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DAS MAGAZIN FÜR KINDHEIT UND KULTUREN SCHWERPUNKT: GROSSELTERN Generationengespräche Großeltern und Enkel in aller Welt haben sich viel zu sagen. Interview S. 12 Bomben der Gegenwart: Die Spuren des Krieges erreichen die III. Generation. S. 24 Insel der glücklichen Kinder – Welche das ist? Steht auf S. 44 SOS-Kunststück: Große Kunst für die gute Sache S. 54 Mein Sohn ist 16 und lügt. Ratgeber S. 62 „Warum liebt ihr mich so?“ – „Ach, Oma!“ 06 -2012

ubuntu 06/2012: Großeltern

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Ubuntu: Das Magazin für Kindheit und Kulturen der SOS-Kinderdörfer weltweit. Schwerpunktthema der aktuellen Ausgabe: Großeltern.

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DAS MAGAZIN FÜR KINDHEIT UND KUlTURENSCHWERPUNKT: GRoSSElTERN

Generationengespräche Großelternund Enkel in aller Welt haben sich viel zu sagen. Interview S. 12

Bomben der Gegenwart: Die Spuren desKrieges erreichen die III. Generation. S. 24

Insel der glücklichen Kinder – Welchedas ist? Steht auf S. 44

SOS-Kunststück: Große Kunst für diegute Sache S. 54

Mein Sohn ist 16 und lügt. Ratgeber S. 62

„Warum liebt ihr mich so?“ – „Ach, Oma!“

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ADAC-Stiftung »Gelber Engel«

Postfach 700 146 81031 München

Tel. (0 89) 76 76 67 58 www.adac.de /stiftung

Die ADAC-Stiftung »Gelber Engel«

unterstützt Unfallforschung,

Unfallpräventions-Projekte und

Unfall opfer.

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Zu erobern gibt es viel auf Island – und viele glückliche Eroberer. Warum es Kindern auf der Insel so gut geht, lesen Sie auf Seite 44. Übrigens: Diese Heuballen waren mal ganz weiß – bis der Vulkan ausbrach.

Manchmal hat Jane Obilo Angst um ihren Enkel Biko – manchmal er um sie. Manchmal macht er ihr Mut – an anderen Tagen ist sie die Starke. Jane Obilo lebt mit Biko und 21 weiteren Enkeln in Kenia im Slum. Interview Seite 12

Das rote Bändchen am Fuß des Kindes bedeu-tet: Es ist stark unterernährt und wird in ein Ernährungsprogramm aufgenommen. In Niger nimmt die Hungerkrise bedrohliche Ausmaße an. Die SOS-Kinderdörfer helfen. Seite 58

Editorial / Contributors Impressum Orte der Kindheit Kurzgeschichten Schwerpunkt: GroßelternAch, Oma!ubuntu-Reporter haben Großeltern und Enkel in aller Welt besucht. Gefunden haben sie Glück und Komplizenschaft, aber auch Sprachlosigkeit und Sorge. Interviews aus Kenia, China, Österreich, Brasilien und Griechenland. Die Bomben der GegenwartImmer mehr Kriegsenkel forschen nach: Sie wollen genau wissen, was in ihren Familien geschah – um so auch ihr eigenes Leben besser zu verstehen. Eine Frage geht um die Welt Seite 31: So wertvoll können 31 Euro sein Wohin gehst du, wenn deine Mutter im Sterben liegt und deine Frau in den Wehen? Für unseren Autor bedeutete der Generations-wechsel das größte Dilemma seine Lebens. Infografik: Geschlechterverteilung im Kinderzimmer Playmobil-Rollenbilder Geschichten, wie sie nur eine Russin erzählen kannAlina Bronsky: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche. Literatur Meine Welt von morgen Verdammter Zwang zur NeutralitätDer Krieg in Syrien verlangt den Mitarbeitern der SOS-Kinderdörfer einiges ab. Essay Die Insel der glücklichen KinderIn Island sind Kinder kein gesellschaftliches Accessoire, sondern eine Selbst-verständlichkeit. Das tut ihnen sichtbar gut. Reportage Winzige Erwachsene mit vollem Kalender. Glosse Diese Meisterwerke können bald an Ihrer Wand hängen … SOS-Kunststück, die Auktion, die Kindern hilft, startet im November. Hungerkrise in NigerAnhaltende Dürre und steigende Lebensmittelpreise haben dazu geführt, dass acht Millionen Menschen zu wenig zum Essen haben. Die SOS-Nothilfe unterstützt Kinder und ihre Familien. Helfen Sie zu helfen! Fragen an Ulrich Sommer: der Eltern-Ratgeber Die Kinder von Kreuzkölln, Berlin Wissen Wie waren Sie als Kind, Fatih Akin?

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ubuntu Inhalt

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Von links nach rechts:Ingrid Famula, Andrea Seifert, Simone Kosog

Nächste AusgabeJuni 2013

Beigelegt beiTagesspiegel, sowie Teil-ausgaben der Frankfurter All-gemeinen Sonntagszeitung, der Süddeutschen Zeitung und der ZEIT.

Liebe Leserinnen und Leser,

als „Ass im Ärmel“ junger Familien bezeichnet die Verhaltensforscherin Sarah Blaffer Hrdy die Großmütter, und der Gießener Professor für Bio-philosophie Eckart Voland glaubt, dass sich die Menschheit nur deshalb so entwickeln konnte, weil schon in der Steinzeit Großmütter ihre Enkel hüteten und die Mütter entlasteten. Dass Groß-eltern in vielerlei Hinsicht besonders sind, davon erzählt diese Aus gabe von ubuntu – in Interviews mit ihren Enkeln aus der ganzen Welt (S. 12), in einem sehr persönlichen Text über den Wettlauf zwischen Tod und Geburt (S. 32), in einem Be-richt über die „Kriegsenkel“ (S. 24), die alles daran setzen, die Vergangenheit zu erforschen.Übrigens: Genauso besonders wie ihre Groß-eltern sind auch die Enkel, das wissen die Omas und Opas dieser Welt am besten. Niemand kann so schwärmen wie sie, wenn sie von ihren Enkel-kindern erzählen.

Ihre ubuntu-Chefredaktion

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Impressum

ChefredaktionIngrid Famula, Simone Kosog

BildredaktionAndrea Seifert

SchlussredaktionAdelheid Miller

Mitarbeiter dieser AusgabePatrick Bierther, Angelika Dietrich, Hubert Filser, Susanne Frömel, Marcel Grzanna, Paul Hahn, Martina Koch, Mariantonietta Peru, Claudia Singer, Ulrich Sommer, Christine Wollowski

Kaufmännischer BereichIngrid Famula, Andrea Seifert

GestaltungANZINGER | WÜSCHNER | RASPMünchen

LithografieMXM, München

LeserserviceTel. 089/17 914-140 [email protected]/ubuntu

HerausgeberSOS-Kinderdörfer weltweit –Hermann-Gmeiner-FondsDeutschland e. V.Ridlerstraße 5580339 MünchenVorstand:Dr. Wilfried Vyslozil

AnzeigenGroßmann.KommunikationGabriele GroßmannGrünwalder Straße 105 c81547 MünchenTel.: 089/64 24 85 64Fax: 089/64 24 93 99grossmann.kommunikation@ t-online.de

DruckAppl – Echter DruckDelpstr. 15, 97084 Würzburg

Verantwortlich für den redaktionellen Inhalt:Ingrid Famula (Adresse s. Herausgeber)

Die Zeitschrift ubuntu und alle darin veröffentlichten Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede durch das Urheberge-setz nicht ausdrücklich zugelassene Nutzung oder Verwertung bedarf der schriftlichen Einwilligung des Her-ausgebers. Eine Vermietung oder ein Nachdruck, auch auszugsweise, sind nicht gestattet. Insbesondere ist eine Einspeiche-rung oder Verarbeitung der auch in elektronischer Form vertriebenen Zeitschrift in Datensystemen ohne Zustimmung des Herausgebers unzu-lässig. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fo tos wird keine Haftung übernommen.

Leserbriefe an:SOS-Kinderdörfer weltweit –ubuntuRidlerstraße 5580339 München

Zwar bereist Thomas Linkel für seine Fotoreportagen die ganze Welt, aber seine große Liebe bleibt Island. Der Münch-ner kommt mindestens einmal im Jahr hierher. Für die ubuntu-Reportage über die „Insel der glücklichen Kinder“ (S. 44) muss-te er noch einen Zusatztermin einlegen, da bei der ersten Reise ein Vulkan ausbrach, in Folge dessen so viel Asche in der Luft war, dass die ganze Insel in grau-gelb getaucht war. Foto-grafieren fast unmöglich.

Thomas Linkel

Zum zweiten Mal in Folge ist ubuntu mit dem Preis „Best of Corporate Publishing“ ausge-zeichnet worden. Die Jury be-gründete ihre Entscheidung so: „ubuntu, das Magazin der SOS-Kinderdörfer, wird seinem südafrikanischen Namen voll gerecht, der ‚Respekt, Verant-wortung und Würde‘ bedeutet. Transportiert wird das unver-ändert modern: frisch, überra-schend und sprachlich auf hohem Niveau.“

Die Fotografin Mariantoni- etta Peru begegnet täglich der Schönheit: In der Landschaft Kenias, wo sie seit vielen Jahren mit ihrer Familie lebt, in vielen alltäglichen Szenen. Am aller-liebsten macht sie Porträtaufnah-men. „Das ist, als würde ich einem Menschen in die Seele sehen.“ (S. 12)

Mariantonietta Peru Gold für ubuntu

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ubuntu Editorial/Contributors

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SchatzsucheFoto Jörg Böthling

Wie dunkler Nebel liegt er über Kra-tern und schroffem Geröll: Der Kohlestaub aus den Minen von Jharia in Ost-Indien.Kinder krabbeln barfuß auf den scharfkan-tigen Koksbrocken umher. Sie suchen einen Schatz auf den Bergen in giftigen Dämp-fen, die die Atemwege reizen und zerstören. Ihr Schatz ist schwarz und rußig. Sie sam-meln kleine Kohlebrocken, die die Megama-schinen der Minengesellschaft übersehen haben. Füllen ihre Körbe. Bald sind auch die Kinder so schwarz wie ihre Schätze.Wenn sie die schwere Last auf ihren Köp-fen nach Hause getragen haben, waschen sie sich und gehen zu Schule. Später ver-kaufen die Eltern die Kohle auf dem Markt. Von dem Erlös bekommen die Kinder ein bisschen Kleingeld für Süßigkeiten oder zum Karussell fahren.Doch die Minengesellschaft bohrt sich durch das Dorf. Die Maschinen vergiften mit ihren Dieselmotoren die Luft, sie frä-sen sich in die Erde oder schaufeln riesige Krater. Das Dorf liegt am Rande so eines Kraters und wird bald darin verschwinden. Schon jetzt können die Menschen dort kaum leben. Kleine Feuer brennen unter der Erde, denn die Kohle kann sich selbst ent-zünden. Dann wird der Boden an manchen Stellen so heiß, dass man sich nicht mehr setzten kann.Dennoch wollen die Dorfbewohner bleiben, solange es geht. Trotz des rußigen Nebels, trotz der giftigen Dämpfe. Denn hier finden die Kinder ihre Schätze, die die Familien brauchen, um zu überleben – aber glitzern tun sie nicht.

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ubuntu Orte der Kindheit

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WENN DIE SCHöNSTEN GESCHICHTEN DAS LEBEN SCHREIBT, DANN GILT DAS AUCH FÜR DIE GANZ KLEINEN. ZUM BEISPIEL DIESE.

DIGITALer KäSeIch hätte gerne fünf Äpfel“, sagt die Besuche-rin zu Lasse, 3, der in seinem Kaufladen steht. Seine Antwort: „Habe ich nicht!“ – Daraufhin die Besucherin: „Dann nehme ich Milch.“ – „Habe ich auch nicht.“ – „Käse?“ – „Auch nicht!“ – „Ja, du hast ja gar nichts!“ Lasse: „Das kriegst du alles im Internet!“

FALLOBSTUnterwegs im Zug. Ein Mädchen regt sich über den kleinen Bruder auf: „Du hast wohl nicht mehr alle Birnen im Hirn.“ – Die Mutter korrigiert: „Du meinst wohl: ‚Alle Tassen im Schrank‘.“

KörperpFLeGeBruno freut sich seit Tagen aufs Oktoberfest. „Dort bekomme ich ein Riesen-Wattestäbchen!“, erzählt er allen. Dann ist es soweit, Besuch auf der Wiesn – die Zucker-watte schmeckt himm-lisch!

LeBeNSKüNSTLerEin Vater geht mit seinem Sohn an einer Straßen-kehrmaschine vorbei. Der Sohn sagt begeistert: „Das möchte ich später auch machen.“ Der Va- ter versucht zu argumen-tieren … Ob denn das wirklich so eine gute Idee sei. Dann sagt der Sohn: „Ich will ja sowieso meh-rere Berufe haben. Und am Wochenende will ich Mensch sein.“

UNHeILIGMalea, 9 Jahre alt, hat einige Jahre mit ihren Eltern in Asien gelebt. Zurück in Deutschland fährt die Familie durchs Allgäu, als der Vater plötzlich eine Vollbrem-sung macht. Auf der Straße steht eine Kuh. Malea sagt erstaunt: „Ich wusste gar nicht, dass deutsche Kühe auch heilig sind!“

MANN ODer MUTTerGespräch zwischen der Mutter und ihrer sechs-jährigen Tochter. „Mama, seit wann hast du eigentlich Ohrringe?“ – „Hmmmh … weiß ich nicht genau, aber ich war auf jeden Fall noch ein Mäd-chen.“ Die Tochter schaut verwundert und sagt: „Aber du bist doch jetzt kein Junge!“

Neulich …

Im Iran dürfen Frauen bestimmte Fächer nicht mehr studieren. Zum gerade begonnenen Studienjahr haben 36 Uni-versitäten 77 Studiengänge für Frauen ver-boten, vor allem Fächer wie Ingenieurs-wissenschaften, aber auch Sprach- und Naturwissenschaften oder Wirtschaftsstu-diengänge. Einige der Fächer widersprä-chen „der weiblichen Natur“, begründet das Wissenschaftsministerium. Als die Schlie-ßung kurz vor Beginn des Studienjahrs bekannt wurde, waren sogar konservative Medien und Studenten empört. In Inter-netforen bezeichnen Iranerinnen das Stu-dienverbot als „Rückfall in die Steinzeit“ und „Talibanismus“.Iranische Frauen engagieren sich seit ein paar Jahren gesellschaftspolitisch: Sie kämp-fen in Nichtregierungsorganisationen für mehr Gleichberechtigung und protestieren offen gegen das Regime. Das ist dem konservativen Klerus gar nicht recht – er be-greift Frauen als Hausfrauen und Mütter. Der geistliche Führer Ajatollah Chamenei hatte vor kurzem verlangt, dass sich die iranische Bevölkerung verdopple: Kinder statt Karriere.

STUDIERVERBOT FÜR FRAUEN

Damit Kinder den richtigen Umgang mit Tieren lernen, ist in einer Grundschule auf Teneriffa jetzt ein „Tierschutzzimmer“ eingerichtet worden. Das ortsansässige Tier-heim hatte immer wieder Unterricht im Tierschutz angeboten. Weil zunehmend mehr Schulklassen kamen, fanden die Orga-nisatoren, dass man das Angebot erwei- tern müsse. In dem neuen Klassenzimmer, eingerichtet vom Verein „Aktion Tier“, ler-nen die Kinder alles über Haustiere, Wild-tiere sowie Massentierhaltung.

DAS TIERISCHE KLASSENZIMMER

Besser behutsam streicheln als an den Ohren ziehen: Auf Teneriffa lernen Kinder den Umgang mit Kanin-chen und Co.

Kind sein in Simbabwe könnte für einige Jungen und Mädchen bald bedeuten, ganz alleine überleben zu müssen.

Aids-Waisen in Simbabwe werden in Zukunft vermehrt auf sich allein gestellt sein. Das ist das Ergebnis einer Simulation des Max-Planck-Instituts für demogra-fische Forschung in Rostock. Lange gab es in Simbabwe das Wort „Waise“ gar nicht, weil elternlose Kinder selbstverständlich von Ver-wandten aufgenommen wurden. Doch mit der Aids-Epidemie änder-te sich das. 2006 hatten elf Prozent der Kinder beide Eltern verloren – gleichzeitig gab es immer weniger Verwandte, die sich kümmern konnten. Der Demograf Emilio Zag-heni hat jetzt ein Modell für Sim-babwes Zukunft erstellt. Demnach wird es 2020 zwar nur noch sechs Prozent Waisenkinder geben, aber

ihre Situation wird umso dramati-scher sein, weil auch zahlreiche Verwandte an AIDS sterben wer-den. Schon heute werden viele Haushalte in Simbabwe von älte-ren Geschwistern geführt.

Sich selbst überlassen

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Vorbild sein – als Fußballtrainer

In Uganda werden Jugendliche zu Kin-derfußballtrainern ausgebildet. Die „Young Coaches“ kommen unter anderem aus den vier SOS-Kinderdörfern des Landes. Sie wer-den dafür geschult, benachteiligten Kin-dern über den Sport soziale Kompetenzen zu vermitteln. Bei der Ausbildung der jugend-lichen Fußballtrainer arbeiten die SOS-Kin-derdörfer mit Experten von Werder Bremen und Bayer Leverkusen sowie lokalen Organi-sationen zusammen. Initiator des Pro-gramms ist die Schweizer Stiftung „Scort“.Die „Young Coaches“ sollen lernen, ihren Schülern über den Sport Werte wie Fairplay und Solidarität sowie den Umgang mit Konflikten und Niederlagen zu vermitteln. Aktuell nehmen 31 Jugendliche teil. Die deutschen Fußballlehrer waren vom Enga-gement der „Young Coaches“ beeindruckt. „Sie hatten bereits klare Vorstellungen da-von, was einen verantwortungsvollen Trai-ner ausmacht“, sagte Peter Quast von Bayer Leverkusen.

Lernen um zu lehren: In Uganda bilden deutsche Fußball-Experten jugendliche Trainer aus, die dann ihrerseits mit den Kindern ihres Landes arbeiten.

Recht auf Kinderarbeit

Kinderarbeit soll in Bolivien offiziell erlaubt werden, das fordert die Union der Kinder- und Jugendarbeiter. Damit einher-gehen sollen schulkompatible Arbeitszei-ten, faire Arbeitsbedingungen und eine Kran-kenversicherung. So soll Ausbeutung ver-hindert werden. Die Kindergewerkschaft hat bereits einen Gesetzentwurf ausge-arbeitet, über den die Regierung in diesem Jahr entscheiden wird.Offiziell ist es Jungen und Mädchen unter 14 Jahren in Bolivien verboten zu arbeiten. Dennoch schuften über eine Million Kinder in dem südamerikanischen Land täglich ohne gesetzlichen Schutz in Bleiminen, auf Müllhalden oder als Schuhputzer. Weil ihre Jobs illegal sind, werden die Kinder aus-genutzt und hintergangen. „Kinderarbei-ter sollen von der Gesellschaft anerkannt und geschützt werden“, fordert die Kinderge-werkschaft.Bereits vor zwanzig Jahren haben sich die ersten Kinder zu einer Gewerkschaft zusam-mengeschlossen.

Bildung gegen Piraterie

Die SOS-Kinderdörfer planen in Dschibuti mit Unterstüt-zung des Verbandes Deutscher Reeder (VDR) ein Zentrum für E-Learning. Es soll Modellcharakter für die Region haben und der Piraterie vorbeugen.Das 2.500 Quadratmeter große Grundstück, auf dem das Zentrum gebaut wird, liegt im Armenviertel Balbala. „Wenn die jungen Leute eine Perspektive sehen und am Horn von Afrika eine soziale wirt-schaftliche Entwicklung stattfindet, kann auch die Piraterie einge-dämmt werden“, glaubt Ralf Nagel, Präsidiumsmitglied des VDR.Dr. Wilfried Vyslozil, Vorstand der SOS-Kinderdörfer weltweit, hält das Zentrum für ein kleines Tor zur Welt: „Die Jugend-lichen haben hier Internetzu-gang, Online-Medien, digitale Bücher und Kontaktplatt-formen.“ Die Eröffnung des Zentrums ist für Herbst 2013 geplant. Die SOS-Kinder-dörfer wollen das Bundes-ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung für eine Teilfinan-zierung gewinnen.

