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Matthias Theodor Vogt, Görlitz 15.04.2004
Ubi Leones - Peripherie in der Mitte Europas
Strategien der Kulturpolitik zur Überwindung von Grenze und
Provinzialität. Ein Essay in Vorbereitung des Collegium PONTES 2004
I. Zur Terminologie von "Peripherie", Peripherisierung", "Peripherizität" ................. ,. 2
1.1. nEplq>opa, peripheria etymologisch ........................................................... 2
1.2. peripheria kosmologisch ......................•................................................... 3
1.3. Peripherie in der symbolischen Kosmographie ., .......................................... 3
1.4. Hierarchisierung des Raumes ................................................................... 4
1.5. lateinamerika als "Peripherie" .................................................................. 7
1.6. Von der "Peripherie" zum Stichwort "Peripherisierung" ................................ 8
1. 7. Insularite, maritimite, PeriphEkicite ......................................................... 10
1.8. Peripherizität als Impetus für neue wissenschaftliche Perspektiven ............. 13 1.9. Peripherizität als leitdifferenz der Soziologie ............................................ 15
H. Zur Phänomenologie der Provinzialität ............................................................ 17
Akyanoblepsie als Metapher für Peripherizität und Provinzialität ......................... 27
"Ubi Leones'~ wo nichts als Löwenbestien wohnen, so nannten die alten Römer die
Gebiete außerhalb der bewohnten und bewohnbaren Welt.' Dieser Grundgedanke hat
sich bis heute erhalten und charakterisiert den Blick der Metropolenbewohner auf die
Ränder ihrer MacMgebiete. Das Collegium Pontes 2004 wird in einer Reihe von
Einzeluntersuchungen diesen Blick und seine Auswirkungen auf eine Region,
exemplarisch auf Görlitz-Zgorzelec-Zhorelec, analysieren. Leitfrage der Untersuchungen
ist, welcher Kulturpolitik es bedarf, um die mentalen Grenzen zu überwinden.
Das CP 2004 ist in vier gedankliche Schritte gegliedert:
I Zur Terminologie von Peripherie, Peripherisierung, Peripherizität
II Zur Phänomenologie der Provinzialität
III Zur Aitiologie der Provinzialität
in der Region Görlitz-Zgorze/ec-Zhofe/ec
IV Zur Praxeologie von "Kulturpolitik und Provinzialität"
Der vorliegende Text stellt eine Reihe von Begriffsuntersuchungen im Umkreis des
ersten Schrittes vor, also von "Peripherizität" und "Provinzialität".
1 Ich danke Peter Bendixen für den Hinweis.
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MITTE EUROPAS 2
I. Zur Terminologie von "Peripherie", Peripherisierung", "Peripherizität"
Der Begriff "Peripherie'" evoziert im heutigen Sprachgebrach das Bild einer Randzone.
Wird der Begriff in politischem und sozialem Kontext gebraucht, schwingt die
Konnotation einer politischen Minderberechtigung und wirtschaftlichen
SchlechtersteIlung mit; vergleichbar dem Verhältnis der Spartaner zu den "Periöken",
ihren umwohnenden Stammesgenossen.
1.1. nEpupopa, peripheria etymologisch
Etymologisch ist dies Bild einer Randzone unscharf. Das altgriechische periphora bzw.
periphereia kommt von periphero, herumtragen, und hat vier Bedeutungen: (1) das
Herumtragen, insbesondere von Speisen, was wir ja noch heute als "Gänge" einer
Mahlzeit bezeichnen, (2) das Herumgehen im Kreise, der Kreislauf, insbesondere der
Radumfang als der Ort, an dem Rad umläuft, (3) kosmologisch als Weltkreis, (4)
metaphorisch als Öffnung. (Ob und inwieweit die vierte antike Bedeutung ein Antidot für
Peripherie im heutigen Verständnis darstellen kann, sei zunächst dahingestellt.)
Die lateinische Übertragung der zweiten Bedeutung als linea circumcurrens, als
herumlaufende Linie, bei Martianus Capella 8,827 faßt die mathematische Bedeutung
von Peripherie als der Summe jener Punkte, die einen gleichen Abstand zu einem
Zentrum aufweisen. Erst durch seine Peripherie, die Kreislinie, wird das Zentrum nota bene zum Zentrum. Dies gilt auch umgekehrt: erst durch einen Zentralpunkt wird die
Linie zur Peripherie und zur Kreislinie. Diese Interdependenz gilt, wie noch zu zeigen
sein wird, in der Mathematik wie in der Politik.
In der Physik sprechen wir im zweidimensionalen Raum von einer Interdependenz
zwischen Zentrifugal- und Zentripetalkraft, im dreidimensionalen Raum von der
Kreiselkraft, die dieses Verhältnis zu stabilisieren in der Lage ist.
Der Peripherie-Begriff findet Verwendung einerseits Im Bereich Architektur, Städtebau, Regionalentwicklung,
andererseits in Politik- und Wirtschaftswissenschaften, Recht, Soziologie etc. Siehe Zang, Gert: Eine Region
wird peripher. Stadt und Kreis Konstanz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Fried, Pankraz
(Hrsg,): Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte 6ayerisch-Schwabens, Band 2: Probleme der Integration
Ostsehwabens in den bayerisehen Staat. Bayern und Wittelsbach in Ostsehwaben, Referate und Beiträge der
Tagung auf der Refsensburg am 21./22.03.1980, Stuttgart 1982; Nolte, Hans-Heinrich (Hrsg.): Internal Peripher/es in European History, Göttingen/Zürich 1991 (Zur Kritik der Geschichtsschreibung 6); Mose,
logo: Eigenständige Regiona!enmicklung - neue Chancen für die Peripherie, Vechta 1993; Coccossis, Harry:
overcoming isolation, information and transportation networks in development strategies for peripheral
areas, Berlin/Heidelberg 1995; No/te, Hans-Heinrich: InternaJ Peripherles: From Anda/ucia to Tatarstan, in:
Re\liew - A Journ" of the Fernand BraudeI Center, Val. 18, No. 2 (Spring 1995); Gampp, Axel Christoph: Die
Peripherie als Zentrum. Strategien des Städtebaus im römischen Umland 1600-1730, Worrns 1996; Bango,
Jen6: Auf dem Weg zur postglobaJen Gesellschaft. Verlorenes Zentrum/ abgebaute Peripherie/ erfundene
Region, Berlin 1998; Hein, Wolfgang: Unterentwicklung, Krise der Peripherie, Opladen 1998; Prigge, Walter:
Peripherie ist überatl, Frankfurt/Main 1998; Feldbauer, Peter: Von der Weltwirtschaftsl<rise zur
GJobalisierungskrise, Frankfurt/Main 1999; Fortuna, Amara/Oase, Mario: The cast of peripherallty, Luxembourg 2001.
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 3
1.2. peripheria kosmologisch
Peripheria ist indirekt ein Schlüsselbegriff des heliozentrischen Weltverständnisses und
damit nach heutiger Vorstellung der Moderne.3
Die o.g. Stelle 8,827 bei Martianus Capella bezieht sich auf die Umlauflinien der
Himmelskörper (im achten Buch De astronomia seiner "Hochzeit der Philologie mit
Merkur"; einer Enzyklopädie des Wissens der Spätantike, geschrieben im aus damaliger
Reichssicht recht peripheren Carthago vor 439 n.Chr.)"
Nikolaus Kopernikus zitiert Martianus Capella explizit als entscheidende Anregung in
seinem 1543 posthum veröffentlichten "De Revoiutionibus orbium cceiestium" I, 10'. Die Umwälzbahnen der Himmelskörper im Titel sind als peripheriae zu verstehen.
Die Beziehungen zwischen Sonne und Planeten werden in der Kosmologie des
Kopernikus imperial aufgefaßt ("Thus indeed, as though seated on a royal throne, the
sun governs the family of planets revolving around it." Ähnlich Marsilio Ficino: "Alliocate
the Sun, like a lord, in the center of the world." Uber de Sole VI) und führen damit
einen älteren Gedanken fort.
1.3. Peripherie in der symbolischen Kosmographie
Die Antike (insbes. Parmenides, Eudoxos, Eratosthenes, Cicero bzw. Macrobius,
Martianus Capella) hatte den Erdkreis in fünf Breiten oder "Gürtel"" eingeteilt, von
denen nur der zweite und der vierte als bewohnbar galten, und dies teils metaphysisch,
teils empirisch begründet. Die übrigen Zonen waren Randzonen außerhalb der
Bewohnbarkeit.
Reinhard Krüger wies vor kurzem nach, daß der noch heute weitverbreitete Glaube, daß das Mittelalter
einem geozentrischen Weltbild angehangen habe, auf eine bewußte Geschichtsfälschung des frühen XIX.
Jahrhunderts zurückgeht (u.a. Daunou in seinem Discours sur l'etat des (ettres au XIlIe siec(e, Paris 1824)"
VgJ. Reinhard Krüger, Eine Welt ohne Amerika. Globale Weltkonstruktion und europäisches Raumbewußtsein
im kosmologischen Denken von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit. Berlin 1998. Martianus Minneus Felix Capella: Satyricon, sive Oe Nuptiis Phi)o)ogiae et MercurH et de septem Artibus
HberaHbus libri novem. Editio princeps, F, Vitalis Bodianus (1499); Ed" U!ricus F. Kopp (Frankfurt/M. 1836); Ed. Franciscus Eyssenhardt (Leipzig 1866); Ed. Adolf Dick, Jean Preaux (Stuttgart 1978); Ed" James Willis
(Leipzig 1983). VgJ. aktuell Sabine Grebe, Martianus Capella: De nuptHs Philologjae et MercurH. Darstellung
der Sieben Freien Künste und ihrer Beziehungen zueinander, Stuttgart, Leipzig 1999. Über Jahrhunderte viel rezipiert und bereits von Notker dem Stammler ins Mittelhochdeutsche übersetzt, hat
die "Hochzeit" mehrere markante Spuren in der Kulturgeschichte hinterlassen.
So brachte CapeJJa im Rahmen seiner Musiktheorie den Ausdruck "systema" ins Lateinische (systema = complexus certum intervallum) und kann damit als ein früher Wegbereiter der Systemtheorie gelten.
Mit ihrer Aufteilung des Wissens in sieben Fächer (nach Varro) lieferte die "Hochzeit" nach 1200 ein Vorbild
für den Aufbau der Universitäten mit ihrer Eingangsfakultät der sieben freien Künste, dem heutigen amerikanischen College bzw. der Vorläuferin der heutigen Geistes- und Naturwissenschaften.
Nikolaus Kopernikus: De Revolutionibus orbium cceJestium I, 10: "Opinions differ as to Venus <3nd Mercury
which, unlike the others, do not aJtogether leave the sun. [ ... ] I think we must seriously consider the
ingenious view held by Martianus CapeUa [ •.. ], that Venus and Mercury do not go round the Earth Hke the
other planets but run their courses with the Sun at the center, and so do not depart from him further than
the size of their orbits fs near the Sun."
Marcus TulHus Cicero: Somnium Scipionis (= De re publica 6,9-29; hier 21): "terram quasi QUibusdam
redimitam et circumdatam 9D..9.Y1.§ / die Erde gleichsam von einigen Gürteln umschlungen und umgeben."
MATIHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 4
Das Mittelalter griff teilweise auf diese Vorstellung zurück (vgl. Lamberti Liber Floridus,
12. Jh.), entwickelte im wesentlichen aber symbolische Erdkarten von den Embryonal
Karten (vgl. Albi, 8. Jh.) bis zu den Rad-Karten (vgl. die Ebstorfer Weltkarte des
Gervasius , nach 1200). Erst unter dem Einfluß der portugiesischen porto/ani oder
Kompaß-Küstenkarten Ende des 15. Jhs. wird die symbolische Dartellung sukzessive
aufgegeben und die moderne Geodäsie entwickelt, freilich ohne die ungleichgewichtige
Darstellung der Erdteile aufzugeben (mit Fortwirkung bis heute: in zahlreichen Weltkarten ist Grönland größer als Afrika dargestellt).
In der symbolischen Kosmographie des christlichen Mittelalters wird der orbis terra rum
ineinsgesetzt mit dem Körper Jesus Christi. Die Vorstellung von einem "Nabel der Welt"
wird auf eine Darstellung von Jerusalem als Nabel Christi übertragen - weil, wie es bei
Gervasius von Tilbury heißt: quia enim iudea inumbilico nostre habitabilis est / weil
Judäa der Nabel der bewohnbaren Welt ist (in den "Otia imperalia", die Gervasisus um
1210 für die nota bene "kaiserlichen Mußestunden" Otto IV. schrieb).
