaldo hat sich größte Mühe gegeben,

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von König Thundras die Erlaubnis für diese Reise zu erhalten. Ich bin der Meinung, sein Vater hält ihn für zu jung und kann es, wie es des öfteren geschieht, nicht erwarten, daß der Prinz wirkliche Reife er-langt.«

»Kennst du den König persönlich?« »Der Steinerne Hof hat mir die Ehre zukommen

lassen, vor den königlichen Herrschaften singen zu dürfen.«

»Fahr fort.« »In der Vielzahl der gegenseitigen Gefälligkeiten,

die Ihr und Irgenas Cuorsaldo zur Lösung dieses un-erfreulichen Zwischenfalles austauschen würdet, wä-re sicher ein gutes Wort enthalten, das der Prinz bei Gevan Bedaran für Drassol einlegen wird. Denn wer kann schließlich mit Bestimmtheit sagen, daß der Gesandte noch gelebt hat, als der Mob sich Zutritt zu seinem Palast verschaffte? Wenn ich nicht irre, war er schon ziemlich alt und krank am Herzen.«

»Das ist wahr. Drassol war seine letzte Berufung.« »Wunderbar. Nun, wenn also der künftige König

der Zwerge bestätigt, daß der Gesandte zum Zeit-punkt der Unruhen bereits tot war, wäre die schwer-wiegendste Beschuldigung, technisch gesehen, hin-fällig. Und Gevan Bedaran käme eine solche Lösung äußerst gelegen. So gelegen, daß er vielleicht sogar seine Meinung ändern könnte, was die Steuern be-trifft.«

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»In dieser Richtung haben wir nichts zu erhoffen; Eria braucht das Geld.«

»Aber es wird es ja bekommen! Statt ›Tribut‹ heißt es dann ›finanzielle Sanktion‹ und schließt die Sache ein für alle Mal ab. Das Volk von Drassol wird zwar murren, aber nicht ganz ungern ans Zahlen gehen: Niemand erwartet, daß die Hegemonie den Mord an einem Gesandten ungeahndet läßt.«

»Und der junge Cuorsaldo würde das für uns tun? Schließlich waren wir es, die ihn in den Kerker ge-worfen haben!«

»Erlaubt mir, die Eskorte zu begleiten, die Ihr zu seiner Befreiung hinschickt, Majestät. Ich verspreche Euch, ihn zu überzeugen.«

Der Herrscher von Drassol verfiel in ein längeres Schweigen und rief dann den Kommandanten der Garde.

»Nimm zehn deiner Lanzenreiter, folge diesem Mann und tu, was er dir sagt.« Und dann wandte er sich mit einem leisen Lächeln an Uwaen: »Was dich betrifft, Sänger, so wirst du in den nächsten Tagen die Dankbarkeit von König Vinathes kennen lernen.«

»Darf ich Euch ersuchen, den Jungen bei Euch aufzunehmen, bis ich zurückkomme?« bat der Halb-elf.

»Aber ich will doch mitkommen!« unterbrach ihn Damlo.

»Nein«, sagte Uwaen und sah ihm mit einem ein-

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dringlichen Blick in die Augen. »Du willst hierblei-ben und über die Entscheidung nachdenken, die du fällen mußt.«

»Welche Entscheidung?« »Sieh mal, sobald sie die Fähre wieder in Betrieb

genommen haben, werden die Lanzenreiter auch nach Waelton kommen. Wenn du es also wirklich willst, kannst du in Sicherheit nach Hause zurück-kehren.«

Wie seltsam, dachte Damlo. Durch die Luft rund um ihn herum, ja selbst bis in sein Inneres zog sich die Vorahnung eines Endes. Sie lag über allem wie ein starker Geruch, ein ungewöhnlich berauschender Duft. Es schien dem Jungen, als würde die ganze Welt diesen Geist eines Schlußpunktes verströmen. Einer Vollendung. Nicht des Endes von allem, natür-lich, aber zweifellos des Zuendeführens von irgend etwas.

Ein bizarres Gefühl, das Damlo zwar nicht verstand, das er aber in aller Klarheit empfand. Es war eine Art fest umrissene Intuition. Obwohl er es nicht wirklich wußte, spürte er, daß zusammen mit seinem Entschluß das Ende eintreten würde. »Ein« Ende. Und er fragte sich nach dem Warum.

