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Matthias Theodor Vogt, Görlitz 15.04.2004 Ubi Leones - Peripherie in der Mitte Europas Strategien der Kulturpolitik zur Überwindung von Grenze und Provinzialität. Ein Essay in Vorbereitung des Collegium PONTES 2004 I. Zur Terminologie von "Peripherie", Peripherisierung", "Peripherizität" ................. ,. 2 1.1. nEplq>opa, peripheria etymologisch ........................................................... 2 1.2. peripheria kosmologisch ...................... ................................................... 3 1.3. Peripherie in der symbolischen Kosmographie ., .......................................... 3 1.4. Hierarchisierung des Raumes ................................................................... 4 1.5. lateinamerika als "Peripherie" .................................................................. 7 1.6. Von der "Peripherie" zum Stichwort "Peripherisierung" ................................ 8 1. 7. Insularite, maritimite, PeriphEkicite ......................................................... 10 1.8. Peripherizität als Impetus für neue wissenschaftliche Perspektiven ............. 13 1.9. Peripherizität als leitdifferenz der Soziologie ............................................ 15 H. Zur Phänomenologie der Provinzialität ............................................................ 17 Akyanoblepsie als Metapher für Peripherizität und Provinzialität ......................... 27 "Ubi wo nichts als Löwenbestien wohnen, so nannten die alten Römer die Gebiete außerhalb der bewohnten und bewohnbaren Welt.' Dieser Grundgedanke hat sich bis heute erhalten und charakterisiert den Blick der Metropolenbewohner auf die Ränder ihrer MacMgebiete. Das Collegium Pontes 2004 wird in einer Reihe von Einzeluntersuchungen diesen Blick und seine Auswirkungen auf eine Region, exemplarisch auf Görlitz-Zgorzelec-Zhorelec, analysieren. Leitfrage der Untersuchungen ist, welcher Kulturpolitik es bedarf, um die mentalen Grenzen zu überwinden. Das CP 2004 ist in vier gedankliche Schritte gegliedert: I Zur Terminologie von Peripherie, Peripherisierung, Peripherizität II Zur Phänomenologie der Provinzialität III Zur Aitiologie der Provinzialität in der Region Görlitz-Zgorze/ec-Zhofe/ec IV Zur Praxeologie von "Kulturpolitik und Provinzialität" Der vorliegende Text stellt eine Reihe von Begriffsuntersuchungen im Umkreis des ersten Schrittes vor, also von "Peripherizität" und "Provinzialität". 1 Ich danke Peter Bendixen für den Hinweis.

Ubi Leones -Peripherie in der Mitte Europas · MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MITTE EUROPAS 2 I. Zur Terminologie von "Peripherie", Peripherisierung", "Peripherizität"

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Matthias Theodor Vogt, Görlitz 15.04.2004

Ubi Leones - Peripherie in der Mitte Europas

Strategien der Kulturpolitik zur Überwindung von Grenze und

Provinzialität. Ein Essay in Vorbereitung des Collegium PONTES 2004

I. Zur Terminologie von "Peripherie", Peripherisierung", "Peripherizität" ................. ,. 2

1.1. nEplq>opa, peripheria etymologisch ........................................................... 2

1.2. peripheria kosmologisch ......................•................................................... 3

1.3. Peripherie in der symbolischen Kosmographie ., .......................................... 3

1.4. Hierarchisierung des Raumes ................................................................... 4

1.5. lateinamerika als "Peripherie" .................................................................. 7

1.6. Von der "Peripherie" zum Stichwort "Peripherisierung" ................................ 8

1. 7. Insularite, maritimite, PeriphEkicite ......................................................... 10

1.8. Peripherizität als Impetus für neue wissenschaftliche Perspektiven ............. 13 1.9. Peripherizität als leitdifferenz der Soziologie ............................................ 15

H. Zur Phänomenologie der Provinzialität ............................................................ 17

Akyanoblepsie als Metapher für Peripherizität und Provinzialität ......................... 27

"Ubi Leones'~ wo nichts als Löwenbestien wohnen, so nannten die alten Römer die

Gebiete außerhalb der bewohnten und bewohnbaren Welt.' Dieser Grundgedanke hat

sich bis heute erhalten und charakterisiert den Blick der Metropolenbewohner auf die

Ränder ihrer MacMgebiete. Das Collegium Pontes 2004 wird in einer Reihe von

Einzeluntersuchungen diesen Blick und seine Auswirkungen auf eine Region,

exemplarisch auf Görlitz-Zgorzelec-Zhorelec, analysieren. Leitfrage der Untersuchungen

ist, welcher Kulturpolitik es bedarf, um die mentalen Grenzen zu überwinden.

Das CP 2004 ist in vier gedankliche Schritte gegliedert:

I Zur Terminologie von Peripherie, Peripherisierung, Peripherizität

II Zur Phänomenologie der Provinzialität

III Zur Aitiologie der Provinzialität

in der Region Görlitz-Zgorze/ec-Zhofe/ec

IV Zur Praxeologie von "Kulturpolitik und Provinzialität"

Der vorliegende Text stellt eine Reihe von Begriffsuntersuchungen im Umkreis des

ersten Schrittes vor, also von "Peripherizität" und "Provinzialität".

1 Ich danke Peter Bendixen für den Hinweis.

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MITTE EUROPAS 2

I. Zur Terminologie von "Peripherie", Peripherisierung", "Peripherizität"

Der Begriff "Peripherie'" evoziert im heutigen Sprachgebrach das Bild einer Randzone.

Wird der Begriff in politischem und sozialem Kontext gebraucht, schwingt die

Konnotation einer politischen Minderberechtigung und wirtschaftlichen

SchlechtersteIlung mit; vergleichbar dem Verhältnis der Spartaner zu den "Periöken",

ihren umwohnenden Stammesgenossen.

1.1. nEpupopa, peripheria etymologisch

Etymologisch ist dies Bild einer Randzone unscharf. Das altgriechische periphora bzw.

periphereia kommt von periphero, herumtragen, und hat vier Bedeutungen: (1) das

Herumtragen, insbesondere von Speisen, was wir ja noch heute als "Gänge" einer

Mahlzeit bezeichnen, (2) das Herumgehen im Kreise, der Kreislauf, insbesondere der

Radumfang als der Ort, an dem Rad umläuft, (3) kosmologisch als Weltkreis, (4)

metaphorisch als Öffnung. (Ob und inwieweit die vierte antike Bedeutung ein Antidot für

Peripherie im heutigen Verständnis darstellen kann, sei zunächst dahingestellt.)

Die lateinische Übertragung der zweiten Bedeutung als linea circumcurrens, als

herumlaufende Linie, bei Martianus Capella 8,827 faßt die mathematische Bedeutung

von Peripherie als der Summe jener Punkte, die einen gleichen Abstand zu einem

Zentrum aufweisen. Erst durch seine Peripherie, die Kreislinie, wird das Zentrum nota bene zum Zentrum. Dies gilt auch umgekehrt: erst durch einen Zentralpunkt wird die

Linie zur Peripherie und zur Kreislinie. Diese Interdependenz gilt, wie noch zu zeigen

sein wird, in der Mathematik wie in der Politik.

In der Physik sprechen wir im zweidimensionalen Raum von einer Interdependenz

zwischen Zentrifugal- und Zentripetalkraft, im dreidimensionalen Raum von der

Kreiselkraft, die dieses Verhältnis zu stabilisieren in der Lage ist.

Der Peripherie-Begriff findet Verwendung einerseits Im Bereich Architektur, Städtebau, Regionalentwicklung,

andererseits in Politik- und Wirtschaftswissenschaften, Recht, Soziologie etc. Siehe Zang, Gert: Eine Region

wird peripher. Stadt und Kreis Konstanz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Fried, Pankraz

(Hrsg,): Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte 6ayerisch-Schwabens, Band 2: Probleme der Integration

Ostsehwabens in den bayerisehen Staat. Bayern und Wittelsbach in Ostsehwaben, Referate und Beiträge der

Tagung auf der Refsensburg am 21./22.03.1980, Stuttgart 1982; Nolte, Hans-Heinrich (Hrsg.): Internal Peripher/es in European History, Göttingen/Zürich 1991 (Zur Kritik der Geschichtsschreibung 6); Mose,

logo: Eigenständige Regiona!enmicklung - neue Chancen für die Peripherie, Vechta 1993; Coccossis, Harry:

overcoming isolation, information and transportation networks in development strategies for peripheral

areas, Berlin/Heidelberg 1995; No/te, Hans-Heinrich: InternaJ Peripherles: From Anda/ucia to Tatarstan, in:

Re\liew - A Journ" of the Fernand BraudeI Center, Val. 18, No. 2 (Spring 1995); Gampp, Axel Christoph: Die

Peripherie als Zentrum. Strategien des Städtebaus im römischen Umland 1600-1730, Worrns 1996; Bango,

Jen6: Auf dem Weg zur postglobaJen Gesellschaft. Verlorenes Zentrum/ abgebaute Peripherie/ erfundene

Region, Berlin 1998; Hein, Wolfgang: Unterentwicklung, Krise der Peripherie, Opladen 1998; Prigge, Walter:

Peripherie ist überatl, Frankfurt/Main 1998; Feldbauer, Peter: Von der Weltwirtschaftsl<rise zur

GJobalisierungskrise, Frankfurt/Main 1999; Fortuna, Amara/Oase, Mario: The cast of peripherallty, Luxembourg 2001.

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 3

1.2. peripheria kosmologisch

Peripheria ist indirekt ein Schlüsselbegriff des heliozentrischen Weltverständnisses und

damit nach heutiger Vorstellung der Moderne.3

Die o.g. Stelle 8,827 bei Martianus Capella bezieht sich auf die Umlauflinien der

Himmelskörper (im achten Buch De astronomia seiner "Hochzeit der Philologie mit

Merkur"; einer Enzyklopädie des Wissens der Spätantike, geschrieben im aus damaliger

Reichssicht recht peripheren Carthago vor 439 n.Chr.)"

Nikolaus Kopernikus zitiert Martianus Capella explizit als entscheidende Anregung in

seinem 1543 posthum veröffentlichten "De Revoiutionibus orbium cceiestium" I, 10'. Die Umwälzbahnen der Himmelskörper im Titel sind als peripheriae zu verstehen.

Die Beziehungen zwischen Sonne und Planeten werden in der Kosmologie des

Kopernikus imperial aufgefaßt ("Thus indeed, as though seated on a royal throne, the

sun governs the family of planets revolving around it." Ähnlich Marsilio Ficino: "Alliocate

the Sun, like a lord, in the center of the world." Uber de Sole VI) und führen damit

einen älteren Gedanken fort.

1.3. Peripherie in der symbolischen Kosmographie

Die Antike (insbes. Parmenides, Eudoxos, Eratosthenes, Cicero bzw. Macrobius,

Martianus Capella) hatte den Erdkreis in fünf Breiten oder "Gürtel"" eingeteilt, von

denen nur der zweite und der vierte als bewohnbar galten, und dies teils metaphysisch,

teils empirisch begründet. Die übrigen Zonen waren Randzonen außerhalb der

Bewohnbarkeit.

Reinhard Krüger wies vor kurzem nach, daß der noch heute weitverbreitete Glaube, daß das Mittelalter

einem geozentrischen Weltbild angehangen habe, auf eine bewußte Geschichtsfälschung des frühen XIX.

Jahrhunderts zurückgeht (u.a. Daunou in seinem Discours sur l'etat des (ettres au XIlIe siec(e, Paris 1824)"

VgJ. Reinhard Krüger, Eine Welt ohne Amerika. Globale Weltkonstruktion und europäisches Raumbewußtsein

im kosmologischen Denken von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit. Berlin 1998. Martianus Minneus Felix Capella: Satyricon, sive Oe Nuptiis Phi)o)ogiae et MercurH et de septem Artibus

HberaHbus libri novem. Editio princeps, F, Vitalis Bodianus (1499); Ed" U!ricus F. Kopp (Frankfurt/M. 1836); Ed. Franciscus Eyssenhardt (Leipzig 1866); Ed. Adolf Dick, Jean Preaux (Stuttgart 1978); Ed" James Willis

(Leipzig 1983). VgJ. aktuell Sabine Grebe, Martianus Capella: De nuptHs Philologjae et MercurH. Darstellung

der Sieben Freien Künste und ihrer Beziehungen zueinander, Stuttgart, Leipzig 1999. Über Jahrhunderte viel rezipiert und bereits von Notker dem Stammler ins Mittelhochdeutsche übersetzt, hat

die "Hochzeit" mehrere markante Spuren in der Kulturgeschichte hinterlassen.

So brachte CapeJJa im Rahmen seiner Musiktheorie den Ausdruck "systema" ins Lateinische (systema = complexus certum intervallum) und kann damit als ein früher Wegbereiter der Systemtheorie gelten.

Mit ihrer Aufteilung des Wissens in sieben Fächer (nach Varro) lieferte die "Hochzeit" nach 1200 ein Vorbild

für den Aufbau der Universitäten mit ihrer Eingangsfakultät der sieben freien Künste, dem heutigen amerikanischen College bzw. der Vorläuferin der heutigen Geistes- und Naturwissenschaften.