Zugang zu Bildung und Entwicklung sollen Jugendliche am Horn von Afrika

erhalten. Dort entsteht ein Zentrum für E-Learning.

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Bitte nachmachen!

Gipsmasken- landschaft

…vorgeführtvonSOS-KindernundBetreuernausdemSOS-FeriendorfinCaldonazzo,NorditalienMaterial: Gipsbinden, Vaseline, eine Schüssel Wasser. Je nach Laune Farben, Glitzersteine, Federn und anderer Zier-schmuck.Anleitung: Zuerst schneidest du die Gipsbänder auf eine Größe von etwa 10 x 10 Zentimeter. Damit man den Gips-abdruck später leicht wieder vom Ge-sicht ablösen kann, cremst du dein Ge-sicht gut mit Vaseline ein, vor allem auch die Augenbrauen und Wimpern, und bindest die Haare zurück. Jetzt müssen dir ältere Kinder oder Erwachsene helfen! Die legen die durch-nässten Gips-Quadrate Stück für Stück auf dein Gesicht. Man muss den Gips leicht andrücken und verreiben, um die Konturen des Gesichtes gut auszufor-men. Ob du Augen und Mund mit eingip-sen willst, kannst du selbst entscheiden, bei uns hat es die meisten Kinder nicht gestört. Aber auf alle Fälle müssen die Nasenlöcher frei bleiben, damit du Luft bekommst!Nach etwa zehn Minuten ist die Maske fest und du kannst sie abnehmen. In Caldonazzo legten wir sie in die Sonne zum Trocknen. Bis jetzt sahen alle Mas-ken noch ziemlich gleich aus, aber nun nahmen wir Farben, Glitzersteine, Federn und Stoffreste und schmückten sie. Danach erkannte jedes Kind sofort seine Maske.Später haben wir die Masken an Stöcken befestigt und auf der Wiese aufgestellt: Sie wirken wie ein Zauberwald aus fantas-tischen und märchenhaften Gesichtern.Schwierigkeitsgrad: Leicht. Wichtig ist eine entspannte und vertraute Atmo-sphäre, in der kein Kind Angst hat, sich den Maskenbildnern zu überlassen.Alter: Von drei bis 100.

rote Lippen, goldener Teint: Durchs Anmalen, Bekleben und Schmücken bekommen die Gips-masken ihren eigenen Charakter.

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KINDER ENTSCHEIDEN ÜBER IHR SCHULBUDGET

In Rietberg können Schüler über einen Teil des Schulbudgets entscheiden. Als erste Kommune Deutschlands arbeitet die ostwestfälische Stadt mit dem „Schüler-haushalt“, dessen Konzept die Bertelsmann Stiftung entworfen hat. Die Schüler von Gymnasium, Realschule und einer Förder-schule bestimmen über jeweils 7.000 Euro – bis zu 25 Prozent der frei verfügbaren Gel-der. Das Prozedere: Jeder Schüler kann Vor-schläge machen, dann wird abgestimmt. Gemeinsam mit der Stadt verwaltung arbei-tet jede Schule zehn Vorschläge aus und legt sie dem Stadtrat zum Beschluss vor. So sollen die Schüler lernen, sich in Demo-kratie zu üben.

GEBURT AUF FOTOS

In den USA engagieren im-mer mehr werdende Eltern einen Profi-Fotografen, um die Geburt ihres Kindes festzuhalten. Mary Buffington, Fotografin aus Arkan-sas, reist seit zwei Jahren für Geburts-Reportagen durchs Land. Sie glaubt, dass die Reportagen vor allem deshalb so populär sind, weil sie viele kleine Momente festhalten, die sonst unbemerkt blieben. Bei der Geburt versuche sie, sich so unsichtbar wie mög-lich zu machen. Die meisten Kran-kenhäuser geben ihre Einwil li-gung, sofern die Ärzte keine Einwände haben.

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„Ich bin weil wir sindund wir sindweil ich bin !“Nach diesem Motto - es ist unsere

Übersetzung des Zulu-Wortes UBUNTU - arbeiten und leben wir zusammen!

Über Fragen oder Anmeldungen zum kommenden Schuljahr freuen wir uns:

UBUNTU -das CircusjahrAn der Heide 1-3 * 25358 Horst (Holstein)Fon 04126 - 395510 * Fax 04126 - 395511

www.ubuntu.de * [email protected]

UBUNTU -der Circuserfreut seit 18 Jahren die Herzen und

Gemüter der Menschen in Norddeutschland !Für verhaltensoriginelle Kinder und

Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren, die in ihrem familiären oder schulischen Umfeld Belastungen ausgesetzt sind, die der Freude

am Leben und Lernen massiv entgegenstehen, gibt es seit über 10 Jahren

für eine „Auszeit“ unsere Circus-SchuleUBUNTU -das Circusjahr

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GEBURTENRATE ANKURBELN Mitarbeiter in dänischen Kinder-

krippen haben einen Abend lang kostenlos Kinder gehütet – mit dem Ziel, dass die Eltern sich der Leidenschaft hingeben und weiteren Nachwuchs zeugen.Mit der Aktion wollten die Pädagogen auf die sinkende Geburtenrate in Dänemark aufmerksam machen. Wie Dorte Nyman vom Grasshoppers Kindergarten in Nord-Fünen sagt, fühlen sich viele Kinderkrippen davon bedroht, dass bald der Nachwuchs ausbleiben könnte. Die betroffenen Eltern nahmen das Angebot gerne an, bei den Grasshoppers wurde die Hälfte der Kinder zur Betreuung gebracht. Allerdings nutz- ten nicht alle Eltern ihren freien Abend für den beabsichtigten Zweck. Dorte Nyman: „Viele sagten uns: Wir bringen zwar unsere Kinder – aber mehr Nachwuchs werdet ihr deshalb nicht von uns bekom men.“ Dänemark steht in der Geburten statistik weit hinten – auf Platz 185 von 221 Ländern.

Fahrräder für alle Kinder

Radfahren soll ein Kinderrecht werden, forderten die Teilnehmer der Kon-ferenz Velo-City Global in Vancouver. Sie verabschiedeten die „Charta von Vancouver“, die an die Vereinten Nationen und alle Re-gierungsorganisationen appelliert, die Kin-der darin zu fördern, aktiv mobil zu sein. Auf der Konferenz erläuterte Paul Tranter, Professor für Physik, Umwelt- und Mathe-matikwissenschaft der Universität von Can-berra, wie wesentlich es für die Entwick-lung von Kindern sei, selbstständig mobil zu sein – also Fahrrad zu fahren, zu Fuß zu gehen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Deshalb müssten die Städte kinderfreundlicher werden und Eltern und Erzieher den Kindern erlauben, Rad zu fahren. Die Charta von Vancouver gründet auf der UN-Kinderrechtskonvention, die 1990 in Kraft getreten ist und von 140 Ländern

unterzeichnet wurde. Wer das Recht der Kinder aufs Fahrradfahren unterstützen will, kann die Charta auf der Internetseite der European Ciclysts Federation (EFC) unterzeichnen: www.ecf.com/children- have-the-right-to-cycle

Kinder, die per Rad zur Schule fahrenAnteil in %

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Ach, Oma!UBUNTU-repOrTer HABeN GrOSSeLTerN UND IHre eNKeL IN ALLer WeLT BeSUCHT. GeFUNDeN HABeN SIe GLüCK, SpASS UND KOMpLIzeNSCHAFT,

ABer AUCH SprACHLOSIGKeIT, SOrGe UND SeHNSUCHT. GeSpräCHe AUS KeNIA, CHINA, öSTerreICH, BrASILIeN UND GrIeCHeNLAND.

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All ihre enkel sollen mal ein erfolgreiches Leben führen, davon

träumt Jane Obilo im Slum von Mombasa.

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Wenn einen von beiden der Mut verlässt, ist der andere da, um ihn wieder aufzurichten: Steve Biko und seine Großmutter Jane Obilo.

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Biko,dubist22JahrealtundwohnstmitdeinerOmaund21weiterenKindernineinerengenHütteimSlum.Hastduniedarübernachgedachtauszuziehen?BikoOdhiambo: Doch, immer wieder. Aber letztendlich bin ich geblieben, weil ich es unfair fand, sie mit all den Schwierigkeiten allein zu lassen.JaneObilo: Biko unterstützt mich, wo er kann: Vor drei Jahren hat er damit begonnen, Müll zu sammeln und damit sein Geld zu verdienen. Er hat sogar für seine Schwester das Schulgeld bezahlt.B.O.: Ich träume davon, später ein erfolgrei-cher Geschäftsmann zu sein und ein siche-res Einkommen zu haben.J.O.: Das ist auch mein Traum – für alle meine 22 Enkelkinder: dass sie später in sicheren Verhältnissen leben, genug zu essen haben und nie mehr hungrig ins Bett gehen müssen.Dasheißt,heutereichtdasEssennichtimmer?J.O.: Wenn ich morgens aufwache, ist mein erster Gedanke: Werde ich den Kindern heute etwas zu Mittag und zu Abend kochen können? In der Früh um sechs gehe ich auf den Markt, kaufe Mais, koche und verkaufe ihn, aber wenn es schlecht läuft, reichen die Einnahmen nicht. Ich muss ja auch noch Schulgeld für alle Kinder zahlen und das ist mir am allerwichtigsten: dass sie etwas lernen und die Chance bekommen, mal ein anderes Leben zu führen. Daran glaube ich ganz fest.

B.O.: Früher war ich manchmal sauer, wenn wir zum Beispiel mit der Schule einen Aus-flug gemacht haben und ich nicht mitgehen konnte, weil wir die 300 Schilling (drei Euro) nicht hatten. Ich hatte das Gefühl, um meine Rechte als Kind betrogen zu werden. Meine Großmutter hat versucht, es mir zu erklären, aber ich war wütend. Heute ver-stehe ich sie besser.WiepassensovieleKinderüberhauptinIhrekleineHütte,FrauObilo?J.O.: Tagsüber sind wir die meiste Zeit draußen. Nachts schlafen sie auf Matten und bei mir im Bett. Die Größeren gehen jeden Abend rüber zur Schule und schlagen dort ihr Lager auf, auf dem Boden oder auf den Bänken. Bevor ich selbst schlafen gehe, schaue ich nochmal, ob bei den Kin-dern alles in Ordnung ist.B.O.: Ich hab immer Angst, dass sie überfallen werden könnte, wenn sie nachts draußen herumläuft. J.O.: Die gleiche Sorge habe ich um Biko, wenn er früh am Morgen zur Arbeit geht. Die Slums sind nicht gerade die sicherste Umgebung.WiesindSieüberhauptimSlumvonMombasagelandet?J.O.: Früher lebte ich mit meinem Mann in Kisumu im Osten Kenias. Wir hatten ein gutes Leben: Mein Mann war Lehrer, wir hatten ein kleines Haus mit Küchengarten, in dem wir unser eigenes Gemüse anbau-ten. 1975 starb mein Mann – und alles änder-te sich. Die Verwandten meines Mannes

jagten uns aus dem Haus.B.O.: Ich habe immer schon gedacht, dass da etwas nicht stimmt! Warum hast du uns das nie erzählt?J.O.: Weil ich nicht wollte, dass etwas zwi-schen euch und euren Verwandten steht … Damals kam ich nach Mombasa: mit meinen Kindern und den Kindern, die mein Mann mit seiner Zweitfrau hatte, sie war eben-falls gestorben. Jetzt ziehe ich auch die Kin-der meiner Tochter auf, die HIV positiv ist und sehr geschwächt. Meine andere Tochter, die Mutter von Biko und seinen Geschwis-tern, ist bei einem Unfall gestorben. Ich habe auch ein Waisenkind aufgenommen, das niemanden mehr hatte.DasGeldreichteohnehinnichtundSiehabentrotzdemnocheinweiteresKindaufgenommen?J.O.: Hätte es denn auf der Straße leben sollen? Ich habe immer die Hoffnung und den Glauben, dass alles gut wird und dass Gott uns hilft. Wenn ich meine Enkelkinder fröhlich spielen sehe, wenn sie mich an-strahlen und ich spüre, dass ich für sie etwas Besonderes bin, dann ist das für mich das schönste Geschenk. B.O.: Alles, was ich heute kann, verdanke ich meiner Großmutter. Sie hat nie die Hoffnung verloren und uns immer wieder gesagt, dass wir nicht aufgeben sollen. Ich habe mir schon oft vorgenommen, dir zu sagen, wie dankbar ich dafür bin, aber irgendwie habe ich mich nie getraut.J.O.: Das musst du mir doch nicht sagen, Biko. Das zeigst du mir doch jeden Tag in vielen kleinen Momenten.

STEVE BIKO ODHIAMBO, 22, LEBT ZUSAMMEN MIT SEINER GROSSMUTTER JANE OBILO, 60, UND IHREN 21 WEITEREN ENKELN IM SLUM VON MOMBASA IN KENIA. DIE HOFFNUNG GEBEN SIE SELBST HIER NICHT AUF.

Fotos und Interview Mariantonietta Peru

„Ich hab dir nie gesagt, wie dankbar ich bin!“ – „Das zeigst du mir doch Tag für Tag!“

In Kenialebt mehr als die Hälfte der Menschen unter-halb der Armutsgrenze. Der Überlebenskampf in den Slums und die AIDS-Pandemie zerstö-ren viele Familien. Die SOS-Familienhilfe unter-stützt Kinder, Eltern und Groß eltern wie Jane Obilo dabei, ihr Leben zu stabilisieren und wieder ein sicheres Einkommen zu erwirtschaf-ten. Auch Biko bekommt Hilfe beim Aufbau seiner kleinen Müllentsorgungs-Firma.

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WasistesfüreinGefühl,dasEnkel-kindgroßzuziehen?WangYuanying: Ein gemischtes. Ich bin jetzt 70 Jahre alt und eigentlich zu alt, um mich um sie zu kümmern. Wenn ich es aber nicht tun würde, würde sie auf der Straße herumlungern. Ihr Vater muss in der Stadt arbeiten, um die Kosten der Familie zu de-cken. Dazu zählt auch Mengjiaos Bildung. Es gibt keine Alternative.HabensieMengjiaosElternbestärkt,inderStadtzuleben?W.Y.: Ich wünschte, ihre Eltern wären bei uns. Aber die Realität lässt uns keine Wahl. Deswegen habe ich meinem Sohn gesagt, dass er sicher sein kann, dass ich mich gut um sie kümmern werde. Er soll hart arbei-ten und Geld verdienen.Wieistesfürdich,Mengjiao?(Das Mädchen blickt bei jeder Frage auf den Boden.)XuMengjiao: Ich finde das sehr gut. Groß-mutter hilft mir beim Wäschewaschen und kocht mir etwas zu essen.HastduVerständnisfürdeineEltern?X.M.: Ich verstehe sie, weil sie das Geld für meine Schule verdienen müssen. Wenn mein Vater hier wäre, könnte ich später nicht zur Oberschule oder sogar zur Univer-sität gehen. Mama und Papa sind auch wegen meiner Zukunft weggegangen.Vermisstdusie?X.M.:Papa vermisse ich sehr. Mama nicht, weil sie mich im Stich gelassen hat.W.Y.: Natürlich vermisst sie ihren Vater. Aber nicht ihre Mutter. Die Mutter hat sich

hier monatelang nicht sehen lassen. Also habe ich dem Kind erklärt, dass ihre Mutter nichts mehr von ihr wissen will. Mengjiao sollte sie vergessen. Ihre Mutter ist so unmo-ralisch.WarumsagensiedemKindsoetwas?W.Y.: Weil es die Wahrheit ist.TeilstduGeheimnissemitGroßmutter?X.M.:Nein, das versteht sie nicht. Groß-mutter weiß nicht, was ich mag. Sie schaut nicht einmal Fernsehen.(Mengjiao streichelt einen Hund)W.Y.: Du sollst den Hund nicht streicheln. Beim letzten Mal hat er dich gebissen. Die Impfung hat 200 Yuan (25 Euro) gekostet.HilftGroßmutterdirbeidenSchulaufga-ben?X.M.:Nein, sie kann ja nicht lesen und schreiben. Papa hat mir immer geholfen.TeilstdudennGeheimnissemitdeinerMutter?X.M.:Ja, ich erzähle ihr, was in der Schule passiert ist oder wenn ich eine neue Freun-din habe. Großmutter interessiert das nicht.Würdestdudichbesserfühlen,wennMamaundPapahierwären?X.M.:Das wäre viel besser. Keiner im Dorf würde mich dann noch ärgern. Ich müsste keine Angst mehr im Dunkeln haben. Ich könnte mit Papa fernsehen. (Eine Träne läuft ihr die Wange herunter.)W.Y.: Nicht weinen, mein Schatz. Papa beschafft das Geld für deine Schule. Ohne Geld geht heute gar nichts mehr.

WiehatsichdasLebenvonMengjiaoimVergleichzufrüherverändert?W.Y.: Als ich so alt war wie Mengjiao, habe ich ums Überleben gekämpft. Wir haben nur darüber nachgedacht, wie wir etwas in den Magen bekommen. Unsere Kleidung und Schuhe haben wir selbst gemacht. In die Schule gingen nur wenige Kinder von reichen Familien, die anderen nicht. Die Kin-der heute haben ein sehr glückliches Leben im Vergleich zu uns damals. Sie sollten dankbar sein. Es ist ein Unterschied wie Himmel und Hölle. WiesolltenjungeLeuteihreGroßelternbehandeln?W.Y.: Wie die eigenen Eltern. Ich hoffe, dass sie mir später genug zu essen kaufen kann.Mengjiao,wiesolltemanseineGroßel-ternbehandeln?X.M.:Wenn ich Geld verdiene, werde ich Großmutter viel Geld geben und viel gutes Essen für sie kaufen.WennduspätereinmaleinKindhabensolltest,würdestduesalleinlassen?X.M.:Nein, ich werde es mitnehmen. Ich will ihm beibringen, wie man schreibt. Kinder mit Eltern lesen auch mehr als Kin-der, die bei Großeltern aufwachsen. Und sie sind besser in der Schule. WaswollensieMengjiaomitgebenaufihremLebensweg?W.Y.: Wie wichtig es ist, fleißig zu lernen, um sich eine Zukunft zu gestalten. Wenn du an der Universität angenommen wirst, dann ist das wie eine eiserne Reisschale. Wenn du kein Geld hast, schauen die Leute auf dich herab. Niemand respektiert dich.

„Papa vermisse ich, Mama nicht.“ – „Natürlich vermisst sie ihren Vater, aber ihre Mutter ist unmoralisch!“

In Chinasind rund 60 Millionen Kinder von einem ähnlichen Schicksal wie Mengjiao betroffen. Auf der Suche nach Arbeit ziehen die Eltern in weit entfernte Städte und lassen ihre Söhne oder Töchter zurück. Mengijao lebt in Ostchina in der Provinz Anhui. Sie hat immerhin noch ihre Großmut-ter – es gibt Kinder, die völlig allein klar kommen müssen. Fo

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WEIL IHRE ELTERN ZUM GELDVERDIENEN IN DIE STADT GEZOGEN SIND, WÄCHST XU MENGJIAO, 10, BEI IHRER GROSS-MUTTER WANG YUANYING, 70, IN OSTCHINA AUF DEM LAND AUF. IHRE ELTERN SIEHT SIE NUR WENIGE TAGE IM JAHR.

Interview Marcel Grzanna

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Mengjiao und ihre Groß- mutter Wang Yuanying tei-

len Haus, Bett und reis. Geheimnisse teilen sie nicht.