Fast ohne die prachtvollen exotischen Pflanzen wahrzunehmen, die darin wuchsen, wanderte der Junge nun schon eine ganze Weile auf den Pfaden

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des königlichen Gartens. König Vinathes hatte be-fohlen, ihn hinaus zu geleiten, damit er seinen Ge-danken in aller Ruhe nachhängen konnte. So war ihm ein Lanzenreiter der freundlicheren Sorte durch die Korridore des Palastes vorangegangen und hatte ihn an einer kurzen, breiten weißen Treppe allein gelas-sen, die hinab in den Park führte. Die Stufen endeten an einem weiten kiesbedeckten Vorplatz, der von Bäumen und bunten Beeten umgeben war – ein fröh-licher, friedvoller Anblick, den Damlo kaum bemerkt hatte. In Gedanken versunken und erfüllt von diesem seltsamen Gefühl, war er die Treppe hinabgestiegen und in den dichten Wald sorgsam gepflegter Ge-wächse eingedrungen, so als könnte ihm die Nähe der Natur bei seinem Entschluß helfen. Etwas, das jedoch nicht eintreffen wollte.

Nach Hause zurück! Tante, Onkel und die Gaststube wiedersehen! Gegen den Flügel von Kaxa-landrill auf dem Tor zur Bibliothek drücken und Melvo Boscorame wiederum dabei ertappen, wie er mit seinen Büchern sprach, während er ihre Einbände polierte! Unter dem eigenen Federbett schlafen, im eigenen Kämmerchen, und der Höhle bei erster Ge-legenheit einen Besuch abstatten…

Rotkopf. Feigling. Roter Hasenfuß. Fast konnte er die Stimmen von Proco Radicupo

und Busco Sinistronco hören. Mit einem Mal fiel ihm auf, daß ihm seit elf Tagen niemand die Farbe

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seiner Haare vorhielt. Und dann waren da auch Cle-vas und Irgenas. Uwaen. Die Bettlerküste, der er nunmehr angehörte. Das erste Mal, daß ihn eine Gruppe – irgendeine Gruppe – in ihrer Mitte auf-nahm. Doch das war etwas, das er nicht verlieren würde; auch wenn er sein ganzes künftiges Leben in der Bibliothek von Waelton verbrachte, würde er für alle Zeiten ihr Mitglied bleiben.

Den Turm von Belsin sehen! Die Elfen! Ailaram war ein Zauberer, und Uwaen hatte Damlo zu verste-hen gegeben, daß die Magie noch existierte. Wie sehr er sich wünschen würde, bei der Erzeugung eines Zaubers zugegen zu sein!

Irgenas und Clevas: seine Freunde. Die ersten Freunde seines Lebens. Sie sollte er verlassen? An-dererseits Onkel und Tante, die ihn sicher schon für tot hielten? Aber die Zwerge hatten ein verzweifel-tes, fast aussichtsloses Unterfangen vor sich und wa-ren nicht einmal in der Lage, ein Pferd anzuschirren! Außerdem wußten die Schwarzen Degen nun wieder, wo sie zu finden waren. Die Schwarzen Degen! Der Fürst der Finsternis!

Plötzlich schnürte es ihm die Kehle zusammen. Das alles war kein Spiel: Es gab tatsächlich Orks, Trolle, Banditen und fliegende Bestien, die vielleicht noch bedrohlicher waren! Kein Spiel, sondern eine wirkliche Gefahr!

Feigling. Nein: Das alles hatte nichts mit Angst zu

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tun. Er war nur ein Junge von vierzehn Jahren, und diese ganze Geschichte war eine Sache für Erwach-sene. Die Zwerge brauchten ihn nicht. Vielleicht wollten sie ihn nicht einmal dabeihaben? Lieber Himmel, und wenn sie ihn tatsächlich nicht dabeiha-ben wollten? Er spürte, wie sich ihm die Kehle noch mehr zusammenschnürte. Aber nein, die beiden brauchten ihn ganz sicher, denn wer hätte sich auf den restlichen sechshundert Meilen um Seine Majes-tät gekümmert? Außerdem wären sie ohne ihn, Dam-lo, immer noch am Sweldal, dachte er. Allerdings säßen sie dann auch nicht im Gefängnis, und die Schwarzen Degen hätten sie nicht aufgespürt…

Bei der Vorstellung, die Zwerge könnten ihn nach Hause schicken, überkam ihn Übelkeit. Es mußte ihm gelingen, die beiden davon zu überzeugen, daß sie ihn brauchten! Wegen des Gaules und auch we-gen seines Zauberdegens: Wenn es zu einem Kampf kam, konnte er ihnen den Rücken freihalten. Ein Kampf? Fast spürte er wieder die Reißzähne des Wolfes, die ihm ins Fleisch drangen, und die Angst breitete sich in seiner Brust aus.