Nikolaus Kopernikus: De Revolutionibus orbium cceJestium I, 10: "Opinions differ as to Venus <3nd Mercury

which, unlike the others, do not aJtogether leave the sun. [ ... ] I think we must seriously consider the

ingenious view held by Martianus CapeUa [ •.. ], that Venus and Mercury do not go round the Earth Hke the

other planets but run their courses with the Sun at the center, and so do not depart from him further than

the size of their orbits fs near the Sun."

Marcus TulHus Cicero: Somnium Scipionis (= De re publica 6,9-29; hier 21): "terram quasi QUibusdam

redimitam et circumdatam 9D..9.Y1.§ / die Erde gleichsam von einigen Gürteln umschlungen und umgeben."

MATIHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 4

Das Mittelalter griff teilweise auf diese Vorstellung zurück (vgl. Lamberti Liber Floridus,

12. Jh.), entwickelte im wesentlichen aber symbolische Erdkarten von den Embryonal­

Karten (vgl. Albi, 8. Jh.) bis zu den Rad-Karten (vgl. die Ebstorfer Weltkarte des

Gervasius , nach 1200). Erst unter dem Einfluß der portugiesischen porto/ani oder

Kompaß-Küstenkarten Ende des 15. Jhs. wird die symbolische Dartellung sukzessive

aufgegeben und die moderne Geodäsie entwickelt, freilich ohne die ungleichgewichtige

Darstellung der Erdteile aufzugeben (mit Fortwirkung bis heute: in zahlreichen Weltkarten ist Grönland größer als Afrika dargestellt).

In der symbolischen Kosmographie des christlichen Mittelalters wird der orbis terra rum

ineinsgesetzt mit dem Körper Jesus Christi. Die Vorstellung von einem "Nabel der Welt"

wird auf eine Darstellung von Jerusalem als Nabel Christi übertragen - weil, wie es bei

Gervasius von Tilbury heißt: quia enim iudea inumbilico nostre habitabilis est / weil

Judäa der Nabel der bewohnbaren Welt ist (in den "Otia imperalia", die Gervasisus um

1210 für die nota bene "kaiserlichen Mußestunden" Otto IV. schrieb).

Das christliche Mittelalter mit seinem Imperiumsgedanken schloß damit an antike

symbolische Repräsentationen an. So repräsentierte im antiken Rom der lapis niger den

Nabel der Welt bzw. des Reiches; eine Steinsäule auf dem Forum, von der aus alle

Distanzen gemessen wurden. Die Vorstellung, daß die Welt ein Zentrum habe und

mithin subzentrale Weltregionen aufweise, daß dem Kaiser der Rang und die Stelle der

Sonne zukomme und seinen Untertanen die von Planeten, ist seit dem Alten China und

seinem "Reich der Mitte" nachweisbar. In den Augen ihrer Kritiker bestimmt sie speziell

die US-amerikanische Selbstwahrnehmung bis heute.7

1.4. Hierarchisierung des Raumes

Den ersten Versuch, Landnutzungsmuster mit dem räumlichen Beziehungsgefüge

zwischen Stadt und Umlandregion zu korrelieren und zu wichten, entwickelte Johann

Heinrich von Thünen (1783 - 1850) auf seinem Gut Tellow in Mecklenburg. "Der

isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie" (1826) postuliert

eine Gesetzmäßigkeit der räumlichen Verteilung landwirtschaftlicher Produktion zwischen einem zentralen Markt und dem (peripheren) Umland.

Ähnlich grenzt die Sozialökologie der sogenannten Chicagoer Schule Teilräume ab und

gewichtet sie unterschiedlich. Im seinem Zonenmodell stellt E. W. Burgess· 1925 eine

zentral-periphere Gliederung ausgehend vom Central Business District (CBD) als

Mittelpunkt der Stadt Chicago in wirtschaftlicher, kultureller und politischer Hinsicht dar.

Umgeben ist der CBD von konzentrischen Zonen mit jeweils spezifischer (dominanter)

Funktion und Bevölkerungsstruktur. Dieses klassische Stadtstrukturmodell bildete den

Kern von Burgess' Theorie der Stadtentwicklung mit 15 Hypothesen zu den

Mechanismen der Stadtentwicklung.

7 VgJ. abweichend Michael Hardt, Antonio Negri: "Die Vereinigten Staaten bilden nicht das Zentrum eines imperialistischen Projekts, und tatsächlich ist dazu heute kein Nationalstaat in der Lage." M. Hardt, A. Negri:

Empire. Die neue Weltordnung (Cambridge 2000), FrankfuftMain 2002, S. 12.

8 Burgess E.W.: The Growth of the City. An Introduction to a research Project" In: Park, R.E, Burgess, E.W",

and McKenzie, R.D., eds., The City., Universlty of Chicaga Press, 1925,47-62.

MATTHlAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 5

Burgess' Theorie liest sich besonders signifkant im Licht der antiken Etymologie von

Zentrum. Der Begriff kommt von kentron, dem mit eisernen Stacheln bewehrten Stab

zum Antreiben von Sklaven (Paulus benutzt kentron in: "Wo, Tod, ist dein Sieg? Wo, Tod, ist dein Stachel?" 1 Kor 15,54-58). Die Metapher vom CBD als Stachel im Fleische

des Greater Chicago ist lediglich eine Metapher, aber reizvoll.

Thünen und Burgess sind nur bedingt Vorläufer der Theorie der Zentralen Orte von

Walter Christaller. Gingen jene von einer nüchternen Analyse eines Beziehungsgefüges

aus, entwickelte dieser 1933 zeitkonform seine Raumtheorie aus den

Hierarchisierungstendenzen der nationalsozialistischen Ideologie.' Aufgrund der Anzahl

von Telefonanschlüsse suchte Christaller nachzuweisen, daß es eine Regelmäßigkeit in

der Verteilung von Städten und Gemeinden im Raum nach ihrer Bedeutung gibt, die er

als "Zentralität" bezeichnete. Unter "zentral" sollte verstanden werden, daß die

Gemeinde gegenüber ihrer Umgebung einen "Bedeutungsüberschuss" hat, der nicht von

Fläche oder Einwohnerzahl abhängig ist, sondern "Ergebnis des wirtschaftlichen

Zusammenwirkens der Bewohner" ist. Damit war der "zentrale Ort" unabhängig von der

Siedlungs-, der politischen oder wirtschaftlichen Einheit zu verstehen. "Von der

niedersten Einheit, dem Dorfverband, ja von der weilerartigen Teilgemarkung und selbst

vom einzelnen bäuerlichen Betrieb aus bis zur höchsten Einheit des Reichsgaues, ja des

ganzen Reiches, ist eine zwingende ineinandergreifende Raumhierarchie gegeben."'° Im

Zusammenhang der anstehenden Eroberung der Ostgebiete mahnte Christalier 1941 die

Befolgung seiner Grundsätze an, ,,[sonst] wird die ganze Zuordnung der Glieder zu

einem Ganzen erschüttert, es reißt die aus Unkenntnis der Raumgesetze herrÜhrende

Raumanarchie wieder ein, unter der das deutsche Volk seit dem Aufkommen der

Territorialstaaten 50 unheilvoll gelitten hat.""

Nach dem 2. Weltkrieg wurde Christallers Theorie der zentralen Orte12 zum Leitbild der

>Landesplanung der Bundesrepublik, seit 1990 auch im Beitrittsgebiet. Die einschlägige

Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (BfLR) wurde 1998 mit der

Bundesbaudirektion zur Bundesoberbehörde "Bundesamt für Bauwesen und

Raumordnung" fusioniert.

Die Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO) der Länder und des Bundes definierte

am 8.2.1968 eine bundeseinheitliche (auf Länderebene faktisch seit den frühen 1950er

Walter ehr/staHer: Die zentralen Orte in SÜddeutsch/and : eine ökonomisch-geographische Untersuchung

über die Gesetzmässigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischen Funktionen. Jena, 1933. Die Karte der TeJephonanschlüsse ist greifbar unter: http://www.isl.uni-karlsruhe.dejmodulejchristaller(christalJer.gif.

Vgr. auch: Dt. Verb. für Angewandte Geographie e.V. (Hrsg.) (1979): Zentrale Orte und ihre Folgen : Ergebnisse des Symposiums anläß!!ch des 10. Todestages Wa!ter ChristaUers in Darmstadt 30./31. März 1979. Hamburg : DVAG, 1979. H" Blotevogel, Zentrale Orte, in: Handwörterbuch der Raumordnung I Akademie für Raumforschung und Landesplanung. Hannover: Ver/.. der ARL, 1995" Akademie für

Raumforschung und Landesplanung: Handwärterbuch der Raumplanung, Hannover, 1995. 10 Walter Christaller. Die zentralen Orte in den Ostgebieten und ihre Kultur- und Marktbereiche, Leipzig 1941..

5.9.

11 ders., S. 9 f"

12 Vgl. aus geographischer Sicht Heinritz, Günter: ZentraHtat und zentrale Orte. Eine Einführung. Stuttgart

1979.

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 6

Jahren bereits vollzogene) vierfache Stufung in Ober- Mittel-, Unter- und Kleinzentren.

Hierbei sollen die "Versorgungskerne [ ... ] soziale, kulturelle, wirtschaftliche

Einrichtungen besitzen, die über die eigenen Einwohner hinaus die Bevölkerung des

Verrflechtungsbereiches versorgen. Jedes höhere Zentrum hat zugleich die Aufgaben der

zentralen Orte niedrigerer Stufe. [ ... ) Aufgaben sind: Unter- und Grundzentren:

Grundversorgung; Mittelzentren: Grundversorgung plus Deckung des gehobenen

Bedarfs; Oberzentren: (wie Mittelzentren) plus Deckung des speZialiSierten höheren Bedarfs" .

Am Konzept der Zentralen Orte wird seit den 80er Jahren vermehrt Kritik geübt. Die

wesentlichen Kritikpunkte sind nach Ute Stöckner, Karlsruhe: 1) Wirkungslosigkeit:

Zeitgleich mit der in den 80er Jahren einsetzenden Diskussion um die Abgrenzung der

Oberzentren muss das Anhalten der Suburbanisierung konstatiert werden, was die

Zielführung der ursprünglichen Idee in Frage stellt. 2) Dorfverödung : Infolge der

Bündelung von Schulen und Verwaltungen wird u.a. ein Identitätsverlust der

Bevölkerung mit ihren Gemeinden für die Abwanderung verantwortlich gemacht. 3) Kein

marktwirtschaftliches Prinzip: Da das erklärte Konzeptziel die Lenkung von Investitionen

ist, findet kein marktwirtschaftlicher Wettbewerb unter den Städten statt. 4) Keine

Funktionsspezialisierung: rnfolge der starren hierarchischen Gliederung wird dem

Konzept Verhinderung der im Zuge der Städtenetze erforderlichen

Funktionsspezialisierung zur Profilierung der Städte vorgeworfen. 5) Keine

Kooperationsförderung : Durch die finanzielle Förderung einzelner Städte und Gemeinden

wird kein Anreiz zur Kooperation von Städten und Gemeinden gegeben, was der Bildung

von Städtenetzen entgegensteht.- Ungeachtet dieser Kritik hat die Ministerkonferenz für

Raumordnung am 3.12.2001 das weitere Festhalten am Konzept der Zentralen Orte beschlossen.

Funktional ist das Konzept unlogisch, da die von Art. 72 GG gebotene "Herstellung gleicher Lebensbedingungen" in der Fläche ungleich aufwendiger ist als im

Ballungsgebiet, also umgekehrt geringere Aufwendungen im Ballungsgebiet implizieren

würde. Man vergegenwärtige sich das Schul netz oder den öffentlichen Verkehr.

Feinuntersuchungen erbringen derzeit den Nachweis, daß nicht die Neuen Länder per se

die gesamtdeutsche Wirtschaftsentwicklung behindern, sondern auch im Osten des

Ruhrgebietes oder im Nordosten Bayerns Problemzonen liegen, die hinter der

Entwicklung von Leipzig oder Dresden deutlich abfallen. Diese fur den Gesamtstaat

bedrohliche Entwicklung geht wesentlich darauf zurück, daß die Politik zentripetale

Präferenzen der Bürger und U,:,ternehmen unterstützt, statt diesen Präferenzen aus

einer gesamtstaatlichen Perspektive heraus entgegenzuwirken. VerfassungsrechtlIch

gesprochen wird Ruralltät vom Zentralortkonzept gegenüber Urbanität als nachrangig

behandelt, liegt an sich ein nicht unerheblicher, bislang jedoch nicht gerügter Verstoß

gegen das Gebot des Grundgesetzes vor.

Das eigentliche, nämlich das ethische Problem des Konzeptes der Zentralen Orte wird

weder in der O.g. Kritik noch in der aktuellen Diskussion erwähnt (wohl aber ist sie der

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 7

Kommunalpolitik bewußt"). Christallers inegalitäre Vorstellung eines

"Bedeutungsüberschusses" der Zentren wurde übernommen und schlägt sich bis heute

in der sog. "Einwohnerveredelung" im Rahmen des Komunalen Finanzausgleiches

nieder: je größer eine Gemeinde ist, desto mehr Geld pro Einwohner erhält sie von

ihrem Sitzland. Einwohner der Peripherie - auch wenn dieser Begriff explizit nicht

erscheint - sind im Rahmen dieser Hierarchie weniger wertvolle Menschen. In der

Sprache der zuständigen Behörden sind sie nicht "veredelungs"-würdig. Und daran wird

sich den aktuellen Überlegungen zufolge vorerst auch nichts ändern. 14

In Art. 3 Grundgesetz heißt es dazu: "Niemand darf wegen [ ... ] seiner Heimat [ ... ]

benachteiligt oder bevorzugt werden." Noch schärfer läßt sich die Kritik an der Theorie

der zentralen Orte und ihrem Finanzausgleichskonzept kaum fassen.