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HerrKutin,nach27JahrenhabenSieindiesemJahrdiePräsidentschaftbeiSOS-KinderdorfInternationalabgegeben.IhreneueRollebezeichnenSiealsdieeinesGroßvaters.HelmutKutin: Dieser bin ich mir vor etwa drei Jahren bewusst geworden, als ich auf den Philippinen war und eines unserer Kin-der freudig „Lolo“ rief. „Lolo“ ist das phi-lippinische Wort für „Großvater”. Das hat mich erstmal aus der Fassung gebracht. Andererseits war diese Offenheit in den Au-gen des Mädchens faszinierend. Da habe ich meine Rolle für die Zukunft erkannt und bekannt gegeben: Ich werde die Verwaltung in jüngere Hände legen. Der Familie SOS-Kinderdorf bleibe ich bis zu meinem Lebens-ende als nicht zu gütiger, aber doch ruhige-rer Großvater erhalten.JeanneMukaruhogo: Mich freut das sehr, weil ich ihn jetzt öfter sehen werde. Wiekommtes,dassSiebeidesoeineengeBeziehungzueinanderhaben?H.K.: Das hat mit ihrer besonderen Geschich-te zu tun. Jeanne ist mit zehn Jahren schwer herzkrank aus Burundi nach Innsbruck ge-kommen, um hier operiert zu werden. Plötzlich war sie in einem völlig anderen Kulturkreis, dessen Sprache sie nicht ver-stand. Mir war es damals wichtig sicherzu-stellen, dass es ihr gut geht, und ich habe öfter nach ihr gesehen. Jeanne hat das Gan-ze mit einer unglaublichen Kraft und viel Charme über die Bühne gebracht.DieSOS-Kinderdörferachtennormaler-weisesehrdarauf,dassdieKinderinihremeigenenKulturkreisaufwachsen.

WiesosindSieinÖsterreichgeblieben,FrauMukaruhogo?J.M.: In Burundi wäre eine angemessene medizinische Nachsorge nicht möglich gewesen, deshalb zog ich nach dem Kranken-hausaufenthalt ins SOS-Kinderdorf Imst.WarenSiemanchmaleifersüchtig,weilSieHelmutKutinmitsovielenanderenSOS-Kindernteilenmussten?J.M.: Nein! Meine Geschichte ist einmalig und die Zeit, die wir miteinander verbrin-gen, ebenso. So wie andere Kinder auch ihre besondere Beziehung zu ihm haben.H.K.: Mein größtes Problem mit ihr ist, dass sie noch keine eigene Familie hat.J.M.: Unser Thema bei jedem Treffen seit zwei Jahren.H.K.: Ich begrüße jeden Lebensweg. Wenn sich eine junge Frau voll und ganz auf den Beruf konzentrieren will, akzeptiere ich das. Aber wenn jemand eine Familie gründen will, dann sag ich immer: „Mach es bald, anstatt auf den Traumprinz zu warten.“ Aber ich mische mich nicht mehr ein. Jedes Mal, wenn ich was organisiert hab …J.M.: Ja, das sagst du immer.H.K.: Ich gehe auch nicht mehr zu Hoch-zeiten meiner Ehemaligen, weil ich dann auch bei der Scheidung dabei sein darf.J.M.: Aber bei mir würdest du eine Ausnah-me machen. Du hast schon öfter Ausnah-men für mich gemacht. Zum Beispiel woll-test du auch zu keiner Uni-Abschlussfeier mehr gehen – aber bei meiner warst du. Das war schön.H.K.: Da standen diese 26 Studenten feier-lich im Kongresszentrum und am Ende hält

Jeanne die Dankesrede für die Professoren – als Afrikanerin in breitem Tirolerisch. Ein faszinierender Moment!SeitAbschlussIhresStudiumsarbeitenauchSiefürdieSOS-Kinderdörfer,FrauMukaruhogo.WieschaffenSiees,Dienst-lichesundPrivateszutrennen?J.M.: Ich bewundere seine Hingabe an die Arbeit und seine Disziplin, da versuche ich mir viel abzuschauen. Ansonsten ist mir wichtig, zwischen Arbeit und Privatleben komplett zu trennen.H.K.: Dennoch: Seit Jeanne für uns arbeitet, hat sich unsere Beziehung noch intensiviert. Sie ist auf meine Initiative hin nach Afrika gegangen, wo sie als Personalkoordinatorin tätig war. Ich fand es sinnvoll, dass sie als ehemaliges SOS-Kind mit einer fantastischen Ausbildung ihr Wissen in ihrer ursprüngli-chen Heimat einbringt. Nicht alle Mitarbei-ter haben das akzeptiert und anfangs wurde sie viel abgeschoben, nach dem Motto: „Vorsicht, die ist so nahe am Präsidenten dran …“ Aber sie hat das durchgestanden. Jeanne will ihre Schwierigkeiten immer al-lein in den Griff kriegen.UndderGroßvateristdazuverdonnertzuzuschauen?H.K.: Ein Großvater hat die Möglichkeit, sich als eine Art Medizinmann einzubringen, wenn’s mal in der Familie kracht – und selbst das ist schwierig in Europa. Im asia-tischen und afrikanischen Familiensystem spielt das Alter noch eine wichtige Rolle. Doch auch dort wirken sich Urbanisierung und Globalisierung aus. Die Welt ändert sich, und wenn man sich nicht mit ihr än-dert, wird man von ihr geändert.

„Ich geh nicht mehr zu Hochzeiten!“ – „Bei mir würdest du eine Ausnahme machen.“HELMUT KUTIN, 71, EHEMALIGER PRÄSIDENT DER SOS-KINDER-DöRFER, WAR DA, ALS JEANNE MUKARUHOGO, 35, ALS KIND HERZKRANK AUS BURUNDI NACH öSTERREICH KAM. IHRE BESON-DERE BEZIEHUNG HÄLT BIS HEUTE.

Interview Martina Koch

In Österreichwurde 1949 in Imst das erste SOS-Kinderdorf gegründet. Helmut Kutin, der spätere Präsi-dent, ist selbst im Kinderdorf Imst groß gewor-den, so wie später Jeanne Mukaruhogo und viele andere Jungen und Mädchen. Heute gibt es in österreich elf SOS-Kinderdörfer und zahlreiche Einrichtungen und Programme zur Unterstützung von Kindern und ihren Familien. Fo

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Sie freuen sich, bald mehr zeit mit-einander zu haben:

Jeanne Mukaruhogo und ihr Großvater, Vater

oder väterlicher Freund Helmut Kutin.

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Rômullo,wassagendeineFreundedazu,dassduderEnkeleinesberühmtenCandomblé-Priestersbist?VieleLeutehabenjaVorurteilegegendieafro-brasili-anischeReligion,imvergangenenJahr-hundertwarsiesogarverboten.RômulloRamosdeCosta: Meine Lehrerin hat mich mal danach gefragt, deswegen wissen alle in der Schule, wer mein Opa ist. Die Lehrerin fand das aber eher toll und meine Freunde sind offene Leute. ManoelPapai: Das war bei mir früher an-ders! Ich war auf einer Klosterschule und weil ich meinen Mitschülern in der Pause von den Göttern erzählt hab, haben mich die Mön-che von der Schule verwiesen. Heute könnte ich sie dafür verklagen, inzwischen gehöre ich zum Forum gegen religiöse Intoleranz hier in Recife.R.R.: Ich bewundere meinen Opa sehr. Wie er für die Religion einsteht, seine Hal-tung …BistduauchimCandombléaktiv,Rômullo?R.R.: Früher war ich immer mit meiner Mutter bei den Festen, aber ich habe mich nie für Religion interessiert. Nur die Opfer-tiere habe ich gerne festgehalten, wenn sie gehäutet wurden, um daraus das Essen für die Götter zu machen.

M.P.: Ja, aber erst, wenn sie schon tot waren.R.R.: Ich mag Tiere sehr, am liebsten möchte ich Tierarzt werden. In meinem Al-ter ist es schwer, durchzusetzen, was man gerne möchte! Das ist jedes Mal ein Kampf mit meiner Mutter. Es hat ewig gedauert, bis sie mir endlich erlaubt hat, einen Hund zu halten. Zum Glück hat mir mein Opa dabei geholfen. M.P.: In deinem Alter habe ich mich mehr für Fußball interessiert – und für den Candomblé. Ich habe als Junge regelmäßig in der Kultstätte meiner Oma getrommelt. Aber ich sehe die Religion als Option an, nicht als Zwang. Von meinen drei Töchtern ist eine einzige engagiert dabei, die ande-ren erinnern sich nur an die Religion, wenn sie etwas brauchen. (lacht)R.R.: Ich glaube an Gott, eine Religion habe ich aber nicht. Der Candomblé ist nicht meins, aber das Christentum auch nicht. Was sie von Jesus erzählen, finde ich wenig glaubhaft.M.P.: Das fängt schon damit an, wer das Ganze aufgeschrieben hat! Was waren das für Leute? Wann war das? Für mich gibt es viele Gottheiten, die alle einen Gott reprä-sentieren: Olorun. Er spricht Yorubá, unse-re Sprache.

WievielZeitverbringtihrbeidemitei-nander?R.R.: Wir wohnen direkt nebeneinander, aber sehen uns oft drei, vier Tage nicht: Wenn ich aufstehe, ist Papai schon aus dem Haus, und wenn ich spät abends heimkom-me, schläft er schon. Der Rhythmus ist ein anderer. Früher war das anders, wir haben viel gespielt, zum Beispiel mit Murmeln …M.P.: … und Karten, Domino … Seit ich mehr reise, essen wir nur noch gelegentlich zusammen Mittag.KommensichFamilieundPriesteramtmanchmalindieQuere?M.P.: Nicht mehr, als die Arbeit bei an-deren Männern auch. Ein Handelsvertreter muss auch reisen. Meine Reisen sind eben religiös.WashaltenSiedavon,dasskatholischePriesternichtheiratendürfen?M.P.: In jeder Religion gibt es eigene Ge-setze, die man als Geistlicher respektieren muss, aber das ist schon Quälerei. Die ka-tholischen Priester halten sich ja nicht unbe-dingt daran, wie man an den Pädophilie-Fällen sieht. Für mich ist das eine größere Sünde, als wenn ein Priester ins Bordell ginge.AlsreligiöserFührersindSieVorbildundRatgeber.WasgebenSiedenjungenLeutenheutemit?M.P.: Ich rate ihnen, sich nicht auf Drogen einzulassen, keine unehrlichen Mittel zu nutzen …R.R.: … auch wenn sie noch so leicht zur Hand sind!M.P.: Genau. Und sich selbst zu respek-tieren – damit man von anderen respektiert wird.

DER PRIESTER MANOEL „PAPAI“ DE NASCIMENTO COSTA, 70, WURDE FRÜHER FÜR SEINEN GLAUBEN, DEN CANDOMBLé, VON DER SCHULE VERWIESEN. SEIN ENKEL RôMULLO RAMOS DE COSTA, 16, WIRD HEUTE FÜR SEINEN BERÜHMTEN GROSSVATER BEWUNDERT.

Interview Christine Wollowski

„Als Junge habe ich regel- mäßig in der Kultstätte meiner Oma getrommelt.“ – „Ich hab mich nie für Religion interessiert!“

In Brasilienwird die afro-brasilianische Religion Candomblé noch an vielen Orten zelebriert. Bei Festen treten die Gläubigen tanzend und trommelnd mit den Gottheiten in Verbin-dung. Der Priester muss die afrikanische Sprache Yorubá sowie das Muschelorakel be-herrschen und ist Mittler zwischen der gött-lichen und der menschlichen Welt. Fo

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Manoel papai und rômullo können

über alles miteinan- der sprechen – falls

sie sich begegnen. Meist ist der priester

schon außer Haus, wenn sein enkel mor-

gens aufwacht.

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Nicht gestellt: penelope Tzaki und

ihre enkelin Niki mögen sich einfach

sehr, sehr gerne.

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musste keine Angst haben ausgeraubt oder vergewaltigt zu werden.Waswarsonstnochanders?P.T.: Wir wohnten damals schon hier, mit-ten in Athen, aber man würde den Ort nicht wiedererkennen: Überall waren Getreide-felder und viele Schafe, die Häuser waren kleiner – das war schon schön.N.P.: Das hätte ich gerne gesehen – aber nur als Besucherin. Ich mag mein Leben!P.T.: Recht hast du! Das Leben ist heute so viel leichter …Wirklich?ObwohlGriechenlandaufgrundderFinanzkrisesovieleProblemehat?P.T.: Aber wir hatten den Krieg! Ich war zehn Jahre alt, als Italien Griechenland den Krieg erklärte. Falls ich nicht irgendwann Alzheimer bekommen sollte, werde ich die-sen Moment nie vergessen.WelcheTräumehattenSiedamals?P.T.: Das war keine Zeit zum Träumen. Ich hatte nur den einzigen Wunsch, dass es irgendwann besser würde. Damals ging es für uns alle ums Überleben.Niki,wieerlebstdudieKriseheute?N.P.: Wir sprechen zuhause nicht viel darüber. Meine Eltern und meine Großmut-ter versuchen, sie von mir fern zu halten.Aberduwirsttrotzdemetwasmitbekom-men.

FrauTzaki,wiewürdenSieIhreEnkelinbeschreiben?PenelopeTzaki: Sie ist einzigartig, schön, einfühlsam – ich liebe sie über alles!NikiPanikolaou: Seit ich klein bin, gehe ich jeden Tag zu Oma, wenn meine Eltern arbeiten. Ich kann nicht beschreiben, was ich für sie empfinde. Sie ist warmherzig, sozial und obwohl sie in dieser ganz anderen Zeit aufgewachsen ist, steht sie uns jungen Leuten nah.Istesleichter,OmaoderMutterzusein,FrauTsaki?P.T.: Die Liebe ist die gleiche, aber ich sag es mal so: Wenn mein Enkelkind etwas an-stellt, würde ich ihm trotzdem keinen Klaps geben. Den eigenen Kindern schon eher.N.P.: Aber Oma, du hast doch deine Kinder auch nicht geschlagen.P.T.: Das stimmt! Nur ein einziges Mal habe ich deinem Vater einen Klaps gegeben, aber den beiden Mädchen nie. Genauso wie meine Eltern mich nicht geschlagen haben.N.P.: Aber du erzählst oft, dass sie viel strenger waren.P.T.: Oh ja! Wir zwei Schwestern durften nie ausgehen und wenn, dann musste einer unserer Brüder dabei sein. Um acht Uhr hatten wir im Bett zu sein – obwohl damals das Leben noch viel sicherer war. Man

N.P.: Natürlich! Mein Vater hat seine Ar-beit verloren und ein Mädchen aus unserer Klasse ist vor kurzem am Vormittag mit seinem Vater auf der Straße gesehen worden. Statt in die Schule zu gehen, hat es Was-serflaschen verkauft, um Geld zu verdienen. Jetzt haben sich alle Eltern zusammengetan und unterstützen die Familie, damit das Mädchen wieder in die Schule gehen kann.P.T.: Glücklicherweise verdient eine mei-ner Töchter gut. Sie unterstützt die ganze Fa milie. Aber für die jungen Leute ist das schon tragisch: Sie haben keine Perspektive. Niki möchte Tierärztin werden. Ich hoffe sehr, dass sie es schafft!N.P.: Meine Oma wünscht mir einfach nur immer das Beste. Neulich hatte ich eine Diskussion mit meiner Mutter, die nicht wollte, dass ich mit meinen Freunden an ei-nen bestimmten Ort gehe, weil er zu gefähr-lich sei. Meine Großmutter dagegen fand, dass junge Leute sich amüsieren sollen.WieistderDisputausgegangen?An dem Abend bin ich zuhause geblieben, aber beim nächsten Mal mitgegangen.Wastutihrbeidesonstso,wennihrzusammenseid?N.P.: Fernsehen …P.T.: Wir reden, lachen …N.P.: Wir umarmen uns … alles Mögliche! Wir streiten uns nie!Nie?N.P.: Nein – wir haben keinen Grund. P.T.: Ich bin einfach sehr dankbar und froh, dass es uns so gut geht! Es gibt nur eine Sache, die ich nicht verstehe: Warum liebt ihr mich alle so?N.P.: Ach, Oma!

PENELOPE TZAKI, 82, IST IMMER AUF DER SEITE IHRER ENKELIN. SIE HOFFT, DASS NIKI, 14, IHRE TRÄUME VERWIRKLICHEN KANN – TROTZ DER KRISE IN GRIECHENLAND.

Interview Simone Kosog

„Wir reden, lachen …“ – „Wir umarmen uns. Wir streiten uns nie!“

Die Krise in Griechenlandhat auch für viele Kinder und Jugendliche gravierende Auswirkungen und betrifft längst auch die Mittelschicht. Deshalb haben die SOS-Kinderdörfer ihre Familienhilfe deutlich ausgeweitet. Sie unterstützen bedrohte Fami-lien mit Nahrungsmitteln, Kinderbetreuung, Hausaufgabenhilfe und Therapien.Fo

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Die Bomben der Gegenwart

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Oben: Ute Neubergers Mutter (Mitte), ihre Tante (links)

und ihre Großmutter (rechts). Das Foto schickten sie dem

Groß vater zu Weihnachten in die französische Gefangenschaft.

Links: An den Wänden ihrer Alt-bauwohnung möchte Ute Neu-

berger keine Bilder von damals hängen haben. Die Fotos

sind alle in ihrem Album.

Als die Bombe in Schwabing hochging, war der dumpfe Knall in der Wohnung von Ute Neuberger gut zu hören. Im Minutentakt meldeten die Nachrichtenkanäle neue Details von der Sprengung der 250-Kilogramm-Fliegerbombe, einem Überbleibsel des Zweiten Weltkriegs. Rund um den Sprengkrater in der Münchner Feilitzsch-straße sah es im August 2012 aus wie im Krieg, hieß es. Im Unter-grund deutscher Städte liegen noch viele Bomben. „Für mich ist das fast wie ein Symbol“, sagt Ute Neuberger. „So eine Bombe kann je-derzeit hochgehen. So ist das auch mit unserer Erinnerung, jeden Moment kann die Vergangenheit wieder hochkommen, auch wenn sie jahrzehntelang vergraben war und der Krieg längst vorbei ist.“ Ein Journalist habe einen Tag nach der Sprengung einen guten Satz in die Zeitung geschrieben, erzählt die 55-jährige Traumatherapeu-tin: Wie lange reicht die Vergangenheit in die Zukunft? Das ist genau die Frage. Beim Gespräch in ihrer hübschen Schwa-binger Hinterhofwohnung erzählt Ute Neuberger Dinge, die wahr-lich Sprengkraft haben. Von einer Mutter, die beinahe täglich ge-sagt hat, sie „wolle in die Isar gehen“, die sich schon, als sie mit ihr schwanger war, mit Schlaftabletten habe umbringen wollen. Und später noch einmal, als sie sich und ihre Kinder in der Küche ein-schloss und den Gashahn aufdrehte, um zu sterben. Und dass sie erst jetzt begriffen habe, welche traumatischen Erfahrungen aus dem Krieg und den Monaten danach ihre Mutter so tief verstört haben. „Ich musste früh erwachsen werden“, sagt Ute Neuberger. Das ist ein Satz, den man von vielen der sogenannten „Kriegsenkel“ hört – Menschen der Jahrgänge 1960 bis 1975.Wenn man also Vertreter einer Generation in ganz Deutschland besucht hat, Menschen aus Köln, München, Rosenheim oder Bonn, von denen man dachte, dass der Krieg weit von ihnen entfernt sei, kann man sicher sagen: Der Krieg reicht bis ins Jahr 2012. Wenn diese Kriegsenkel die Geschichten ihrer Eltern und Großeltern er-zählen, spürt man den großen Ballast, der über Generationen hin-weg weitergegeben wurde. Deren unbewältigte Traumata haben sich ihren Weg in die Enkel-Generation gesucht. Nicht bei jedem, und auch bei jedem anders, jede Geschichte, die der Reporter in diesen Wochen im September 2012 hört, trägt einen sehr persönli-chen Stempel. Der Münchner Andreas Bohnenstengel, damals noch in Hamburg wohnend, erzählt, wie er an einem Sonntagnachmittag plötzlich den dringenden Wunsch hatte, hunderte von Kilometern bis nach

LANGE HABEN SIE SICH MIT DEM ZUFRIEDEN GEGEBEN, WAS ELTERN UND GROSSELTERN ÜBER DEN KRIEG ERZÄHLTEN, ABER JETZT FORSCHEN PLöTZLICH IMMER MEHR KRIEGSENKEL NACH. SIE WOLLEN WISSEN, WAS IN IHREN FAMILIEN WIRKLICH GESCHAH – UM AUCH IHR EIGENES LEBEN BESSER ZU VERSTEHEN.