Das christliche Mittelalter mit seinem Imperiumsgedanken schloß damit an antike
symbolische Repräsentationen an. So repräsentierte im antiken Rom der lapis niger den
Nabel der Welt bzw. des Reiches; eine Steinsäule auf dem Forum, von der aus alle
Distanzen gemessen wurden. Die Vorstellung, daß die Welt ein Zentrum habe und
mithin subzentrale Weltregionen aufweise, daß dem Kaiser der Rang und die Stelle der
Sonne zukomme und seinen Untertanen die von Planeten, ist seit dem Alten China und
seinem "Reich der Mitte" nachweisbar. In den Augen ihrer Kritiker bestimmt sie speziell
die US-amerikanische Selbstwahrnehmung bis heute.7
1.4. Hierarchisierung des Raumes
Den ersten Versuch, Landnutzungsmuster mit dem räumlichen Beziehungsgefüge
zwischen Stadt und Umlandregion zu korrelieren und zu wichten, entwickelte Johann
Heinrich von Thünen (1783 - 1850) auf seinem Gut Tellow in Mecklenburg. "Der
isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie" (1826) postuliert
eine Gesetzmäßigkeit der räumlichen Verteilung landwirtschaftlicher Produktion zwischen einem zentralen Markt und dem (peripheren) Umland.
Ähnlich grenzt die Sozialökologie der sogenannten Chicagoer Schule Teilräume ab und
gewichtet sie unterschiedlich. Im seinem Zonenmodell stellt E. W. Burgess· 1925 eine
zentral-periphere Gliederung ausgehend vom Central Business District (CBD) als
Mittelpunkt der Stadt Chicago in wirtschaftlicher, kultureller und politischer Hinsicht dar.
Umgeben ist der CBD von konzentrischen Zonen mit jeweils spezifischer (dominanter)
Funktion und Bevölkerungsstruktur. Dieses klassische Stadtstrukturmodell bildete den
Kern von Burgess' Theorie der Stadtentwicklung mit 15 Hypothesen zu den
Mechanismen der Stadtentwicklung.
7 VgJ. abweichend Michael Hardt, Antonio Negri: "Die Vereinigten Staaten bilden nicht das Zentrum eines imperialistischen Projekts, und tatsächlich ist dazu heute kein Nationalstaat in der Lage." M. Hardt, A. Negri:
Empire. Die neue Weltordnung (Cambridge 2000), FrankfuftMain 2002, S. 12.
8 Burgess E.W.: The Growth of the City. An Introduction to a research Project" In: Park, R.E, Burgess, E.W",
and McKenzie, R.D., eds., The City., Universlty of Chicaga Press, 1925,47-62.
MATTHlAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 5
Burgess' Theorie liest sich besonders signifkant im Licht der antiken Etymologie von
Zentrum. Der Begriff kommt von kentron, dem mit eisernen Stacheln bewehrten Stab
zum Antreiben von Sklaven (Paulus benutzt kentron in: "Wo, Tod, ist dein Sieg? Wo, Tod, ist dein Stachel?" 1 Kor 15,54-58). Die Metapher vom CBD als Stachel im Fleische
des Greater Chicago ist lediglich eine Metapher, aber reizvoll.
Thünen und Burgess sind nur bedingt Vorläufer der Theorie der Zentralen Orte von
Walter Christaller. Gingen jene von einer nüchternen Analyse eines Beziehungsgefüges
aus, entwickelte dieser 1933 zeitkonform seine Raumtheorie aus den
Hierarchisierungstendenzen der nationalsozialistischen Ideologie.' Aufgrund der Anzahl
von Telefonanschlüsse suchte Christaller nachzuweisen, daß es eine Regelmäßigkeit in
der Verteilung von Städten und Gemeinden im Raum nach ihrer Bedeutung gibt, die er
als "Zentralität" bezeichnete. Unter "zentral" sollte verstanden werden, daß die
Gemeinde gegenüber ihrer Umgebung einen "Bedeutungsüberschuss" hat, der nicht von
Fläche oder Einwohnerzahl abhängig ist, sondern "Ergebnis des wirtschaftlichen
Zusammenwirkens der Bewohner" ist. Damit war der "zentrale Ort" unabhängig von der
Siedlungs-, der politischen oder wirtschaftlichen Einheit zu verstehen. "Von der
niedersten Einheit, dem Dorfverband, ja von der weilerartigen Teilgemarkung und selbst
vom einzelnen bäuerlichen Betrieb aus bis zur höchsten Einheit des Reichsgaues, ja des
ganzen Reiches, ist eine zwingende ineinandergreifende Raumhierarchie gegeben."'° Im
Zusammenhang der anstehenden Eroberung der Ostgebiete mahnte Christalier 1941 die
Befolgung seiner Grundsätze an, ,,[sonst] wird die ganze Zuordnung der Glieder zu
einem Ganzen erschüttert, es reißt die aus Unkenntnis der Raumgesetze herrÜhrende
Raumanarchie wieder ein, unter der das deutsche Volk seit dem Aufkommen der
Territorialstaaten 50 unheilvoll gelitten hat.""
Nach dem 2. Weltkrieg wurde Christallers Theorie der zentralen Orte12 zum Leitbild der
>Landesplanung der Bundesrepublik, seit 1990 auch im Beitrittsgebiet. Die einschlägige
Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (BfLR) wurde 1998 mit der
Bundesbaudirektion zur Bundesoberbehörde "Bundesamt für Bauwesen und
Raumordnung" fusioniert.
Die Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO) der Länder und des Bundes definierte
am 8.2.1968 eine bundeseinheitliche (auf Länderebene faktisch seit den frühen 1950er
Walter ehr/staHer: Die zentralen Orte in SÜddeutsch/and : eine ökonomisch-geographische Untersuchung
über die Gesetzmässigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischen Funktionen. Jena, 1933. Die Karte der TeJephonanschlüsse ist greifbar unter: http://www.isl.uni-karlsruhe.dejmodulejchristaller(christalJer.gif.
Vgr. auch: Dt. Verb. für Angewandte Geographie e.V. (Hrsg.) (1979): Zentrale Orte und ihre Folgen : Ergebnisse des Symposiums anläß!!ch des 10. Todestages Wa!ter ChristaUers in Darmstadt 30./31. März 1979. Hamburg : DVAG, 1979. H" Blotevogel, Zentrale Orte, in: Handwörterbuch der Raumordnung I Akademie für Raumforschung und Landesplanung. Hannover: Ver/.. der ARL, 1995" Akademie für
Raumforschung und Landesplanung: Handwärterbuch der Raumplanung, Hannover, 1995. 10 Walter Christaller. Die zentralen Orte in den Ostgebieten und ihre Kultur- und Marktbereiche, Leipzig 1941..
5.9.
11 ders., S. 9 f"
12 Vgl. aus geographischer Sicht Heinritz, Günter: ZentraHtat und zentrale Orte. Eine Einführung. Stuttgart
1979.
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 6
Jahren bereits vollzogene) vierfache Stufung in Ober- Mittel-, Unter- und Kleinzentren.
Hierbei sollen die "Versorgungskerne [ ... ] soziale, kulturelle, wirtschaftliche
Einrichtungen besitzen, die über die eigenen Einwohner hinaus die Bevölkerung des
Verrflechtungsbereiches versorgen. Jedes höhere Zentrum hat zugleich die Aufgaben der
zentralen Orte niedrigerer Stufe. [ ... ) Aufgaben sind: Unter- und Grundzentren:
Grundversorgung; Mittelzentren: Grundversorgung plus Deckung des gehobenen
Bedarfs; Oberzentren: (wie Mittelzentren) plus Deckung des speZialiSierten höheren Bedarfs" .
Am Konzept der Zentralen Orte wird seit den 80er Jahren vermehrt Kritik geübt. Die
wesentlichen Kritikpunkte sind nach Ute Stöckner, Karlsruhe: 1) Wirkungslosigkeit:
Zeitgleich mit der in den 80er Jahren einsetzenden Diskussion um die Abgrenzung der
Oberzentren muss das Anhalten der Suburbanisierung konstatiert werden, was die
Zielführung der ursprünglichen Idee in Frage stellt. 2) Dorfverödung : Infolge der
Bündelung von Schulen und Verwaltungen wird u.a. ein Identitätsverlust der
Bevölkerung mit ihren Gemeinden für die Abwanderung verantwortlich gemacht. 3) Kein
marktwirtschaftliches Prinzip: Da das erklärte Konzeptziel die Lenkung von Investitionen
ist, findet kein marktwirtschaftlicher Wettbewerb unter den Städten statt. 4) Keine
Funktionsspezialisierung: rnfolge der starren hierarchischen Gliederung wird dem
Konzept Verhinderung der im Zuge der Städtenetze erforderlichen
Funktionsspezialisierung zur Profilierung der Städte vorgeworfen. 5) Keine
Kooperationsförderung : Durch die finanzielle Förderung einzelner Städte und Gemeinden
wird kein Anreiz zur Kooperation von Städten und Gemeinden gegeben, was der Bildung
von Städtenetzen entgegensteht.- Ungeachtet dieser Kritik hat die Ministerkonferenz für
Raumordnung am 3.12.2001 das weitere Festhalten am Konzept der Zentralen Orte beschlossen.
Funktional ist das Konzept unlogisch, da die von Art. 72 GG gebotene "Herstellung gleicher Lebensbedingungen" in der Fläche ungleich aufwendiger ist als im
Ballungsgebiet, also umgekehrt geringere Aufwendungen im Ballungsgebiet implizieren
würde. Man vergegenwärtige sich das Schul netz oder den öffentlichen Verkehr.
Feinuntersuchungen erbringen derzeit den Nachweis, daß nicht die Neuen Länder per se
die gesamtdeutsche Wirtschaftsentwicklung behindern, sondern auch im Osten des
Ruhrgebietes oder im Nordosten Bayerns Problemzonen liegen, die hinter der
Entwicklung von Leipzig oder Dresden deutlich abfallen. Diese fur den Gesamtstaat
bedrohliche Entwicklung geht wesentlich darauf zurück, daß die Politik zentripetale
Präferenzen der Bürger und U,:,ternehmen unterstützt, statt diesen Präferenzen aus
einer gesamtstaatlichen Perspektive heraus entgegenzuwirken. VerfassungsrechtlIch
gesprochen wird Ruralltät vom Zentralortkonzept gegenüber Urbanität als nachrangig
behandelt, liegt an sich ein nicht unerheblicher, bislang jedoch nicht gerügter Verstoß
gegen das Gebot des Grundgesetzes vor.
Das eigentliche, nämlich das ethische Problem des Konzeptes der Zentralen Orte wird
weder in der O.g. Kritik noch in der aktuellen Diskussion erwähnt (wohl aber ist sie der
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 7
Kommunalpolitik bewußt"). Christallers inegalitäre Vorstellung eines
"Bedeutungsüberschusses" der Zentren wurde übernommen und schlägt sich bis heute
in der sog. "Einwohnerveredelung" im Rahmen des Komunalen Finanzausgleiches
nieder: je größer eine Gemeinde ist, desto mehr Geld pro Einwohner erhält sie von
ihrem Sitzland. Einwohner der Peripherie - auch wenn dieser Begriff explizit nicht
erscheint - sind im Rahmen dieser Hierarchie weniger wertvolle Menschen. In der
Sprache der zuständigen Behörden sind sie nicht "veredelungs"-würdig. Und daran wird
sich den aktuellen Überlegungen zufolge vorerst auch nichts ändern. 14
In Art. 3 Grundgesetz heißt es dazu: "Niemand darf wegen [ ... ] seiner Heimat [ ... ]
benachteiligt oder bevorzugt werden." Noch schärfer läßt sich die Kritik an der Theorie
der zentralen Orte und ihrem Finanzausgleichskonzept kaum fassen.
1.5. Lateinamerika als "Peripherie"
Wieweit eine plural angelegte, mit Hardt~Negri zu sprechen: post-imperiale
Weltauffassung die symbolisch-politische Scheidung in Zentrum und Peripherien und
damit die Scheidung in wertvolle und weniger wertvolle Menschen mental und praktisch
überwinden kann, ist sowohl wie gezeigt auf der intra-nationalen wie auf der globalen
Ebene offen.
Eine solche Überwindung war die Intention der lateinamerikanischen Wissenschaftler der
50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts um die CEPAL (Comision Economica para
America Latina, der UN-Kommission für die wirtschaftliche EntWicklung Lateinamerikas).
Auf sie geht die Einführung des Begriffes "Peripherie" in die moderne
Wissenschaftssprache wesentlich zurück. Die wesentlichen Ansätze waren der
Strukturalismus der CEPAL mit den bei den herausragenden Vertretern Raul Prebisch und
Celso Furtado, die Dependenztheorie von Andre Gunder Frank und Rui Marini und der
historisch-strukturellen Ansatz von Fernando Henrique Cardoso und Enzo Faletto. 15
Indem sie ihre Weltregion als Peripherie wahrnahmen und analysierten (gemessen an
der sog. Ersten Welt, insbesondere den USA), zogen sie nicht nur die Abhängigkeit
Lateinamerikas von den USA, sondern auch umgekehrt den Einfluß Lateinamerikas auf die sog. Erste Welt in Betracht.