Es war besser, nach Waelton zurückzukehren. Er mußte Onkel und Tante doch Nachricht geben, daß er nicht tot war! Feigling: schreib ihnen einen Brief und gib ihn den Lanzenreitern mit! Aber im Gasthaus brauchen sie mich! Die Zwerge brauchen dich auch. Aber da sind auch noch die Schwarzen Degen! Feig-

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ling. Und wenn sie mich zwingen, noch einmal eine dieser Waffen zu ergreifen? Warum sollten sie? Also würden sie mich umbringen, und ich könnte den Zwergen keine Hilfe mehr sein: Daher ist es sinnlos, mit ihnen zu gehen. Feigling. Wenn ich die Reise fortsetze, werde ich Waelton nie wiedersehen! Feig-ling: Du wirst dein ganzes Leben lang bereuen, deine Freunde im Stich gelassen zu haben. Es sind nicht meine Freunde. Ich habe keine Freunde. Feigling und Verräter! Also gut, es sind meine Freunde, aber ich kann ihnen keine Hilfe sein. Feigling und Lügner. Also gut, ich kann ihnen helfen, aber sie werden mich nicht dabeihaben wollen. O Gott, und wenn sie mich wirklich nicht haben wollen? Wenn sie mich nach Hause schicken? Überrede sie, dich nach Belsin mitzunehmen. Ja, aber wie? Das Pferd. Aber sie hat-ten doch auch eines, bevor sie mich kennenlernten! Der Stachel. Der Stacheldegen, ja, aber ich weiß nicht, wie man damit kämpft! Bei den Wölfen ist es doch auch geglückt. Aber Irgenas war neben mir! Das wird er auch weiter sein. Aber die Schwarzen Degen werden auch auftauchen! Feigling. Ich bin kein Feigling, auch in Waelton lebe ich gefährlich: Busco hat mich mit diesem Steinwurf fast umge-bracht! Die Waelton-Legion ist bedeutungslos; der wahre Feind ist der Fürst der Finsternis. Aber er exis-tiert seit dem Anbeginn aller Zeiten! Er ist keine Per-son und kann nicht besiegt werden! Sein Erster Die-

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ner ja. Aber das ist doch eine Geschichte, die mich nichts angeht! Feigling. Ich bin kein Feigling! Dann überzeuge deine Freunde, daß sie dich mitnehmen müssen. Aber wenn ich mit ihnen gehe, werde ich sterben! Feigling.

Plötzlich stolperte Damlo und fiel hin. Der Sturz unterbrach schlagartig seinen Schwall von Gedan-ken, und dem Jungen kam zu Bewußtsein, daß er ein schmerzhaftes Pochen im Kopf verspürte. Er sah sich um. Er war in einen Teil des Parkes eingedrungen, wo die Pflanzen ohne jede Pflege wild wucherten, und hatte sich in einem Dornstrauch verfangen. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand, aber die dicht wachsenden Bäume, die Gebüsche und Sträucher rie-fen heimatliche Gefühle in ihm wach.

Er trat an einen hohen Baum heran, wie er ihn noch nie gesehen hatte; der Stamm war glatt, und die Äste führten senkrecht davon weg, so daß jeder von ihnen aussah, als wäre er selbst ein kleiner Baum – alles in allem eine Art gigantischer Kerzenleuchter. Seine kleinen Blätter hatten an der Basis zwei Sporne wie Adelswappen. Der große Baum war Damlo sym-pathisch, und er grüßte ihn mit den Handflächen an der Rinde. Dann setzte er sich, lehnte sich an den Stamm und schloß die Augen. Ein Weilchen, ent-schied er, würde er nicht mehr an die Entscheidung denken, die er treffen mußte.

Unversehens brach er in Tränen aus. Er weinte

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lange und heftig, und Tränenbäche flossen ihm über die Wangen und tropften vom Kinn auf das neue Hemd. So weinte er gute zwanzig Minuten lang, schluchzte wild und hatte Mühe, nach Luft zu schnappen. Er weinte wie ein kleines Kind und mit der bitteren Verzweiflung eines Kindes. Mit dem vollen, herzergreifenden Überschwang eines Kindes. Er weinte – im vollen Bewußtsein, zum letzten Mal in seinem Leben auf diese Art zu weinen. Ohne es zu verstehen, spürte er, daß das, was in ihm vorging, keine Rückkehr vorsah.