1.5. Lateinamerika als "Peripherie"

Wieweit eine plural angelegte, mit Hardt~Negri zu sprechen: post-imperiale

Weltauffassung die symbolisch-politische Scheidung in Zentrum und Peripherien und

damit die Scheidung in wertvolle und weniger wertvolle Menschen mental und praktisch

überwinden kann, ist sowohl wie gezeigt auf der intra-nationalen wie auf der globalen

Ebene offen.

Eine solche Überwindung war die Intention der lateinamerikanischen Wissenschaftler der

50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts um die CEPAL (Comision Economica para

America Latina, der UN-Kommission für die wirtschaftliche EntWicklung Lateinamerikas).

Auf sie geht die Einführung des Begriffes "Peripherie" in die moderne

Wissenschaftssprache wesentlich zurück. Die wesentlichen Ansätze waren der

Strukturalismus der CEPAL mit den bei den herausragenden Vertretern Raul Prebisch und

Celso Furtado, die Dependenztheorie von Andre Gunder Frank und Rui Marini und der

historisch-strukturellen Ansatz von Fernando Henrique Cardoso und Enzo Faletto. 15

Indem sie ihre Weltregion als Peripherie wahrnahmen und analysierten (gemessen an

der sog. Ersten Welt, insbesondere den USA), zogen sie nicht nur die Abhängigkeit

Lateinamerikas von den USA, sondern auch umgekehrt den Einfluß Lateinamerikas auf die sog. Erste Welt in Betracht.

13 Ein aktuelles Beispiel aus Nordheinr-Westfa!en: ,.Ich erinnere in diesem Zusammenhang noch einmal daran,

dass bereits durch die Veränderung der Hauptansatzstaffel, d.h. die Veredelung der Einwohner in den großen Städten, eine Umverteilung von GFG-MitteJn zu Gunsten der Großstädte in Höhe von rd. 100 Mio.

Euro erfolgen wird. Als E~läuterung: Durch die Hauptansatzstaffef wird sicher gesteHt, dass z.6. der Bürger

in Köln bei der Mittelzuweisung des Landes nach dem GFG um 57 % besser bewertet wird [sie! H. v. m,,], als

z.8. die Bürgerin in Eitort. Die sieben Millionen Einwohner der 23 kreisfreien Städte erhalten künftig rd. 55

% der Schlüsselzuweisungen, während die elf MHlionen Einwohner der 373 kreisa~gehörigen Kommunen nur

45 % bekommen." Hermann-Josef Schmidt: Haushaltsrede der CDU-Fraktion Eitort für das HH-Jahr 2003 am 16.12.2002.

14 Efmar Dönnebrink: VerteHungsschlüssel im AnanzausgleicM vor dem Hintergrund der Neuordnung zum Jahr

2005, In: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung Hg., Informationen zur RaumentwickJun91 Heft 5 (Mai) 2003.

15 VgJ. aktuell Andreas Novy, Brasilien" Die Unordnung der Peripherie, Von der SklavenhaltergeseHschaft zur

Diktatur des Geldes. Wien 2001. Fener: Lehmann, David: Democracy and DeveJopment in Latirl America.

Economics, Politics and Religion in the PostPeriod. Cambridge 1990"

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 8

Aus Perspektive der underdogs sind auch die USA eine Art Peripherie, nur eben mit

umgekehrten sozialen Vorzeichen. Mathematisch gesprochen kreierten die genannten

Autoren eine Ellipse, deren beide Brennpunkte jeweils die Betrachtung des Ganzen aus

einer unterschiedlichen Perspektive erlaubte und damit die oben angesprochene

reziproke Interdependenz von Kreisbahn und Kreismittelpunkt auch im politischen Sinne

erfaßbar machte.

1.6. Von der "Peripherie" zum Stichwort "Peripherisierung"

Unter dem Einfluß sozialkritisch und der revolutionären Entwicklung Lateinamerikas

emphatisch verbundener Autoren ist seit Mitte der 80er Jahre der Peripherie-Begriff

auch in der deutschsprachigen Politischen Ökonomie heimisch geworden.'6

Symptomatisch für diese Schule ist, daß sie nicht von einer Zustandsbeschreibung

"Peripherie" ausgeht, sondern einen Verelendungsprozeß diagnostiziert, für den das

Nomen "Peripherisierung" Verwendung findet.

Sprachwissenschaftlich ist dieses Nomen ausgesprochen problematisch. Peripherisierung

ist ein Deverbativ, also ein aus einem Verb abgeleitetes Substantiv. Wobei dieses Verb

peripherisieren überdies nur fiktiv vorhanden ist. Dieses wäre seinerseits ein

Desubstantiv, also ein aus einem Substantiv abgeleitetes Verb, nämlich aus Peripherie.

Peripherisierung gehört mithin der (noch zu erfindendenden) Klasse der

Desubstantivdeverbativa an. Die sprachwissenschaftliche Betrachtung zeigt, konservativ

gesprochen, daß die Schule in der Tradition des Nominalismus steht.

Nach der sog. Samtenen Revolution in den Ländern Mittel- und Südosteuropas (MOE

bzw. MOEL) 1989 ff. hat die gleiche Schulel7 die weitere Entwicklung in den MOEL

während der 90er Jahre mit dem gleichen Stichwort "Peripherisierung" beschrieben'8,

15 u.a. Wallerstein, Immanuel (1986)" Das moderne Weltsystem. Kapitalistjsche Landwirtschaft und dje Entstehung der europäischen Weltwirtschaft im 16. Jahrhundert" Frankfurt.

Vgl. m weiteren Johan Ga!tung, u.a. in: Eurotopia. Die Zukunft eines Kontinents. Wien 199-3, sowie: Der

Preis der Modernlsierung. Struktur und Kultur im Weltsystem. Wien 1997. 17 Als Beispiele seien genannt:

Hofbauer, Hannes 1993: Die Ethnisierung des Sozia!en" Oie Transformation der jugos!awischen Gesellschaft

im Medium des Krieges, in: Materialien für einen neuen Antiimperialismus, Berlin.

Hofbauer, Hannes 1994a: Nationalismus als staatliche Modernisierungsstrategie, in: Ost-West­

Gegeninformationen 2f1994, Graz. HOfbauer, Hannes 1994b: Peripherer Kapitalismus in Osteuropa, in: Kritische Geografie (Hg,,), Alte Ordnung

- neue Blöcke? Polarisierung in der kapitalistischen Weltwirtschaft, Wien.

Hofbauer, Hannes 2003: Osterweiterung" Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration. Wien. Humme!, Diana 1993: Lohnende Geschäfte: Frauenhandel mit Osteuropäerinnen und der EG·Binnenmarkt,

in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 34/93, Köln"

Kom!osy, Andrea 1994: Reich - Staaten - Kolonien. Geschichte der europäischen Teilungen, in:

KomlosyjElsässer u.a" {Hg.), Krisenherd Europa. Nationalismus, Regionalismus und Krieg, Göttingen.

Zimmermann, Susan 1993: Oie "Suche nach freier Arbeitskraft": Nachholende Entwicklung und Frauenarbeit

in Ungarn, in: HasenjürgenjPreu6 (Hg.), Frauenarbeit. frauenpolitik in Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa, Münster.

18 Vgr. Michael Dauderstädt, ]örg Meyer-Stamer, Statt Sozialdumping: EJne StrategJe für einen "Standort

Europa". In: W. Lecher, U. Optenhägel, Wirtschaft, Gesellschaft und Gewerkschaften in Mitte!- und Osteuropa, Kö!n: Bund-Verlag, 1995

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 9

insbesondere in den Zeitschriften "Peripherie" " und "Prokla"20, etwa in Prokla 128 "Peripherer Kapitalismus in Europa" . 21 Dabei wurden Erfahrungen, beispielsweise mit

der maquiladora-Industrie22 im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko, auf die

Verhältnisse in den MOE-Ländern übertragen, hier auf die "Zwillingsbetriebsstruktur"

(twin-plant-Struktur) im deutsch-tschechischen Grenzbereich.

Als Beispiel für diesen Ansatz sei Dorothee Bohle23 von der Central European University,

Budapest, derzeit Harvard, genannt:

Im Gegensatz zu einem Großteil der EU-Forschung, die den Prozess der EU­

Vertiefung und Osterweiterung getrennt voneinander behandelt, liegt meiner

Analyse die Annahme zugrunde, dass die konkrete Form und die Ambivalenzen der

Einbindung MOEs sich nur aus einer Untersuchung des Zusammenwirkens der

vertieften regionalen Integration und des Erweiterungsprojektes erschließen

lassen. Beide Prozesse gehorchen einer gemeinsamen Rationalität: Sie sind das

Ergebnis eines neoliberalen Umbaus, der insbesondere von transnationalen

Kapitalgruppen mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen

Wirtschaftsraums in der Triade zu stärken, vorangetrieben wird. Diese beiden

Prozessen unterliegende Rationalität führt jedoch, wie ich im folgenden zeigen

werde, zu unterschiedlichen Ergebnissen. [ ... ] Insgesamt ist es der EU über die

1990er Jahre mittels einer Mischung von Peitsche (Macht und Konditionalität) und

Zuckerbrot (Mitgliedschaftsperspektive) gelungen, die osteuropäischen

Transformationsprozesse in wachsendem Maße zu beeinflussen. Dabei dehnte sie

die Kernbereiche der ökonomischen Deregulierung auf die MOE aus, während die

redistributiven Elemente des EU-Modells, bzw. Politikbereiche, deren Ausdehnung

den eingebetteten neoliberalen Konsens innerhalb der EU selbst gefährden

würden, ausgeklammert bleiben. [ ... ] Weniger deutlich fällt allerdings die

Unterstützung des European Roundtable of Industrialists ERT für die Ausweitung

der sozialen oder kompensatorischen Politiken auf die Beitrittskandidaten aus, und dies ist kein Zufall: Die Attraktivität MOEs beruht zum Teil jedenfalls gerade auf

den Unterschieden in sozialen und Umweltstandards zu Westeuropa. Eine Politik,

die zu stark die gesamteuropäische soziale Kohäsion fördern würde, könnte dieses

19 Selbstdarstellung: "Peripherie ist ein interdisziplinäres DiskusSionsforum für Entwicklung5theorie und

Entwicklungspolitik. Die Solidarität mit Emanzipationsbewegungen und sozialen Bewegungen in den Entwicklungsländern wie den Industrieländem ist ein wichtiges Motiv unserer Arbeit." (Verlag Westfälisches Dampfboot).

2Q Selbstdarstellung: "In der Zeitschrift Prokla werden seit 1971 Themen aus den Bereichen der Politischen Ökonomie, der Politik, Sozialgeschichte und Soziologie bearbeitet. Im Zentrum stehen dabei gesellschaftliche Machtverhaltnisse, Polarisierungen im internationalen System, das gesellschaftliche Naturverhältnis und die Transformation der osteuropäischen Gesellschaften." (Verlag Westfälisches Dampfboot).

21 Michael Dauderstädt, Jörg Meyer-Stamer: Statt Sozialdumping. Eine Strategie für einen "Standort Europa"

In: W. lecher, U. Optenhögel, Wirtschaft, GeseHschaft und Gewerkschaften in Mittel- und Osteuropa, Köln:

Bund-VerJag, 1995.

22 We!zmüller, R. (199Z): Lebensfeindliche Armutsgrenzen an den Nahtstellen der Weltmarktreg!onen.

Maquiladoras an der mexikanisch-amerikanischen Grenze. GewerkschaftUche Monatshefte, Jg. 43, Nr. 11, S.717- 26.

23 Dorothee Bohle: Europas neue Peripherie. Polens Transformation und transnationa!e Integration. Münster

2002.

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 10

Gefälle gefährden, und damit einen Teil der Standortattraktivität MOEs zunichte

machen. [ ... ] Die schwächeren Akteure des sozialen Blocks - Gewerkschaften und

die Eliten der peripheren EU Staaten bringen der Erweiterung insgesamt nur eine

lauwarme Unterstützung entgegen. [ ... ] Es wäre natürlich verkürzt, diese

semiperipheren Charakteristika allein der EU-Politik gegenüber MOE anzulasten.