13 Ein aktuelles Beispiel aus Nordheinr-Westfa!en: ,.Ich erinnere in diesem Zusammenhang noch einmal daran,
dass bereits durch die Veränderung der Hauptansatzstaffel, d.h. die Veredelung der Einwohner in den großen Städten, eine Umverteilung von GFG-MitteJn zu Gunsten der Großstädte in Höhe von rd. 100 Mio.
Euro erfolgen wird. Als E~läuterung: Durch die Hauptansatzstaffef wird sicher gesteHt, dass z.6. der Bürger
in Köln bei der Mittelzuweisung des Landes nach dem GFG um 57 % besser bewertet wird [sie! H. v. m,,], als
z.8. die Bürgerin in Eitort. Die sieben Millionen Einwohner der 23 kreisfreien Städte erhalten künftig rd. 55
% der Schlüsselzuweisungen, während die elf MHlionen Einwohner der 373 kreisa~gehörigen Kommunen nur
45 % bekommen." Hermann-Josef Schmidt: Haushaltsrede der CDU-Fraktion Eitort für das HH-Jahr 2003 am 16.12.2002.
14 Efmar Dönnebrink: VerteHungsschlüssel im AnanzausgleicM vor dem Hintergrund der Neuordnung zum Jahr
2005, In: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung Hg., Informationen zur RaumentwickJun91 Heft 5 (Mai) 2003.
15 VgJ. aktuell Andreas Novy, Brasilien" Die Unordnung der Peripherie, Von der SklavenhaltergeseHschaft zur
Diktatur des Geldes. Wien 2001. Fener: Lehmann, David: Democracy and DeveJopment in Latirl America.
Economics, Politics and Religion in the PostPeriod. Cambridge 1990"
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 8
Aus Perspektive der underdogs sind auch die USA eine Art Peripherie, nur eben mit
umgekehrten sozialen Vorzeichen. Mathematisch gesprochen kreierten die genannten
Autoren eine Ellipse, deren beide Brennpunkte jeweils die Betrachtung des Ganzen aus
einer unterschiedlichen Perspektive erlaubte und damit die oben angesprochene
reziproke Interdependenz von Kreisbahn und Kreismittelpunkt auch im politischen Sinne
erfaßbar machte.
1.6. Von der "Peripherie" zum Stichwort "Peripherisierung"
Unter dem Einfluß sozialkritisch und der revolutionären Entwicklung Lateinamerikas
emphatisch verbundener Autoren ist seit Mitte der 80er Jahre der Peripherie-Begriff
auch in der deutschsprachigen Politischen Ökonomie heimisch geworden.'6
Symptomatisch für diese Schule ist, daß sie nicht von einer Zustandsbeschreibung
"Peripherie" ausgeht, sondern einen Verelendungsprozeß diagnostiziert, für den das
Nomen "Peripherisierung" Verwendung findet.
Sprachwissenschaftlich ist dieses Nomen ausgesprochen problematisch. Peripherisierung
ist ein Deverbativ, also ein aus einem Verb abgeleitetes Substantiv. Wobei dieses Verb
peripherisieren überdies nur fiktiv vorhanden ist. Dieses wäre seinerseits ein
Desubstantiv, also ein aus einem Substantiv abgeleitetes Verb, nämlich aus Peripherie.
Peripherisierung gehört mithin der (noch zu erfindendenden) Klasse der
Desubstantivdeverbativa an. Die sprachwissenschaftliche Betrachtung zeigt, konservativ
gesprochen, daß die Schule in der Tradition des Nominalismus steht.
Nach der sog. Samtenen Revolution in den Ländern Mittel- und Südosteuropas (MOE
bzw. MOEL) 1989 ff. hat die gleiche Schulel7 die weitere Entwicklung in den MOEL
während der 90er Jahre mit dem gleichen Stichwort "Peripherisierung" beschrieben'8,
15 u.a. Wallerstein, Immanuel (1986)" Das moderne Weltsystem. Kapitalistjsche Landwirtschaft und dje Entstehung der europäischen Weltwirtschaft im 16. Jahrhundert" Frankfurt.
Vgl. m weiteren Johan Ga!tung, u.a. in: Eurotopia. Die Zukunft eines Kontinents. Wien 199-3, sowie: Der
Preis der Modernlsierung. Struktur und Kultur im Weltsystem. Wien 1997. 17 Als Beispiele seien genannt:
Hofbauer, Hannes 1993: Die Ethnisierung des Sozia!en" Oie Transformation der jugos!awischen Gesellschaft
im Medium des Krieges, in: Materialien für einen neuen Antiimperialismus, Berlin.
Hofbauer, Hannes 1994a: Nationalismus als staatliche Modernisierungsstrategie, in: Ost-West
Gegeninformationen 2f1994, Graz. HOfbauer, Hannes 1994b: Peripherer Kapitalismus in Osteuropa, in: Kritische Geografie (Hg,,), Alte Ordnung
- neue Blöcke? Polarisierung in der kapitalistischen Weltwirtschaft, Wien.
Hofbauer, Hannes 2003: Osterweiterung" Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration. Wien. Humme!, Diana 1993: Lohnende Geschäfte: Frauenhandel mit Osteuropäerinnen und der EG·Binnenmarkt,
in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 34/93, Köln"
Kom!osy, Andrea 1994: Reich - Staaten - Kolonien. Geschichte der europäischen Teilungen, in:
KomlosyjElsässer u.a" {Hg.), Krisenherd Europa. Nationalismus, Regionalismus und Krieg, Göttingen.
Zimmermann, Susan 1993: Oie "Suche nach freier Arbeitskraft": Nachholende Entwicklung und Frauenarbeit
in Ungarn, in: HasenjürgenjPreu6 (Hg.), Frauenarbeit. frauenpolitik in Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa, Münster.
18 Vgr. Michael Dauderstädt, ]örg Meyer-Stamer, Statt Sozialdumping: EJne StrategJe für einen "Standort
Europa". In: W. Lecher, U. Optenhägel, Wirtschaft, Gesellschaft und Gewerkschaften in Mitte!- und Osteuropa, Kö!n: Bund-Verlag, 1995
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 9
insbesondere in den Zeitschriften "Peripherie" " und "Prokla"20, etwa in Prokla 128 "Peripherer Kapitalismus in Europa" . 21 Dabei wurden Erfahrungen, beispielsweise mit
der maquiladora-Industrie22 im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko, auf die
Verhältnisse in den MOE-Ländern übertragen, hier auf die "Zwillingsbetriebsstruktur"
(twin-plant-Struktur) im deutsch-tschechischen Grenzbereich.
Als Beispiel für diesen Ansatz sei Dorothee Bohle23 von der Central European University,
Budapest, derzeit Harvard, genannt:
Im Gegensatz zu einem Großteil der EU-Forschung, die den Prozess der EU
Vertiefung und Osterweiterung getrennt voneinander behandelt, liegt meiner
Analyse die Annahme zugrunde, dass die konkrete Form und die Ambivalenzen der
Einbindung MOEs sich nur aus einer Untersuchung des Zusammenwirkens der
vertieften regionalen Integration und des Erweiterungsprojektes erschließen
lassen. Beide Prozesse gehorchen einer gemeinsamen Rationalität: Sie sind das
Ergebnis eines neoliberalen Umbaus, der insbesondere von transnationalen
Kapitalgruppen mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen
Wirtschaftsraums in der Triade zu stärken, vorangetrieben wird. Diese beiden
Prozessen unterliegende Rationalität führt jedoch, wie ich im folgenden zeigen
werde, zu unterschiedlichen Ergebnissen. [ ... ] Insgesamt ist es der EU über die
1990er Jahre mittels einer Mischung von Peitsche (Macht und Konditionalität) und
Zuckerbrot (Mitgliedschaftsperspektive) gelungen, die osteuropäischen
Transformationsprozesse in wachsendem Maße zu beeinflussen. Dabei dehnte sie
die Kernbereiche der ökonomischen Deregulierung auf die MOE aus, während die
redistributiven Elemente des EU-Modells, bzw. Politikbereiche, deren Ausdehnung
den eingebetteten neoliberalen Konsens innerhalb der EU selbst gefährden
würden, ausgeklammert bleiben. [ ... ] Weniger deutlich fällt allerdings die
Unterstützung des European Roundtable of Industrialists ERT für die Ausweitung
der sozialen oder kompensatorischen Politiken auf die Beitrittskandidaten aus, und dies ist kein Zufall: Die Attraktivität MOEs beruht zum Teil jedenfalls gerade auf
den Unterschieden in sozialen und Umweltstandards zu Westeuropa. Eine Politik,
die zu stark die gesamteuropäische soziale Kohäsion fördern würde, könnte dieses
19 Selbstdarstellung: "Peripherie ist ein interdisziplinäres DiskusSionsforum für Entwicklung5theorie und
Entwicklungspolitik. Die Solidarität mit Emanzipationsbewegungen und sozialen Bewegungen in den Entwicklungsländern wie den Industrieländem ist ein wichtiges Motiv unserer Arbeit." (Verlag Westfälisches Dampfboot).
2Q Selbstdarstellung: "In der Zeitschrift Prokla werden seit 1971 Themen aus den Bereichen der Politischen Ökonomie, der Politik, Sozialgeschichte und Soziologie bearbeitet. Im Zentrum stehen dabei gesellschaftliche Machtverhaltnisse, Polarisierungen im internationalen System, das gesellschaftliche Naturverhältnis und die Transformation der osteuropäischen Gesellschaften." (Verlag Westfälisches Dampfboot).
21 Michael Dauderstädt, Jörg Meyer-Stamer: Statt Sozialdumping. Eine Strategie für einen "Standort Europa"
In: W. lecher, U. Optenhögel, Wirtschaft, GeseHschaft und Gewerkschaften in Mittel- und Osteuropa, Köln:
Bund-VerJag, 1995.
22 We!zmüller, R. (199Z): Lebensfeindliche Armutsgrenzen an den Nahtstellen der Weltmarktreg!onen.
Maquiladoras an der mexikanisch-amerikanischen Grenze. GewerkschaftUche Monatshefte, Jg. 43, Nr. 11, S.717- 26.
23 Dorothee Bohle: Europas neue Peripherie. Polens Transformation und transnationa!e Integration. Münster
2002.
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 10
Gefälle gefährden, und damit einen Teil der Standortattraktivität MOEs zunichte
machen. [ ... ] Die schwächeren Akteure des sozialen Blocks - Gewerkschaften und
die Eliten der peripheren EU Staaten bringen der Erweiterung insgesamt nur eine
lauwarme Unterstützung entgegen. [ ... ] Es wäre natürlich verkürzt, diese
semiperipheren Charakteristika allein der EU-Politik gegenüber MOE anzulasten.
Diese sind vielmehr das Ergebnis einer Kombination struktureller und
gesellschaftlicher Hinterlassenschaften des Sozialismus, einer neuen Orthodoxie in
der entwicklungspolitischen Theorie und Praxis, sowie der Integration als late
comer in eine gesamteuropäische Arbeitsteilung. [ ... ] Die "Rückkehr nach Europa",
die gleichbedeutend ist mit der EU-Mitgliedschaft, bildete daher nicht nur einen
weiteren externen Anker für interne Reformen, sie liefert den osteuropäischen
Gesellschaften auch eine ideologische Grundlage, die sie über lange Zeit auch die
Härten der neoliberalen Transformation erdulden ließ. [ ... ] Die größte Schwäche
des neoliberalen Projektes ist, dass es einerseits zunehmende Ungleichheit
innerhalb und zwischen Staaten produziert, und gleichzeitig die Formulierung
transnationaler Solidarität, die allein ein Minimum an sozialer Kohäsion im erweiterten Europa garantieren würde, verhindert. 24
Bohle stellt abschließend fest:
Insgesamt ist der linken nicht gelungen, ein Gegenprojekt gegen die neoliberale Rückkehr nach Europa zu formulieren. 25
was freilich für die Rechte in weit stärkerem Maße gilt. 2627
1.7. Insularite, maritimite, Periphericite
Im Deutschen ist der Begriff "Peripherizität" nur marginal und gänzlich außerhalb der politischen und sozialwissenschaftlichen Debatte zu finden;2. in den Dokumenten des
Deutschen Bundestages taucht er nicht aue9
24 Dorothee Bohle: Erweiterung und Vertiefung der EU. Neoliberale Restrukturierung und transnationales Kapital. In: PROKLA 128 Peripherer Kapitalismus in Europa (September 2002).
25 Dorothee BOhle: Erweiterung (VgL Fußnote 24)"
26 Vgl. als Beispiel für den Geist der entsprechenden Beiträge: Afeksandr Dugin: Ot sakral'noy geografil k
geopolitike. In: E!ementy n. 4. , Moskau 1996. Auch als: Kapitel 7 in: Misteri! EvrazU, Moskau 1996. VgL
eurasis.com.ru: "The Constituent congress cf the pan-Russian Social-Political Movement EURASIA took place
on April 21, 2001 in Moscow. The leader of movement is AJeksandr Dugin, director of the Centre tor
Geopolitical Expertise (consultative advisory entity on the issues of national security}f advisor of the Chairman of State Duma, founder of the Russian modern geopolitical scheel and theorist Qf neo-eurasism
[ ... ] As Dugln sald, the initial aim of the movement is to assess a world-view: the diffusion of the Eurasist idea in the society. According to Dugin, «Eurasism ls exactJy that national idea which serves the interests af al! ethnos, cu!tures and peop!es of Russia»."