Und schließlich geschah es: Etwas zerbrach und war für immer verloren.

Allmählich wurden die Tränen weniger und ver-siegten schließlich ganz. Völlig erschöpft lehnte Damlo an dem Stamm; sein Kopf fühlte sich leer an und sein Körper kraftlos. Hin und wieder entschlüpf-te ihm ein ungewolltes Schluchzen, aber das hatte nichts mehr mit den vergossenen Tränen gemein. Bar jedes Seelenleides und jedes anderen Gefühles, hatte es seinen Ursprung einfach im Beharrungsvermögen eines innerlich bereits verarbeiteten Schmerzes.

Langsam stand er auf. Jetzt wußte er es. So als wä-re eine unsichtbare Tür aufgeflogen, wußte er es jetzt mit Gewißheit. Er wußte, weshalb er geweint hatte, und er wußte, daß er einen Entschluß gefaßt hatte. Er wußte, es war gerade dieser Entschluß, weswegen er geweint hatte. Und er wußte auch, was dieses Gefühl

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eines Endes bedeutete, das er so stark und verwirrend wahrnahm.

Er holte tief Atem, und es schien ihm, als fülle sich seine Brust mit neuem Leben. Wie komisch – er fühlte sich melancholisch und glücklich zugleich!

Mit immer noch etwas schwerem Herzen, aber gu-ten Mutes bog er in den ersten Pfad ein, auf den er traf. Ja: Jetzt wußte er, was er tun würde, und nun, nachdem er sie getroffen hatte, erschien ihm seine Entscheidung ganz selbstverständlich. Schließlich war er vierzehn.

Wie Sweldal gesagt hatte – oder war es Wald ge-wesen? – sang das Leben mit einem Rhythmus, der respektiert werden mußte. Alles hatte seine Zeit, und dem mußte man sich anpassen, auch wenn es schmerzhaft war oder die Vorstellung des Verzich-tens unerträglich schien.

Weil Leben bedeutete, Entscheidungen zu treffen, das hatte Damlo soeben begriffen. Und man kann nicht wählen, ohne andererseits zu verzichten. Das war die Wurzel dieses seltsamen Gefühles. Wenn ei-ne echte Wahl getroffen wird, bedeutet dies auch ein Ende. So war es. Denn wenn die Alternativen einan-der nicht ausschließen, handelt es sich nicht um eine echte Wahl, dachte der Junge. Und so heißt wählen auch etwas aufgeben. Für immer.

Er war vierzehn Jahre alt. Wäre er nach Hause zu-rückgekehrt, hätte er die Zwerge aufgegeben; mit ih-

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nen zu gehen hieß, Waelton aufzugeben. Sicher, wäre er umgekehrt, hätten die Zwerge sei-

ne Entscheidung verstanden. Aber seine Beziehung zu ihnen wäre beeinträchtigt. Und letztlich hätten sie vielleicht den Tod gefunden.

Andererseits – mit ihnen zusammen weiterzurei-sen, das würde möglicherweise seinen eigenen Tod mit sich bringen; in jedem Fall hätte er Waelton ver-loren. Natürlich nicht das Dorf als solches, sondern seine persönliche Art, es zu betrachten und zu wür-digen – eben das, was es zu seinem Zuhause machte. Nur zwölf Tage zuvor hätte er einen solchen Gedan-kengang nicht einmal begriffen. Schon jetzt fühlte er sich – verglichen mit dem Jungen von damals – ver-ändert. Und je länger er die Reise mitmachte, desto mehr würde er sich noch verändern: In der großen, weiten Welt, wurde ihm gerade klar, passierten die Dinge viel rascher als daheim in der Gaststube.

Vierzehn Jahre. Er war vierzehn Jahre alt, und während er seine Tränen vergossen hatte, war etwas in ihm zerbrochen. Er wußte nicht genau, was, aber in gewisser Weise war ihm nun bewußt, daß das Le-ben auch von dieser Sorte sein konnte. Das wahre Leben. Das Leben, in dem sich die Geschehnisse rücksichtslos aufdrängen und Spiele und Phantasien mit der Macht ihrer Realität hinwegfegen. Und die Realität hatte ihn dazu gebracht, die natürlichste Ent-scheidung zu treffen.