Diese sind vielmehr das Ergebnis einer Kombination struktureller und

gesellschaftlicher Hinterlassenschaften des Sozialismus, einer neuen Orthodoxie in

der entwicklungspolitischen Theorie und Praxis, sowie der Integration als late

comer in eine gesamteuropäische Arbeitsteilung. [ ... ] Die "Rückkehr nach Europa",

die gleichbedeutend ist mit der EU-Mitgliedschaft, bildete daher nicht nur einen

weiteren externen Anker für interne Reformen, sie liefert den osteuropäischen

Gesellschaften auch eine ideologische Grundlage, die sie über lange Zeit auch die

Härten der neoliberalen Transformation erdulden ließ. [ ... ] Die größte Schwäche

des neoliberalen Projektes ist, dass es einerseits zunehmende Ungleichheit

innerhalb und zwischen Staaten produziert, und gleichzeitig die Formulierung

transnationaler Solidarität, die allein ein Minimum an sozialer Kohäsion im erweiterten Europa garantieren würde, verhindert. 24

Bohle stellt abschließend fest:

Insgesamt ist der linken nicht gelungen, ein Gegenprojekt gegen die neoliberale Rückkehr nach Europa zu formulieren. 25

was freilich für die Rechte in weit stärkerem Maße gilt. 2627

1.7. Insularite, maritimite, Periphericite

Im Deutschen ist der Begriff "Peripherizität" nur marginal und gänzlich außerhalb der politischen und sozialwissenschaftlichen Debatte zu finden;2. in den Dokumenten des

Deutschen Bundestages taucht er nicht aue9

24 Dorothee Bohle: Erweiterung und Vertiefung der EU. Neoliberale Restrukturierung und transnationales Kapital. In: PROKLA 128 Peripherer Kapitalismus in Europa (September 2002).

25 Dorothee BOhle: Erweiterung (VgL Fußnote 24)"

26 Vgl. als Beispiel für den Geist der entsprechenden Beiträge: Afeksandr Dugin: Ot sakral'noy geografil k

geopolitike. In: E!ementy n. 4. , Moskau 1996. Auch als: Kapitel 7 in: Misteri! EvrazU, Moskau 1996. VgL

eurasis.com.ru: "The Constituent congress cf the pan-Russian Social-Political Movement EURASIA took place

on April 21, 2001 in Moscow. The leader of movement is AJeksandr Dugin, director of the Centre tor

Geopolitical Expertise (consultative advisory entity on the issues of national security}f advisor of the Chairman of State Duma, founder of the Russian modern geopolitical scheel and theorist Qf neo-eurasism

[ ... ] As Dugln sald, the initial aim of the movement is to assess a world-view: the diffusion of the Eurasist idea in the society. According to Dugin, «Eurasism ls exactJy that national idea which serves the interests af al! ethnos, cu!tures and peop!es of Russia»."

UCSJ-Meldung, 24.03.03: "Alexander Dugin, Führer der Partei "Eurasia", ist in der Komsomolskaja Pravda sichtlich erfreut darüber, dass sich RUSSland total vam Antiamerikanismus mitreißen lässt. Russische Konservative würden die Vereinigten Staaten wegen des Ubera([smus und der G!obalisierung, die sie vertreten, verachten, sagte Dugin."

27 Zu den sozialistischen Positionen vgJ. die website http://www.sopos.arg. 28 Nämlich im Zusammenhang der Altgriechischen Grammatik bei Drassard, W.: Kasusmarkierung und

Zentralität von Partizipanten II: Differentielle Initianten- und Betreffenenkodierung bei Peripherizität und Peripherisierung', AKUP 72,1988.1-28.

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 11

In Frankreich, Italien, Griechenland, Spanien sowie der EU jedoch haben sich

"perifericite", "perifericita" und "perifericity" im Lauf der letzten drei Jahrzehnte zu

einem der zentralen politischen Schlagwörter entwickelt. Der Begriff "Peripherizität" exemplifiziert geradezu die gelegentlich zu hörende Behauptung von der mangelnden

Teilhabe der deutschen Politik an europäischen Entwicklungen.

Sprachwissenschaftlich handelt es sich hierbei (im Gegensatz zu dem oben behandelten

Begriff der Peripherisierung) um eine konsistente Neubildung. Gemäß den Grundsätzen

der charta latinitatis wäre der hybride, also auf griechischer Wurzel eine (neu)lateinische

Form bildende Term peripherisatio denkbar. Wie das Substantiv Klugheit aus dem

Adjektiv klug entwickelt wurde, so hier das Substantiv periFericite aus dem Adjektiv

peripher. Im Deutschen wäre es je nach Zusammenhang u.a. mit Abgelegenheit wiederzugeben.

Ausgangspunkt waren einerseits die Bretagne mit ihren Küsten, anderseits Griechenland

mit seinen Inseln. Am 22. Januar 1972 unterzeichneten Dänemark, Irland, Norwegen

und das Vereinigte Königreich die Verträge über den Beitritt zu den Europäischen

Gemeinschaften. Dies löste in der französischen Provinz massive Ängste vor einer

Verlagerung der politischen Prioritäten zu ihren Lasten aus. Als Antwort auf die EU­

Erweiterung von 1972 gründete sich 1973 in St. Malo die "Conference des Regions

Peripheriques Maritimes d'Europe", der zwischenzeitlich 149 Regionen aus 27 Staaten

Europas (und darüber hinaus) angehören; die westdeutschen Küstenregionen haben sich

im Unterschied zu Mecklenburg-Vorpommern nicht angeschlossen. In den Worten des

französischen Ministerpräsidenten Jean Pierre Raffarin:3o

Je suis attache aux valeurs que porte la CRPM. La CRPM a fait exister en Europe le

concept de periphericite. II faut se battre sur ce concept. Au moment ou l'Europe

definit sa nouvelle geographie, la periphericite est un element de notre identite,

gens de I'Ouest. Elle est tres importante, et pour la France et pour l'Union

europeenne. Periphericite, mais aussi maritimite, parce que trop souvent, la

France, comme l'Europe, ont tourne le dos aleurs oceans et aleurs mers. Et je

crois qu'iI est tres important de considerer I'ocean, de considerer la mer, de

considerer I'ultra periphericite, de considerer le phenomene insulaire comme des

caracteristiques identitaires, et de la France, et de l'Europe.

Den peripheren Regionen nicht länger den Rücken kehren; Raffarin formuliert hier

bildkräftig ein politisches Programm, in das auch die 1983 partiell vollzogene

"Decentralisation" ebenso wie die immer von neuem mißglückende Befriedung Korsikas

gehören. Noch drastischer über den Verlust der historischen Führungsrolle Frankreichs,

und damit über den eigentlichen Antrieb der französischen Peripherie-Politik, äußerte

sich der gleiche Raffarin am 18. November 1997 vor dem französischen Senat:

29 In den Dokumenten des Deutschen Bundestages findet sich der Begriff kein einziges Mal.

Unter Verweis auf die 0.9. Zeitschrift "Prokla" [vgL oben Fußnote 20] gibt es einmal eine Erwähnung des Begriffes "Peripherisierung" bei Jan DerheYI Die Entwicklung der Lebensqualität nach dem EU-Beitritt. Lehren

für die Beitrittskandidaten aus früheren Erweiterungen. Aus Politik und Zeitgeschichte. Nr. 1 - 2 (4., 1l. Januar 2002).

Der Begriff "Peripherie" erscheint 72mal in unterschiedlichen Kontexten. (Stand 29.12.2003)

30 http://www.france.diplomatle.frjactu/bul!etln.asp?!iste=20030912.htrn!.

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 12

A cet egard, iI faut bien prendre conscience de la transformation de la geographie

europeenne qui va d,kouler de I'elargissement de l'Union. Dans l'Europe des Six,

la France etait au coeur de l'Europe. Lorsque l'Union comptera vingt, vingt-cinq ou

trente membres, l'Europe de l'Ouest sera une peripherie de l'Union et nous, nous

serons la peripherie de la peripherie.

Die Spartaner hatten, wie eingangs zitiert, ihre Periöken zumindest noch als

Stammesgenossen wahrgenommen. Liest man Raffarin zum zweiten- und zum dritten

Mal, wird unklar, ob aus der französischen Binnenperspektive die Beitrittskandidaten

noch als Stammesgenossen bezeichnet werden können oder ob es sich eher um die

Vorhut der Tataren handelt.

Auf der Ebene der Europäischen Union hat Peripherie-Politik in der Zwischenzeit als

politisches Problem durch die Begriffe der "semiperipheren", "peripheren" und

"ultraperipheren" Gebiete sowie durch Programme wie LEADER+ (Liasisons entre actions

de developpement de I'economie rurale) Einzug gehalten hat. Paradoxerweise werden

die letzteren zu wichtigen Teilen von der gleichen Bundesrepublik Deutschland

finanziert, deren Inlands-Politik von umgekehrten Prämissen ausgeht (vgl. oben).

Ebenfalls hat etwa die italienische Sozialwissenschaft die "perifericit,," in Ihr Vokabular

aufgenommen." Ähnliches gilt für die wissenschaftliche Unterstützung von

Entwicklungshilfeprojekten. 32

Dafür mitentscheidend war die Aufnahme Griechenlands in die EG im Jahre 1981. Nicht

weniger als 15% seiner Einwohner leben auf Inseln, die 19% des griechischen

Territoriums bilden. Dies ist nur vergleichbar mit Italien, dessen beide große Inseln

Sizilien und Sardinien jedoch autonome Provinzen bilden. Hier entscheiden die

Regionalparlamente über Annahme oder auch Nicht-Annahme der staatlichen Gesetze

entscheiden, sie bilden mithin Mesozentren eigener politischer Kraft. Ähnliches gilt

(abgesehen von Kreta) für Griechenland nicht, obschon durch die Gründung dreier

Regionaluniversitäten erhebliche intellektuelle Bewegung in die Randzonen des Landes

gekommen ist.

Das Problem Griechenlands, den restlichen EU-Mitgliedern seine insular bedingten

Schwierigkeiten und Sonderprobleme deutlich zu machen, illustriert die Studie "The time

of the lslands. The ease of the Aegean Archipelagos". John Spilanis und A. Troumbis von

der University of the Aegean Sea führen hierin aus:

In addition to periphericity, a characteristic of the vast majority of islands - given

that they are located far away from the headquarters where decisions concerning

financial and political issues are made and far from the urban centres - the

element of physical isolation as a result of geographie discontinuity also exists. In

the case of island groups, small islands face "double insularity", serving as

31 Vgl. beispielsweise VinceJ1zQ Antonino Bova: Perifedcita e globaJjzzazione. La condizione giovanfle in una comunita deI Mezzogiorno, Quadern! deI CERDIGI, Universita deUa Calabria, 2001.

32 Paola Minoia, UniversitB di Padova: Hydraulic territoriality in the northern region cf Sudan: From the water

for the soc!ety ta the water for the state. Akten des Fourth European Seminar on Geopgraphy of Water.

Cagliari, 4 - 11 September 1999: Conflicts on water use in the Mediterrean Area. Universities cf Cagliari, FUL, Linköoping, Lisboa, Mainz, MontpeHier, Paris 1, Padova, Praha, Sevilla, Rabat, St Etienne, Udine.

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 13

satellites for the larger islands within the multitude of european archipelagos (e.g.

Azores, Cyclades, Dodecanese, Ionian islands, Western Isles, Orkney, Guadeloupe,

Balears). A combination of the above leads to increased costs [ ... ].

The above analysis points out some of the constraints which islands have acted

under during the past decades and which have lead them to economic, social,

political and cultural marginalisation. This is due to the fact that the development

model which has dominated the 20th centurv is based on characteristics which are

the opposite of those of islands (high population concentration. large-scale production)'3 [H. v. m.].

Recht besehen, gilt letztere Feststellung auch für die Länder Mittel- und Südosteuropas,

auch wenn in der Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung der Länder Mittel- und

Südosteuropas die Stichworte "Peripherie" oder "Peripherisierung" nach unserer Kenntnis kaum Anwendung finden. 34

Die Studien zum Agäischen Archipel und anderen insularen Phänomenen sind cum grane salis ein mögliches Modell für eine nüchterne Betrachtung des EU-Beitritts der MOEL.

"Peripherizität" ist hierfür ein möglicher Untersuchungsansatzpunkt.

1.8. Peripherizität als Impetus für neue wissenschaftliche Perspektiven

Wirtschaftliche und politische Ungleichheit ist primär kein ideologischer Befund, sondern

eine empirische Tatsache. Ihre Behebung ist Aufgabe der Politik, in Deutschland durch

Art. 72 Grundgesetz Pflicht der Politik. Hilfestellung hierbei leistet ihr die Wissenschaft

von der Nationalökonomie, wobei sich seit den 50er Jahren zwei Theoriebildungen recht

diametral gegenüberstehen. Die neoklassische Konvergenz-Hypothese ausgehend von

Solow (1956)35 gibt eine optimistische, die Kumulations-Hypothese ausgehend von

33 The time cf the Islands" The case of the Aegean Archipelagos" Sdentific Documentation: Dr. John Spilanis,

University of the Aegean Sea. Cooperation: Assistant Professor A. Troumbis, University of the Aegean Sea"

The Study was conducted in 1997 in view of the amendement of the Treaty of the Eurepean Union with the

scope to achieve an inc!usien favourable for the insular regions.

34 Derzeit einzig greifbare Ausnahme ist ein Aufsatz eines ungarischen Wissenschaftlers, den er allerdings im

Rahmen eines Forschungsaufenthaltes bei der Nato-Akademie verfaßt hat. 5ecurite dans la region

mediterraneenne - securite en Europe centrale" Bourse de recherche individuelle de j'OTAN et du Partenariat

Euro-Atlantique 1999 - 2001. Professeur NAGY Laszlo, Universib~ de Szeged (Hongrie).

Anders verhält es sich in Rußland" Teil der derzeitigen Selbstwahrnehmung ist eine angenommene

Semiperipherle in amerikanischer Perspektive, ein mit China und Indien geteiltes Schicksal.