Fotos Michela Morosini Text Hubert Filser

Polen zu fahren, um das ehemalige Gutshaus seiner Großeltern in Belkow zu besuchen. „Ich träumte immer von Häusern und dachte plötzlich, dass es um dieses Haus gehen könnte“, erzählt er. Nachts klingelte er die heutigen Bewohner heraus und erklärte sein Anlie-gen. „Sie waren sehr nett, zeigten mir zwei Stunden lang das Haus und boten mir sogar an zu übernachten. Aber ich wollte nur wieder zurück. Ein bisschen komisch fanden die mich wohl schon“, sagt er noch und lacht. „Wie schlimm die Flucht und wie demütigend die Jahre nach dem Krieg für meinen Vater waren, hat er mir nie erzählt. Er hat immer von einem großen Abenteuer gesprochen.“ Dessen Vater war kurz vor Kriegsende auf dem Hof gestorben, die einst wohl-habende Familie musste das Gutshaus zurücklassen und floh mit dem Allernötigsten Richtung Schleswig-Holstein, dort kamen sie bei Bauern in einem Schweinestall unter. Das Haus wurde zum Projek-tionsort einer besseren Vergangenheit. „Mein Vater hat wohl tage-lang geheult, auch die Jahre danach waren demütigend, sie waren als Flüchtlinge nur geduldet“, erzählt Bohnenstengel. Er versteht nicht, warum seine Eltern ihre Erlebnisse nie zu bewältigen ver-suchten. „Aber das ist ihr Leben, ich muss mein Leben leben.“

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Alle scheinen darunter zu leiden, dass sie ihre Eltern nie wirklich zu fassen bekamen, diese entweder schwiegen so wie schon deren El-tern, oder so kühl und abweisend waren, dass die Kriegsenkel irgend-wann aufhörten zu fragen. Dabei wollten sie gar nicht die Schuld-frage klären, sondern einfach nur ihre Eltern und Großeltern besser verstehen, auch deren Gefühlskälte.Anne-Ev Ustorf, Jahrgang 1974, merkt in ihrem Buch „Wir Kinder der Kriegskinder“ an: „Fälschlicherweise glauben viele Menschen, dass nur die Kriegskinder, die alt genug waren, um sich an konkrete, belastende Ereignisse zu erinnern, heute noch mit den Folgen des Erlebten zu kämpfen haben. Das Gegenteil ist der Fall.“ Eine der ersten Autoren, die das Phänomen beschrieben haben, war die Köl-nerin Sabine Bode. In ihrem Buch „Kriegsenkel“ schreibt sie: „Die Generation der zwischen 1960 und 1975 Geborenen hat mehr Fragen als Antworten: Wieso haben viele das Gefühl, nicht genau zu wis-sen, wer man ist und wohin man will? Wo liegen die Ursachen für diese diffuse Angst vor der Zukunft? Weshalb bleiben so viele von ihnen kinderlos?“

Der Münchner Andreas Bohnen-stengel mit seinen Kindern.

Um sich selbst und ihr Leben zu verstehen, ergründen die

Kriegsenkel die Vergangenheit.

Die Kriegsenkel suchen sich ihre Antworten nun selbst, Andrea Pir-ringer aus Rosenheim hat deshalb 77 Jahre nach Ende des Krieges im April 2012 gemeinsam mit einer Mitstreiterin eine Selbsthilfe-gruppe gegründet. Offenbar war die Zeit auch in München reif, wie schon an anderen Orten in Deutschland. Die erste Kriegsenkel-Ini-tiative entstand vor drei Jahren in Berlin. Bücher über Kriegsenkel wie die von Sabine Bode, Bettina Alberti („Seelische Trümmer“) oder Anne-Ev Ustorf wirkten dabei wie Katalysatoren. Oder wie Ute Neu-berger sagt: „Es war wie ein brodelnder Topf, der lange gedeckelt wurde. Jetzt bricht etwas durch.“Die Münchner Gruppe, zu der auch Ute Neuberger gehört, ist eine der am schnellsten wachsenden in Deutschland. „Ich hätte nicht mit so einer Resonanz gerechnet“, sagt Andrea Pirringer. Mittlerweile sind rund 25 Mitglieder registriert, vorwiegend Frauen, fast alle mit aka-demischer Ausbildung. Vor allem abends und nachts organisiere sie die Selbsthilfegruppe, suche neues Material für die Webseite, schreibe Mails an die Mitglieder, bereite neue Treffen vor. „Das ist wie ein Baby, das ständig schreit“, sagt sie. Eigene Kinder hat sie, wie viele der betroffenen Frauen, nicht. „Irgendwie ergab sich das nie“, sagt die 40-Jährige. Mag sein, dass die Linie enden soll.Einmal pro Monat treffen sich die Mitglieder in einem Selbsthilfe-zentrum im Münchner Westend. Im Erdgeschoss haben die Verant-wortlichen den Kriegsenkeln einen hellen, freundlichen Raum zur Verfügung gestellt. Dort reden sie dann drei Stunden miteinander, immer sonntags, und irgendwie immer über den „langen Schatten des Krieges“. Wie ein Bleimantel scheint er sich über die Gefühls-welt zu legen.Ute Neuberger erzählt von ihrer Mutter, die als Neunjährige einen Fliegerangriff auf der Flucht miterlebte. Eine Bombe traf das Fuhr-werk, riss den Bauch eines Pferdes auf, die Gedärme quollen heraus. Ihre vier Jahre jüngere Schwester stand hilflos schreiend auf dem Pferdefuhrwerk, die Flieger kamen zurück. Sie selbst hatte einen

Das alte Gutshaus der Familie Bohnensten-

gel in Belkow, Polen – damals (rechts) und

heute (unten). Bei der zweiten Fahrt in die

Vergangenheit wurde Andreas Bohnenstengel von Vater, Onkel, Tante und Bruder begleitet.

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Koffer mit Dokumenten in der Hand, ihre Mutter hatte ihr einge-bläut, niemals den Koffer loszulassen, „egal was kommt“. Da stand sie und dachte, sie müsste sich entscheiden: Koffer oder Schwester. „Ich dachte immer, das Trauma reiche schon aus. Bis ich vor drei Jahren erfahren habe, dass sie noch Schlimmeres erlebt hat“, sagt Neuberger. Völlig überraschend sprach ihre damals schon leicht demente Mutter von Dingen, die sie noch nie erzählt hatte, offenbar wollte es heraus: „Nammering“, sagte sie, und etwas von Zwiebel-säckchen und Leichen auf der Totenwiese.Es sind Ereignisse, die zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Geschichte gehören – und die Gefühlswelt eines neunjährigen Mäd-chens, der Mutter von Ute Neuberger, traumatisch prägten. Der Todeszug vom KZ Buchenwald Richtung Dachau kam im April 1945 in der Nähe des Ortes vorbei, an den die Mutter geflohen war. 4.500 Leute waren damals in Viehwagons gepfercht worden, praktisch ohne Essen und Wasser, bewacht von SS-Leuten, die zunehmend durchdrehten. In der qualvollen Enge krepierten die ausgemergel-ten Häftlinge zu Hunderten. Am Ende des Zuges hing ein eigener Wagon für die Leichen. Wer nicht vor Entkräftung starb, den richte-ten die SS-Leute hin, der kleinste Anlass genügte. 524 Menschen ver-scharrten die Wachleute auf einer sumpfigen Wiese bei Namme-ring, die heute nur Totenwiese heißt. Drei Wochen später kamen amerikanische Soldaten, ließen die Leute aus dem Dorf antreten, um die verwesten Leichen zu exhumieren und zwangen alle Bewoh-ner, sich die Toten genau anzuschauen, auch die Kinder: Look, what you have done! „So habe ich Englisch gelernt“, habe ihr die Mutter noch gesagt, erzählt Ute Neuberger. Ein Zwiebelsäckchen gegen den Verwesungsgeruch rissen ihr die Soldaten weg. Es ist kein Wunder, dass die Betroffenen solche Erlebnisse tief in sich vergraben. Nur indem sie diese abspalten und wie in einer Black Box verschließen, können sie weiterleben, sagen Psychologen. Das Schweigen sei eine Schutzreaktion des Körpers, doch verarbeitet werden die Traumata so natürlich nicht.Jeder der befragten Kriegsenkel hat so eine Geschichte zu erzählen, und jeder musste sie fast ohne Mithilfe der Eltern herausfinden, manchmal sogar gegen deren Willen. „Es gab ein großes Bedürfnis nach Sicherheit, Normalität und nach einer gewissen Anständig-

keit“, sagt Andrea Pirringer. Da störten lästige Fragen nur. Nach au-ßen zeigten die Familien meist eine perfekte bürgerliche Fassade. Das Thema Krieg habe man bewältigt, indem man sich neu als gut-situierte, ordentliche Familie definierte. Niemand bekam offenbar mit, wie oft sich gerade die Mütter in ihren heimlichen Depressio-nen abkapselten, wie oft sie alkoholkrank waren. Kaum jemand thematisierte in der Wirtschaftswunderzeit, wie oft die Väter sich ihren Kindern völlig entzogen, so wie sie selbst ohne Vater aufwach-sen mussten, weil der gefallen war oder nach der Gefangenschaft als Fremder zurückkam. „Meine Mutter hat mich als Baby zwei Monate allein bei den Großeltern zurückgelassen, so wie sie als Fünfjährige nach dem Krieg monatelang ohne Eltern im Heim war“, sagt Beate Bornmüller aus Köln. Das Trauma wiederholte sich.Und den Kindern fehlte vor allem eines: Nähe. Und sie hatten das Gefühl, irgendwie nicht richtig dazuzugehören. „Mein Vater war sehr kalt und hart“, erzählt auch Clarissa Höschel aus Großinzemoos nordwestlich Münchens. „Er war der ganz große Schweiger. Auch meine Oma war komisch. Sie schlich immer wie ein dunkler Schat-ten durchs Haus.“ Nach dem Tod des Vaters rekonstruierte sie die Geschichte ihres Heimatdorfs Pohlschildern in Niederschlesien. Und erfuhr dabei, dass ihre Großmutter vom Hof vertrieben worden war, als der Krieg verloren war und die russische Armee anrückte.

rechts: „Die Oma war komisch“, sagt Cla-

rissa Höschel über ihre Groß mutter Berta. Bei

ihren Recherchen fand sie heraus, dass

Berta Höschel schwer traumatisiert war.

Ganz rechts: Flucht aus Pohlschildern in Nie-

derschlesien, der Heimat der Familie Höschel,

im improvisierten Pfer-dewagen.

Links: Das einzige Bild, das von Clarissa Höschels Opa Max existiert. Als ihre Oma nach Kriegsende zurückkehrte, war er bereits erschlagen und notdürftig ver-graben worden.

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Oben: Offenbar zwangsarisiert: der Be-trieb im tschechischen Jägerndorf, den

Stefan Ochabas Großvater leitete. rechts: Auch im „Compass“, einem Wirt-

schaftsverzeichnis aus der Nazizeit, wird die Fabrik aufgeführt – mit Erich

Ochaba als Vorstand.

Sie hatte die Bombennächte in Dresden überlebt, war voller Hoff-nung danach zurückgekehrt, hatte erfahren, dass ihr Mann mit ein-geschlagenem Schädel eilig ohne Grabstein auf dem Friedhof ver-scharrt worden war, ist vielleicht sogar, wie so viele Frauen, mehrfach vergewaltigt worden. „Nacht für Nacht versteckten sich die Frauen auf Bäumen, in Scheunen oder Erdlöchern und hörten überall die weniger glücklichen Frauen schreien“, sagt Clarissa Höschel. Darü-ber geredet hätten weder ihre Großmutter, noch die Eltern. „Ich habe überall nur Leerstellen gesammelt. Und die musste ich irgend-wie füllen.“Die Leere füllen, das ist wohl die verbindende Komponente der Kriegsenkel. Mit Informationen über Vertreibung, Schuld, Verge-wal tigung, Überlebenswillen, Verlassenheit und Tod. Mit Informa-tionen, die die Großeltern in sich vergraben haben, an die die Eltern nicht herankommen konnten und wollten, weil sie mit dem Wieder-aufbau und der Sehnsucht nach Sicherheit und Wohlstand beschäf-tigt waren. In vielen Geschichten der Kriegsenkel liegt der Fokus auf dem trau-matischen Erleben der Großeltern und Eltern, nicht auf ihren Taten. Der Sozialpsychologe Harald Welzer stellt in seinem Buch „Opa war kein Nazi“ fest, dass die Enkelgeneration zwar die NS-Ideologie noch entschiedener ablehnt als die Generation zuvor, doch ihr Blick richte sich nur auf die Politik, nicht aber auf das eigene Privatleben. Der eigene Opa ein Nazi und vielleicht sogar ein Mörder? Zwei Drittel der von Welzer Befragten stellen sich ihre Großväter lieber als Opfer des Regimes oder sogar als Widerstandshelden vor. Wirklich wissen wollen es die wenigsten. Stefan Ochaba ist da eine Ausnahme. Der Kölner fand in jahrelanger Arbeit heraus, dass sein Großvater wohl unter eigenwilligen Um-ständen einen zwangsarisierten Betrieb im tschechischen Jägern-dorf mit 1.200 Zwangsarbeitern übernommen und geleitet hatte, und der ehemalige jüdische Besitzer des Werks, Rudolf Eibuschitz,

über Prag nach Theresienstadt gebracht und dann in Sobibor ermor-det worden war. Nach dem Krieg schaffte er es, sich der schon aus-gesprochenen Verurteilung zu entziehen und mit Hilfe der Aussage eines angeblichen Zeugen reinzuwaschen. Einem verwandten An-walt gelang es später sogar, dem Großvater über den Lastenausgleich eine Entschädigung für das verlorene Vermögen von Jägerndorf zu be sorgen. Als Stefan Ochaba kürzlich bei diesem mittlerweile alten Verwandten zuhause war und im Schrank dessen alte Uniform und die Totenkopfabzeichen sah, sei ihm klar geworden: „Das sind ihre Orden, das ist deren Geschichte, nicht meine.“ Nach dem Besuch sei er zwei Tage in Schockstarre gewesen, „aber dann ist der Kloß von mir abgefallen.“ „Viele Gruppenmitglieder haben ein schwieriges Verhältnis zu ih-ren Eltern“, sagt Pirringer. Oft wüssten die Eltern nicht einmal, dass sich ihre Kinder in einer Selbsthilfegruppe organisiert haben. Immer wieder tauchten in den Gesprächen Sätze auf, die auf ein großes Gefühl der Verlassenheit schließen lassen. „Ich konnte die Liebe meiner Eltern nicht spüren“, sagen manche. Andere schildern in der Selbsthilfegruppe zum ersten Mal die „gedrückte Stimmung“ zu-hause. „Die Erleichterung kommt schon nach dem ersten Treffen“, erzählt Pirringer. Oft beschreiben die Kriegsenkel, was Psychologen Fo

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Beate Bornmüller als Baby mit ihrer Großmutter. Ihre Mutter musste als

Kind monatelang ohne ihre Eltern aus-kommen – nun wiederholte sich das

Trauma in der nächsten Generation.

„emotionale Sprachlosigkeit“, „Identitätsverwirrung“ und „Bindungs-schwierigkeiten“ nennen. Und sie erzählen beiläufig, wie oft sie um-gezogen seien, ein häufiges Phänomen bei Kriegsenkeln. So als ob sie ihren Platz nicht finden konnten. „Sich und den eigenen Weg finden“, sei ein großes Thema bei Kriegsenkeln, sagt Pirringer. Der Krieg scheint diesen Weg verschüttet zu haben. Ist also diese diffuse „gedrückte Stimmung“ das eigentliche Erbe, setzt sich so das Leiden auch über Generationen hinweg fort? „Klas-sischerweise werden eigene, unverarbeitete Erlebnisse der Eltern in der Interaktion mit dem Säugling wieder lebendig – geradezu wie Gespenster aus der Vergangenheit“, sagt der Münchner Bindungs-forscher und Kinder- und Jugendpsychiater Karl-Heinz Brisch. For-scher wie der Psychologie-Professor Franz Ruppert sind von der trans-generationalen Weitergabe von Traumata überzeugt. Die Zahl der Fälle von Depressionen und Angststörungen nimmt auch bei den Kriegsenkeln zu. Offenbar stellen die Kriegsenkel die zweite Welle der Betroffenen dar, nach den Kriegskindern, die Mitte der 1990 er Jahre im Rentenalter plötzlich mit traumatischen Be-schwerden zu kämpfen hatten, oft ausgelöst durch Bilder aus dem Irak- oder Balkan-Krieg. Jahrzehntelang hatten sie funktioniert, Familien gegründet, Firmen aufgebaut. „Traumareaktivierung“ nen-nen es Therapeuten, wenn sich Menschen plötzlich wieder an frühe-res Leid erinnern. Das Unterbewusstsein entzieht sich der Kontrolle, sagen Psychologen. Der Münchner Psychotherapeut Michael Ermann legte in der bislang größten Studie zum Thema „Kriegskindheit“ im Jahr 2010 ernüchternde Ergebnisse vor. Rund ein Viertel der Kriegs-kinder zeigte sich stark eingeschränkt in der psychosozialen Lebens-qualität, jeder Zehnte war traumatisiert oder hatte traumatische Be-schwerden wie Angstzustände, Krämpfe, chronische Schmerzen. Die Kriegsenkel scheinen die Ängste ihrer Eltern geerbt zu haben. Obwohl sie den Krieg nicht erlebt haben, erzählen sie von Verlust- und Mangelerfahrungen, berichten darüber, dass ihnen die Kind-heit geraubt wurde. Obwohl doch eigentlich ihre Eltern als Kinder aus der Heimat vertrieben wurden, fühlen sich auch viele Kriegs-enkel heimatlos und entwurzelt. Andrea Pirringer hat zum Gespräch ein Buch über „Sozialisation und Traumatisierung“ der Kinder in der Zeit des Nationalsozialismus mitgebracht. Wichtige Stellen hat sie mit Leuchtstift markiert. Eine Stelle liest sie vor: „Wer als Produkt einer vermeintlich erfolgreichen Erziehung dazu gebracht wurde, Kontakte zu eigenen Gefühlen zu unterbinden, konnte auch später, nach dem Zusammenbruch des NS-Staates, keine Gefühle zum Bei-spiel der Trauer über verursachte Schäden an anderen Menschen er-leben.“ Für sie ist damals ein Virus eingepflanzt worden, das noch heute nicht ausgerottet ist. „Hart wie Kruppstahl“ müsse man sein,

das war die Nazi-Sprache. Die Kriegsenkel wissen, dass dies keine Floskel ist. Sie müssen den Stahl mit viel Energie schmelzen, um das erhärtete Innenleben wieder zum Fließen zu bringen. Doch nun, im Jahr 2012, ist tatsächlich viel im Fluss. Es erscheinen immer mehr Bücher der Enkelgeneration, die in ihrer Familie öf-fentlich aufräumt, zum Beispiel das des jungen Bremer Historikers Moritz Pfeiffer („Mein Großvater im Krieg 1939 – 1945, Donat Verlag). „Meine Großeltern waren zeit- und teilweise Augenzeugen, ja sogar mit ausführendes Organ eines Vernichtungskriegs und Genozids unvorstellbaren Ausmaßes.“ Manchmal sei die Arbeit am Buch „un-angenehm und schmerzhaft“ gewesen, schreibt Pfeiffer. Der Groß-vater habe sich oft vom Enkel „hintergangen und womöglich durch-schaut“ gefühlt, aber irgendwann seine Meinung geändert. Ein schwieriger Prozess, an dessen Ende der Großvater über die Recher-chen sagte: „Es ist was Wahres dran.“ Er ließ die Arbeit binden und verteilte sie an Freunde und Verwandte.Es ist das Schöne an dieser Reise durch Deutschland zu den dunklen Seiten, dass sich manchmal eben doch etwas auflöst. Man hört be-rührende Sätze wie den von Ute Neuberger: „Am Anfang war das alles eine Müllhalde, aber jetzt, wo ich mich damit auseinander setze, ist es für mich ein Goldberg.“ Auch, wenn auf ihren Gesich-tern ein Schatten zu liegen scheint: Die Kriegsenkel kämpfen, ma-chen Therapien und reden nun endlich auch über ihre Ängste. Von ihnen kann man viel lernen. Im Unterbewusstsein liegen schließ-lich noch viele Bomben, die hochgehen könnten. Manche ließen sich rechtzeitig entschärfen.