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Weiter vorn, am Ende des Pfades, konnte er schon das königliche Schloß erkennen. Damlo verlangsam-te seine Schritte, drehte sich um und betrachtete die Bäume, die den Park überragten. Ja, dachte er und trat an eine besonders hohe Buche heran. Ja, er hatte sich entschieden. Und es stimmte, daß dies ein Ende mit sich brachte. Jedoch auch einen neuen Anfang.

Er legte beide Hände an den Stamm der Buche und grüßte sie. »Sieh mal«, sagte er, »die Realität ist, daß ich mein vierzehntes Lebensjahr vollendet ha-be.« Er schüttelte den Kopf. »Ach ja, vielleicht weißt du das nicht, aber… es bedeutet, daß ich schon er-wachsen bin.«

Ein Weilchen genoß er den Nachgeschmack des Wortes, als wäre es ein Dessert von Tante Neila. Dann fiel ihm ein, daß es noch etwas gab, was der Baum nicht wußte, und so legte er die Lippen dicht an die glatte Rinde. »Das bedeutet auch, daß ich die Reise mit meinen Freunden fortsetzen werde!« raun-te er dem Baum zu.

Eine Sekunde lang hatte er den Eindruck, als neh-me er in der Buche ein Rauschen des Einverständnis-ses wahr. Mit einem Mal fühlte er sich froh und glücklich. Er brach in Lachen aus.

Nachdem er noch einmal über den Stamm des al-ten Baumes gestrichen hatte, wandte er sich ab und sah hinüber zum königlichen Palast.

»Ja«, murmelte er.

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Er holte tief Atem. Das Gesicht von einem breiten Lächeln erhellt, setzte er sich in Bewegung.

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Personen Damlo Rindgren – der »rote Angsthase« Neila Rindgren – Gastwirtin; Tante väterlicherseits

von Damlo und Mutter von Trano Trano Scalbulin – Damlos Vetter Pelno Scalbulin – Gastwirt, Vater von Trano und

Damlos Onkel Proco Radicupo – Anführer der Waelton-Legion Busco Sinistronco – 2. Anführer der Waelton-Legion Binla Venaraggio – einziges Mädchen in der Wael-

ton-Legion Falno Gallaspessa – Schullehrer von Waelton Melvo Boscorame – Bibliothekar von Waelton und

Onkel von Neto Neto Boscorame – Neffe des Bibliothekars von

Waelton

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Belto Verdoglio – Krämer von Waelton Balso Verdoglio – Mitglied der Waelton-Legion Kaxalandrill – rote Drachin, Gründerin von Waelton Maspo Gemmalampo – Gründer von Waelton Maspo Venaraggio – Urururgroßvater von Binla Brabantis – legendärer Orkjäger Irgenas Cuorsaldo – Sohn und Erbe von Thundras Clevas Barbacciaio – alter Lehrer von Irgenas Thundras Cuorsaldo – König der Zwerge Grenvas Mazzapugno – Botschafter der Zwerge bei

den Elfen Rinelkind vom Lissomrim – Elfenprinz und Wun-

derheiler Ailaram von Belsin – Magiarch des Weißen Turmes Pheron – Lieblingsschüler des Ailaram Ghaznev – früherer Magiarch des Turmes von

Gothror Zurkin – Schlachtroß Seine Majestät – Zugpferd »Wald« – der Wald am Ufer des Flusses Sweldal Sweldal – der graue Fluß Clina – kleines Mädchen vom Bauernhof bei Drassol Vodars – Taschendieb Uwaen – hinkender Bettler Frusta – junger Rowdy Gevan Bedaran – Regent der Hegemonie Eria Zanter von Eria – vergifteter Herrscher von Eria Tidanles – Baron von Drassol

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Vinathes – König von Drassol Eranto – der »Gute Graf« von Drassol Faner – Sklavenhändler in Drassol Oljed – berühmter Einbrecher Trax – Vorsteher der »Bettlerküste« von Drassol Ratsherr Krider – dritter Ratsherr von König Vi-

nathes Madame Krider – Ehefrau des Ratsherrn Krider Norya – Freundin Uwaens in Drassol Erwan – Ehemann von Norya und alter Freund U-

waens Varusa – Leiterin der Tellerwäscher im königlichen

Schloß Sedrina – Zofe von Madame Krider in Drassol Kefrin – Schwester von Sedrina und Favoritin des

Königs Vinathes

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Maßeinheiten ein Zoll – zirka 2,5 Zentimeter ein Fuß – zirka 30 Zentimeter eine Elle – zirka 1 Meter ein Schritt – zirka 1 Meter eine Meile – zirka 1,6 Kilometer