Auf die Grenzregion Polen-Ostdeutschland angewandt wurden das Stichwort "Peripherisierung" vom leibniz­

Institut für Regiona!entwicklung und Strukturplanung Erkner bei Berlin, allerdings ohne den Hintergrund eines größeren forschungsvorhaben.

Originell ist ein nicht von der Universität Greifswald institutionell, sondern von deren Fachschaftsrat

angebotenes Sokrates-Intensivprogramm "Europäisierung - Peripherisierung", das nunmehr ins dritte Jahr geht. In einem vöHig anderen Kontext wurde der Begriff für die Beschreibung Graubündens und seiner

rätoromanischen Minderheit verwandt,

Daß der Begriff Peripherie im Westen bei den sich selbst aus der Gesellschaft Exkludierenden eine positive

Konnotation angenommen hat, zeigt seine Verwendung als Platten label.

3$ So(ow R. (1956): A contribution tc the theory of economic growth. Quarterly Journal of Economics, 70(1): 101-8.

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MITTE EUROPAS 14

Myrdal (1957)36 gibt eine pessimistische Einschätzung für die Möglichkeit der Behebung

von Ungleichheit zwischen Regionen durch Wachstum.

Dieser ungeklärte Streit ist kein akademischer, da die Wirtschaftspolitik insbesondere

der führenden Industrieländer ihre praktischen Handlungen jeweils an einer der Theorien

festzumachen gezwungen ist. Von besonderem Interesse ist es daher, zu beobachten,

welche Position Vertreter jener Regionen beziehen, die sich ihrer Peripherizität im

europäischen Maßstab bewußt sind. Zwei griechische und ein spanischer Wissenschaftler

haben kürzlich (Mai 2003) an der london School of Economics eine Studie zu den

theoretischen Annahmen und Methoden über "Growth, integration and regional

inequality in Europe" vorgelegt: George Petrakos (University of Thessaly), Andres

ROdrfguez-Pose (lSE) und Antonis Rovolis (Harokopio University Athene):37

With the use of a SURE model and time-se ries data for eight European Union (EU)

member-states, we test directly for the validity of the two competing hypotheses.

[ ... ]

The majority of the existing convergence analyses, due to the inherent

shortcomings mentioned earlier, have been unable to incorporate in a model these

two competing hypotheses and to test directly for their validity. Some questions

thus still remain largely unanswered. Are advanced countries bound to experience

over time decreasing levels of inequality, as the Ne model and Williamson claim?

Are economic cycles a driving force of inequality, as Berry argues? Are the two

seemingly opposite views compatible? Do changes in the external environment,

such as the process of EU integration, have an impact on the direction and the

level of inequalities?

We aim to answer these questions by constructing a general model of regional

inequality, growth and integration, which is presented in equation:

rit = f(g it Y it, S it), fg>O, fy<O, fs><O (4)

i = 1, ... , N (countries)

t = 1, ... , T (time)

The dependent variable of the model (r) is a measure of regional inequality within

each country i, over a time period t. The first independent variable (g) measures

national GDP growth rates, the second (y) measures GDP per capita and the third (5) is a measure of national integration within the group of countries under

consideration.

According to our hypothesis, an economic cycle driven process of regional

inequality implies, ceteris paribus, that higher national growth rates will result in a

higher level of regional inequality (fg>O). This means that, in the short-to-medium

36 Myrdal, G. (1957): Eco-no-mic theory and underdevetoped regions. Hutehinson.

37 George Petrakos, Andres Rodrfguez-Pose, Antonis RovolJs : Growth, integration and regional inequallty in

Europe. London School of Economics, Research papers in EnvironmentaJ and Spatial Analysis, Nr. 81. May

2003.

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 15

term, market processes will (at least initially) trigger cumulative effects, bringing about greater inequality}B

Die Autoren schlußfolgern:

We [ ... ] account for changes in the external environment, such as the role of

European integration on the level of inequalities. Dur findings indicate that both

short-term divergence and lang-term convergence processes coexist. Regional

inequalities are reported to follow a pro-cyclical pattern, as dynamic and

developed regions grow faster in periods of expansion and slower in periods of

recession. At the same time, significant spread effects are also in operation, partly

offsetting the cumulative impact of growth on space. Similar results are obtained

from the estimation of an intra-EU model of inequalities at the national level,

indicating that the forces in operation are independent of the level of aggregation.

Our findings challenge the conventional wisdom in the European Commission

about the evolution of regional inequalities [ ... }.39

Auf der Meta-Ebene ist diese Untersuchung ein Beleg für die Hypothese, daß

Peripherizität, ganz im Sinne der oben erwähnten vierten Definition, zu Offenheit zwingt.

Ganz entgegen den gängigen Minderheiten-Stereotypen sind Minderheiten zwar in der

Regel nicht bevorzugt, wohl aber oft bevorteiligt, einerseits durch Bilingualität sowie

Bikulturalität, die ihnen zusätzliche Perspektiven öffnen, andererseits durch die

Notwendigkeit besonderer Anstrengung, um die fehlende Bevorzugung aus eigener Kraft

zu überwinden. Man könnte von einem intrinsischen Antidot sprechen.

Vor dem Hintergrund dieser Hypothese sollte eine seriöse Situationsanalyse der mitteI­

und osteuropäischen Länder nicht aus einer (hemgebundenen) Erste-Welt-Perspektive

geschehen, sondern eine Vielzahl weiterer Faktoren berücksichtigen.

1.9. Peripherizität als Leitdifferenz der Soziologie

Peripherie bzw. Peripherisierung stellen in Urbanistik bzw. Stadtsoziologie seit langem

eine wichtige Größe dar, etwa bei Edward Soja40• Aldo Legnaro führt zur neoliberalen

Urbanität aus:

Für Stadtpolitik hat dies konkrete Folgen: Es erzwingt die Bereitstellung eines

kommunikativen Umfeldes mit Erlebnisqualität, in dem sich gestylte Eleganz,

inszenierte Coolness und architektonisch möglichst singuläre Auffälligkeiten

verbinden. Das wiederum führt dazu, dass ganze Stadtviertel ihren hergebrachten

Charakter einbüssen und spezifischen Prozessen des Wandels ausgesetzt werden,

die man stadtsoziologisch Gentrifizierung genannt hat. Gentrifizierung wird ja

immer mit der «Aufwertung» von Stadtteilen in Verbindung gebracht und

38 Petrakos e.a., lL 39 Petrakos e.a., l.

40 Soja, E.W. Postmodern Geographies: The Reassertion of Space in eritieal Social Theory. Landon, 1989. Soja,

E"W. Thlrdspace: Journeys to Los Angetes and Other Real-and-lmagined Places. OXford, 1996. Scott, A.J and E.W. Sojaj eds. The City: Los Angeles and Urban Theory at the End of the Twentieth Century. Berkeley,

1996. Soja, E.W, PostmetropolIs: eritieal Studies cf eities and Regions. Oxford, 2000"

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 16

überträgt in einer unglücklichen Analogie einen Terminus, der ursprünglich den

englischen Landadel bezeichnete, auf die neuen urbanen Dienstleistungsschichten,

die sich vorzugsweise in Gegenden ansiedeln, die gerade als schick gelten. Solche

Prozesse haben die Stadtentwicklung in allen mitteleuropäischen Städten in den

letzten fünfzehn Jahren bestimmt. Durch diese zweite Restrukturierung und die

Notwendigkeiten, die im Rahmen der Konkurrenz zwischen Städten ausgelöst

werden, können sie eine neue Dynamik gewinnen.41

Was aber ist mit Regionen, die von dieser Dynamik abgekoppelt sind? Muß man sich -

jenseits aller zweidimensional geographischen Bestimmungen von "Zentrum und

Peripherie" - nach den shrinking cities nun auch in den shrinking regions auf eine "De­

Gentrifizierung" einstellen, wenn die mobilen Kräfte abwandern und nur mehr die

immobileren verbleiben? Was die Soziologie für die Verhältnisse innerhalb von Städten

feststellt, gilt dies bald auch für ganze Regionen, die von der Peripherisierung erfaßt

werden?

Die französische Diskussion arbeitet in diesem Zusammenhang mit dem Begriff

«exclusion» , und solche Exklusion hat Luhmann bereits zur Leitdifferenz der

Zukunft ausgerufen. Die Exkludierten sind dabei schon terminologisch die

Abgekoppelten und Entkoppelten. Ihr sozialer Ausschluss charakterisiert sie als

eine Bevölkerungsgruppe, die ökonomisch wie sozial und politisch nicht mehr nur

marginalisiert ist, sondern sich jenseits der gesellschaftlichen Prozesse befindet und für diese völlig entbehrlich ist.'2

Ansätze einer geschlossenen geographischen Innovations~Diffusions-Theorie entwickelte

der schwedische Forscher Torsten Hägerstrand in "The Propagation Of Innovation

Waves" (1952). Die zentrale Frage, die er stellte, ist die nach den Gesetzmäßigkeiten

der räumlichen Verbreitung von Neuerungen. Sein methodisches Ziel war es, den

Diffusionsprozess mithilfe mathematischer Modelle in Form von Computeralgorithmen so

realitätsnah wie möglich darzustellen und zu simulieren.

Wie aber verhält es sich mit Hägerstrands innovation waves in Regionen, die - um

diesen Ausdruck nun doch zu verwenden - eine "Peripherisierung" gerade durchleben?

41 Aldo Legnaro, Hamburg: Stadt, Ordnung, Macht. Anmerkungen zur neoliberalen Urbanitat. In: «INPUT».

Mitgliederzeitschrift der Schweizerischen Gewerkschaft Bau & Industrie. Dossier Nr, 1: «Städte: Stadt, Ordnung, Macht»-, März 2003.

42 Legnaro (siehe Fußnote 41)"

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 17

II. Zur Phänomenologie der Provinzialität

"Ja - dürfen s' denn das?", soll Kaiser Ferdinand der Gütige - im Volksmund als

"Gütinand der Fertige"" apostrophiert - den Ausbruch der Revolution 1848 kommentiert

haben; ein in Österreich gerne und häufig zitiertes Aper~u zum Verhältnis von Macht

und ihren Kritikern. Und in der Tat: eine provincia im altrömischen Sinne, eine

Amtszuständigkeit von Staats wegen, hatten die Märzrevolutionäre natürlich nicht.

Ihnen ging es ja gerade um jene Zuständigkeit von Volkes wegen, die Metternich bei

seiner erzwungenen Abdankung in die süffisanten Worte fassen sollte: "Ich trete vor einer höheren Gewalt zurück, als die des Regenten selber ist".44 Doch nach dem

hoffnungsvollen Beginn mit einem revolutionär-demokratischen "Zentralkomitee" der

Bürger und der Studenten im März 1848 erließ des Kaisers Neffe und Nachfolger Franz

Joseph 1. im März 1849 eine zentralistische Verfassung.45 Daß sie nicht in Kraft trat, und

recht besehen die Verfassungsgeschichte Österreichs bis heute eine Geschichte der

Unordnung geblieben ist, ist eine andere Geschichte.

Bleibende Wirkung jenseits des Verfassungsstreites jedoch entfaltete das Kaiserliche

Patent vom 17. März 184946 über ein provisorisches Gemeinde-Gesetz mit dem

Grundgedanken: "Die Grundfeste des freien Staates ist die freie Gemeinde".47 Als

historische Einsicht und aus theoretischer Sicht sollte dies später Hugo Preuß (1860 -

1925), der nachmalige Vater der Weimarer Verfassung, formulieren: "Die mittelalterliche Stadt ist die Keimzelle des modernen Staates; [ ... ] Der tragende

Grundgedanke des modernen Staatswesens: die korporative Organisation der

Bevölkerung auf der territorialen Grundlage des Gebiets nimmt zuerst in der

Stadtverfassung feste Gestalt an."" In die politische Wirklichkeit aber überführte die

Gemeindefreiheit - weit schärfer als die Preußische Städteordnung (1808) des Freiherr

vom Stein - der Urheber des provisorischen Gemeinde-Gesetzes Franz Graf Stadion

(1806 .., 1853).49 Als kaiserlicher Statthalter in Galizien während der Bauernaufstände

43 Kaiser Ferdinand I. von Österreich (1793 - 1875, reg" 1830 [König} bzw" 1835 [Kaiser] -1848. danke

zugun5ten seines Neffen Franz Joseph ab) litt an Gehirnwassersucht (Wasserkopf) und epileptischen

Anfällen. Trotz offenkundiger Regierungsunfähigkeit übernahm er 1835 den Thron. Um seine Behinderung

zu kaschieren, titulierte ihn der Wiener Hof als "Ferdinand der Gütige", was der Volksmund zu ~,Gütinand der

fertige" ummünzte. VgL Gerd Holler: Gerechtigkeit für Ferdlnand. Österreichs gütiger Kaiser. tvtünchen,

1985. Interessanterweise wurde zeitgleich auch Sachsen von einem gütigen regiert: Anton der Gütige (1755 -

1836, re9 .. 1827 - 1836) 44 Zit. nach EmU Niederhauser: 1848. Sturm im Habsburger Reich" 5zeged, Wien, 1990. 5" 43. 45 Zu den QueUen vgL das DfG-Editionsprojekt Horst Dippe!, Universität Kasse!: Die HerausbUdung des

modernen Konstitutionalismus. Edition der Verfassungen 1776-1849. htto://www.modern-constitutions.de. 46 RGBI. 1849/170. 47 lbid.