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Die ganze Welt wird Ödnis sein.Marcelo,9Florida,Uruguay

Jedes Kind wird Zugang zu Bil-dung haben. Es gibt keine reichen oder armen Menschen mehr, alle werden gleich sein.Cálido,14Gabú,Guinea-Bissau

In 100 Jahren geht die Welt durch eine Menge Veränderungen. Gott wird kommen und über die Men-schen richten.Martine,14Bukavu,DemokratischeRepublikKongo

Ich hoffe, dass ich dann noch leben werde – obwohl ich glaube, dass die Erde in 100 Jahren aufgrund der technologischen Entwicklung von schlechten Menschen bevölkert sein wird.Zyra,11Lipa,Philippinen

Die Natur wird sich aufgrund des Klimawandels völlig verändern. Es wird neue Pflanzen und neue Tier-arten geben. Die Menschen wer-den Früchte essen, die wir heute noch gar nicht kennen.Ruslan,15Almaty,Kasachstan

Ich glaube nicht, dass es einen Tag des jüngsten Gerichts geben wird, aber ein gewaltiges Beben wird die Erde erschüttern.Arturas,7Vilnius,Litauen

Falls die Menschen es schaffen, die globale Erwärmung, Kriege und Krankheiten in den Griff zu kriegen, wird die Erde in 100 Jahren ein friedvoller, harmoni-scher Ort sein.Gaone,14Tlokweng,Botswana

Friedlich! Martine,16Mbalmayo,Kamerun

Ich glaube, dass wir weniger Chancen haben werden und weni-ger Jobs. Gleichzeitig wird es mehr Kriminalität geben und schwer-wiegende Klimaveränderungen.Enrique,17SãoDomingos,KapVerde

Die Menschen werden glücklich und wohl versorgt sein. Sie werden Feindseligkeit und Ärger verges-sen. Jede menschliche Seele wird von Güte und ewiger Liebe erfüllt sein.Angelina,11Temirtau,Kasachstan

In 100 Jahren wird sich niemand mehr anstrengen müssen, weil Roboter alle Arbeit erledigen. Die Menschen können sich ausruhen oder am Meer spazieren gehen …Erica,17Abidjan,Elfenbeinküste

Die Welt wird sich vollständig entwickelt haben. Straßen und Häuser werden wunderschön und alle Länder reich und unab-hängig sein.Kenthia,10Gitega,Burundi

Jeder hat einen Würfel, in den er alle seine Sachen hinein tun kann. Wenn man auf einen Knopf drückt, wird er winzig klein und man kann ihn überall hin mit-nehmen. Außerdem werden wir nur noch Solarenergie benutzen.Paul,10München,Deutschland

Ich stelle mir eine Welt vor, in der alle Kinder glücklich sind. Jedes Kind hat einen Laptop, das Essen kommt aus der Tube, sodass die Eltern nicht in der Küche stehen müssen. All ihre Zeit verbringen sie mit den Kindern und am Wochen-ende besuchen wir unsere Freunde auf anderen Planeten.Vlad,12Borowljany,Weißrussland

Wie stellst du dir die Welt in 100 Jahren vor?ESSEN AUS DER TUBE, EIN GEWALTIGES BEBEN, VöLLIG NEUE TIERARTEN – SO SEHEN KINDER AUS URUGUAY, WEISS-RUSSLAND ODER BURUNDI DIE ZUKUNFT.

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ubuntu Eine Frage geht um die Welt

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Als meine Frau mit unserem Kind schwanger ging, war es vorbei mit meiner Nachtruhe. Ab dem dritten Monat spürte sie Kindsbewegungen. Wenn nachts unser Sohn in ihrem Leib randalierte, schlief sie weiter, fing aber ihrerseits an zu strampeln. Der Vater daneben wurde und blieb wach.In Wahrheit war es die Erkrankung meiner Mutter, die mir den Schlaf raubte. Im Janu-ar hatte sie ins Krankenhaus gemusst we-gen akuter Atembeschwerden; nichts Unge-wöhnliches, denn sie litt seit langem an chronisch obstruktiver Lungenerkrankung, Raucherlunge. Seit Jahren wurde sie regelmä-ßig untersucht. Nie war die Rede von Lun-genkrebs gewesen, doch im Februar erhielt sie plötzlich die Diagnose: kleinzel liges Kar-zinom, schnell wachsend, voraussichtlich stark streuend, inoperabel. Sie müssen sich darauf einstellen, dass Sie für den Rest Ihres Lebens viel mit Ärzten zu tun bekommen werden, sagte der Lungenspezialist.Und das bekam meine Mutter. Sie wurde in eine Krebsklinik verlegt, wo umgehend eine Chemotherapie begann. Zum behandelnden Oberarzt in der Onkologie fasste sie Vertrau-en. Er strahlte Ruhe aus und war selten um Ideen verlegen, wie er den Zustand seiner Patientin palliativ behandeln könnte, also lindernd; denn Heilung war nicht möglich. Gegen die Atemnot verschrieb er Inhala-tionen und Krankengymnastik. Gegen die Schmerzen kombinierte er so lange, bis der Medikamentenmix weitgehende Schmerz-freiheit bei klarem Bewusstsein ermöglich-te. Übelkeit trat auf, er bekam sie mit Trop-fen in den Griff. Als unserer Mutter die Haare auszugehen begannen, ließ sie sich von meinem Bruder und mir den Kopf sche-ren. Die Perücke trug sie zu unserer großen Verblüffung tatsächlich, an schlechten Ta-

gen setzte sie sich in den Rollstuhl, so feier-te sie auch meinen Geburtstag mit.Der Sommer ging, der Herbst kam, der Tu-mor blieb. Zwischen den Krankenhausauf-enthalten wegen der Chemotherapie und Bestrahlungen war unsere Mutter zu Hause. Es zahlte sich aus, in einem Ballungsraum mit dichtem Verkehrsnetz und guter medi-zinischer Versorgung zu leben. Wir konnten sie fast täglich besuchen: meine Frau und ich, mein Bruder und seine Frau mit den beiden Kindern. Meine Frau und ich wünschten uns seit Jah-ren ein Kind. Als der Ältere fühlte ich mich sozusagen von meinem Bruder überrundet. Aber ich wollte das Kind nicht deswegen, sondern um seiner selbst willen, unseret-wegen, vielleicht um meiner Mutter willen.Sie hatte mich sehr jung bekommen. Das war nicht gut gewesen, die Ehe meiner El-tern scheiterte. Meine Mutter lebte allein. Wir waren miteinander im Reinen, auch wenn wir fast nie über unsere Beziehung sprachen oder etwas Intimes wie Familien-planung.Ich wollte kein Kind, solange ich jung war. Dann nicht, solange ich so viel arbeitete und dann nicht, solange wir nicht zusammen wohnten. Nun war ich 43 und alles bereit, nur die Biologie spurte nicht. Wir beschlos-sen, der Natur in diesem Jahr noch ihren Lauf zu lassen und erst bei weiter ausblei-bendem Erfolg ärztlich nachhelfen zu lassen.Zum 1. Advent ist meine Frau schwanger.Wir bestaunen noch das Teststäbchen, da ruft mein Bruder an, der Zustand unserer Mutter sei kritisch: Lungenentzündung.Ich treffe unsere Mutter im Krankenhaus verwirrt an. Mit fiebrigen Augen berichtet sie von wabernden Spinnweben an der Zimmerdecke. Ihre verstorbene Mutter habe

bei ihr gesessen und gekocht. Der Stations-arzt ist ernst, ungesprächig. Schließlich sagt er mir: Weihnachten noch zu erleben und zu Hause, das ist jetzt das Ziel.In dieser Nacht sieht meine Frau ihren Mann erstmals weinen.Nach der Arbeit sitzen wir abwechselnd am Krankenbett. Die Lungenentzündung klingt ab. Meine Mutter hat inzwischen einen aus-gezeichneten Draht zum Personal. Sie selbst arbeitet als Sozialpädagogin in der Psychiat-rie. Krankenhaus ist ihr als Betrieb vertraut, sie nimmt lebhaft Anteil am Stationsklatsch, bei ihrer Entlassung nach Hause spürt man Bedauern.Heiligabend beginnt wie alle Jahre wieder. Meine Mutter hat für meine Frau und mich gekocht. Ihr Hobby sind aufwändige Menüs für ihre Gäste; wir haben sie gedrängt, es nicht zu übertreiben. Abends werden mein Bruder und seine Familie dazustoßen. Zuvor setze ich mich neben meine Mutter aufs Sofa und sage ihr: Wir werden Eltern, wir bekommen ein Baby im August. Meine Mut-ter macht einen Satz und stößt einen Freu-denschrei aus. Wir trinken ein Glas Cham-pagner zusammen, auch die werdende Mutter. Es ist eine der seltenen Gelegenhei-ten, bei der meine Mutter und ich einander in den Armen liegen.An Neujahr schmelzen wir Blei. Meine Frau gießt eine Sense.Meine Mutter erholt sich. Sie sucht das Pflegebett für zu Hause selbst aus. Täglich kommt der Pflegedienst und hilft ihr, die Thrombosestrümpfe anzuziehen. Sie hält die Putzfrau und ihre Söhne auf Trab: Ein-kaufen gehen, das ist nicht ein Besuch im Supermarkt, sondern Supermarkt plus Dis-counter plus Kaffeegeschäft plus Drogerie. So wie sie es immer selbst gehalten hat.

EINER KOMMT, EINER GEHT – DAS IST DER ZYKLUS DER WELT. FÜR UNSEREN AUTOR PATRICK BIERTHER JEDOCH BEDEUTETE DER GENERATIONS-

WECHSEL DAS GRöSSTE DILEMMA SEINES LEBENS.

Text und Foto Patrick Bierther

Wohin gehst du, wenn deine Mutter im Sterben liegt

und deine Frau in den Wehen?

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ubuntu Großeltern

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Mit einem Freudenschrei hatte seine Großmutter auf die Nachricht reagiert, dass da ein Enkel

unterwegs sei. Ihr großes Ziel war es, ihn noch kennenzulernen.

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Wenn ich unter Zeitdruck gerate, macht mich das zornig. Und meine Mutter ist noch immer meine Mutter und kann mich mit einem einzigen Satz auf die Palme bringen.Wir fahren sie zu Praxen, zu Ämtern, besu-chen sie im Krankenhaus, debattieren die Patientenverfügung, halten Besprechungen mit Ärzten, feiern Muttertag und Geburts-tag. Gegen die Angst vor dem Erstickungs-tod wissen wir nicht zu helfen.Die Chemotherapie ist abgeschlossen. Die Strahlentherapie muss wegen heftiger Ne-benwirkungen abgebrochen werden. Die In-tervalle zwischen den Krankenhausaufent-halten werden kürzer. Unsere Mutter magert um 20 Kilo ab. Immerhin sind ihre Haare nachgewachsen, raspelkurz, es steht ihr aus-gezeichnet, sie hätte diese Frisur schon vor Jahren wählen sollen. Wir verschweigen den Vornamen, den wir für unseren Sohn ausgesucht haben. Aus Aberglauben: Wenn wir den Namen erst zur Geburt veröffentlichen, dann hält sie allein schon aus Neugierde durch. Meine Mutter, schlau: Ich möchte ihm doch zur Begrü-ßung ein Tuch sticken mit seinem Namen darauf, den muss ich dazu ein paar Wochen

vorher wissen. Ich kann ihr nicht sagen: Mutter, du stickst kein Tuch mehr. Ich sage ihr auch den Namen nicht.Ich starre auf Schwarzweißbilder von Frau-enkörpern, darin zwischen Gestöber jeweils ein dunkler Fleck. Das ist unser Kind. Das ist der Krebs.Einer kommt, einer geht, sagt meine Mut-ter. Das soll fatalistisch klingen, legt aber einen Schatten auf unsere Elternschaft, weil es Geburt und Sterben koppelt. Und tat-sächlich: Je runder meine Frau wird, desto mehr magert meine Mutter ab.Sie will ihren dritten Enkel unbedingt ken-nenlernen. Der behandelnde Oberarzt ihres Vertrauens sagt: Wenn Sie sich das ganz fest vornehmen, klappt es ja vielleicht noch. Ich denke immerzu: Was, wenn sie stirbt, wäh-rend meine Frau niederkommt? Kann ich dann in den Kreißsaal und mein Bruder ans Sterbebett? Kann ich zu meiner Mutter und

vielleicht bei einer zweiten Geburt dabei sein irgendwann?Ein Anruf am Abend: Meine Mutter ist in der Notaufnahme, Pneumothorax, ein Lungen-flügel kollabiert. Meine Frau will mitkom-men. Die Krankenschwestern haben alle Hände voll zu tun, wir sitzen vor dem Stati-onszimmer. Im Hintergrund schreit jemand aus Leibeskräften. Anders als meine Frau erkenne ich nach einigen Minuten die Stim-me meiner Mutter. Sie schieben ihr einen Schlauch zwischen den Rippen durch in die Lunge. Wie lange das dauert. Schreie, Schreie. Ich bereue, eine Schwangere mitge-nommen zu haben, die bald Wehenschmerz aushalten müssen wird. Infekt folgt nun auf Infekt, die Ärzte spre-chen von Zustandsverschlechterung, sagen aber die Kontrolluntersuchungen ab. Wozu soll ich kontrollieren, wenn ich keine The-rapie-Optionen habe, fragt uns der behan-delnde Oberarzt des Vertrauens. Im Krankenhaus kann unsere Mutter nicht bleiben, allein zu Hause schon gar nicht; wir Söhne haben keine pflegerische Ausbil-dung, dafür Jobs und dazu Kinder und eine Schwangere zu betreuen. Im Hospiz aber ist kein Platz frei. Unsere Mutter zieht in ein Pflegeheim. Ihre größte Leidenschaft war es, Gesell-schaften zu bewirten, nun nimmt sie ihre Mahlzeiten ein zwischen überwiegend de-menten Greisen. Ihren Geschmackssinn hat sie verloren.Ein Arzt ist zuständig für das Heim, Herr H. Er kommt regelmäßig vorbei, schreibt Re-zepte und geht wieder. Meine Mutter sieht er einmal. Dann nimmt er sich die Verord-nung vor über den in monatelanger Arbeit von Fachleuten austarierten Medikamen-tencocktail und streicht hier dies, tauscht dort das. Die Frau ist doch völlig benom-men, wenn sie das alles schluckt, soll er ge-sagt haben. Tatsächlich war meine Mutter bis jetzt relativ schmerzfrei und wach. Ab jetzt ist sie völlig benommen und hat mehr Schmerzen.Medikamente, die meiner Mutter verschrie-ben wurden: Tabletten, um den Reizhusten zu unterdrücken und den Schleim in den Atemwegen zu lösen. Aerosole zum Inha-lieren. Tabletten gegen Herzerkrankungen,

die mit einer unzureichenden Sauerstoff-versorgung einhergehen. Pillen gegen Herz-muskelschwäche. Betablocker. Anti-Throm-bose-Spritzen. Gegen Schmerzen: Tropfen, Tabletten, Hartkapseln, Suspension in Beu-teln, schließlich Opioide.Gegen die Magenprobleme durch all die Me-dikamente: Tropfen. Gegen Erbrechen: Tab-letten und Dragees.Gegen die Todesangst: Tavor.Ein Säugling benötigt in den ersten sechs Monaten ausschließlich Muttermilch.Wir Söhne suchen Rat. Kann unsere Mutter zurück ins Krankenhaus? Nein, sie ist aus-therapiert. Kann ihr Hausarzt kommen? Nein, er praktiziert am anderen Ende der Stadt. Kann ein anderer Arzt kommen, ir-gendeiner? Nein, das macht kaum einer, es ist finanziell unattraktiv. Kann man Herrn H. umstimmen? Nein. Wollen wir Herrn H. den Kiefer brechen?Nicht für Geld und nicht für gute Worte gibt es ein freies Zimmer im Hospiz, aber wir können den Ernst der Lage deutlich und ei-nige Wartelistenplätze gut machen. Es ist unklar, was unsere Mutter noch versteht. Sie schläft fast die ganze Zeit, bei einem letzten Ausflug in ihre Wohnung sogar im Stehen, als sie den Anrufbeantworter ab-hören will. Auch meine Frau schläft viel, die Sommerhitze macht ihr zu schaffen, ihr Bauch ist eine Kugel.Wohin gehst du, wenn deine Frau in den Wehen liegt und deine Mutter im Sterben? Ich habe nur eine Mutter. Wir bekommen vielleicht nur ein Kind. Bei der Geburt hilft uns ein Profi, im Sterben sind wir allein.Das Kind nimmt mir die Entscheidung ab.Seit fast anderthalb Jahren rede ich mit mei-ner Frau jeden Tag über Krebs, über meine Mutter, manchmal auch über unser Kind. Wir besichtigen den Kreißsaal, treffen die Beleghebamme. Wir gehen aus. Eines Juli-Abends essen wir einen Erdbeerbecher im Eiscafé, anschließend setze ich mich ins Arbeitszimmer. Ich höre trippelnde Schritte zum Bad. Rumoren. Unruhe steigt auf: Ent-weder waren die Erdbeeren verdorben. Oder die Fruchtblase ist geplatzt.Es ist die Fruchtblase, vier Wochen zu früh. Wir rufen die Hebamme an: Entspannt euch mal, packt die Tasche für die Klinik und meldet euch wieder, sobald die Wehen kom-men. Meine Frau legt auf, da kommt die erste Wehe. Die Hebamme verspricht sich zu beeilen. 25 Kilometer Ruhrgebiet zwischen ihr und uns. Die Wehen folgen in raschem Takt. Die Hebamme findet keinen Parkplatz. Endlich

Geburt und Sterben sind gekoppelt: Je

runder meine Frau wird, desto mehr magert meine Mutter ab.

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ubuntu Großeltern

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kommt sie die Treppe herauf, sie untersucht meine Frau und sagt: Der Muttermund ist vollständig geöffnet. Wenn wir ins Kranken-haus wollen, dann sofort. Meine Frau sagt: Ich geh’ nirgendwohin, ich will mein Kind nicht auf der Straße kriegen. Die Hebamme heißt mich den Parkettboden mit Handtü-chern bedecken.Meine Frau auf dem Geburtshocker, ich hin-ter ihr, die Hebamme vor ihr, kauern wir im Schlafzimmer. Zu dritt singen wir gegen den Wehenschmerz an. Presswehen. Die Heb-amme lässt meine Frau nach dem Schopf des Babys tasten. Meine Mutter hat von ei-nem dunkelhaarigen Kind geträumt. Meine Frau presst. Ein Schwall Fruchtwasser spült das Baby in die Arme der Hebamme. Auf den Tüchern liegt und schaut uns ernst und schweigend an: ein Mensch.Béla.Unser Sohn, dessen Hautfarbe von Grau nach Rosa wechselt und dessen feuchtes Haar dunkel glänzt. Der ganz sachte atmet und so brodelnd wie seine Großmutter, nur dass in deren Lunge kein Fruchtwasser ist. Der Grund, warum meine Mutter entgegen aller Wahrscheinlichkeit noch lebt.Wir sind glücklich in dieser Nacht zu Hause.