UCSJ-Meldung, 24.03.03: "Alexander Dugin, Führer der Partei "Eurasia", ist in der Komsomolskaja Pravda sichtlich erfreut darüber, dass sich RUSSland total vam Antiamerikanismus mitreißen lässt. Russische Konservative würden die Vereinigten Staaten wegen des Ubera([smus und der G!obalisierung, die sie vertreten, verachten, sagte Dugin."
27 Zu den sozialistischen Positionen vgJ. die website http://www.sopos.arg. 28 Nämlich im Zusammenhang der Altgriechischen Grammatik bei Drassard, W.: Kasusmarkierung und
Zentralität von Partizipanten II: Differentielle Initianten- und Betreffenenkodierung bei Peripherizität und Peripherisierung', AKUP 72,1988.1-28.
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 11
In Frankreich, Italien, Griechenland, Spanien sowie der EU jedoch haben sich
"perifericite", "perifericita" und "perifericity" im Lauf der letzten drei Jahrzehnte zu
einem der zentralen politischen Schlagwörter entwickelt. Der Begriff "Peripherizität" exemplifiziert geradezu die gelegentlich zu hörende Behauptung von der mangelnden
Teilhabe der deutschen Politik an europäischen Entwicklungen.
Sprachwissenschaftlich handelt es sich hierbei (im Gegensatz zu dem oben behandelten
Begriff der Peripherisierung) um eine konsistente Neubildung. Gemäß den Grundsätzen
der charta latinitatis wäre der hybride, also auf griechischer Wurzel eine (neu)lateinische
Form bildende Term peripherisatio denkbar. Wie das Substantiv Klugheit aus dem
Adjektiv klug entwickelt wurde, so hier das Substantiv periFericite aus dem Adjektiv
peripher. Im Deutschen wäre es je nach Zusammenhang u.a. mit Abgelegenheit wiederzugeben.
Ausgangspunkt waren einerseits die Bretagne mit ihren Küsten, anderseits Griechenland
mit seinen Inseln. Am 22. Januar 1972 unterzeichneten Dänemark, Irland, Norwegen
und das Vereinigte Königreich die Verträge über den Beitritt zu den Europäischen
Gemeinschaften. Dies löste in der französischen Provinz massive Ängste vor einer
Verlagerung der politischen Prioritäten zu ihren Lasten aus. Als Antwort auf die EU
Erweiterung von 1972 gründete sich 1973 in St. Malo die "Conference des Regions
Peripheriques Maritimes d'Europe", der zwischenzeitlich 149 Regionen aus 27 Staaten
Europas (und darüber hinaus) angehören; die westdeutschen Küstenregionen haben sich
im Unterschied zu Mecklenburg-Vorpommern nicht angeschlossen. In den Worten des
französischen Ministerpräsidenten Jean Pierre Raffarin:3o
Je suis attache aux valeurs que porte la CRPM. La CRPM a fait exister en Europe le
concept de periphericite. II faut se battre sur ce concept. Au moment ou l'Europe
definit sa nouvelle geographie, la periphericite est un element de notre identite,
gens de I'Ouest. Elle est tres importante, et pour la France et pour l'Union
europeenne. Periphericite, mais aussi maritimite, parce que trop souvent, la
France, comme l'Europe, ont tourne le dos aleurs oceans et aleurs mers. Et je
crois qu'iI est tres important de considerer I'ocean, de considerer la mer, de
considerer I'ultra periphericite, de considerer le phenomene insulaire comme des
caracteristiques identitaires, et de la France, et de l'Europe.
Den peripheren Regionen nicht länger den Rücken kehren; Raffarin formuliert hier
bildkräftig ein politisches Programm, in das auch die 1983 partiell vollzogene
"Decentralisation" ebenso wie die immer von neuem mißglückende Befriedung Korsikas
gehören. Noch drastischer über den Verlust der historischen Führungsrolle Frankreichs,
und damit über den eigentlichen Antrieb der französischen Peripherie-Politik, äußerte
sich der gleiche Raffarin am 18. November 1997 vor dem französischen Senat:
29 In den Dokumenten des Deutschen Bundestages findet sich der Begriff kein einziges Mal.
Unter Verweis auf die 0.9. Zeitschrift "Prokla" [vgL oben Fußnote 20] gibt es einmal eine Erwähnung des Begriffes "Peripherisierung" bei Jan DerheYI Die Entwicklung der Lebensqualität nach dem EU-Beitritt. Lehren
für die Beitrittskandidaten aus früheren Erweiterungen. Aus Politik und Zeitgeschichte. Nr. 1 - 2 (4., 1l. Januar 2002).
Der Begriff "Peripherie" erscheint 72mal in unterschiedlichen Kontexten. (Stand 29.12.2003)
30 http://www.france.diplomatle.frjactu/bul!etln.asp?!iste=20030912.htrn!.
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 12
A cet egard, iI faut bien prendre conscience de la transformation de la geographie
europeenne qui va d,kouler de I'elargissement de l'Union. Dans l'Europe des Six,
la France etait au coeur de l'Europe. Lorsque l'Union comptera vingt, vingt-cinq ou
trente membres, l'Europe de l'Ouest sera une peripherie de l'Union et nous, nous
serons la peripherie de la peripherie.
Die Spartaner hatten, wie eingangs zitiert, ihre Periöken zumindest noch als
Stammesgenossen wahrgenommen. Liest man Raffarin zum zweiten- und zum dritten
Mal, wird unklar, ob aus der französischen Binnenperspektive die Beitrittskandidaten
noch als Stammesgenossen bezeichnet werden können oder ob es sich eher um die
Vorhut der Tataren handelt.
Auf der Ebene der Europäischen Union hat Peripherie-Politik in der Zwischenzeit als
politisches Problem durch die Begriffe der "semiperipheren", "peripheren" und
"ultraperipheren" Gebiete sowie durch Programme wie LEADER+ (Liasisons entre actions
de developpement de I'economie rurale) Einzug gehalten hat. Paradoxerweise werden
die letzteren zu wichtigen Teilen von der gleichen Bundesrepublik Deutschland
finanziert, deren Inlands-Politik von umgekehrten Prämissen ausgeht (vgl. oben).
Ebenfalls hat etwa die italienische Sozialwissenschaft die "perifericit,," in Ihr Vokabular
aufgenommen." Ähnliches gilt für die wissenschaftliche Unterstützung von
Entwicklungshilfeprojekten. 32
Dafür mitentscheidend war die Aufnahme Griechenlands in die EG im Jahre 1981. Nicht
weniger als 15% seiner Einwohner leben auf Inseln, die 19% des griechischen
Territoriums bilden. Dies ist nur vergleichbar mit Italien, dessen beide große Inseln
Sizilien und Sardinien jedoch autonome Provinzen bilden. Hier entscheiden die
Regionalparlamente über Annahme oder auch Nicht-Annahme der staatlichen Gesetze
entscheiden, sie bilden mithin Mesozentren eigener politischer Kraft. Ähnliches gilt
(abgesehen von Kreta) für Griechenland nicht, obschon durch die Gründung dreier
Regionaluniversitäten erhebliche intellektuelle Bewegung in die Randzonen des Landes
gekommen ist.
Das Problem Griechenlands, den restlichen EU-Mitgliedern seine insular bedingten
Schwierigkeiten und Sonderprobleme deutlich zu machen, illustriert die Studie "The time
of the lslands. The ease of the Aegean Archipelagos". John Spilanis und A. Troumbis von
der University of the Aegean Sea führen hierin aus:
In addition to periphericity, a characteristic of the vast majority of islands - given
that they are located far away from the headquarters where decisions concerning
financial and political issues are made and far from the urban centres - the
element of physical isolation as a result of geographie discontinuity also exists. In
the case of island groups, small islands face "double insularity", serving as
31 Vgl. beispielsweise VinceJ1zQ Antonino Bova: Perifedcita e globaJjzzazione. La condizione giovanfle in una comunita deI Mezzogiorno, Quadern! deI CERDIGI, Universita deUa Calabria, 2001.
32 Paola Minoia, UniversitB di Padova: Hydraulic territoriality in the northern region cf Sudan: From the water
for the soc!ety ta the water for the state. Akten des Fourth European Seminar on Geopgraphy of Water.
Cagliari, 4 - 11 September 1999: Conflicts on water use in the Mediterrean Area. Universities cf Cagliari, FUL, Linköoping, Lisboa, Mainz, MontpeHier, Paris 1, Padova, Praha, Sevilla, Rabat, St Etienne, Udine.
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 13
satellites for the larger islands within the multitude of european archipelagos (e.g.
Azores, Cyclades, Dodecanese, Ionian islands, Western Isles, Orkney, Guadeloupe,
Balears). A combination of the above leads to increased costs [ ... ].
The above analysis points out some of the constraints which islands have acted
under during the past decades and which have lead them to economic, social,
political and cultural marginalisation. This is due to the fact that the development
model which has dominated the 20th centurv is based on characteristics which are
the opposite of those of islands (high population concentration. large-scale production)'3 [H. v. m.].
Recht besehen, gilt letztere Feststellung auch für die Länder Mittel- und Südosteuropas,
auch wenn in der Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung der Länder Mittel- und
Südosteuropas die Stichworte "Peripherie" oder "Peripherisierung" nach unserer Kenntnis kaum Anwendung finden. 34
•
Die Studien zum Agäischen Archipel und anderen insularen Phänomenen sind cum grane salis ein mögliches Modell für eine nüchterne Betrachtung des EU-Beitritts der MOEL.
"Peripherizität" ist hierfür ein möglicher Untersuchungsansatzpunkt.
1.8. Peripherizität als Impetus für neue wissenschaftliche Perspektiven
Wirtschaftliche und politische Ungleichheit ist primär kein ideologischer Befund, sondern
eine empirische Tatsache. Ihre Behebung ist Aufgabe der Politik, in Deutschland durch
Art. 72 Grundgesetz Pflicht der Politik. Hilfestellung hierbei leistet ihr die Wissenschaft
von der Nationalökonomie, wobei sich seit den 50er Jahren zwei Theoriebildungen recht
diametral gegenüberstehen. Die neoklassische Konvergenz-Hypothese ausgehend von
Solow (1956)35 gibt eine optimistische, die Kumulations-Hypothese ausgehend von
33 The time cf the Islands" The case of the Aegean Archipelagos" Sdentific Documentation: Dr. John Spilanis,
University of the Aegean Sea. Cooperation: Assistant Professor A. Troumbis, University of the Aegean Sea"
The Study was conducted in 1997 in view of the amendement of the Treaty of the Eurepean Union with the
scope to achieve an inc!usien favourable for the insular regions.
34 Derzeit einzig greifbare Ausnahme ist ein Aufsatz eines ungarischen Wissenschaftlers, den er allerdings im
Rahmen eines Forschungsaufenthaltes bei der Nato-Akademie verfaßt hat. 5ecurite dans la region
mediterraneenne - securite en Europe centrale" Bourse de recherche individuelle de j'OTAN et du Partenariat
Euro-Atlantique 1999 - 2001. Professeur NAGY Laszlo, Universib~ de Szeged (Hongrie).
Anders verhält es sich in Rußland" Teil der derzeitigen Selbstwahrnehmung ist eine angenommene
Semiperipherle in amerikanischer Perspektive, ein mit China und Indien geteiltes Schicksal.
Auf die Grenzregion Polen-Ostdeutschland angewandt wurden das Stichwort "Peripherisierung" vom leibniz
Institut für Regiona!entwicklung und Strukturplanung Erkner bei Berlin, allerdings ohne den Hintergrund eines größeren forschungsvorhaben.
Originell ist ein nicht von der Universität Greifswald institutionell, sondern von deren Fachschaftsrat
angebotenes Sokrates-Intensivprogramm "Europäisierung - Peripherisierung", das nunmehr ins dritte Jahr geht. In einem vöHig anderen Kontext wurde der Begriff für die Beschreibung Graubündens und seiner
rätoromanischen Minderheit verwandt,
Daß der Begriff Peripherie im Westen bei den sich selbst aus der Gesellschaft Exkludierenden eine positive
Konnotation angenommen hat, zeigt seine Verwendung als Platten label.
3$ So(ow R. (1956): A contribution tc the theory of economic growth. Quarterly Journal of Economics, 70(1): 101-8.
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MITTE EUROPAS 14
Myrdal (1957)36 gibt eine pessimistische Einschätzung für die Möglichkeit der Behebung
von Ungleichheit zwischen Regionen durch Wachstum.