48 Hugo Preuß: Die Entwicklung des deutschen Städtewesensr Band 1. Berl1n 1906, S. 5.

49 Vg!. Jirr KJabouch, Die Gemeindeseibstverwaltung in Österreich 1848-1918. München/Wien, 1989" Idem, Die

Lokalverwaltung in Cisleithanien. In: Die Habsburgermonarchle 1848-1918, Bd. II., Verwaltung und

Rechtwesen. Wien, 1975. Jan Janak, "-Uzemni samosprava," in: J. Janak a Zd. Hledikova, Dejiny spravy v

ceskych zemfch do roku 1945. Praha, 1989. Frantisek Roubfk, Vyvoj spravnfho rozdeHenf Cech v letech

1850- 1868. Sbornik archivu mini5terstva vnitra, sv. XII. PrahaJ 1939. Zur aktuellen literatur vgl. Shlnohara

Taku: Communal Autonomy as a Base of CiviJ Society: Local PolitiCs and the BuHding of National Cu/ture In

MAlTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 18

von 1846 sah er sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, ein Konzept zur Ablösung der

patrimonialen Herrschaft auf dem Lande zu etnwickeln. Nun, als neuernannter

kaiserlicher Innenminister, suchte er den Gedanken eines wahrhaft dualen Systems auf

das ganze Reich zu übertragen. Modern gesprochen, handelte es sich dabei im Kern um

die Durchdringung von bottom-up-Prinzip und top-down-Prinzip. Während die

republikanische wie die kaiserliche Verfassung noch von Kronländern sprachen, sah er

diese als Teil eines vierstufigen Aufbaus der Selbstverwaltung; gegliedert in Gemeinde-,

Bezirks-, Kreis- und Landesselbstverwaltung. so Umgekehrt waren ihm nun die einzelnen

Teile des Reiches nicht mehr eigenstaatliche Gebilde ererbter Dignität und partikularen

Rechtes, die durch die habsburgische Erbgeschicklichkeit locker zu einem Reich gefügt

waren. Vielmehr waren sie ihm Provinzen eines Gesamtreiches, in das der Kaiser seine

Statthalter entsenden sollte. Daß er hier eigene Erfahrungen als kaiserlicher Statthalter

aus einem gerade erst zu Österreich gekommenen Reichsteil, eben Galizien ohne

sonderliche Eigenstaatstradition, auf Regionen mit teils tausendjähriger Eigentradition

und entsprechenden Beharrungskräften übertrug, ist einer der Gründe, warum nur seine

Gemeinderefom, nicht aber sein Reichsreformkonzept zum Tragen kommen sollte.

Gleichwohl mutet es außerordentlich modern an, wie hier eine gesamtstaatliche

Befriedung als Gleichgewicht zweier konträrer "Pfadabhängigkeiten", wie es heute in der

politischen Soziologie heißt, ins Auge gefaßt wird. Eben darum kreist ja die aktuelle

innerdeutsche FöderalismusdiskussionS1 ebenso wie die europäische

VerfassungsdiskussionY Frei nach Ferdinand dem Gütigen könnte man als Überschrift

über diese Diskussionen schreiben: "Ja - sie dUrfen's denn!"

In unserem Zusammenhang ist interessant, wie Graf Stadion gewissermaßen den

zweiten römischen Provinz-Begriff aufgegriffen hat: den eines dem Reich inkorporierten,

in wesentlichen Teilen jedoch selbständigen Gebietes. Als die römischen Kaiser dazu

übergingen, nicht mehr die Provinzen zu verpachten, sondern ihre Statthalter zu

besolden und das Strafverfahren gegen Erpressungen zu verschärfen, da wurde die

ProvinZialverwaltung - mit dem großen Wort von Ulrich Kahrstedt - die "sauberste und

anständigste, die bisher in der Regierung großer Gebiete verwirklicht worden war".53

Bohemia in the Nineteenth Century. In: Proceedings of the 2002 Summer Internationa! Symposium "Construction and Deconstruction of National HistorJes in SI,lVlc Eurasia"" Slavic Research Center (SRC), Hokkaido University.

so Aus Gründen histOrischer Gerechtigkeit sei hier an das andere, das politisch denkende Preußen erinnert:

"Bei der Lektüre von Dreyers Opus magnum habe ich mich daran erinnert, was mir schon mein erster Lehrmeister, Hermann Schäfer, vermittelte: Die liberale Politik täte gut daran, mit Preuß und seinen Vorgängern, voran Otto von Gierke, den Grundgedanken des Preußischen politischen Denkens auf sejne

Verwertbarkeit heute sorgfaltig abzuklopfen, nämlich die genossenschaftliche Selbstverwaltung." Barthold C. Witte: Michael Dreyer: Hugo Preuß. Biographie eines Demokraten. laudatio :zur Verleihung des Wolf-Erich­

KeUner~Prejses 2003- amiS. Oktober 2003 in der Theodor-Heuss-Akademie Gummersbach.

51 Vgl. Gerhard Lehmbruch: Bundesstaatsreform als Sozia!techno!ogie? Pfadabhängigkeit und

Veränderungsspielräume im deutschen Föderalismus. In: EuropäIsches Zentrum für Föderalismus-Forschung

Tübingen r Hrsg' r Jahrbuch des Föderalismus 2000: föderalismus, Subsidiarltät und Regionen in Europa.

Baden-Baden 2000, 71-93.

52 Vgl. zur laufenden Debatte das Forschungsprojekt "Welche Verfassung braucht Europa? - Gestaltungaufgabe

einer Ordnung durch und für die Europäische Union". Institut far Europäische Politik Berlin, 2001 ff. 53 U!rich Kahrstedt, Kulturgeschichte der römischen Kaiserzeit. Bem 21958, 52. Zit" nach Hans Volkmann,

proviniCia. Der Kleine Pau/y, Bd. 4, München 1979, Sp. 1199 - 1201.

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 19

"Kulturelles und religiöses Leben blieb unangetastet, die Verleihung des römischen

Bürgerrechtes an die Oberschicht und des Stadtrechts der Munizipien und Kolonien an

Provinzgemeinden, die Verschmelzung örtlicher Rechtssätze mit dem römischen Recht

zu einem Reichsrecht förderten die Romanisierung."54 Im französischen und englischen

Sprachkreis ist die hier zum Vorschein kommende regionale Besonderheit bis heute die

Hauptbedeutung von province, provincialism etc. 55 Provincial ist beispielsweise ein Wort,

das nur in einem bestimmten Gebiet erscheint.

Anders im Deutschen: hier ist Provinz ein Schimpfwort, proVinziell ist ein anderer

Ausdruck für rückständig, dem Geist der Zeit nicht hinreichend aufgeschlossen. Dem

antiken Athener hießen solche Leute Böotier; Karl Marx heißen sie Bayern: "Österreich

schützt das Vaterland gegen die russische Invasion, indem es Galizien, Ungarn, die

dalmatinische Küste und Mähren besetzt hält und die Donaufürstentümer zu okkupieren

beabsichtigt, [ ... ) Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß diese Theorie außerhalb

der Grenzen Österreichs von niemandem begrüßt wurde mit Ausnahme von einigen

bayrischen Krautjunkern, deren Anspruch, die deutsche Zivilisation zu repräsentieren,

ebenso wohlfundiert ist, wie jener der alten Böotier, die Repräsentanten des griechischen Genius zu 5ein.\\56

Manche meinen, diese Auslegung des Begriffes Provinz sei älter und ginge auf Blaise

Pascal und seine "Lettres provinciales" zurück. Dies ist jedoch möglicherweise57 ein

Irrtum, da dieselben unmittelbar im Konflikt zwischen Jansenisten und Jesuiten an der

Pariser Sorbonne eine jansenitische Position beziehen. Wenn auch der Adressat von Pascal nicht genannt wird (ebenso wenig wie der Autor erscheint), so wäre eine

Adressierung an einen Nicht-Pariser Jesuitenoberen logisch. Und da die Societas Jesu

ihren Orden in regionale Provinzen unter Leitung jeweils eines Provinzials aufgeteilt

hatte, so wären die "Lettres provinciales" eben an einen üesuitischen) Provinzial adressiert.

Nein, die "böotische Lesart" des Begriffes Provinz ist deutsch. Sie findet sich bei Gauß

mit seiner Furcht vor dem "Geschrei der Böotier" (1829)58 und bei Bundeskanzler

Gerhard Schröder (2002): "Ihre Kirchturmspolitik verstellt einigen Ministerpräsidenten

den Blick; eine nationale Perspektive haben sie nicht, sonst würde sie der

Gesamtzustand der Schulen in Deutschland nicht dermaßen kalt lassen.',59

Diese Lesart geht wesentlich auf die Geistes- und Machtkämpfe des frühen 19.

Jahrhunderts zurück. Im persönlichen Umkreis des schon erwähnten Metternich war

54 Hans Volkmann (Fußnote 53), Sp. 1200.

55 Provinciallty wiederum hat eine analoge Konnotation wie das deutsche Provinzialität, nur eben ist dies ein

Nebenspektrum.

56 Karl Man<: ore Kriegsaussfchten in Preußen. Berlln, 15. Marz 1859" Erschienen in: New-York Daily Tribune,

Nr" 5598 vom 31. März 1859. Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. Berlln. Band 13, 7" Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, BerlinjDDR. S. 280~283. S. 283"

57 Die folgende Auslegung von Pascal ist eine Konjektur, da mir eine Verifizierbarkeit des hier vorgetragenen

Gegenargumentes nicht möglich war. Auch In der "Pleiade"-Ausgabe (Pascal. <Euvres compJE~tes, Texte

etabli, presente et aonote par Jacques Chevalier. Paris 1954) findet sich kein HinweiS, was e contrario für

das Gegenargument spricht. M1V. '58 Johann earl Friedrich Gauß: Brief an F.W. Bessel, 1829. 59 dpa( 26.06.2002.

MATTHIA5 THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 20

Joseph Christian Freiherr von Zedlitz (1790 - 1862 ) an der Wiener Staatskanzlei tätig

und unmittelbar an der Metternichschen Politik der Repression geistiger Selbständigkeit

beteiligt. 1848 entlassen, kehrte er 1851 als Ministerresident zurück. Auf Schloß

Johannisberg (Jansky Vrch) in Österreichisch-Schlesien geboren, der Sommerresidenz

der Breslauer Bischöfe und damals Wirkungsstätte von Karl Ditters von Dittersdorf, faßte

er seine Verachtung für die Kunstunsinnigen und ihre prosaische Weitsicht in die damals

vielzitierten Verse "An die Böotier":

Wenn Ihr Gemälde beschautet, Böotier, dünkte Euch jemals,

Daß im ApolI, im Mars, selbst sich der Maler gemalt?

Wohl, so sagt mir, wie kommt es, daß Ihr vom Gedichte den Dichter

Nimmer zu sondern vermögt, immer Beziehung und Zweck

Sucht, wo der Genius sich aufschwingt in phantastischer Willkür,

Wie ihn die Muse beherrscht, wie der Moment ihn ergreift?

Soll ein Gebilde der Kunst sich zum heiteren Leben gestalten,

Muß der entfesselte Geist frei sich bewegen und kühn.

Darum beschaut und betrachtet, und les't nicht befangen, ich bitt' Euch,

Wenn sich zum freieren Spiel regt die entbundene Kraft.

Könnt Ihr denn nimmer begreifen, Böotier, daß nur der Kuckuk

Einzig sich selber besingt, immer sich selber nur meint.

Glaubt Ihr, in Stunden der Weihe, wo weit der Erd' er entrückt ist,

Näher der Himmel ihm scheint, denke der Dichter, besorgt,

Bloß an das eitle Geschwätz von albernen Muhmen und Basen,

Die mit der Zunge Gewalt schnellen den giftigen Pfeil?

Hat Euch der Himmel den Geist so beengt und den Busen geschaffen,

Daß Ihr den höheren Sinn nicht zu ergründen vermögt,

Nicht die Accorde des Lebens begreift: 0, Ihr Guten, so laßt doch

Ungestört die Poesie, treibt Euch in Prosa umher!

Die Qualität dieser Poesie möge hier für sich stehen, zumal im Gedenken an die

Karlsbader Beschlüsse, die in ganz anderer Weise "Beziehung und Zweck" suchten.

Inhaltlich wie geographisch aber wird es von hier nur ein kleiner Sprung zum geistigen

Schicksal der Dresdner oder Prager Revolutionäre nach 1949, insbesondere Richard

Wagners,"o oder etwas weiter dann zur literarischen Bewegung der Mloda Po/ska sein.

Mit Zentrum vor allem in Krakau, spielte das Junge Polen (ca. 1890 - 1918) auch im

kulturellen Leben Lembergs und Warschaus eine bedeutsame Rolle und hinterließ

deutliche Spuren in Theater, bildender Kunst, Musik und Architektur. Abgrenzung

gegenüber der künstlerischen Auffassung von Positivismus und Realismus sowie

Ablehnung von Spießbürgertum und Provinzialität waren Ausgangspunkt und

verbindende Merkmale der verschiedenen kulturellen Strömungen (I'art pour I 'art,

60 Vgl.. Matt:hias Theodor Vogt: Taking the Waters at Bayreuth. In: Barry MilUngton, Stewart Spencer Ed"

Wagner in Performance, In memory of Sir Reginald Goodall. Yale University Press, New Haven and Landan

1992. Dt. als: Die Geburt des Festspielgedankens aus dem Geist der Bäderkur, In: Peter Csabadi et. al.

(Hg.), Welttheater, Mysterienspiel, Rituelles Theaters. Salzburger Symposium 1991. Wort und Musik XV. Anif / Salzburg 1992 [Deutsche gekürzte Fassung von 1992a).

MATIHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER Mme EUROPAS 21

Symbolismus, Dekadenz, Naturalismus usw.), die ihrerseits in ganz Europa Pendants

gefunden hat. In Verbindung mit Goethescher Weitläufigkeit wurde sie bei Thomas Mann

als Verschwisterung von "Kosmopolitismus und Provinzialismus"6l zu einem der

prägenden Merkmale des "deutschen Wesens" stilisiert.

Und folglich auch die Wissenschaft prägte: Als "Worldly Provincialism" charakterisiert ein

amerikanischer Sammelband die "German Anthropology in the Age of Empire,,62

dieselbe, was Hartmut Krech in einer Rezension mit dem Begriff der

"Weltumspannenden Provinzialität"63 wiedergibt.

Die "Kulturidee von Weimar" (Dieter Borchmeyer)64 hat keineswegs nur literarische,

vielmehr hat sie entscheidende politische Implikationen. Der "Nationalhaß" , bemerkt

Goethe am 14. März 1830 Eckermann gegenüber, finde sich "am stärksten und

heftigsten" auf den "untersten Stufen der Kultur". Es sei aber zu derjenigen Stufe

emporzuschreiten, "wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den

Nationen steht und man ein Glück oder ein Wehe des Nachbarvolkes empfindet, als

wäre es dem eigenen begegnet. Diese Kulturstufe war meiner Natur gemäß, und ich

hatte mich darin lange befestigt, ehe ich mein sechzigstes Jahr erreicht hatte." - sprich

um 1806 im Zeitalter der napoleonischen Kriege, in denen sich die entscheidende

Wende Europas weg vom cuius regio, eius religio hin zum cuius regio, eius natio

vollziehen sollte (bis sie nach dem bekannten Diktum im Kalten Krieg der zweiten Hälfte

des 20. Jahrhunderts vom cuius regio, eius ordo socialis abgelöst werden sollte).

Goethes Beobachtung trifft noch heute zu. In einer großangelegten Studie65 kommen

Stefan Spangenberg und Paul Klein 1997 zum Ergebnis, daß Nationalstolz und räumliche

Identität in starkem Zusammenhang stehen:

Befragte, die sich sehr stolz darüber äußern, Bürger Deutschlands zu sein, leben

überwiegend in Dörfern und Kleinstädten. Sie wechseln weniger häufig den

Wohnort als die Vergleichsgruppen, können somit auch als sehr heimatverbunden

bezeichnet werden. Mit zunehmendem Nationalstolz wächst das Durchschnittsalter

der Befragten und die Anzahl der Rentner in der Gruppe steigt. Der

Bildungsabschluß wird niedriger, so daß sich unter den Nationalstolzen auch nur

ein extrem geringer Anteil an Studenten findet. Ihr Einkommen ist

durchschnittlich, jedoch wächst mit zunehmendem Nationalstolz die Anzahl der

61 Themas Mann: Deutschland und die Deutschen (1945). Vgl. ebenfalls Doktor faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde (1943 - 1947) und Lübeck als geistige Lebensform (1926).

62 H. Glenn Penny, Matt; Bunzl: Worldly Provincialism. German Anthropology in the Age of Empire" Ann Arborr

2003.

63 Hartrnut Krech, Universität Bremen: Welrumspannende ProvinZialität: Die deutschen Wissenschaften vom Menschen zwischen 1860 und 1930. Rezension zu: H. Glenn Penny, Matt; Bunzl: Worldly Provincialism

(Fußnote 62). In: H-Net book review [email protected] (Oktober, 2003). 54 Dieter Borchmeyer: Literatur im Zeitalter der Globalisierung Goethes Utopie der Weltliteratur. In:

metamporphosen 28 (1999), 8~13. 6S Stefan Spangenberg, Paul Klein: Der Einfluß räumlicher Identität und Individueller Sicherheitskonzepte auf

die Bewertung von VerteJdigungspoHtik und Bundeswehr. Arbeitspapiere des sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, Heft 102. Strausberg, Mai 1997. Analoge Untersuchungen wurden zeitgleich für Polen und Tschechien durchgeführt.

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MITTE EUROPAS 22

Kinder im Haushalt. Die Äußerung von Nationalstolz ist vom Geschlecht der Person

unabhängig. Mit zunehmendem Stolz auf Deutschland verändert sich die politische

Selbsteinschätzung des Einzelnen von links nach mitte-rechts, die spontane

Äußerung eines emotionalen Zugehörigkeitsgefühls nimmt zu und auch in das

deutsche Sicherheits-, Rechts- und Wirtschaftssystem wird zunehmend stärker

vertraut. Die Befragten sehen ihre Interessen in Deutschland besser vertreten und

halten eine starke Regierung für einen entscheidenden Sicherheitsfaktor!6

Dies nun hat unmittelbare Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Anderen jenseits

der eigenen nationalen Grenze:

Mit zunehmendem Nationalstolz werden andere Nationen, mit Ausnahme der USA,

kontinuierlich negativer bewertet. Besonders deutlich wird dies etwa in der ersten

Fragestellung dieses Abschnitts bei der Bewertung der Juden. Die Befragten, die

uneingeschränkten Nationalstolz äußern, erreichen einen Sympathiewert für Juden

von 0,14, womit Juden bei ihnen in der Nationalitäten/Ethnien-Rangliste an siebter

Position stehen. Jene, die überhaupt nicht stolz darauf sind, ein Bürger

Deutschlands zu sein, erreichen einen Wert von 1,05 und setzten damit die Juden

an die Spitze ihrer Rangliste. Es scheint, als sei es die besondere Rolle, die Juden

im nationalen Diskurs in Deutschland einnehmen, die dazu führt, daß das

Antwortverhalten von Befragten mit unterschiedlich ausgeprägtem Nationalstolz stark differiert!'

Dies wiederum hat besondere Auswirkungen auf das Verhältnis zu Deutschlands östlichen Nachbarn:

66 Ibidem (Fußnote 65). 67 Ibidem (Fußnote 43).

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS

Orl!fik': ~q,., ;~N~t/i!"" bzw, ~cl>en OtIil'P""

1M Abbil~ berUktiJlifein& SkIIa m/tden .Weibml="trukr""gaiiv" pb; 1="i$r JXI"fiv". 2 ... V",,,,,"-idnmg it<i E%,,""",,_ <kr w.'" 4 ~ .""tlefpunkt g_ "nd <fi. A""!,~,,it<i -",/uns Ni<kn ___ -; his +3.

23

Angesichts dieser Befunde ist man geneigt, entsetzt auszurufen: "Ja - dürfen s' denn

das?"

Umso bedauerlicher ist es, daß eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem

Phänomen der Provinzialität in der deutschen Wissenschaft offensichtlich kaum

stattfindet. Ein schmaler Aufsatz von Klaus-Jürgen Matz, handelt "Von deutscher

Provinzialität, Provinz (und Provinzhistorie)".68 Ansätze einer Theoriebildung legte Oliver

Marchart vor: "Im übertragenen Sinn ist Provinz ein anderer Name für strukturellen

Mangel an Informations- und Interpretationsmöglichkeiten."69

Einen anderen Ansatz liefert gesprächsweise Milos Havelka, der Provinz mit "Kleinen

Strukuren" korreliert. Während diese durch die Industrialisierung in bestimmten Zonen

zerfallen, überleben sie in noch ländlich geprägten Gebieten.

68 Matz, Klaus-Jörgen: Von deutscher Provinzialität, Provinz (und Provinzhistorie). In: Stadt und Land. Bilder,

Inszenierungen und Visionen in Geschichte und Gegenwart. Wolfgang v. HippeI zum 65. Geburtstag. Hrsg.:

Sylvia Schraut und Bernhard Stier. Band. Auflage Stuttgart: Kohlhammer, 2001, S. 473 - 483.

69 Oliver Marchart: Die Rache der Provinz .. , und die PfIjcht zur EntprovinziaJisierung. Kulturrisse 0303, Thema

Wahlverdichtung. Wien 2003.

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 24

Geradezu wie eine Antwort auf Marchart liest sich Tomas VencJowa im Band

"Stereotypen und Nationen" des Krakauer Miedzynaradowe Centrum Kultury:

Wenn man in einer solchen mit Brettern vernagelten Welt aufwächst, wie das

damals Wilna war, wie es die ganze Sowjetunion war, aber Wilna als kleine Stadt

besonders, dann regt sich in einem etwas, was Mandelstam die Sehnsucht nach

der Weltkultur genannt hat. Diese Sehnsucht hat im Grunde positive Folgen. Man

beginnt, sich für etwas zu interessieren, was über die Grenzen der eigenen Erfahrung herausreicht.7o

Besonders intensiv um eine "Umwertung der Provinz,,71 bemühen sich Krzysztof

Czyzewski und die Stiftung "Pogranicze" [auf der Grenze]. In Sejny an der Grenze

Polens zu Weißrußland und dem Kalingrader Oblast verlegte die Stiftung unter anderem

Jan Tomasz Gross Buch "Nachbarn" über die Ermordung der Juden von Jedwabne. Im

sei ben Verlag erscheint die Vierteljahresschrift "Krasnogruda. Nationen, Kulturen, Kleine

Heimaten Ostmitteleuropas" . In Krasnogruda, einem Weilers bei Sejny, ist Czeslaw

Milosz aufgewachsen. In der gleichnamigen Zeitschrift werden die Themen "Erinnerung",

"Landschaft", "Grenze" oder "Stadt" insbesondere im Zusammenhang der ostmitteleuropäische Länder erörtert.

Die Sektion Slawistik der Universität Bergamo hat gemeinsam mit dem Institut für

Balkanistik der Akademie der Wissenschaften Moskau und dem Slawistischen Institut

der Universität Amsterdam eine Forschungsgruppe über die Russische Provinz gebildet

hat. Die sechste Arbeitstagung stand unter dem Titel "Paradigmi e dinamiche provinicali" (Bergamo 2001) 72.

In Deutschland dagegen wurde in der Auseinandersetzung um Martin Walser das

bekannte Adorno-Zitat hervorgeholt: "Zur Bildung gehört Urbanität, und ihr

geometrischer Ort ist die Sprache. Keinem Menschen ist es vorzuhalten, dass er vom

Lande stammt, aber keiner dürfte sich daraus einen Verdienst machen; wem die

Emanzipation von der Provinz mißglückte, der steht zur Bildung exterritorial. ,,73 74 Die

70 Tomas Vencfowa. In: Teresa Wafas (Hg.) (1999): Stereotypen und Nationen" Krakau: Miedzynaradowe Centrum Kultury, 5.342-346.

71 Stefanie Peter: Umwertung der Provinz" Eine Reise an die polnisch-litauische Grenze zur Stiftung

"Pogranicze" in Sejny" In: Dialog. Deutsch-Polnisches Magazin. Herausgeber: Deutsch-Polnische Gesellschaft Bundesverband €.v. Berlin.

12 Die Akten sind gegenwärtig noch nicht erschienen. Verfügbar ist: Ugo Pers) (Hg): PyccKille crOIlillllb! 111

pyccKaSi npoBIIIHlIHSI B MeMyapHbJX TeKCTax It1saHB M. AonropYKosa, in PyccKaSi npoBHHUilHi: MIIlQ:J - TeKCT -

peaIlbHOCTb (La provincia russa: mita - teste - realta). Moskwa, Sankt Peterburg 2000. 73 Adorno, Theodor W.: Philosophie und Lehrer. In: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt am Main, 1963.

S.46.

74 Jörg Schind/er: Wolkenkratzer an den Badensee! AUez! Nr. 2 (X) Duisburg, 1998 führt dazu aus: »"Ich bin auch Kleinbürger und möchte durch meine Arbeit meiner Klasse das mitverschaffen helfen, was ihr so sehr fehlt, das Bewußtsein ihrer historischen Wichtigkeit" schrieb Walser 1971 über sich. [ ... ) Das ist die

literarische Welt Martin Walsers - die Provinz. Nun ließe sich fragen, was dagegen einzuwenden sei. Hat nicht Gerhard Hauptmann auch Provinz

dargestellt, als er in Schlesien uDie Weber\! zu HeidInnen seines Romanes machte? Hat nicht Tneodor Storm auch geniale Milieugeschichten erzählt? WaJser ist anders. "Zur Bildung gehört [ .... ]" beschrieb Adorno einst den Zustand treffend, und er muss WaJser damit gemeint haben. Das alltägliche Elend der Provinz, ihre Rückständigkeit, die sich zum

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MITTE EUROPAS 25

Auffassung Adornos schließt recht besehen nahtlos an die oben zitierte Kritik Zeitlers an

den Böotiern an. Sie geht von einem Duopol aus: hier das flache Land mit flachem

Geist, dort die urbs mit ihrem bürgerlichen Ideal der Bildung.