Meine Mutter und unser Sohn sind einan-der entgegengekommen: Sie hat ihr Sterben verlängert, er einen Monat zu früh in die Welt gedrängt. Jetzt ist er ausgerechnet im Sternzeichen des Krebses geboren.Wir haben keine Windeln gekauft, kein Ba-byöl, keine Feuchttücher. Morgens im Dro-geriemarkt lasse ich mich von einer Ver-käuferin fernsteuern. Auf dem Rückweg klingelt mein Telefon. Meine Mutter will mich sprechen, irgendwas mit Herrn H. An einer Kreuzung, umtost vom Verkehr, brül-le ich ihr die Nachricht in den Hörer und dass ich mich morgen melden werde. Nachmittags spricht sie Glückwünsche auf unseren Anrufbeantworter. Es ist die letzte Aufnahme, die ich von ihrer Stimme habe.Ich habe es eilig jetzt. Was weiß ich schon von den Schmerzen einer Wöchnerin; 36 Stun-den nach der Geburt verfrachte ich Frau und Sohn ins Auto. Mein Bruder hat einen Kin-dersitz besorgt, das Begrüßungsgeschenk unserer Mutter anstelle des Namenstuchs.

Im Heim treffen wir meine Mutter auf ei-nem Stuhl dämmernd an. Meine Frau legt sich mit dem Kind ins Bett. Wir berichten von vorletzter Nacht. Die Großmutter zupft an dem winzigen Fuß ihres Enkels und lä-chelt versonnen. Dann sagt sie: Das hätten wir also auch geschafft.Wir haben uns zu spät für einen Elternkurs entschieden. Gelesen haben wir über Säug-lingspflege mittlerweile so viel wie über Krebs, aber trotzdem trauen wir uns erst nach Tagen, unserem Sohn das getrocknete Blut und Fruchtwasser aus den Haaren zu waschen. Er ist blond.Das Baby entwickelt sich prächtig. Meine Mutter verfällt. Am Tag nach unserem Be-such beginnt sie Blut zu spucken. Sie muss als Notfall in die Klinik. Wegen der Kran-kenhauskeime bringe ich es nicht fertig, bei meinen Besuchen das Neugeborene mitzu-nehmen.Das Hospiz meldet ein freies Zimmer.Meine Mutter geht auf ihre letzte Reise ohne Gepäck. Ich werde ihr den Koffer hin-terherfahren. Sie verabschiedet sich von dem Mann, der ihr Leben so stark mitge-prägt hat in den letzten anderthalb Jahren: Na, dann werden wir mal meinen 63. Ge-burtstag nächsten Monat vorbereiten. Der ehemals behandelnde Oberarzt weicht ih-rem Blick aus und schweigt. Die Zimmer-nachbarin hievt sich aus dem Bett, drückt meiner Mutter die Hand, weint.Eine Metastase im Nacken drückt die Lymph-gefäße ab. Die Lymphe staut sich im rech-ten Arm. Meine Handvoll Mutter sieht rechtsseitig aus wie Popeye. Ich frage, was denn gegen das Anstauen unternommen werde. Der ehemals behandelnde Oberarzt antwortet: Das soll uns jetzt nicht mehr kümmern.Das soll uns jetzt nicht mehr kümmern?Meine Mutter sagt: Ich fühl’ mich heute ir-gendwie so himmlisch. Dann verladen zwei Träger sie in einen Krankenwagen. Im Hos-piz haben mein Bruder und seine Familie inzwischen das Zimmer geschmückt mit Bildern und Blumen. Wir lassen unsere Mutter schlafen. Sie hat es schön hier. Mor-gen werden wir sie alle besuchen.Am nächsten Vormittag, ich kaufe gerade ein auf dem Wochenmarkt, erhalte ich ei-

nen Anruf: Es könne jetzt schnell gehen. Ich fliege nach Hause, packe Kind, Windeln, Wöchnerin – wir sind schon im Hospiz.Mein Bruder sitzt am Sterbebett. Seine Frau bringt die Kinder fort. Im Zimmer steht ein Sofa, auf dem ein elf Tage altes Baby an der Mutterbrust saugt. Die Großmutter liegt grau, bewusstlos.Wir sitzen.Mittags gehe ich in die Kantine, um Frika-dellen zu holen, entschuldige mich zuvor für die Trivialität. Die Bedienung ist um-ständlich, es dauert 20 Minuten, bis ich zu-rück bin. Als ich eintrete, schauen alle mich an, meine Frau hat das Telefon am Ohr. Sie wollte mich gerade anrufen, ich müsse so-fort zurückkehren.Wie bei der Geburt bin ich auch beim Ster-ben nur Statist.Mein Bruder und ich halten jeder eine Hand, ich bekomme die aufgedunsene. Unsere Mutter wirkt ruhig, manchmal schnappt sie nach Luft. In ihrer Nase klemmt ein Sau-erstoffschlauch. Die Abstände zwischen den Schnappern werden länger. Man hört das Blubbern des Sauerstoffs, das Schnappen und zwischendurch das Schmatzen unseres Sohnes.Dann hört man nur noch das Blubbern.Es ist ein phantastisch sonniger Sommer-tag, die Luft wie Seide, die Fenster stehen offen, ganz leise bewegen sich die Vorhän-ge, als unsere Mutter entschwebt.Ich stehe auf und schließe den Hahn des Sauerstoffgeräts.Wir sitzen.Dann reden wir, stundenlang. Das Hospiz gewährt uns Zeit. Wir essen am Fuße des Totenbetts und reden über unsere Mutter und uns und den Tod und das Leben, das kleine Bündel Leben.Der Tag ist nicht nur sonnig, sondern auch warm. Jemand im Raum beginnt zu stinken.Unser Sohn hat die Windeln voll.

Leise bewegen sich die Vorhänge, als unsere

Mutter entschwebt.

Patrick Bierther lebt mit seiner Fami- lie im Ruhrgebiet. Der Journalist arbeitet unter anderem für den Informationsdienst Wissenschaft und Buchverlage.Fo

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ubuntu Großeltern

Page 36: ubuntu 06/2012: Großeltern

Gräfin

Tierärztin mit Hund

Tierpflegerin

Baby/ Schaukelpferd

Rosengärtnerin Frau mit WelpenMama mit

Baby-Jogger Papa mit Grill

MongolischerKrieger

Mountainbikerin

Sternchenfee

Mama mit Babyschale

Kleopatra

UrlauberinMeerjungfrau

Weihnachtsmann

See- räuber

Ordensritter

Skateboarder

Ritter mit Doppelaxt

Keltischer Krieger

Medizinmann Schloss- geist

Expeditions- taucher

Mama mit Kinderwagen

Frau auf Luftmatratze

Kosakenkämpfer

Pirat Einauge

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Playmobil-Frauen und MännerDIE GESCHLECHTERROLLEN IM KINDERZIMMER

ALLE PLAYMOBIL-EINZELFIGUREN („SPECIAL“) VON 2006 BIS 2011

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ubuntu Infografik

Page 37: ubuntu 06/2012: Großeltern

Römischer Tribun GeisterpiratStraßen-

bauarbeiterEiserner Ritter

Massai- Krieger

Conquis- tador

König

Zauberer

Cowboy

Musketier

DrachenprinzPirat

AstronautSamuraiKapuzengeist

Arabischer Krieger

BarbarenhäuptlingSchwanenritter

TotenkopfpiratSchwertwächter

Indianerhäuptling

Doppelaxt- Ritter

Polizei- Sondereinsatz

Gladiator

RadarkontrolleFeuerwehrmann

Tiefseetaucher

Klempner

Space-Ranger

Snowboarder

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Page 38: ubuntu 06/2012: Großeltern

Geschichten, wie sie nur eine Russin erzählen kann –

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Text Alina Bronsky

Illustration Andreas Lechner

Wir waren eine zivilisierte Familie, wir gingen gut miteinan-der um. Ich holte Aminat oft vom Kindergarten ab, um den jungen Leuten zu helfen, die beide viel arbeiten mussten. Ich fragte mich, was sie früher ohne mich gemacht hatten. Ohne meine Ratschläge, ohne meine Hilfe. Oft nahm ich Aminat zu mir nach Hause, weil es bei uns sauberer war und sie dort alles hatte, was sie brauchte. Sulfia mochte es aber lieber, wenn Aminat in ihrer Wohnung blieb, und wenn Sergej mich darum bat, erfüllte ich ihm diesen Wunsch. Dann passte ich eben in Sulfias Wohnung auf Ami-nat auf, auch wenn das weniger praktisch war. Wir spielten, ich las ihr vor, wir malten zusammen, ich erzählte ihr lehrreiche Geschich-ten aus meinem Leben und dem Leben anderer Menschen. Sie hörte zu, aber nicht sehr aufmerksam. Irgendwann war sie mit den Gedan-ken woanders und begann zu summen. Ich hielt es für meine Pflicht, Aminat zu erziehen, ihr zu sagen, was richtig und was falsch war. Ich war nicht umsonst studierte Päda-gogin. Bei mir schmatzte sie nicht am Tisch und griff nicht mit den Händen in eine gemeinsame Schüssel. Ich schlug ihr schon mal ins Gesicht oder auf die Finger, wenn sie Sachen machte, die ich aus guten Gründen ablehnte, wie in der Nase bohren oder sich zwischen den Beinen kratzen. Ich nannte sie Schajtan und Ischak, aber liebe-voll: Sie wusste sowieso nicht, was das bedeutete.Ich packte auch in Sulfias Haushalt mit an, einer musste es ja tun. Ich räumte auf, in der Küche, im Flur, im Schlafzimmer auch. Ich saugte Staub, wischte die Böden und putzte die Toilette. Ich wollte nicht, dass Aminat im Dreck aufwuchs, zwischen den Darmbakte-rien ihres Stiefvaters auf der Klobrille und seinen Herpesviren an den benutzten Stofftaschentüchern, die er herumliegen ließ. Ich sammelte sie auf, suchte sie zwischen den Decken und Kissen im Ehebett zusammen, hob sie vom Boden unter der Couch auf, wusch sie in einer Schüssel, hängte sie zum Trocknen auf, bügelte sie an-schließend. So auch mit der ganzen anderen Wäsche, die ich fand. Sulfia war undankbar wie immer. Sie sagte nur: „Mutter, lass das bitte.“ Irgendwann schrie sie mich sogar an. Das war, nachdem ich in ihrem Schrank aufgeräumt hatte, Unterhosen, Büstenhalter und Strumpfhosen sortiert und gefaltet, die löchrigen herausgelegt und per Hand gestopft. Ich hatte das alles gemacht, obwohl ich in dieser Zeit lieber ferngesehen oder eine Zeitschrift gelesen hätte, und dafür schrie sie mich jetzt so laut an, dass Aminat in der Tür auftauchte und „Mama, spinnst du?“ fragte. Sulfia hatte bis dahin

nämlich nie geschrien, sondern nur hilflos „Mutter, warum. Mut-ter, lass das. Mutter, bitte fass diesen Schrank nicht an“ ausgesto-ßen. Ich ließ sie schreien. Ich fand, jeder Mensch muss einmal in seinem Leben schreien. Nach ein paar Minuten fand ich aber auch, dass es genug war. Als ich also der Meinung war, es sei genug, nahm ich meinen Stiefel in die Hand und schlug Sulfia damit ins Gesicht. Sulfia griff sich mit der Hand an die Wange. Da sprang Aminat auf mich zu, riss an dem Stiefel, den ich immer noch in der Hand hielt, und brüllte: „Wenn du meiner Mama noch mal wehtust, hab ich dich nicht mehr lieb!“ Ich war verblüfft. Das Liebhaben war ein beständiges Thema in un-serer Familie. Wir wussten jederzeit, dass wir uns alle sehr lieb hat-ten. Wir sagten uns das oft, vor allem Aminat und ich. Ich ließ den Stiefel sinken. Aminat rannte aber nicht weg, sie versteckte nicht einmal ihr Gesicht. Sie stand breitbeinig da, wie ein kleiner Bau-arbeiter, und sah mit ihren schwarzen Augen direkt in meine. „Was hast du gesagt?“ Und sie wiederholte langsam und deutlich: „Wenn du Mama noch mal wehtust, dann habe ich dich nicht mehr lieb. Überhaupt nie mehr.“ „Warum sagst du das?“ „Weil ich keine böse Oma haben will“, sagte Aminat und hüpfte auf einem Bein davon.

Bin ich eine böse Frau?Ich hörte genau hin, wenn Aminat etwas aussprach. Sie wirkte auch deswegen so ungezogen, weil sie oft treffende Sachen sagte. Ich bekämpfte ihre Art, alles auszusprechen, was ihr in den Sinn kam, denn es traf sehr häufig ins Schwarze, und das mochten die Leute nicht. Aminat reagierte empfindlich auf Dummheiten und fasste die Schönheitsfehler anderer Menschen sehr präzise in Wor-te. So konnte es natürlich nicht weitergehen, und ich arbeitete hart mit ihr. Aber ich hörte trotzdem genau hin, wenn sie etwas sagte. An diesem Tag, an dem Aminat sagte, dass sie mich nicht mehr lieb haben würde, zog ich mir den Stiefel wortlos wieder an und verließ die Wohnung meiner Tochter Sulfia ohne einen Abschiedsgruß. Ich fuhr mit dem Trolleybus nach Hause. Dabei hatte ich die ganze Zeit Aminats Stimmchen im Ohr: „Ich will keine böse Oma haben. Ich will keine böse Oma haben.“ War ich eine böse Oma? Ich be-trachtete mein Spiegelbild in der schmutzigen Fensterscheibe des

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Anfangsjahre benutzend. „Unter dir leidet … leidet niemand. Du bist so gut zu uns allen.“ „Auch zu Sulfia?“ „Sulfia …“ Mein Mann dachte nach. Ich wartete. „Sulfia“, sagte mein Mann, „ist doch deine einzige Tochter. Du wolltest immer nur ihr Bestes.“ „Das will ich immer noch.“ „Ja. Ich weiß.“ „Und denkst du, Sulfia weiß es auch?“ „Bestimmt. Also früher wusste sie es vielleicht nicht. Das ist ganz normal bei einem Kind, dass es seine Eltern nicht zu schätzen weiß. Aber jetzt ist sie groß, und ich glaube, jetzt ahnt sie, wie sehr du sie liebst.“ Ich hörte aufmerksam zu. Ich war überrascht, dass mein Mann sich so viele Gedanken gemacht hatte. „Bist du sicher?“ fragte ich. Mein Mann wandte sich ab, stocherte in seinem Ragout und schielte vorsichtig zu mir rüber, als hätte er Angst, dass ich ihm gleich sein Essen wegnehmen würde. „Ganz, ganz sicher “, sagte er. „Du bist meine Beste, meine Schönste … und du hast so ein gutes Herz.“ Wenn mein Mann das so sah, dachte ich, dann konnte es auch Ami-nat nicht entgangen sein. Dann konnte sie ihre Worte nicht ernst gemeint haben. Dann war sie einfach nur frech. Fünf Tage später kam ich nach Hause und fand einen Brief meines Mannes auf der Fensterbank. In dem Brief stand, dass er eine andere Frau liebte und ab jetzt mit ihr zusammenleben wollte. Er dankte mir für die gemeinsamen Jahre und bat mich herzlich, ihn in Ruhe zu lassen. Mehr stand nicht drin. Es soll Frauen geben, die bei einer solchen Nachricht in Tränen ausbrechen. Ihnen knicken die Beine ein, und dann lassen sie sich

Trolleybusses. Sah so eine böse Oma aus? Zu Hause betrachtete ich mich eingehend, diesmal in meinem blank geputzten Standspiegel. Ich sah überhaupt nicht wie eine Oma aus. Ich sah gut aus. Ich war eine schöne Frau und noch nicht alt. Man sah mir an, dass ich Kraft hatte und intelligent war. Ich musste mein Gesicht oft verschließen, damit andere Menschen meine Ideen nicht lesen und stehlen konnten. Ich ging in die Küche, wo mein Mann gerade Gemüseragout aß, und fragte ihn, ob ich eine böse Frau war. Er verschluckte sich und begann zu husten. Ich wartete geduldig. Er hustete noch mehr. Seine runden Augen wurden starr vor Schreck. Ich wartete. Er hustete weiter, ich klopfte ihm auf den Rücken. „Und“, bohrte ich, „bin ich eine böse Frau?“ Er spießte ein Stück Aubergine auf seine Gabel. Ich entriss sie ihm, bevor er den Mund erneut voll hatte. „Bin ich eine böse Frau?“ Er sah auf den Boden. Seine dichten schwarzen Wimpern, die ich einmal so geliebt hatte, flatterten wie bei einem jungen Mädchen. Mir wurde warm ums Herz: Ich erinnerte mich an die Hungerjahre meiner Jugend. Schade, dass Sulfia diese Wimpern nicht geerbt hat, dachte ich. Aber gut, dass zumindest Aminat sie hatte. „Also“, fragte ich, „bin ich eine böse Frau?“ „Aber wie kommst du denn darauf, Liebchen“, stammelte mein Mann. „Du bist ganz, ganz wunderbar. Du bist die Beste. Du bist so klug … Und so schön … Und du kochst so gut!“ „Aber das sagt doch gar nichts darüber aus, ob ich böse bin oder nicht“, beharrte ich. „Ich kann eine tolle Köchin sein, und trotzdem leiden alle unter mir.“ „Nein, mein Eichhörnchen“, sagte mein Mann, ein Kosewort unserer

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Frau. Das war kein glänzender Status. Ich musste damit leben, dass man mich schief ansah. Aber alles andere lag, mit Gottes Hilfe, in meiner eigenen Hand. Mein Mann war feige: Er überließ es mir, die Nachricht seiner Tochter und seiner Enkelin zu überbringen. Ich beschloss, mir meinen Mangel an Kummer nicht anmerken zu lassen. Ich fuhr zu Sulfia. Ich fand, das Ereignis zwang jetzt alle dazu, frühere Unstimmigkeiten und den Gebrauch der Stiefel und böser Worte zu vergessen. Bevor ich wegfuhr, ließ ich einen Brief für Kalganow auf der Fensterbank. „Wir sollten zivilisiert miteinan-der umgehen. Ich wünsche dir alles Gute, auch für die Gesundheit. Bitte lass mir deine neue Telefonnummer da, damit alles beisammen ist. Deine Rosa.“ Ich wusste, dass er noch mal vorbeikommen würde, um seine Sachen abzuholen, und einen Moment abpassen würde, in dem ich nicht da war. Wenn er mir schon in besseren Zeiten immer aus dem Weg ge-gangen war, würde er ausgerechnet jetzt kaum eine Begegnung riskieren. Ich fuhr abends mit dem Trolleybus zu Sulfia. Sie öffnete die Tür, ihr Gesicht war müde und abgewandt. „Mutter? Komm rein.“ Ich hatte den Lippenstift weggelassen, mir nur ein wenig die Wan-gen und die Stirn gepudert. Ich hatte meine einfachsten Kleider angezogen, die ich sonst trug, wenn ich zu unserem Garten auf dem Land fuhr. Nur die Stiefel mit den Absätzen behielt ich an. „Alles in Ordnung?“ fragte Sulfia, nachdem sie mir endlich ins Gesicht gesehen hatte. „Weißt du es noch nicht?“ „Ist was mit dem Papa?“ „Das kann man wohl sagen“, sagte ich. Jetzt war sie erschrocken. „Was ist passiert?“ „Dein Vater hat mich verlassen.“ Sie lehnte sich gegen die Wand. Ihre Gesichtszüge entgleisten. „Was?“ fragte sie. „Was hast du ge-sagt?“ „DEIN VATER HAT MICH VERLASSEN.“ „Nein … Er? … Dich? … Nein.“ „Doch“, flüsterte ich. Sulfia sank vor mir auf die Knie und versuchte, meinen Blick von unten einzufangen. „Mama“, sagte sie flehend, „Mama, nicht!“ Sie dachte wohl, dass ich weine. Ich bedeckte mein Gesicht mit den Händen, um sie in diesem Glauben zu lassen. Sulfia stand schnell auf und legte ihre Hände auf meine, und ich zuckte zusammen: Es war lange her, dass wir uns das letzte Mal berührt hatten. „Mama“, bat sie mich hilflos. „Bitte, Mama, nicht traurig sein.“ „Lass mich!“ sagte ich. Sulfias Lippen begannen zu zittern, als wäre sie verlassen worden und nicht ich. „Es ist niemand gestorben“, sagte ich für den Fall, dass sie es missverstanden hatte. „Wäre es dir lieber, er wäre gestorben?“ Ich dachte nach. „Ja, das wäre vielleicht sogar noch besser gewesen.“ Sulfia stellte keine Fragen mehr.