Dieser ungeklärte Streit ist kein akademischer, da die Wirtschaftspolitik insbesondere
der führenden Industrieländer ihre praktischen Handlungen jeweils an einer der Theorien
festzumachen gezwungen ist. Von besonderem Interesse ist es daher, zu beobachten,
welche Position Vertreter jener Regionen beziehen, die sich ihrer Peripherizität im
europäischen Maßstab bewußt sind. Zwei griechische und ein spanischer Wissenschaftler
haben kürzlich (Mai 2003) an der london School of Economics eine Studie zu den
theoretischen Annahmen und Methoden über "Growth, integration and regional
inequality in Europe" vorgelegt: George Petrakos (University of Thessaly), Andres
ROdrfguez-Pose (lSE) und Antonis Rovolis (Harokopio University Athene):37
With the use of a SURE model and time-se ries data for eight European Union (EU)
member-states, we test directly for the validity of the two competing hypotheses.
[ ... ]
The majority of the existing convergence analyses, due to the inherent
shortcomings mentioned earlier, have been unable to incorporate in a model these
two competing hypotheses and to test directly for their validity. Some questions
thus still remain largely unanswered. Are advanced countries bound to experience
over time decreasing levels of inequality, as the Ne model and Williamson claim?
Are economic cycles a driving force of inequality, as Berry argues? Are the two
seemingly opposite views compatible? Do changes in the external environment,
such as the process of EU integration, have an impact on the direction and the
level of inequalities?
We aim to answer these questions by constructing a general model of regional
inequality, growth and integration, which is presented in equation:
rit = f(g it Y it, S it), fg>O, fy<O, fs><O (4)
i = 1, ... , N (countries)
t = 1, ... , T (time)
The dependent variable of the model (r) is a measure of regional inequality within
each country i, over a time period t. The first independent variable (g) measures
national GDP growth rates, the second (y) measures GDP per capita and the third (5) is a measure of national integration within the group of countries under
consideration.
According to our hypothesis, an economic cycle driven process of regional
inequality implies, ceteris paribus, that higher national growth rates will result in a
higher level of regional inequality (fg>O). This means that, in the short-to-medium
36 Myrdal, G. (1957): Eco-no-mic theory and underdevetoped regions. Hutehinson.
37 George Petrakos, Andres Rodrfguez-Pose, Antonis RovolJs : Growth, integration and regional inequallty in
Europe. London School of Economics, Research papers in EnvironmentaJ and Spatial Analysis, Nr. 81. May
2003.
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 15
term, market processes will (at least initially) trigger cumulative effects, bringing about greater inequality}B
Die Autoren schlußfolgern:
We [ ... ] account for changes in the external environment, such as the role of
European integration on the level of inequalities. Dur findings indicate that both
short-term divergence and lang-term convergence processes coexist. Regional
inequalities are reported to follow a pro-cyclical pattern, as dynamic and
developed regions grow faster in periods of expansion and slower in periods of
recession. At the same time, significant spread effects are also in operation, partly
offsetting the cumulative impact of growth on space. Similar results are obtained
from the estimation of an intra-EU model of inequalities at the national level,
indicating that the forces in operation are independent of the level of aggregation.
Our findings challenge the conventional wisdom in the European Commission
about the evolution of regional inequalities [ ... }.39
Auf der Meta-Ebene ist diese Untersuchung ein Beleg für die Hypothese, daß
Peripherizität, ganz im Sinne der oben erwähnten vierten Definition, zu Offenheit zwingt.
Ganz entgegen den gängigen Minderheiten-Stereotypen sind Minderheiten zwar in der
Regel nicht bevorzugt, wohl aber oft bevorteiligt, einerseits durch Bilingualität sowie
Bikulturalität, die ihnen zusätzliche Perspektiven öffnen, andererseits durch die
Notwendigkeit besonderer Anstrengung, um die fehlende Bevorzugung aus eigener Kraft
zu überwinden. Man könnte von einem intrinsischen Antidot sprechen.
Vor dem Hintergrund dieser Hypothese sollte eine seriöse Situationsanalyse der mitteI
und osteuropäischen Länder nicht aus einer (hemgebundenen) Erste-Welt-Perspektive
geschehen, sondern eine Vielzahl weiterer Faktoren berücksichtigen.
1.9. Peripherizität als Leitdifferenz der Soziologie
Peripherie bzw. Peripherisierung stellen in Urbanistik bzw. Stadtsoziologie seit langem
eine wichtige Größe dar, etwa bei Edward Soja40• Aldo Legnaro führt zur neoliberalen
Urbanität aus:
Für Stadtpolitik hat dies konkrete Folgen: Es erzwingt die Bereitstellung eines
kommunikativen Umfeldes mit Erlebnisqualität, in dem sich gestylte Eleganz,
inszenierte Coolness und architektonisch möglichst singuläre Auffälligkeiten
verbinden. Das wiederum führt dazu, dass ganze Stadtviertel ihren hergebrachten
Charakter einbüssen und spezifischen Prozessen des Wandels ausgesetzt werden,
die man stadtsoziologisch Gentrifizierung genannt hat. Gentrifizierung wird ja
immer mit der «Aufwertung» von Stadtteilen in Verbindung gebracht und
38 Petrakos e.a., lL 39 Petrakos e.a., l.
40 Soja, E.W. Postmodern Geographies: The Reassertion of Space in eritieal Social Theory. Landon, 1989. Soja,
E"W. Thlrdspace: Journeys to Los Angetes and Other Real-and-lmagined Places. OXford, 1996. Scott, A.J and E.W. Sojaj eds. The City: Los Angeles and Urban Theory at the End of the Twentieth Century. Berkeley,
1996. Soja, E.W, PostmetropolIs: eritieal Studies cf eities and Regions. Oxford, 2000"
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 16
überträgt in einer unglücklichen Analogie einen Terminus, der ursprünglich den
englischen Landadel bezeichnete, auf die neuen urbanen Dienstleistungsschichten,
die sich vorzugsweise in Gegenden ansiedeln, die gerade als schick gelten. Solche
Prozesse haben die Stadtentwicklung in allen mitteleuropäischen Städten in den
letzten fünfzehn Jahren bestimmt. Durch diese zweite Restrukturierung und die
Notwendigkeiten, die im Rahmen der Konkurrenz zwischen Städten ausgelöst
werden, können sie eine neue Dynamik gewinnen.41
Was aber ist mit Regionen, die von dieser Dynamik abgekoppelt sind? Muß man sich -
jenseits aller zweidimensional geographischen Bestimmungen von "Zentrum und
Peripherie" - nach den shrinking cities nun auch in den shrinking regions auf eine "De
Gentrifizierung" einstellen, wenn die mobilen Kräfte abwandern und nur mehr die
immobileren verbleiben? Was die Soziologie für die Verhältnisse innerhalb von Städten
feststellt, gilt dies bald auch für ganze Regionen, die von der Peripherisierung erfaßt
werden?
Die französische Diskussion arbeitet in diesem Zusammenhang mit dem Begriff
«exclusion» , und solche Exklusion hat Luhmann bereits zur Leitdifferenz der
Zukunft ausgerufen. Die Exkludierten sind dabei schon terminologisch die
Abgekoppelten und Entkoppelten. Ihr sozialer Ausschluss charakterisiert sie als
eine Bevölkerungsgruppe, die ökonomisch wie sozial und politisch nicht mehr nur
marginalisiert ist, sondern sich jenseits der gesellschaftlichen Prozesse befindet und für diese völlig entbehrlich ist.'2
Ansätze einer geschlossenen geographischen Innovations~Diffusions-Theorie entwickelte
der schwedische Forscher Torsten Hägerstrand in "The Propagation Of Innovation
Waves" (1952). Die zentrale Frage, die er stellte, ist die nach den Gesetzmäßigkeiten
der räumlichen Verbreitung von Neuerungen. Sein methodisches Ziel war es, den
Diffusionsprozess mithilfe mathematischer Modelle in Form von Computeralgorithmen so
realitätsnah wie möglich darzustellen und zu simulieren.
Wie aber verhält es sich mit Hägerstrands innovation waves in Regionen, die - um
diesen Ausdruck nun doch zu verwenden - eine "Peripherisierung" gerade durchleben?
41 Aldo Legnaro, Hamburg: Stadt, Ordnung, Macht. Anmerkungen zur neoliberalen Urbanitat. In: «INPUT».
Mitgliederzeitschrift der Schweizerischen Gewerkschaft Bau & Industrie. Dossier Nr, 1: «Städte: Stadt, Ordnung, Macht»-, März 2003.
42 Legnaro (siehe Fußnote 41)"
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 17
II. Zur Phänomenologie der Provinzialität
"Ja - dürfen s' denn das?", soll Kaiser Ferdinand der Gütige - im Volksmund als
"Gütinand der Fertige"" apostrophiert - den Ausbruch der Revolution 1848 kommentiert
haben; ein in Österreich gerne und häufig zitiertes Aper~u zum Verhältnis von Macht
und ihren Kritikern. Und in der Tat: eine provincia im altrömischen Sinne, eine
Amtszuständigkeit von Staats wegen, hatten die Märzrevolutionäre natürlich nicht.
Ihnen ging es ja gerade um jene Zuständigkeit von Volkes wegen, die Metternich bei
seiner erzwungenen Abdankung in die süffisanten Worte fassen sollte: "Ich trete vor einer höheren Gewalt zurück, als die des Regenten selber ist".44 Doch nach dem
hoffnungsvollen Beginn mit einem revolutionär-demokratischen "Zentralkomitee" der
Bürger und der Studenten im März 1848 erließ des Kaisers Neffe und Nachfolger Franz
Joseph 1. im März 1849 eine zentralistische Verfassung.45 Daß sie nicht in Kraft trat, und
recht besehen die Verfassungsgeschichte Österreichs bis heute eine Geschichte der
Unordnung geblieben ist, ist eine andere Geschichte.
Bleibende Wirkung jenseits des Verfassungsstreites jedoch entfaltete das Kaiserliche
Patent vom 17. März 184946 über ein provisorisches Gemeinde-Gesetz mit dem
Grundgedanken: "Die Grundfeste des freien Staates ist die freie Gemeinde".47 Als
historische Einsicht und aus theoretischer Sicht sollte dies später Hugo Preuß (1860 -
1925), der nachmalige Vater der Weimarer Verfassung, formulieren: "Die mittelalterliche Stadt ist die Keimzelle des modernen Staates; [ ... ] Der tragende
Grundgedanke des modernen Staatswesens: die korporative Organisation der
Bevölkerung auf der territorialen Grundlage des Gebiets nimmt zuerst in der
Stadtverfassung feste Gestalt an."" In die politische Wirklichkeit aber überführte die
Gemeindefreiheit - weit schärfer als die Preußische Städteordnung (1808) des Freiherr
vom Stein - der Urheber des provisorischen Gemeinde-Gesetzes Franz Graf Stadion
(1806 .., 1853).49 Als kaiserlicher Statthalter in Galizien während der Bauernaufstände
43 Kaiser Ferdinand I. von Österreich (1793 - 1875, reg" 1830 [König} bzw" 1835 [Kaiser] -1848. danke
zugun5ten seines Neffen Franz Joseph ab) litt an Gehirnwassersucht (Wasserkopf) und epileptischen
Anfällen. Trotz offenkundiger Regierungsunfähigkeit übernahm er 1835 den Thron. Um seine Behinderung
zu kaschieren, titulierte ihn der Wiener Hof als "Ferdinand der Gütige", was der Volksmund zu ~,Gütinand der
fertige" ummünzte. VgL Gerd Holler: Gerechtigkeit für Ferdlnand. Österreichs gütiger Kaiser. tvtünchen,
1985. Interessanterweise wurde zeitgleich auch Sachsen von einem gütigen regiert: Anton der Gütige (1755 -
1836, re9 .. 1827 - 1836) 44 Zit. nach EmU Niederhauser: 1848. Sturm im Habsburger Reich" 5zeged, Wien, 1990. 5" 43. 45 Zu den QueUen vgL das DfG-Editionsprojekt Horst Dippe!, Universität Kasse!: Die HerausbUdung des
modernen Konstitutionalismus. Edition der Verfassungen 1776-1849. htto://www.modern-constitutions.de. 46 RGBI. 1849/170. 47 lbid.