Ruralität gegen Urbanität auszuspielen, liegt auch dem allerdings wesentlich

differenzierten Essay "Reminiszenzen an den Überfluß"75 von Hans Magnus

Enzensberger zugrunde. Als einer der wenigen unter Deutschlands Intellektuellen hat

Enzensberger öffentlich auf die Überholtheit des urbanen Leitbildes hingewiesen (viele

jedoch, genannt sei nur Arno Schmidt, hatten und haben längst ihre Biographie danach

ausgerichtet). In seinen "Reminiszenzen" benannte er 1996 immaterielle Güter wie Zeit,

Aufmerksamkeit, Raum, Ruhe, Umwelt und Sicherheit als den neuen Luxus, also

Inbegriffe des ruralen und eben nicht des urbanen life style.

Auch nach Alexander Baier ist ",Provinz' kein topographischer Begriff. [ ... ] Die Medien

(insbesondere auch im Internet) und die hervorragenden Verkehrsverbindungen haben

längst dafür gesorgt, daß gegenüber Hinterhugelfingen ohne genaue Recherche kein

abwertender Anfangsverdacht auf Provinzialität glaubhaft ist."'·

Die Begriffe der Provinz," der Provinzialität, der Peripherie, der Metropole und der

Urbanität sind auf ihre Gültigkeit und Bedeutung jenseits topographischer Betrachtungen

im heutigen Kontext zu überprüfen.

Wie weit die erste Gegenüberstellung von Provinz und Zentrum im Frankreich des

frühen XVII. Jahrhundert bis heute unbewußt nachwirkt, wäre zu prüfen. Erinnert sei

nur daran, daß einer der bis heute wichtigsten Texte zur Großstadt, Georg Simmels "Die

Großstädte und das Geistesleben", bei gründlicher Lektüre sich als großstadtfeindlich

entpuppt.'· Verwiesen sei ebenfalls auf den ausgerechnet 1933 entstandenen Text

Martin Heideggers: Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz? (1933).'9

Barbarischen steigert, wenn die Zivilisation sie bedroht, ihre Flucht in die dunkle Ecke der Irrationalität,

wenn Fortschritt zu befürchten steht, ihre Bockigkeit gegenüber den Errungenschaften der Moderne erklart

Wafser zum Fluchtpunkt gegen die Wirrnisse der kapitalistischen Industriegesellschaft - das ist der

reaktionäre Gehalt von Walsers Heirnatschreiberei. Denn dort suchen Walsers Pravinz-Xaverknödelhelden ihr

kleinbürgerliches Bewußtsein, und im Dialekt, in ihrer patriarchalen Selbstverständlichkeit, in der stetigen

Borniertheit von weitergegebenen Vorurteilen tauchen Elemente tausendjähriger Reiche auf und reproduzieren die Barbarei stets aufs neue. [" .. ]

Doch auch der Rationalität aufgeschlossenen Menschen bleibt die adornosche "Pflicht zur Entprovinzialisierung" nicht erspart. Ein Zivilisatorisches linkes Projekt, Walsers Heimatfilme endlich zu

begraben, wären schon ein paar Wolkenkratzer am Bodensee,«

75 Enzensberger, H" M. (1996): Reminiszenzen an den Überf]uß. Der alte und der neue Luxus. In: Der Spiegel

51/1996, 5. 108-118 76 Baier, Alexander: Provinz ist kein topographischer Begriff" Alexander Barer im Gespräch mit Jürgen Raap,

Kunstforum International, Bd. 140, 1998, S. 458-462.

77 Vgl. Vogt, Matthias Theodor: Einführung in die Kulturprovinz, in: Winterfeld, Klaus (Hrsg.): Kultur und

Wirtschaft in Mittelsachsen. Kulturraumtagung Freiberg 25.10.2002, Leipzig 2003, S. 24-30. 76 Vgl. Dietmar Jazbinsek: Die Großstädte und das Geistesleben von Georg SimmeL Zur Geschichte eine

Antipathie. Schriftenreihe der Forschungsgruppe Metropolenforschung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozia!forschung (FS Il 01-504).

79 Martin Heidegger: Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz? (1933). In: Martin

Heidegger Gesamtausgabe, L Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976, Band 13: Aus der Erfahrung

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 26

Der nach unserer Kenntnis erste und bisher einzige, der auf die weitaus komplexere

Soziologie der Provinzialität mit der Hypthese eines Triopols von urbs - Provinz - Dorf

aufmerksam gemacht hat, ist Carl Amery80 in dem von ihm herausgegebenen

Sammelband "Die Provinz. Kritik einer Lebensform" (1964):

Der Provinzler ist eine Zwischenform, ein kultur-anthropologisches Amphibium. 8'

Ihm fehlt die aus der Begrenzung erwachsende Selbstsicherheit des Dörflers

ebenso wie die aus der Unverschämtheit erwachsende des Großstädters.

Und merkwürdig, was die Rastlosen, die Großstadtsüchtigen an der Provinz nicht

mögen, was sie an ihr verspotten oder verfluchen, das ist keineswegs das

Dörfliche, wie sie es verstehen. Im Gegenteil: Romantik übers Dorf gebreitet, das

ist eine großstädtische Projektion. 82

Mangels anderer Quellen sei hier dem lange vergriffenen Amery das abschließende Wort

zur Phänomenologie der Provinzialität gegeben:

Das erste wichtige Phänomen [der Provinz-Existenz ist] die Verspätung der

kulturellen Signale. Sie gehen von der Großstadt aus; und kein Journal, kein Wort­

und Bilderstrom über Presse und Ätherwellen vermag dieses Schicksal zu ändern.

Während der Dörfler [ ... ] auf die Marotten der Großstadt pfeift und oft genug die

Gaudi erlebt, daß der Großstädter wie Antäus zur Scholle zurückflüchtet, fühlt die

Provinz den gar nicht so dunklen, aber immer starken Drang, up-to-date zu sein;

und immer wieder sieht sie dieses Ziel entschwinden. [ ... ]

Wohlbemerkt: das hat nichts mit Bildung zu tun - jedenfalls nicht im

akademischen Sinn. [ ... ] der Provinzler legt mehr Wert auf Bildung als der

Großstädter. [ ... ]

Dem Provinzler fehlt das Element. [ ... ] Der Großstädter gewinnt ja seine

vielberufene Freiheit aus der Tatsache, daß er wieder zum Jäger geworden ist;

Mensch, Mitmensch ist für ihn das Mitglied seines Clans, oder mehrere, durch die

Pluralität seiner Interessen gebildeter Clans. Mit ihnen, seinen Clangefährten, jagt

er im Dschungel aus Steinen, Asphalt, Autos und Individuen, die er nicht kennt

und die ihn nichts angehen. Der Dörfler andererseits ist nach wie vor auf den

universalen nachbarlichen Zusammenhalt angewiesen, der zwar Feindschaften,

Todfeindschaften, aber keine rigorose Kastenbildung erlaubt.

Der Provinzler ist nicht so frei wie der Großstädter, seine kongenialen

Jagdgefährten zu wählen - aber auch mit der universalen Nachbarschaft ist es bei

ihm vorbei. Er ist gezwungen, [ ... ] die Gruppe herauszufinden, in der er

funktionieren kann. Meist wird hier freilich gar keine Wahl vollzogen, sondern die

Gruppe wählt ihn, determiniert ihn, legt in fest. [ ... ] [Hier ist] eine der tiefsten

des Denkens. Herausgegeben von Hermann Heidegger. frankfurtMain, 22002. Ich danke Mifos Havelka für

den Hinweis.

BO earl Amery (Hg.): Die Provinz. Kritik einer Lebensfarm. München: Nymphenburger 1964. 81 Dies ist leider ein falscher Begriff. Amphibium wäre ein Sowohl-als-auch-Wesen. Amery meint aber ein

Weder-Noch-Wesen. MTV.

82 earl Amery: Der Provinzler und sein Schicksal. In: ders. (Hg.): Die Provinz (Fußnote 80). 5.8.

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 27

Wurzeln provinzieller Malaise zu finden [ ... ] und aus ihr wachsen allzurasch und

allzuleicht zwei unausrottbare provinzielle Überzeugungen: erstens die

Überzeugung, daß der größte Teil der sozialen Umgebung schicksalhaft ist [ ... ]

und zweitens das speziell provinzlerische Subjekt-Objekt-Gefühl gegenüber dem

Nächsten. [ ... ]

Die Mehrheit der sozialen Kontakte in der Provinz '" ist aufgezwungen, vom

gesellschaftlichen pflichtbewußtsein diktiert. Relativ wenig gefühlt wird das in der breiten Basis der sozialen Pyramide, unter Arbeitern und kleinen

Gewerbetreibenden - aber das Problem verschärft sich, je weiter oben auf der

Pyramide der Provinzler zuhause ist. [ ... ]

Der Provinzler lebt genau so moralisch bzw. unmoralisch wie der Großstädter [ ... ]

Die moralische Schnellstraße, die das Auto dem Menschen eröffnet hat, kennt der

Provinzler mindestens genausogut wie der Großstädter. Nein, die Konventionen

der Provinz sind sozialer Art: sie haben dafür zu sorgen, daß die Kontinuität der

unentrinnbaren Gruppe gewahrt bleibt. Der Großstädter, der Jäger im kleinen

Clan, tut sich leicht: er kann jede beliebige soziale Katastrophe zurücklassen und

morgen einen neuen Haufen finden - oder eine neue Einsamkeit, je nachdem. [ ... ]

Das erklärt die Notwendigkeit der kulturellen Signal-Verspätung. Kulturelle Signale

können erst dann aufgenommen werden, wenn sie konventionsfähig werden. [ ... ]

Wer [in der Provinz] wirklich unkonventionell sein will (und es auch fertigbringt),

der wird notwendig zum Einsiedler [ ... ] [Man] findet [ ... ] überall in der Provinz

diese Eremiten. Sie sind kulturell unfruchtbar. [ ... ] [Meist] sind sie Käuze, Erfinder

von längst Erfundenem, Denker von längst Gedachtem, Querköpfe, Querflieger

und Querschießer. [ ... ]

Nun hat natürlich dieser Zustand der Konvention seine positive Seite: [ ... ] Der

Provinzler ist, aufs Ganze gesehen, politisch und sozial leistungsfähiger als der

Großstädter. [ ... ] Auch wo die Interessen regieren (und wo regieren die nicht?),

sind sie nirgends anonym, sondern leicht mit Personen zu identifizieren. [ ... ] Auf diesem Feld trainiert die Provinz eine große Schar von Poltikern und entsendet sie

auf weitere Felder der Aktion.83

Akyanoblepsie als Metapher für Peripherizität und Provinzialität

Was der so beschriebenen Provinz fehlt, läßt sich in den nüchternen Termini der Sozial­

oder Wirtschaftswissenschaften nur schwer beschreiben, jedoch vielleicht in die

Metapher einer Akyanoblepsie fassen. Also der bei Goethe und nur bei ihm

beschriebenen Unfähigkeit, die Farbe Blau wahrzunehmen.

Blau ist bekanntlich nicht nur ein beliebtes Motiv in der Dichtung der Romantik, sondern

symbolisiert das Ferne, das Göttliche, das "Geistige" (vgl. Wassily Kandinsky). In

Novalis' 1802 erschienenem Romanfragment "Heinrich von Ofterdingen" macht sich der

Held auf in die Welt, um die Ursprünge seiner Sehnsucht zu suchen. Auf seiner Reise in

83 earl Amery: Der Provinzler und sein Schicksal. In: ders. (Hg.): Die Provinz (Fußnote 80). S.5-12.

MATTHIAS THEODOR VOGT: PERIPHERIE IN DER MmE EUROPAS 28

die Ferne blickt er - ein in der Literatur unserer Kenntnis nach einzig dastehender

Vorgang - auf einer Anhöhe gleichzeitig zum Ziel seiner Reise und zurück in seine

Heimat:

Er sah sich an der Schwelle der Ferne, in der er oft vergebens von den nahen

Bergen geschaut, und die er sich mit sonderbaren Farben ausgemalt hatte. Er

war im Begriff, sich in ihre blaue Flut zu tauchen.

Die [blaue] Wunderblume stand vor ihm, und er sah nach Thüringen, welches

er jetzt hinter sich ließ mit der seltsamen Ahndung hinüber, als werde er nach

langen Wanderungen von der Weltgegend her, nach welche sie jetzt reisten, in

sein Vaterland zurückkommen, und als reise er daher diesem eigentlich zu.

Der gleichzeitige Blick in Zukunft und Vergangenheit (als Zukunft jenseits der Zukunft)

ist Symbol des Aufbruchs zur Erfüllung von Sehnsüchten wie auch Symbol des Findens

von Lebenssinn und Heimat im Sinne Ernst Blochs. Peripherie und Zentrum finden sich

gegenseitig zurückgebunden in den Stationen einer Biographie.

Mit dieser Metapher öffnet sich der Horizont der Fragestellung des Collegium PONTES

2004: läßt sich Kulturpolitik als Instrument der Landesentwicklung einsetzen, ähnlich

wie dies für Bildungspolitik, Infrastrukturpolitik und vor allem Wirtschaftspolitik unbesehen unterstellt wird?

Zunächst aber wäre am Beispiel der Region Görlitz-Zgorzelec-Zhol'elec zu fragen, ob

und wie Provinzialität entsteht.