auf die Küchenfliesen mit Schachbrettmuster sinken, und andere Angehörige müssen große Schritte über sie machen, wenn sie zum Kühlschrank wollen. So eine war ich nicht. Ich kochte mir als Erstes einen Tee, und zwar nach allen Regeln der Kunst. Ich wärmte die Kanne vor und übergoss die Teeblätter mit kochend heißem Wasser. Wenn ich irgendetwas hasste, dann schlecht gemachten, minderwertigen Tee. Ich trank meinen her-vorragenden Tee mit kleinen Schlucken, aß selbst gekochte Stachel-beermarmelade und dachte nach. Ich stellte mir vor, wie ich zur Tür reinkam und keiner da war, der gerade in der Küche schmatzte. Der meine Nerven damit strapazier-te, dass er mein vorbereitetes Essen kalt verzehrte, weil er nicht in der Lage gewesen war, es aufzuwärmen. Überhaupt das Essen: Ich könnte das Kochen jetzt fast komplett lassen. Ich würde mir mor-gens einen Haferbrei kochen und abends einen Salat machen. Wie viel Zeit ich mir damit sparen könnte! In dieser Zeit könnte ich lesen, fernsehen oder Gymnastikübungen machen.Ich überlegte weiter. Ich würde mit niemandem sprechen müssen, wenn ich von der Arbeit heimkam. Ich begann zu zählen, wie viele Hemden ich pro Woche nicht mehr waschen und bügeln müsste, Socken, Hosen, Unterhosen. Einkaufen! Ich würde kaum noch schwere Einkaufstüten schleppen müssen, weil ich jetzt viel weniger Lebensmittel brauchte. Ich wür-de nicht mehr so viel Dreck wegräumen, denn ich machte keinen Dreck. Ich könnte mit Gott reden, so viel ich wollte. Ich würde mich viel weniger aufregen, weil niemand mehr da war, über den ich mich ständig aufregen müsste. Und ich könnte mich mit Männern treffen. Neuen, jüngeren Männern, die Komplimente machten und am Morgen wieder weggingen, nach Hause zu Mama oder zur Freundin, mir doch egal. Die mir wieder das Gefühl gaben, eine Frau zu sein. Denn ich muss gestehen, ich mochte es längst nicht mehr, wenn Kalganow mich anfasste. Wenn er im Schlaf versehent-lich mein Bein streifte, zuckte ich angewidert zurück. Absichtlich machte er das alles ja längst nicht mehr. Natürlich hatte dieser Brief auf der Fensterbank nicht nur Vorteile. Im Leben gab es bekanntlich nichts geschenkt. Für meine Freiheit musste ich zahlen. Zum Beispiel war ich ab jetzt eine verlassene

Aus: Alina Bronsky „Die schärfsten Gerichteder tatarischen Küche“ © 2010, 2012 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln320 Seiten, Paperback, 8,99 Euro

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Meine Welt von Morgen Christopher Daum (17) hat einen exakten Plan von der Stadt der

Zukunft.„Sie soll ausgewogen sein, es muss genügend Schulen, Biblio-theken, Grünflächen, Radwege und Elektroautos geben. Alles muss gut erreichbar sein.“ Seit zehn Jahren zeichnet Christopher Stadtpläne, die so reich an Details sind, dass einem fast die Augen flirren. An „Kabo- City“, seiner ersten Phantasie-Stadt, hat er vier Jahre lang gezeichnet. Da fehlen weder Straßennamen noch Schallschutzwände oder Bäumchen auf den Mittelstreifen der Boulevards.An seinem aktuellen Plan musste er gerade eine Änderung vornehmen, als er feststellte, dass eine Stadtbahnlinie am Bahnhof vorbeiführte statt mit einer anderen Linie ein Kreuz zu bilden. Mit seinem Radiergummi und ein paar feinen Bleistiftstrichen konnte er das korrigieren – und die aufgebrachten Fahrgäste wieder beruhigen.

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ubuntu Ansichten

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Wo wir uns engagieren, tun wir das dauer-haft, langfristig und nachhaltig. Wir waren bereits seit Jahren in Somalia, als der Krieg ausbrach. Auch im Sudan waren wir lange, als es zu den ersten Kämpfen kam. Ebenso wie in Jugoslawien, ehe es zerbrach. Oder bevor der Genozid in Ruanda einsetzte.In diesen Ländern waren die Kollegen vor Ort meist ein Spiegelbild des Landes – zusam-mengewürfelt aus verschiedenen ethnischen Gruppen. Sie arbeiteten stets gut zusam-men, taten gewissenhaft ihre Arbeit. Bis der Bürgerkrieg ausbrach und erste Tote unter den Angehörigen der Mitarbeiter zu bekla-gen waren. Die Mitarbeiter stehen dann oft paralysiert vor einer grausamen Zerreißprobe. Fahre ich mit der Arbeit fort? Setze ich mich weiter ein für Kinder, Arme, Geschundene? Tue ich das an der Seite des Kollegen, dessen Stam-mes-/Religions-/Volksangehörige den Tod eines meiner Angehörigen verschuldet ha-ben? Oder zerfrisst mich der Hass? Schaffe ich es, das Ziel der Organisation über meine persönlichen Empfindungen zu stellen?Unsere Kollegen in Syrien stecken derzeit in diesem schrecklichen Dilemma. Sie stam-men aus den verschiedenen Bevölkerungs-schichten Syriens. Aus der Schicht der regie-renden Alawiten ebenso wie aus der Schicht der meist armen Sunniten. Die Arbeit schweißte sie über Jahre zusammen. Nun herrscht Krieg. Menschen werden vertrie-ben, leiden Not, sterben. Kann man noch neutral bleiben, wenn Verwandte bedroht, gefoltert oder getötet wurden? Muss ich meinen Kollegen jetzt hassen, weil er der „anderen“ Bevölkerungsgruppe angehört? Kann ich ihn nicht hassen?Und für die Organisation stellt sich die Frage: Wie verhindert man ein Vakuum, in dem alle ihren Platz verlassen und die Organisa-tion nicht mehr funktioniert?

Bislang haben die SOS-Kinderdörfer in sol-chen Situationen eine sehr entschlossene Leadership und außergewöhnliches Gefühl für die prekäre Situation gerettet. Meist waren ein oder mehrere starke Mitarbeiter im Führungsgremium, die weder nach links noch rechts sahen, sondern rigoros ihren Job machten – zugunsten der Kinder und Fa-milien. Natürlich verließen einige Mitar-beiter ihre Posten. Doch die Mehrheit blieb, wenn sie dieses starke Vorbild hatte. Und es war stets auch behilflich, dass wir eine große, erfahrene Organisation sind. Die übergeordnete, neutrale Ebene gibt den Kollegen vor Ort Halt und Hilfestellung in Krisensituationen und kann auch Führungs-aufgaben übernehmen, wenn es nötig ist. So wirkt der verdammte Zwang zur Neu-tralität erst paralysierend, dann aber dyna-misierend. Die SOS-Kollegen in Syrien haben sich „zusammengerauft“. Sie disku-tieren fast täglich die Situation. Aber sie haben sich entschlossen, jetzt erst recht all ihre Kraft gemeinsam in ihre Arbeit, die Hilfe von Schwachen, Armen, Vertriebenen, zu legen.

„Verdammter Zwang zur Neutralität“

BürgerkriegeführenHilfsorganisa-tionenregelmäßiganihreGrenzen.DaszeigtderzeitwiederderKonfliktinSyrien.MenschenlebenzwischenTerrorundBombenhagel.VorallemdieKinderleiden.EsbestehtdringenderHandlungsbedarf.DochwieleichtgerätmanzwischendieFronten,wennmanhelfenwill.

Viele Organisationen mussten das schmerz-lich spüren. Auch die SOS-Kinderdörfer haben in vielen Jahren der Hilfe in Krisenge-bieten Kolleginnen und Kollegen verloren. Allein in Somalia starben mehrere SOS-Mit-arbeiter. Niemals waren die Kollegen oder die Organisation das Ziel der tödlichen Ge-schosse. Aber auch verirrte Granaten und Querschläger können Leben auslöschen. Umso wichtiger ist es, strikt neutral zu blei-ben, keiner Seite den Vorzug zu geben, mit ihr zu sympathisieren. Das ist einfacher, wenn man später zum Konflikt hinzukommt und Hilfe erst anbietet, wenn der Krieg die ersten Opfer fordert. Doch die SOS-Kinderdör-fer sind keine reisende Hilfsorganisation.

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Essay: Dr. Wilfried Vyslozil

Vorstand

SOS-Kinderdörfer weltweit

SOS-Kinderdörfer in SyrienSeit über 30 Jahren ist SOS in Syrien aktiv. Zwei SOS-Kinderdörfer, Jugendeinrichtungen und Sozialprogramme bilden ein stabiles Netzwerk, um Nothilfe zu leisten. Nachdem das SOS-Kinderdorf Aleppo aufgrund der Gefechte evakuiert werden musste, leben nun sämt- liche Jungen und Mädchen im SOS-Kinderdorf Damaskus.www.sos-kinderdoerfer.de

Das Wohl der Kinder auch in Bürgerkriegs-zeiten jederzeit im Auge zu behalten – das ist die anspruchs-volle Aufgabe der SOS-Mit arbeiter in Syrien.

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www.kinderzeit.de/newslett erbestellung

Der Informationsdienstder kinderzeit-Redaktion per E-Mail – jedenDonnerstag neu.

Fachliches und Inspirierendes aus dem Kita-LebenSie erhalten Woche für Woche kostenlos eine kompakte Mischung aus Beiträgen der kinderzeit-Redaktion, aktuellen Informationen rund um Pädagogik und das Th ema Kindererziehung im öff entli-chen Raum. Der kinderzeit-Newslett er berichtet unter anderem vom Alltag in Kindergärten, über spielerisches Lernen, Betreuung, Gesundheit und Bewegung sowie über Grundschulthematiken ... und ein bisschen Klatsch und Tratsch darf auch nicht fehlen.

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einzigartig, schön und fordernd: Als Kind muss man sich in Islands Natur seinen platz erst einmal erobern.

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ubuntu Reportage

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Die Insel der glücklichen

KinderIN ISLAND SIND KINDER KEIN GESELLSCHAFTLICHES ACCESSOIRE,

SONDERN EINE SELBSTVERSTÄNDLICHEIT. DAS TUT IHNEN SICHTBAR GUT.

Fotos Thomas Linkel Text Susanne Frömel

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ubuntu Reportage

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Es gibt so Witze, die man machen kann, wenn man zum ersten Mal nach Is-land reist. „Nur ein Vulkanausbruch kann mich hindern, rechtzeitig zu deinem Ge-burtstag wieder da zu sein“, rief ich noch meiner Schwester zu, bevor es losging. Und prompt passiert es, während man gemüt-lich seine Taschen in dieser hellen Sommer-nacht auspackt und in die wilde Natur schaut, dass hinten am Horizont über dem Kegel des Grimsvötn eine gigantische Säule aus verdampfendem Wasser hochsteigt und am nächsten Tag der Himmel schwefelgelb voll pulverfeiner Asche hängt, als hätte je-mand das Höllentor aufgestoßen und ver-gessen, hinter sich zuzusperren. Sogar die Schafe sind plötzlich gelb und die Stiefel hinterlassen auf den Straßen Abdrücke wie bei der Mondlandung.Nicht, dass so ein bisschen Asche einem Isländer die Laune verderben könnte.Die Tatsache, dass man vielleicht nicht rechtzeitig zu Schwesters Geburtstag heim-fliegen könnte, allerdings schon. „Nein, das geht natürlich nicht“, sagt Lilja Böd-varsdottir, während sie den Staub von ihrer Türschwelle fegt. „Zu Familienfeiern muss man kommen, das ist sehr wichtig.“ Sie

Das Klima dörrt die Insel aus. Hier und dort wird die Tundra zur Wüste. Erosion bricht den Boden auf und entzieht ihm die letzte Lebenskraft. Darum treffen sich heute ein paar Jungs aus dem Fußballclub und eini- ge Väter, um Baumsetzlinge zu pflanzen. Nicht ein paar Bäumchen, sondern 100.000 Stück.Der Wagen biegt in einen Feldweg ein, hin-ter sich eine riesige Schleppe aus Staub. Die anderen Jungs sind schon da. Arnar schnallt sich einen Gärtnergürtel mit verschiede-nen Fächern um die Hüften, der Gurt ist zu lang und rutscht um seinen schmalen Jungenkörper. Dann geht es los. Einer bohrt ein Loch in den Boden, der andere setzt den Setzling ein. Und weiter. Bald stehen auf dem Gelände, das nur mit ein paar tro-ckenen Halmen bewachsen ist, die ersten Bäumchen.Vielleicht ist es so, dass man zusammen-hält, wenn die Natur es von einem fordert. Harte, lange Winter und schwierige Lebens-bedingungen haben den Isländern einen unverstellbaren Sinn für das Wesentliche gegeben: Familie, Zusammenhalt, Proble-me zu lösen, sobald sie da sind. So haben sie die Jahrtausende überlebt, so haben sie

Moderne Einrichtung, moderne Ansichten: Milchbauer Einar Haraldsson

(Dritter von links) findet es okay, wenn seine Kinder später einen ande-

ren Beruf ergreifen.

blickt zum Himmel und lächelt, bis sich auf ihren Wangen tiefe Grübchen bilden. „Das wird ganz schnell vorbei gehen, du wirst schon sehen.“ Es ist schleierhaft, wie je-mand so früh am Morgen so gute Laune haben kann. Noch seltsamer ist aber, dass ihr 16-jähriger Sohn jetzt aus dem Haus gefedert kommt und in die Hände klatscht. Es ist halb acht Uhr an einem Samstag. Jeder andere Teenie der Welt würde um

diese Zeit noch grunzend im Bett liegen. Ar-nar trägt nur einen dünnen Trainingsan-zug, obwohl der Wind den Herbst schon ankündigt, und lächelt. Er hat die gleichen Grübchen wie seine Mutter und den wa-chen Blick seines Vaters. Aber wahrschein-lich sieht man so aus, wenn man sein Land retten will.

Vielleicht ist es so, dass man zusammenhält,

wenn die Natur das von einem fordert.

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ist einfach wärmer. Vielleicht ist das der is-ländische Weg. Manchmal denke ich, dass es gar nicht so lange her ist, seit wir aus unseren Torfhäusern gekommen sind. Da-mals herrschte ein inniges Zusammenspiel der Generationen und vielleicht ist unser respektvoller Umgang miteinander ein Überbleibsel davon.“Dazu gehört ein hohes Maß an Sozialkom-petenz. An der Flóaskóli gibt es einen Jun-gen, der drei andere Schüler drangsaliert und bedroht. Kristin Sigurdardottir arbeitet jetzt mit den Eltern des Jungen zusammen, ein Psychologe besucht die Familie regel-mäßig. „Wir erinnern die Eltern an ihre Verantwortung und helfen, familieninter-ne Schwierigkeiten zu klären. Das ist unse-re Pflicht als Gemeinschaft.“ Für gewöhn-lich gibt es an der Flóaskóli keine Probleme. Das sieht man auch oben im ersten Stock. Dort sitzen ein paar Schüler der neunten Klasse auf einer großen Sofaecke, Jungs und Mädchen, Arm in Arm, die Beine aus-gestreckt und verflochten wie bei einem Teppichgewebe. Das ist jetzt aber insze-niert, oder? Kristin Sigurdardottir lächelt entschuldigend. „So ist es nicht bei allen. Aber diese Klasse … die lieben sich einfach.“

die Wirtschaftskrise überstanden, so sind sie zu einem der kinder- und familien-freundlichsten Länder der Welt geworden. Im Schnitt bekommen die Frauen zwei Kin-der, und das, obwohl die Erwerbsquote beim weiblichen Geschlecht bei 82 Prozent liegt. Beides sind europäische Spitzenwer-te. Auch bei der Elternzeit liegt Island vor-ne: Rund 89 Prozent der isländischen Väter nehmen drei oder mehr Monate in An-spruch. Es hat sich ein Modell etabliert, das die Diskussion um Raben-Elternschaft aus-schließt. Auf Island ist es normal, dass bei-de Elternteile einer Arbeit nachgehen und trotzdem Kinder bekommen. Dass das ge-lingt, liegt vielleicht auch am Schulsystem.Die Schule, die Arnar und seine jüngeren Brüder Dagur und Dadi besuchen, heißt Flóaskóli und liegt in der Nähe von Selfoss. Es ist eine ganz normale Schule, zumindest für isländische Verhältnisse, aber wenn man sie mit deutschen Augen betrachtet, muss man fast ein paar Tränen des Neides wegblinzeln.Im Eingangsbereich ist in einem Mosaik das Motto der Schule eingelassen: Kopf, Herz, Hand. 18 Schüler pro Klasse, dazu eine Leh-rerin und eine Hilfslehrerin. Auf dem Stun-

Mitte: Robust, wetterhart und so eigen wie ihr Land sind die Islandpferde.rechts: 100.000 Setzlinge pflan-zen die Jugendfußballer und ihre Väter. Gemeinsam übernehmen sie so Verantwortung für ihr Land.

denplan steht neben den üblichen Fächern auch Tischlern, Nähen und Kochen. Da wird den Kindern auch beigebracht, wie man ver-nünftig einkauft, die Waschmaschine und den Trockner bedient. Die Räume sind mit modernstem Equipment ausgestattet und sauber. Ein angenehmes Lernumfeld ist wichtig, findet man hier. „Kochen und waschen – das klingt viel-leicht ungewöhnlich, aber was soll man den Kindern denn sonst beibringen, als Dinge, die ihnen wirklich beim Leben hel-fen?“, fragt Kristin Sigurdardottir, die Rek-torin der Schule. Sie ist jetzt 40 und hat in New Haven, Connecticut studiert, bis das Heimweh sie wieder zurück getrieben hat. „Die Art, wie wir miteinander umgehen,

„Die Art, wie wir miteinander umgehen,

ist einfach wärmer. Vielleicht ist das der

isländische Weg.“

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Alte Bekannte: Dagur und das Kälbchen sind beide hier auf dem Bauernhof aufgewach-sen. rechts: Mit ihrer pflanzaktion wollen sie die erosion stop-pen – Land retten.