48 Hugo Preuß: Die Entwicklung des deutschen Städtewesensr Band 1. Berl1n 1906, S. 5.
49 Vg!. Jirr KJabouch, Die Gemeindeseibstverwaltung in Österreich 1848-1918. München/Wien, 1989" Idem, Die
Lokalverwaltung in Cisleithanien. In: Die Habsburgermonarchle 1848-1918, Bd. II., Verwaltung und
Rechtwesen. Wien, 1975. Jan Janak, "-Uzemni samosprava," in: J. Janak a Zd. Hledikova, Dejiny spravy v
ceskych zemfch do roku 1945. Praha, 1989. Frantisek Roubfk, Vyvoj spravnfho rozdeHenf Cech v letech
1850- 1868. Sbornik archivu mini5terstva vnitra, sv. XII. PrahaJ 1939. Zur aktuellen literatur vgl. Shlnohara
Taku: Communal Autonomy as a Base of CiviJ Society: Local PolitiCs and the BuHding of National Cu/ture In
MAlTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 18
von 1846 sah er sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, ein Konzept zur Ablösung der
patrimonialen Herrschaft auf dem Lande zu etnwickeln. Nun, als neuernannter
kaiserlicher Innenminister, suchte er den Gedanken eines wahrhaft dualen Systems auf
das ganze Reich zu übertragen. Modern gesprochen, handelte es sich dabei im Kern um
die Durchdringung von bottom-up-Prinzip und top-down-Prinzip. Während die
republikanische wie die kaiserliche Verfassung noch von Kronländern sprachen, sah er
diese als Teil eines vierstufigen Aufbaus der Selbstverwaltung; gegliedert in Gemeinde-,
Bezirks-, Kreis- und Landesselbstverwaltung. so Umgekehrt waren ihm nun die einzelnen
Teile des Reiches nicht mehr eigenstaatliche Gebilde ererbter Dignität und partikularen
Rechtes, die durch die habsburgische Erbgeschicklichkeit locker zu einem Reich gefügt
waren. Vielmehr waren sie ihm Provinzen eines Gesamtreiches, in das der Kaiser seine
Statthalter entsenden sollte. Daß er hier eigene Erfahrungen als kaiserlicher Statthalter
aus einem gerade erst zu Österreich gekommenen Reichsteil, eben Galizien ohne
sonderliche Eigenstaatstradition, auf Regionen mit teils tausendjähriger Eigentradition
und entsprechenden Beharrungskräften übertrug, ist einer der Gründe, warum nur seine
Gemeinderefom, nicht aber sein Reichsreformkonzept zum Tragen kommen sollte.
Gleichwohl mutet es außerordentlich modern an, wie hier eine gesamtstaatliche
Befriedung als Gleichgewicht zweier konträrer "Pfadabhängigkeiten", wie es heute in der
politischen Soziologie heißt, ins Auge gefaßt wird. Eben darum kreist ja die aktuelle
innerdeutsche FöderalismusdiskussionS1 ebenso wie die europäische
VerfassungsdiskussionY Frei nach Ferdinand dem Gütigen könnte man als Überschrift
über diese Diskussionen schreiben: "Ja - sie dUrfen's denn!"
In unserem Zusammenhang ist interessant, wie Graf Stadion gewissermaßen den
zweiten römischen Provinz-Begriff aufgegriffen hat: den eines dem Reich inkorporierten,
in wesentlichen Teilen jedoch selbständigen Gebietes. Als die römischen Kaiser dazu
übergingen, nicht mehr die Provinzen zu verpachten, sondern ihre Statthalter zu
besolden und das Strafverfahren gegen Erpressungen zu verschärfen, da wurde die
ProvinZialverwaltung - mit dem großen Wort von Ulrich Kahrstedt - die "sauberste und
anständigste, die bisher in der Regierung großer Gebiete verwirklicht worden war".53
Bohemia in the Nineteenth Century. In: Proceedings of the 2002 Summer Internationa! Symposium "Construction and Deconstruction of National HistorJes in SI,lVlc Eurasia"" Slavic Research Center (SRC), Hokkaido University.
so Aus Gründen histOrischer Gerechtigkeit sei hier an das andere, das politisch denkende Preußen erinnert:
"Bei der Lektüre von Dreyers Opus magnum habe ich mich daran erinnert, was mir schon mein erster Lehrmeister, Hermann Schäfer, vermittelte: Die liberale Politik täte gut daran, mit Preuß und seinen Vorgängern, voran Otto von Gierke, den Grundgedanken des Preußischen politischen Denkens auf sejne
Verwertbarkeit heute sorgfaltig abzuklopfen, nämlich die genossenschaftliche Selbstverwaltung." Barthold C. Witte: Michael Dreyer: Hugo Preuß. Biographie eines Demokraten. laudatio :zur Verleihung des Wolf-Erich
KeUner~Prejses 2003- amiS. Oktober 2003 in der Theodor-Heuss-Akademie Gummersbach.
51 Vgl. Gerhard Lehmbruch: Bundesstaatsreform als Sozia!techno!ogie? Pfadabhängigkeit und
Veränderungsspielräume im deutschen Föderalismus. In: EuropäIsches Zentrum für Föderalismus-Forschung
Tübingen r Hrsg' r Jahrbuch des Föderalismus 2000: föderalismus, Subsidiarltät und Regionen in Europa.
Baden-Baden 2000, 71-93.
52 Vgl. zur laufenden Debatte das Forschungsprojekt "Welche Verfassung braucht Europa? - Gestaltungaufgabe
einer Ordnung durch und für die Europäische Union". Institut far Europäische Politik Berlin, 2001 ff. 53 U!rich Kahrstedt, Kulturgeschichte der römischen Kaiserzeit. Bem 21958, 52. Zit" nach Hans Volkmann,
proviniCia. Der Kleine Pau/y, Bd. 4, München 1979, Sp. 1199 - 1201.
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 19
"Kulturelles und religiöses Leben blieb unangetastet, die Verleihung des römischen
Bürgerrechtes an die Oberschicht und des Stadtrechts der Munizipien und Kolonien an
Provinzgemeinden, die Verschmelzung örtlicher Rechtssätze mit dem römischen Recht
zu einem Reichsrecht förderten die Romanisierung."54 Im französischen und englischen
Sprachkreis ist die hier zum Vorschein kommende regionale Besonderheit bis heute die
Hauptbedeutung von province, provincialism etc. 55 Provincial ist beispielsweise ein Wort,
das nur in einem bestimmten Gebiet erscheint.
Anders im Deutschen: hier ist Provinz ein Schimpfwort, proVinziell ist ein anderer
Ausdruck für rückständig, dem Geist der Zeit nicht hinreichend aufgeschlossen. Dem
antiken Athener hießen solche Leute Böotier; Karl Marx heißen sie Bayern: "Österreich
schützt das Vaterland gegen die russische Invasion, indem es Galizien, Ungarn, die
dalmatinische Küste und Mähren besetzt hält und die Donaufürstentümer zu okkupieren
beabsichtigt, [ ... ) Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß diese Theorie außerhalb
der Grenzen Österreichs von niemandem begrüßt wurde mit Ausnahme von einigen
bayrischen Krautjunkern, deren Anspruch, die deutsche Zivilisation zu repräsentieren,
ebenso wohlfundiert ist, wie jener der alten Böotier, die Repräsentanten des griechischen Genius zu 5ein.\\56
Manche meinen, diese Auslegung des Begriffes Provinz sei älter und ginge auf Blaise
Pascal und seine "Lettres provinciales" zurück. Dies ist jedoch möglicherweise57 ein
Irrtum, da dieselben unmittelbar im Konflikt zwischen Jansenisten und Jesuiten an der
Pariser Sorbonne eine jansenitische Position beziehen. Wenn auch der Adressat von Pascal nicht genannt wird (ebenso wenig wie der Autor erscheint), so wäre eine
Adressierung an einen Nicht-Pariser Jesuitenoberen logisch. Und da die Societas Jesu
ihren Orden in regionale Provinzen unter Leitung jeweils eines Provinzials aufgeteilt
hatte, so wären die "Lettres provinciales" eben an einen üesuitischen) Provinzial adressiert.
Nein, die "böotische Lesart" des Begriffes Provinz ist deutsch. Sie findet sich bei Gauß
mit seiner Furcht vor dem "Geschrei der Böotier" (1829)58 und bei Bundeskanzler
Gerhard Schröder (2002): "Ihre Kirchturmspolitik verstellt einigen Ministerpräsidenten
den Blick; eine nationale Perspektive haben sie nicht, sonst würde sie der
Gesamtzustand der Schulen in Deutschland nicht dermaßen kalt lassen.',59
Diese Lesart geht wesentlich auf die Geistes- und Machtkämpfe des frühen 19.
Jahrhunderts zurück. Im persönlichen Umkreis des schon erwähnten Metternich war
54 Hans Volkmann (Fußnote 53), Sp. 1200.
55 Provinciallty wiederum hat eine analoge Konnotation wie das deutsche Provinzialität, nur eben ist dies ein
Nebenspektrum.
56 Karl Man<: ore Kriegsaussfchten in Preußen. Berlln, 15. Marz 1859" Erschienen in: New-York Daily Tribune,
Nr" 5598 vom 31. März 1859. Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. Berlln. Band 13, 7" Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, BerlinjDDR. S. 280~283. S. 283"
57 Die folgende Auslegung von Pascal ist eine Konjektur, da mir eine Verifizierbarkeit des hier vorgetragenen
Gegenargumentes nicht möglich war. Auch In der "Pleiade"-Ausgabe (Pascal. <Euvres compJE~tes, Texte
etabli, presente et aonote par Jacques Chevalier. Paris 1954) findet sich kein HinweiS, was e contrario für
das Gegenargument spricht. M1V. '58 Johann earl Friedrich Gauß: Brief an F.W. Bessel, 1829. 59 dpa( 26.06.2002.
MATTHIA5 THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 20
Joseph Christian Freiherr von Zedlitz (1790 - 1862 ) an der Wiener Staatskanzlei tätig
und unmittelbar an der Metternichschen Politik der Repression geistiger Selbständigkeit
beteiligt. 1848 entlassen, kehrte er 1851 als Ministerresident zurück. Auf Schloß
Johannisberg (Jansky Vrch) in Österreichisch-Schlesien geboren, der Sommerresidenz
der Breslauer Bischöfe und damals Wirkungsstätte von Karl Ditters von Dittersdorf, faßte
er seine Verachtung für die Kunstunsinnigen und ihre prosaische Weitsicht in die damals
vielzitierten Verse "An die Böotier":
Wenn Ihr Gemälde beschautet, Böotier, dünkte Euch jemals,
Daß im ApolI, im Mars, selbst sich der Maler gemalt?
Wohl, so sagt mir, wie kommt es, daß Ihr vom Gedichte den Dichter
Nimmer zu sondern vermögt, immer Beziehung und Zweck
Sucht, wo der Genius sich aufschwingt in phantastischer Willkür,
Wie ihn die Muse beherrscht, wie der Moment ihn ergreift?
Soll ein Gebilde der Kunst sich zum heiteren Leben gestalten,
Muß der entfesselte Geist frei sich bewegen und kühn.
Darum beschaut und betrachtet, und les't nicht befangen, ich bitt' Euch,
Wenn sich zum freieren Spiel regt die entbundene Kraft.
Könnt Ihr denn nimmer begreifen, Böotier, daß nur der Kuckuk
Einzig sich selber besingt, immer sich selber nur meint.
Glaubt Ihr, in Stunden der Weihe, wo weit der Erd' er entrückt ist,
Näher der Himmel ihm scheint, denke der Dichter, besorgt,
Bloß an das eitle Geschwätz von albernen Muhmen und Basen,
Die mit der Zunge Gewalt schnellen den giftigen Pfeil?
Hat Euch der Himmel den Geist so beengt und den Busen geschaffen,
Daß Ihr den höheren Sinn nicht zu ergründen vermögt,
Nicht die Accorde des Lebens begreift: 0, Ihr Guten, so laßt doch
Ungestört die Poesie, treibt Euch in Prosa umher!
Die Qualität dieser Poesie möge hier für sich stehen, zumal im Gedenken an die
Karlsbader Beschlüsse, die in ganz anderer Weise "Beziehung und Zweck" suchten.
Inhaltlich wie geographisch aber wird es von hier nur ein kleiner Sprung zum geistigen
Schicksal der Dresdner oder Prager Revolutionäre nach 1949, insbesondere Richard
Wagners,"o oder etwas weiter dann zur literarischen Bewegung der Mloda Po/ska sein.
Mit Zentrum vor allem in Krakau, spielte das Junge Polen (ca. 1890 - 1918) auch im
kulturellen Leben Lembergs und Warschaus eine bedeutsame Rolle und hinterließ
deutliche Spuren in Theater, bildender Kunst, Musik und Architektur. Abgrenzung
gegenüber der künstlerischen Auffassung von Positivismus und Realismus sowie
Ablehnung von Spießbürgertum und Provinzialität waren Ausgangspunkt und
verbindende Merkmale der verschiedenen kulturellen Strömungen (I'art pour I 'art,
60 Vgl.. Matt:hias Theodor Vogt: Taking the Waters at Bayreuth. In: Barry MilUngton, Stewart Spencer Ed"
Wagner in Performance, In memory of Sir Reginald Goodall. Yale University Press, New Haven and Landan
1992. Dt. als: Die Geburt des Festspielgedankens aus dem Geist der Bäderkur, In: Peter Csabadi et. al.
(Hg.), Welttheater, Mysterienspiel, Rituelles Theaters. Salzburger Symposium 1991. Wort und Musik XV. Anif / Salzburg 1992 [Deutsche gekürzte Fassung von 1992a).
MATIHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER Mme EUROPAS 21
Symbolismus, Dekadenz, Naturalismus usw.), die ihrerseits in ganz Europa Pendants
gefunden hat. In Verbindung mit Goethescher Weitläufigkeit wurde sie bei Thomas Mann
als Verschwisterung von "Kosmopolitismus und Provinzialismus"6l zu einem der
prägenden Merkmale des "deutschen Wesens" stilisiert.
Und folglich auch die Wissenschaft prägte: Als "Worldly Provincialism" charakterisiert ein
amerikanischer Sammelband die "German Anthropology in the Age of Empire,,62
dieselbe, was Hartmut Krech in einer Rezension mit dem Begriff der
"Weltumspannenden Provinzialität"63 wiedergibt.
Die "Kulturidee von Weimar" (Dieter Borchmeyer)64 hat keineswegs nur literarische,
vielmehr hat sie entscheidende politische Implikationen. Der "Nationalhaß" , bemerkt
Goethe am 14. März 1830 Eckermann gegenüber, finde sich "am stärksten und
heftigsten" auf den "untersten Stufen der Kultur". Es sei aber zu derjenigen Stufe
emporzuschreiten, "wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den
Nationen steht und man ein Glück oder ein Wehe des Nachbarvolkes empfindet, als
wäre es dem eigenen begegnet. Diese Kulturstufe war meiner Natur gemäß, und ich
hatte mich darin lange befestigt, ehe ich mein sechzigstes Jahr erreicht hatte." - sprich
um 1806 im Zeitalter der napoleonischen Kriege, in denen sich die entscheidende
Wende Europas weg vom cuius regio, eius religio hin zum cuius regio, eius natio
vollziehen sollte (bis sie nach dem bekannten Diktum im Kalten Krieg der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts vom cuius regio, eius ordo socialis abgelöst werden sollte).
Goethes Beobachtung trifft noch heute zu. In einer großangelegten Studie65 kommen
Stefan Spangenberg und Paul Klein 1997 zum Ergebnis, daß Nationalstolz und räumliche
Identität in starkem Zusammenhang stehen:
Befragte, die sich sehr stolz darüber äußern, Bürger Deutschlands zu sein, leben
überwiegend in Dörfern und Kleinstädten. Sie wechseln weniger häufig den
Wohnort als die Vergleichsgruppen, können somit auch als sehr heimatverbunden
bezeichnet werden. Mit zunehmendem Nationalstolz wächst das Durchschnittsalter
der Befragten und die Anzahl der Rentner in der Gruppe steigt. Der
Bildungsabschluß wird niedriger, so daß sich unter den Nationalstolzen auch nur
ein extrem geringer Anteil an Studenten findet. Ihr Einkommen ist
durchschnittlich, jedoch wächst mit zunehmendem Nationalstolz die Anzahl der
61 Themas Mann: Deutschland und die Deutschen (1945). Vgl. ebenfalls Doktor faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde (1943 - 1947) und Lübeck als geistige Lebensform (1926).
62 H. Glenn Penny, Matt; Bunzl: Worldly Provincialism. German Anthropology in the Age of Empire" Ann Arborr
2003.
63 Hartrnut Krech, Universität Bremen: Welrumspannende ProvinZialität: Die deutschen Wissenschaften vom Menschen zwischen 1860 und 1930. Rezension zu: H. Glenn Penny, Matt; Bunzl: Worldly Provincialism
(Fußnote 62). In: H-Net book review [email protected] (Oktober, 2003). 54 Dieter Borchmeyer: Literatur im Zeitalter der Globalisierung Goethes Utopie der Weltliteratur. In:
metamporphosen 28 (1999), 8~13. 6S Stefan Spangenberg, Paul Klein: Der Einfluß räumlicher Identität und Individueller Sicherheitskonzepte auf
die Bewertung von VerteJdigungspoHtik und Bundeswehr. Arbeitspapiere des sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, Heft 102. Strausberg, Mai 1997. Analoge Untersuchungen wurden zeitgleich für Polen und Tschechien durchgeführt.
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MITTE EUROPAS 22
Kinder im Haushalt. Die Äußerung von Nationalstolz ist vom Geschlecht der Person
unabhängig. Mit zunehmendem Stolz auf Deutschland verändert sich die politische
Selbsteinschätzung des Einzelnen von links nach mitte-rechts, die spontane
Äußerung eines emotionalen Zugehörigkeitsgefühls nimmt zu und auch in das
deutsche Sicherheits-, Rechts- und Wirtschaftssystem wird zunehmend stärker
vertraut. Die Befragten sehen ihre Interessen in Deutschland besser vertreten und
halten eine starke Regierung für einen entscheidenden Sicherheitsfaktor!6
Dies nun hat unmittelbare Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Anderen jenseits
der eigenen nationalen Grenze:
Mit zunehmendem Nationalstolz werden andere Nationen, mit Ausnahme der USA,
kontinuierlich negativer bewertet. Besonders deutlich wird dies etwa in der ersten
Fragestellung dieses Abschnitts bei der Bewertung der Juden. Die Befragten, die
uneingeschränkten Nationalstolz äußern, erreichen einen Sympathiewert für Juden
von 0,14, womit Juden bei ihnen in der Nationalitäten/Ethnien-Rangliste an siebter
Position stehen. Jene, die überhaupt nicht stolz darauf sind, ein Bürger
Deutschlands zu sein, erreichen einen Wert von 1,05 und setzten damit die Juden
an die Spitze ihrer Rangliste. Es scheint, als sei es die besondere Rolle, die Juden
im nationalen Diskurs in Deutschland einnehmen, die dazu führt, daß das
Antwortverhalten von Befragten mit unterschiedlich ausgeprägtem Nationalstolz stark differiert!'
Dies wiederum hat besondere Auswirkungen auf das Verhältnis zu Deutschlands östlichen Nachbarn:
66 Ibidem (Fußnote 65). 67 Ibidem (Fußnote 43).
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS
Orl!fik': ~q,., ;~N~t/i!"" bzw, ~cl>en OtIil'P""
1M Abbil~ berUktiJlifein& SkIIa m/tden .Weibml="trukr""gaiiv" pb; 1="i$r JXI"fiv". 2 ... V",,,,,"-idnmg it<i E%,,""",,_ <kr w.'" 4 ~ .""tlefpunkt g_ "nd <fi. A""!,~,,it<i -",/uns Ni<kn ___ -; his +3.
23
Angesichts dieser Befunde ist man geneigt, entsetzt auszurufen: "Ja - dürfen s' denn
das?"
Umso bedauerlicher ist es, daß eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem
Phänomen der Provinzialität in der deutschen Wissenschaft offensichtlich kaum
stattfindet. Ein schmaler Aufsatz von Klaus-Jürgen Matz, handelt "Von deutscher
Provinzialität, Provinz (und Provinzhistorie)".68 Ansätze einer Theoriebildung legte Oliver
Marchart vor: "Im übertragenen Sinn ist Provinz ein anderer Name für strukturellen
Mangel an Informations- und Interpretationsmöglichkeiten."69
Einen anderen Ansatz liefert gesprächsweise Milos Havelka, der Provinz mit "Kleinen
Strukuren" korreliert. Während diese durch die Industrialisierung in bestimmten Zonen
zerfallen, überleben sie in noch ländlich geprägten Gebieten.
68 Matz, Klaus-Jörgen: Von deutscher Provinzialität, Provinz (und Provinzhistorie). In: Stadt und Land. Bilder,
Inszenierungen und Visionen in Geschichte und Gegenwart. Wolfgang v. HippeI zum 65. Geburtstag. Hrsg.:
Sylvia Schraut und Bernhard Stier. Band. Auflage Stuttgart: Kohlhammer, 2001, S. 473 - 483.
69 Oliver Marchart: Die Rache der Provinz .. , und die PfIjcht zur EntprovinziaJisierung. Kulturrisse 0303, Thema
Wahlverdichtung. Wien 2003.
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 24
Geradezu wie eine Antwort auf Marchart liest sich Tomas VencJowa im Band
"Stereotypen und Nationen" des Krakauer Miedzynaradowe Centrum Kultury:
Wenn man in einer solchen mit Brettern vernagelten Welt aufwächst, wie das
damals Wilna war, wie es die ganze Sowjetunion war, aber Wilna als kleine Stadt
besonders, dann regt sich in einem etwas, was Mandelstam die Sehnsucht nach
der Weltkultur genannt hat. Diese Sehnsucht hat im Grunde positive Folgen. Man
beginnt, sich für etwas zu interessieren, was über die Grenzen der eigenen Erfahrung herausreicht.7o
Besonders intensiv um eine "Umwertung der Provinz,,71 bemühen sich Krzysztof
Czyzewski und die Stiftung "Pogranicze" [auf der Grenze]. In Sejny an der Grenze
Polens zu Weißrußland und dem Kalingrader Oblast verlegte die Stiftung unter anderem
Jan Tomasz Gross Buch "Nachbarn" über die Ermordung der Juden von Jedwabne. Im
sei ben Verlag erscheint die Vierteljahresschrift "Krasnogruda. Nationen, Kulturen, Kleine
Heimaten Ostmitteleuropas" . In Krasnogruda, einem Weilers bei Sejny, ist Czeslaw
Milosz aufgewachsen. In der gleichnamigen Zeitschrift werden die Themen "Erinnerung",
"Landschaft", "Grenze" oder "Stadt" insbesondere im Zusammenhang der ostmitteleuropäische Länder erörtert.
Die Sektion Slawistik der Universität Bergamo hat gemeinsam mit dem Institut für
Balkanistik der Akademie der Wissenschaften Moskau und dem Slawistischen Institut
der Universität Amsterdam eine Forschungsgruppe über die Russische Provinz gebildet
hat. Die sechste Arbeitstagung stand unter dem Titel "Paradigmi e dinamiche provinicali" (Bergamo 2001) 72.
In Deutschland dagegen wurde in der Auseinandersetzung um Martin Walser das
bekannte Adorno-Zitat hervorgeholt: "Zur Bildung gehört Urbanität, und ihr
geometrischer Ort ist die Sprache. Keinem Menschen ist es vorzuhalten, dass er vom
Lande stammt, aber keiner dürfte sich daraus einen Verdienst machen; wem die
Emanzipation von der Provinz mißglückte, der steht zur Bildung exterritorial. ,,73 74 Die
70 Tomas Vencfowa. In: Teresa Wafas (Hg.) (1999): Stereotypen und Nationen" Krakau: Miedzynaradowe Centrum Kultury, 5.342-346.
71 Stefanie Peter: Umwertung der Provinz" Eine Reise an die polnisch-litauische Grenze zur Stiftung
"Pogranicze" in Sejny" In: Dialog. Deutsch-Polnisches Magazin. Herausgeber: Deutsch-Polnische Gesellschaft Bundesverband €.v. Berlin.
12 Die Akten sind gegenwärtig noch nicht erschienen. Verfügbar ist: Ugo Pers) (Hg): PyccKille crOIlillllb! 111
pyccKaSi npoBIIIHlIHSI B MeMyapHbJX TeKCTax It1saHB M. AonropYKosa, in PyccKaSi npoBHHUilHi: MIIlQ:J - TeKCT -
peaIlbHOCTb (La provincia russa: mita - teste - realta). Moskwa, Sankt Peterburg 2000. 73 Adorno, Theodor W.: Philosophie und Lehrer. In: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt am Main, 1963.
S.46.
74 Jörg Schind/er: Wolkenkratzer an den Badensee! AUez! Nr. 2 (X) Duisburg, 1998 führt dazu aus: »"Ich bin auch Kleinbürger und möchte durch meine Arbeit meiner Klasse das mitverschaffen helfen, was ihr so sehr fehlt, das Bewußtsein ihrer historischen Wichtigkeit" schrieb Walser 1971 über sich. [ ... ) Das ist die
literarische Welt Martin Walsers - die Provinz. Nun ließe sich fragen, was dagegen einzuwenden sei. Hat nicht Gerhard Hauptmann auch Provinz
dargestellt, als er in Schlesien uDie Weber\! zu HeidInnen seines Romanes machte? Hat nicht Tneodor Storm auch geniale Milieugeschichten erzählt? WaJser ist anders. "Zur Bildung gehört [ .... ]" beschrieb Adorno einst den Zustand treffend, und er muss WaJser damit gemeint haben. Das alltägliche Elend der Provinz, ihre Rückständigkeit, die sich zum
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MITTE EUROPAS 25
Auffassung Adornos schließt recht besehen nahtlos an die oben zitierte Kritik Zeitlers an
den Böotiern an. Sie geht von einem Duopol aus: hier das flache Land mit flachem
Geist, dort die urbs mit ihrem bürgerlichen Ideal der Bildung.
Ruralität gegen Urbanität auszuspielen, liegt auch dem allerdings wesentlich
differenzierten Essay "Reminiszenzen an den Überfluß"75 von Hans Magnus
Enzensberger zugrunde. Als einer der wenigen unter Deutschlands Intellektuellen hat
Enzensberger öffentlich auf die Überholtheit des urbanen Leitbildes hingewiesen (viele
jedoch, genannt sei nur Arno Schmidt, hatten und haben längst ihre Biographie danach
ausgerichtet). In seinen "Reminiszenzen" benannte er 1996 immaterielle Güter wie Zeit,
Aufmerksamkeit, Raum, Ruhe, Umwelt und Sicherheit als den neuen Luxus, also
Inbegriffe des ruralen und eben nicht des urbanen life style.
Auch nach Alexander Baier ist ",Provinz' kein topographischer Begriff. [ ... ] Die Medien
(insbesondere auch im Internet) und die hervorragenden Verkehrsverbindungen haben
längst dafür gesorgt, daß gegenüber Hinterhugelfingen ohne genaue Recherche kein
abwertender Anfangsverdacht auf Provinzialität glaubhaft ist."'·
Die Begriffe der Provinz," der Provinzialität, der Peripherie, der Metropole und der
Urbanität sind auf ihre Gültigkeit und Bedeutung jenseits topographischer Betrachtungen
im heutigen Kontext zu überprüfen.
Wie weit die erste Gegenüberstellung von Provinz und Zentrum im Frankreich des
frühen XVII. Jahrhundert bis heute unbewußt nachwirkt, wäre zu prüfen. Erinnert sei
nur daran, daß einer der bis heute wichtigsten Texte zur Großstadt, Georg Simmels "Die
Großstädte und das Geistesleben", bei gründlicher Lektüre sich als großstadtfeindlich
entpuppt.'· Verwiesen sei ebenfalls auf den ausgerechnet 1933 entstandenen Text
Martin Heideggers: Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz? (1933).'9
Barbarischen steigert, wenn die Zivilisation sie bedroht, ihre Flucht in die dunkle Ecke der Irrationalität,
wenn Fortschritt zu befürchten steht, ihre Bockigkeit gegenüber den Errungenschaften der Moderne erklart
Wafser zum Fluchtpunkt gegen die Wirrnisse der kapitalistischen Industriegesellschaft - das ist der
reaktionäre Gehalt von Walsers Heirnatschreiberei. Denn dort suchen Walsers Pravinz-Xaverknödelhelden ihr
kleinbürgerliches Bewußtsein, und im Dialekt, in ihrer patriarchalen Selbstverständlichkeit, in der stetigen
Borniertheit von weitergegebenen Vorurteilen tauchen Elemente tausendjähriger Reiche auf und reproduzieren die Barbarei stets aufs neue. [" .. ]
Doch auch der Rationalität aufgeschlossenen Menschen bleibt die adornosche "Pflicht zur Entprovinzialisierung" nicht erspart. Ein Zivilisatorisches linkes Projekt, Walsers Heimatfilme endlich zu
begraben, wären schon ein paar Wolkenkratzer am Bodensee,«
75 Enzensberger, H" M. (1996): Reminiszenzen an den Überf]uß. Der alte und der neue Luxus. In: Der Spiegel
51/1996, 5. 108-118 76 Baier, Alexander: Provinz ist kein topographischer Begriff" Alexander Barer im Gespräch mit Jürgen Raap,
Kunstforum International, Bd. 140, 1998, S. 458-462.
77 Vgl. Vogt, Matthias Theodor: Einführung in die Kulturprovinz, in: Winterfeld, Klaus (Hrsg.): Kultur und
Wirtschaft in Mittelsachsen. Kulturraumtagung Freiberg 25.10.2002, Leipzig 2003, S. 24-30. 76 Vgl. Dietmar Jazbinsek: Die Großstädte und das Geistesleben von Georg SimmeL Zur Geschichte eine
Antipathie. Schriftenreihe der Forschungsgruppe Metropolenforschung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozia!forschung (FS Il 01-504).
79 Martin Heidegger: Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz? (1933). In: Martin
Heidegger Gesamtausgabe, L Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976, Band 13: Aus der Erfahrung
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 26
Der nach unserer Kenntnis erste und bisher einzige, der auf die weitaus komplexere
Soziologie der Provinzialität mit der Hypthese eines Triopols von urbs - Provinz - Dorf
aufmerksam gemacht hat, ist Carl Amery80 in dem von ihm herausgegebenen
Sammelband "Die Provinz. Kritik einer Lebensform" (1964):
Der Provinzler ist eine Zwischenform, ein kultur-anthropologisches Amphibium. 8'
Ihm fehlt die aus der Begrenzung erwachsende Selbstsicherheit des Dörflers
ebenso wie die aus der Unverschämtheit erwachsende des Großstädters.
Und merkwürdig, was die Rastlosen, die Großstadtsüchtigen an der Provinz nicht
mögen, was sie an ihr verspotten oder verfluchen, das ist keineswegs das
Dörfliche, wie sie es verstehen. Im Gegenteil: Romantik übers Dorf gebreitet, das
ist eine großstädtische Projektion. 82
Mangels anderer Quellen sei hier dem lange vergriffenen Amery das abschließende Wort
zur Phänomenologie der Provinzialität gegeben:
Das erste wichtige Phänomen [der Provinz-Existenz ist] die Verspätung der
kulturellen Signale. Sie gehen von der Großstadt aus; und kein Journal, kein Wort
und Bilderstrom über Presse und Ätherwellen vermag dieses Schicksal zu ändern.
Während der Dörfler [ ... ] auf die Marotten der Großstadt pfeift und oft genug die
Gaudi erlebt, daß der Großstädter wie Antäus zur Scholle zurückflüchtet, fühlt die
Provinz den gar nicht so dunklen, aber immer starken Drang, up-to-date zu sein;
und immer wieder sieht sie dieses Ziel entschwinden. [ ... ]
Wohlbemerkt: das hat nichts mit Bildung zu tun - jedenfalls nicht im
akademischen Sinn. [ ... ] der Provinzler legt mehr Wert auf Bildung als der
Großstädter. [ ... ]
Dem Provinzler fehlt das Element. [ ... ] Der Großstädter gewinnt ja seine
vielberufene Freiheit aus der Tatsache, daß er wieder zum Jäger geworden ist;
Mensch, Mitmensch ist für ihn das Mitglied seines Clans, oder mehrere, durch die
Pluralität seiner Interessen gebildeter Clans. Mit ihnen, seinen Clangefährten, jagt
er im Dschungel aus Steinen, Asphalt, Autos und Individuen, die er nicht kennt
und die ihn nichts angehen. Der Dörfler andererseits ist nach wie vor auf den
universalen nachbarlichen Zusammenhalt angewiesen, der zwar Feindschaften,
Todfeindschaften, aber keine rigorose Kastenbildung erlaubt.
Der Provinzler ist nicht so frei wie der Großstädter, seine kongenialen
Jagdgefährten zu wählen - aber auch mit der universalen Nachbarschaft ist es bei
ihm vorbei. Er ist gezwungen, [ ... ] die Gruppe herauszufinden, in der er
funktionieren kann. Meist wird hier freilich gar keine Wahl vollzogen, sondern die
Gruppe wählt ihn, determiniert ihn, legt in fest. [ ... ] [Hier ist] eine der tiefsten
des Denkens. Herausgegeben von Hermann Heidegger. frankfurtMain, 22002. Ich danke Mifos Havelka für
den Hinweis.
BO earl Amery (Hg.): Die Provinz. Kritik einer Lebensfarm. München: Nymphenburger 1964. 81 Dies ist leider ein falscher Begriff. Amphibium wäre ein Sowohl-als-auch-Wesen. Amery meint aber ein
Weder-Noch-Wesen. MTV.
82 earl Amery: Der Provinzler und sein Schicksal. In: ders. (Hg.): Die Provinz (Fußnote 80). 5.8.
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 27
Wurzeln provinzieller Malaise zu finden [ ... ] und aus ihr wachsen allzurasch und
allzuleicht zwei unausrottbare provinzielle Überzeugungen: erstens die
Überzeugung, daß der größte Teil der sozialen Umgebung schicksalhaft ist [ ... ]
und zweitens das speziell provinzlerische Subjekt-Objekt-Gefühl gegenüber dem
Nächsten. [ ... ]
Die Mehrheit der sozialen Kontakte in der Provinz '" ist aufgezwungen, vom
gesellschaftlichen pflichtbewußtsein diktiert. Relativ wenig gefühlt wird das in der breiten Basis der sozialen Pyramide, unter Arbeitern und kleinen
Gewerbetreibenden - aber das Problem verschärft sich, je weiter oben auf der
Pyramide der Provinzler zuhause ist. [ ... ]
Der Provinzler lebt genau so moralisch bzw. unmoralisch wie der Großstädter [ ... ]
Die moralische Schnellstraße, die das Auto dem Menschen eröffnet hat, kennt der
Provinzler mindestens genausogut wie der Großstädter. Nein, die Konventionen
der Provinz sind sozialer Art: sie haben dafür zu sorgen, daß die Kontinuität der
unentrinnbaren Gruppe gewahrt bleibt. Der Großstädter, der Jäger im kleinen
Clan, tut sich leicht: er kann jede beliebige soziale Katastrophe zurücklassen und
morgen einen neuen Haufen finden - oder eine neue Einsamkeit, je nachdem. [ ... ]
Das erklärt die Notwendigkeit der kulturellen Signal-Verspätung. Kulturelle Signale
können erst dann aufgenommen werden, wenn sie konventionsfähig werden. [ ... ]
Wer [in der Provinz] wirklich unkonventionell sein will (und es auch fertigbringt),
der wird notwendig zum Einsiedler [ ... ] [Man] findet [ ... ] überall in der Provinz
diese Eremiten. Sie sind kulturell unfruchtbar. [ ... ] [Meist] sind sie Käuze, Erfinder
von längst Erfundenem, Denker von längst Gedachtem, Querköpfe, Querflieger
und Querschießer. [ ... ]
Nun hat natürlich dieser Zustand der Konvention seine positive Seite: [ ... ] Der
Provinzler ist, aufs Ganze gesehen, politisch und sozial leistungsfähiger als der
Großstädter. [ ... ] Auch wo die Interessen regieren (und wo regieren die nicht?),
sind sie nirgends anonym, sondern leicht mit Personen zu identifizieren. [ ... ] Auf diesem Feld trainiert die Provinz eine große Schar von Poltikern und entsendet sie
auf weitere Felder der Aktion.83
Akyanoblepsie als Metapher für Peripherizität und Provinzialität
Was der so beschriebenen Provinz fehlt, läßt sich in den nüchternen Termini der Sozial
oder Wirtschaftswissenschaften nur schwer beschreiben, jedoch vielleicht in die
Metapher einer Akyanoblepsie fassen. Also der bei Goethe und nur bei ihm
beschriebenen Unfähigkeit, die Farbe Blau wahrzunehmen.
Blau ist bekanntlich nicht nur ein beliebtes Motiv in der Dichtung der Romantik, sondern
symbolisiert das Ferne, das Göttliche, das "Geistige" (vgl. Wassily Kandinsky). In
Novalis' 1802 erschienenem Romanfragment "Heinrich von Ofterdingen" macht sich der
Held auf in die Welt, um die Ursprünge seiner Sehnsucht zu suchen. Auf seiner Reise in
83 earl Amery: Der Provinzler und sein Schicksal. In: ders. (Hg.): Die Provinz (Fußnote 80). S.5-12.
MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 28
die Ferne blickt er - ein in der Literatur unserer Kenntnis nach einzig dastehender
Vorgang - auf einer Anhöhe gleichzeitig zum Ziel seiner Reise und zurück in seine
Heimat:
Er sah sich an der Schwelle der Ferne, in der er oft vergebens von den nahen
Bergen geschaut, und die er sich mit sonderbaren Farben ausgemalt hatte. Er
war im Begriff, sich in ihre blaue Flut zu tauchen.
Die [blaue] Wunderblume stand vor ihm, und er sah nach Thüringen, welches
er jetzt hinter sich ließ mit der seltsamen Ahndung hinüber, als werde er nach
langen Wanderungen von der Weltgegend her, nach welche sie jetzt reisten, in
sein Vaterland zurückkommen, und als reise er daher diesem eigentlich zu.
Der gleichzeitige Blick in Zukunft und Vergangenheit (als Zukunft jenseits der Zukunft)
ist Symbol des Aufbruchs zur Erfüllung von Sehnsüchten wie auch Symbol des Findens
von Lebenssinn und Heimat im Sinne Ernst Blochs. Peripherie und Zentrum finden sich
gegenseitig zurückgebunden in den Stationen einer Biographie.
Mit dieser Metapher öffnet sich der Horizont der Fragestellung des Collegium PONTES
2004: läßt sich Kulturpolitik als Instrument der Landesentwicklung einsetzen, ähnlich
wie dies für Bildungspolitik, Infrastrukturpolitik und vor allem Wirtschaftspolitik unbesehen unterstellt wird?
Zunächst aber wäre am Beispiel der Region Görlitz-Zgorzelec-Zhol'elec zu fragen, ob
und wie Provinzialität entsteht.