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Es ist die Klasse, in die auch Arnar geht.Dass Kinder auf Island ein selbstverständ-licher und lebenswichtiger Bestandteil der Ge sellschaft sind, bekommt man überall zu spüren. In Restaurants regt sich nie-mand auf, wenn es mal etwas lauter wird, in Wohnsiedlungen wird selbstverständ-lich Schritt tempo gefahren. Und sogar in den Außenbezirken Reykjaviks schlängeln sich zwi schen den Häusern Reitwege, auf denen Jugendliche mit ihren Islandpferden galoppieren. In einer dieser Siedlungen woh-nen Tumi Kolbeinsson und Bjartey Sigur-dardottir. Wenn man Tumi Kolbeinsson fragt, wie-viele Kinder er hat, sagt er: Vier. Das Ganze ist ein bisschen kompliziert. Zwei davon sind seine eigenen, zwei sind Beutekinder, die seine jetzige Frau mit in die Ehe ge-bracht hat und denen er kein Stiefvater ist, sondern ein Bonusvater, wie man auf Island sagt. Es ist kompliziert und einfach zu-gleich. „Auf Island sind wir eine ganz nor-male Familie. Aber in Europa ein so großes Hotelzimmer zu bekommen, ist fast un-möglich.“ Morgens weckt er seine Tochter, Bjartey weckt ihre Söhne, „so ist die Auf-merksamkeit gut verteilt.“ Das gemeinsame

Kind weckt mal der eine, mal der andere. Patchwork wird nicht als Problem gesehen, sagt Tumi. „Es ist nicht der einfache Weg, aber allgemein sehen wir darin immer eine Chance. Wie kann man bei Kindern nicht positiv sein?“Er hat eine Theorie. „In einer Gesellschaft gibt es vier Entwicklungsstadien“, sagt Tumi Kolbeinsson. „Die vierte Stufe findet sich ungefähr zur Zeit der Industrialisie-

rung. Damals hatten die Leute viele Kinder, aber natürlich sind auch viele gestorben. Immerhin blieben zwei oder drei übrig, die sich dann um die Alten kümmern konnten. In der dritten Stufe sinkt die Kindersterb-lichkeit, aber die Geburtenrate bleibt hoch. In der zweiten Stufe dann sinkt die Gebur-

Unten: Die Beine verwoben und in intensivem Gespräch: Die 9. Klasse an der Schule Flóaskóli. „Die lieben sich einfach“, sagt ihre Lehrerin.

tenrate langsam, denn die Kinder werden nicht mehr so dringend für die Altersvorsor-ge gebraucht, aber sie ist immer noch hö-her, als tatsächlich nötig wäre. In der letz-ten, der ersten Stufe sagt sich die Gesellschaft: Ich brauche kein Kind, aber ich möchte eines, weil es so Spaß macht. Ziemlich egoistisch, wenn man es genau betrachtet.“„Wir Deutschen befinden uns in Stufe Eins?“„Richtig. Und wir Isländer befinden uns immer noch in Stufe Zwei. Das ist der Un-terschied. Für uns sind Kinder noch etwas Selbstverständliches, kein gesellschaftliches Accessoire. Das ist etwas sehr Positives.“ 2011 haben vier der amtierenden Minister des Landes in Patchwork-Familien gelebt. Das System Patchwork ist auf Island voll-kommen akzeptiert, obwohl es natürlich nicht immer problemlos abläuft. „Wir müssen begreifen, dass sich in einer Stieffamilie nicht alle gleich intensiv lie-ben“, sagt Valgerdur Halldorsdottir. „Wenn das gelingt, ist der Weg zu einer ehrlichen Beziehung weit offen. Und ich habe noch nie ein Kind kennengelernt, dass sich nicht eine gute Beziehung wünscht.“ Valgerdur

„Wir müssen begreifen, dass sich in Patch -

work-Familien nicht alle gleich lieben.“

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Islandist die größte Vulkaninsel der Erde. Der Inselstaat liegt südlich von Grönland. Nur 300.000 Bewohner müssen sich den Platz untereinander teilen, der vergleichbar ist mit der Fläche von Bayern und Baden- Württemberg zusammen.

nicht gelingen würde.“Dazu tragen auch Bedingungen wie eine geringe Arbeitslosenquote von 2,6 Prozent bei – es ist die niedrigste Europas. „Thetta reddast“, hört man häufig. Es bedeutet „Wir schaffen das schon.“ Es ist ein schöner Grundsatz, weil er besagt, dass mit ein we-nig Optimismus alles funktioniert. Sogar, 100.000 Bäume zu pflanzen. Als Arnar abends nach Hause kommt, hat er eine Blase an der rechten Hand, aber er ist glücklich. Sie haben der Wüste ein Boll-werk aus kleinen Bäumen entgegen ge-setzt. Solche Aktionen gibt es überall auf der Insel und es ist natürlich, dass die Kin-der mitmachen. „Wie sollen sie auch sonst ein Gespür dafür bekommen, dass sie für ihr Land verant-wortlich sind?“, fragt Einar Haraldsson, Ar-nars Vater. Er ist Milchbauer; die Arbeit im Stall übernimmt inzwischen weitgehend eine hochtechnologisierte Melkmaschine namens Astronaut. Von seinen fünf Kindern will keines später mal seinen Job überneh-men. Auch Arnar nicht. „Es ist okay“, sagt Einar Haraldsson. „Wir haben ja alle nur ein Leben. Und jeder muss das tun, was ihn am glücklichsten macht.“

Halldorsdottir ist die Patchworkbeauftragte Islands. Als sie mit der Beratung anfing, war es nicht mehr als ein Hobby. Aber ziem-lich schnell machte das Wort der Stieffami-lienberaterin die Runde.„Viele Menschen mit unterschiedlichen Interessen unter einen Hut zu bringen, ist nie leicht. Wenn ich Menschen vermitteln kann, dass es falsch ist, in Familienbe-ziehungen Dinge zu persönlich zu nehmen, ist schon viel gewonnen. Es kann nicht sein, dass Kinder wie Immigranten in ihrem eigenen Haus leben, weil zu viel unausge-sprochen bleibt.“ Man müsse einfach akzep-tieren, dass Stieffamilien mit Bonuseltern und Bonuskindern anders funktionierten als klassische Familien-Konstellationen. „Sobald die innere Akzeptanz da ist, folgt automatisch die äußere. Man muss sich das Leben ja nicht unnötig schwer machen.“ Valgerdur Halldorsdottir hat inzwischen eine Art Gebotsliste von „Dos und Don’ts“ in Patchworkbeziehungen entwickelt und ein Buch zum Thema geschrieben. „Im Grunde“, sagt sie, „geht es nur darum, Menschen egal welchen Alters ein glückliches Leben zu ermöglichen. Und es wäre doch gelacht, wenn uns das auf dieser wunderbaren Insel

Mitte: Bis zum Himmel und wieder zurück. Platz haben die Kinder Islands in allen Dimensionen.rechts: Brandur, drei Jahre alt, ist das einzige gemeinsame Kind seiner Eltern. Mutter Bjartay hat außerdem zwei Söhne mit in die Familie gebracht, Vater Tumi eine Tochter.

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ubuntu Reportage

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„Winzige Erwachsene mit vollem Kalender!“

Haben Sie Milo schon kennengelernt? Milo ist knapp 1 Meter 40 lang, wiegt 36 Kilo und hat braunes, langes Haar. Wenn die Sonne darauf scheint, zeigt sich ein kupfer-ner Glanz darauf, und wenn die Sonne noch mehr scheint, sprießen auf Milos Nase win-zige, ganz bezaubernde Sommersprossen. Darüber hinaus baut Milo gerne Waffen aus Holz, die er dann anderen Kindern auf den Kopf schlägt, er rotzt, spuckt, brüllt und quengelt, wirft sich auf den Boden und tanzt auf den Tischen. Milo wird via Game-boy erzogen und in der Gewissheit, dass der Vater immer das genaue Gegenteil von dem sagt, was die Mutter gerade festgelegt hat. Wenn man einen Nachmittag mit Milo verbringt, kommen einem ganz unlautere Gedanken. Das Wort Betäubungsmittelge-schoss schleicht einem durch den Kopf, die-se kleinen, bunten Pfeile, die sie in Tierre-servaten vom Flugzeug aus abschießen, um Nashörner lahm zu legen und anschließend zu wiegen. Oder Kerker. Eine Art Festung, aus der Ausbruch unmöglich ist. Leider übt Milo eine unwiderstehliche Anziehungs-kraft auf schüchterne Kinder aus, und dar-um ist Milo gern gesehener Gast in anderen Kinderzimmern. Zum Beispiel bei uns.Während ich eines Abends das zerbrochene Holzschwert, die paar blutigen Bandagen und eine Million zerstreuter Legoteile auf-sammele, stand Milos Mutter im Türrah-men und guckte zu. „Er ist eben ein biss-chen wild“, sagte sie. „Er hat ADHS.“ Damit machte sie kehrt, packte ihr Kind und mar-schierte von dannen, um andere Leben, an-dere Wohnungen zu zerstören.ADHS ist die moderne Entschuldigung für Eltern und für die Gesellschaft, die es ver-säumt, den Kindern einen angemessenen

Rahmen zur persönlichen Entwicklung zu geben. Dass dazu Grenzen gehören, ist nichts neues, dass vor allem liebevolle Zuwendung nötig ist und die Notwendigkeit, das Kind auf ein erwachsenes Leben vorzubereiten, scheint den meisten Großstadteltern zu ent-gehen. Wilde Kinder sind nichts Neues in der Ge-schichte der Menschheit. Das Bedürfnis der Eltern, die Verantwortung darüber gänzlich auf das Kind abzuschieben allerdings schon. Die Orientierungslosigkeit des Kindes wird mit Medikamentenkraft betäubt. Wie sagte der Sohn einer entfernten Bekannten noch? „Ich bin traurig, dass ich mich manchmal so trüb im Kopf fühle, aber für Mama ist es besser so.“ Die Mama nickte stolz und merkte an, dass es in der Schule jetzt auch viel besser klappe. „So schafft er wenigstens das Abitur, das ist doch wichtig.“ Sicher, noch mehr willenlose Dienstroboter – genau

das, was die Welt braucht. Ärzte, Lehrer, Nachbarn nicken ab. Auch Milo soll bald mit Ritalin auf Linie gebracht werden. Ein bisschen Elterntraining vielleicht? Nein, warum denn. Es gibt ein Projekt, das Kinder mit ADHS-Diagnose in die Berge schickt. Weit weg von Computern, Stress und TV-Geräten. Und den eigenen Eltern. Nach ein paar Wochen sind die Kinder wie ausgewechselt, ruhig und fo-kussiert. Leider kann man sie nicht ewig in Berghütten halten, irgendwann müssen die Milos dieser Welt wieder runter und das Spiel geht von vorne los. Dass Kinder einfach mal Platz brauchen, um sich auszutoben und auszuprobieren; dass sie nicht wie winzige Erwachsene mit einem vollgestopften Terminkalender han-tieren sollten, sondern einfach nur Freiheit brauchen, darauf kommt niemand. Ein Stückchen Alm in der Großstadt, das hätte doch was. Ich bin trotzdem für Ritalin. Ja, ich bin so-gar eine entschiedene Befürworterin medi-kamentöser Ruhigstellung. Das liegt an meinem Vater. Der ist nämlich Arzt, und obwohl er meist ein wenig seltsam ist, wird er manchmal von großer Weisheit durch-flutet. „Ich verschreibe sehr gerne Ritalin“, erklärte er mir mal. „Das gebe ich den El-tern zum Schlucken. Dann geht es den Kin-dern gleich viel besser.“

Ein Stückchen Alm in der Großstadt – das

hätte doch was!

Text Susanne Frömel

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ubuntu Glosse

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SOSKINDERDÖRFER

Schalom und herzlich willkommen in Israel! Willkommen in den SOS-Kinderdörfern! Entdecken Sie auf einer zehn-tätigen Rundreise das Heilige Land, dessen raue Schönheit und kulturelle Schätze Sie begeistern werden. TauchenSie ein in den Alltag der Menschen und treffen Sie in SOS-Einrichtungen Persönlichkeiten, die mit großem Engagementdie Idee Hermann Gmeiners fortsetzen. Für Frieden, Menschlichkeit und Versöhnung.

Zehntägige Rundreise mit den SOS-Kinderdörfern weltweit vom 14.-23. Februar oder 7.-16. November 2013 inkl. Besuch der SOS-Kinderdörfer Megadim und Neradim (Israel) sowie Bethlehem (Palästinensisches Autonomiegebiet)

Ausführliche Informationen zur Reise erhalten Sie unter: www.sos-kinderdoerfer.de/Reise

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Diese Meisterwerke können bald an

Ihrer Wand hängen … Foto

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Zum achten Mal seit 2003 werden 60 Originale der angesagtesten zeitgenössischen Künstler der Republik versteigert. Partner ist in diesem Jahr United Charity, das größte deutsche Charity-Auktionsportal. Die Künst-ler spenden selbstlos ihre Werke, um mit dem Erlös den Dürre-Opfern in Niger beizustehen (Seite 58).Als Danke-Schön-Aktion der SOS-Kinderdörfer für ihre Spender ins Leben gerufen, hat SOS-Kunststück in den vergangenen Jahren bereits über 500 Bilder an neue glückliche Eigentümer gebracht. Mit ihrem Engagement bei der Kunstversteigerung haben sie einmal mehr Kin-der in Not unterstützt – und sich selbst ein wunderbares Geschenk gemacht: Erstklassige Kunst von hochklassi-gen Künstlern. Andrè Butzer, Sven Drühl, Jonathan Meese, Robert Lu-cander, Thomas Zipp und viele andere waren bereit, sich von ihren Werken zu trennen. Wer die Bilder ge- nau unter die Lupe nehmen möchte, hat die Chance ab 4. November die Ausstellung in der „Veranstaltungs-welt“ des ADAC in München (Hansastraße 19, Montag – Freitag 16 – 20 Uhr und Sonntag 12 – 17 Uhr, Eintritt frei) zu besichtigen. Wem der Weg zu weit ist, der setzt sich zu Hause gemütlich an den PC und lässt sich von guter Kunst beeindrucken und überzeugen:

1.AufderInternetseitewww.sos-kunststueck.defindenSiedieBildermitallenDetailinformationen.

2.VonjedemBildführteinLinkdirektzurAuktionaufwww.unitedcharity.de

3.Linkklickenundmitsteigern!

… WENN SIE MITBIETEN BEI SOS-KUNSTSTÜCK! VOM 4. BIS 14. NOVEMBER LÄUFT DIE VON EXPERTEN HOCHGESCHÄTZTE BENEFIZ-KUNST- AUKTION DER SOS-KINDERDöRFER WELTWEIT UNTER WWW.SOS-KUNSTSTUECK.DE.

Text Ingrid Famula

Oben: Kunstwerk ohne Titel von

Bernhard Lehnerrechts: Aquarell und

Buntstift ohne Titel von Joe Naeve

Linke Seite: „Kein mickriger Guruismus“

von Jonathan Meese rechts: „SD . N . N . 3“

von Sven DrühlFoto

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ubuntu Versteigerung

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Hilfe für die Kinder in NigerMit dem Erlös von „SOS-Kunststück“ sollen die Kinder in Niger unterstützt werden. Dort bedroht die anhaltende Dürre das Leben vieler Familien. Erfahren Sie auf den folgenden Seiten, wie SOS die Menschen in Niger stärkt, mit Nothilfe, ärztlicher Betreuung oder Ausbildungskursen. Das Ziel: Gemein-sam mit den Familien Lösungen zu erarbeiten – damit sie ihr Leben wieder meistern. Ab Seite 58.

Wir danken allen Sponsoren für ihr Engagement, ohne das wir SOS-Kunststück nicht realisieren könnten:

Linke Seite: Collage von Lucio AuriOben: Kunstwerk ohne Titel von Alex Tennigkeit

Oben: „Es ist bedeckt“ von Philip Hudgson DorrelLinks: Skulptur „P12“ von Rainer HunoldUnten: „Noches de Establiments“ von Manfred Mayerle

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ubuntu Versteigerung

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Hunger-Krisein Niger

ANHALTENDE DÜRRE UND STEIGENDE LEBENSMITTELPREISE HABEN DAZU GEFÜHRT, DASS ACHT MILLIONEN MEN-SCHEN ZU WENIG ZU ESSEN HABEN. DIE LAGE IST BEDROHLICH. DIE SOS-KINDERDöRFER HELFEN KINDERN UND IHREN FAMILIEN.

SOS-KinderdörferweltweitSpendenkonto2222200000

(fünfmaldieZweiundfünfmaldieNull)BLZ43060967

GLSGemeinschaftsbankStichwort:ubuntuNiger

Unterstützen Sie die Arbeit der

SOS-Kinderdörfer in Niger:

Fotos und Text Paul Hahn

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ubuntu SOS-Nothilfe

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BEHANDLUNGENOHNE PAUSENLinks: SOS-Krankenschwester Yahanatu Manan Issa und ihre Kollegen versorgen die Kinder und ihre Familien im Gesund-heits zentrum in Takorka. Zu viert sind sie für 19 Dörfer mit 42.000 Menschen zuständig. Pausen gönnen sie sich kaum. Viele Patienten sind unterer-nährt. Sie sind dadurch so ge-schwächt, dass ihr Immunsys-tem auch wenig Chancen hat, Krankheiten abzuwehren.

ALARMSTUFE ROTLinks: Ein runder Bauch sagt wenig darüber aus, ob ein Kind ausreichend ernährt ist, wohl aber die Oberarm-Messung. Bei Ibrahim, zwei Jahre alt, zeigt das Maßband Rot – Alarm- stufe! Ibrahim wiegt nur 7.200 Gramm – ein Junge in seinem Alter wiegt in Deutschland das Doppelte. Ibrahim soll in ein Spezial-Ernährungsprogramm aufgenommen werden, doch zunächst wird er aufgrund sei-nes bedrohlichen Zustands ins Krankenhaus überwiesen.

MALARIAOben: Die achtjährige Aischa hat Schüttelfrost und hohes Fieber – Anzeichen der Malaria, der momentan häufigsten Krankheit. Sie bekommt Infu-sionen zur Stärkung und Anti-Malaria-Präparate.rechts: Viele Mütter kommen erst, wenn der Zustand ihrer Kinder schon dramatisch ist. Es fehlt den Familien an allem, auch an Geld für die Busfahrt zur Krankenstation.

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SOS-NOTHILFE FÜRHUNGERNDE FAMILIENrechts: Mitarbeiter der SOS-Kin-derdörfer versorgen 100 Fami-lien mit Mais und Hirse. Lang-fristig sollen die Familien dabei unterstützt werden, ihr Leben wieder selbstständig zu meistern, aber in der akuten Not werden zunächst einmal Nahrungsmittel dringend benötigt. Von einem 100-Kilo-Sack Hirse, der derzeit 50 Euro kostet, kann eine Fa-milie mit sieben Kindern drei Wochen lang leben.

KOSTBARES WASSEROben: Wasser ist das große Thema in Niger – genug gibt es eigentlich nirgendwo und oft müssen die Menschen täglich lange Wege zurücklegen, um sich und ihre Familien mit Trinkwasser zu versorgen.rechts: Am Rande des Flusses graben die Frauen ein Loch, damit das Wasser möglichst sauber ist, wenn sie es mit ihren Plastikschalen abschöpfen, in die Eimer und anschließend in Kanister füllen.

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ubuntu SOS-Nothilfe

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KLEINKREDITE KURBELNGESCHÄFTE ANrechts: In heißem Fett backt Mamou Younouss die traditionel-len Krapfen „Fari Masa“. Mit Hilfe eines Kleinkredits der SOS-Familienhilfe hat die Witwe ihr kleines Geschäft aufgebaut. Sie kann damit sich und ihre Kinder ernähren. Einmal in der Woche erhält sie außerdem von SOS-Mit-arbeitern Unterricht im Lesen und Schreiben. „In meinem Alter fällt mir das nicht leicht, aber ich bin glücklich, dass es klappt!“, sagt Mamou Younouss.

SOS BAUT GETREIDEBANKEN AUFUnten: Das Getreide wird unter den Familien aufgeteilt. Damit die Menschen zukünftig nicht mehr so sehr von den Preisschwankungen abhängig und bedroht sind, bauen die SOS-Kinderdörfer im Rahmen der Nothilfe gleich nach der Ernte Getreidebanken auf. Später können die Dorfbewohner dort unabhängig von den Weltmarkt-preisen günstig Getreide und Saatgut kaufen.Links: Sauberes Wasser aus dem Hahn – eine große Erleichterung.

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ubuntu SOS-Nothilfe

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ist. Seien Sie bereit zum Gespräch, auch zu Kompromissen, wenn sie gerechtfertigt sind. Seien Sie auf jeden Fall ehrlich und um wirkliche Auseinandersetzung bemüht. Bieten Sie Ihrem Sohn ein Gegenüber, mit dem er diskutieren, an dem er sich reiben, aber auch orientieren kann. Die Jugendli-chen spüren sehr genau, ob man sie ernst nimmt. Wenn man versucht, autoritär drü-ber zu fahren, bekommt man eine entspre-chende Antwort. Ihn wegen dieser Lügen strafen zu wollen, erscheint mir sinnlos und wird nicht gelingen, auch, weil er da-für schon zu alt ist. Wenn man zu bequem ist oder Auseinandersetzungen scheut, ern-tet man unter Umständen Verachtung. Darüber hinwegzusehen würde ihn viel-leicht glauben lassen, dass Sie die Dinge nicht durchschauen, und er so weiterma-chen könnte. Das Ziel sollte sein, dass er lernt, für sein Verhalten Verantwortung zu übernehmen.Wenn die Beziehung grundsätzlich gut ist, wird sie an den aufrichtigen Auseinander-setzungen, die von Wohlwollen und Ver-ständnis getragen sein müssen, weiter wachsen. Bis Sie das spüren, kann es durch-aus ein harter Weg sein, aber er lohnt sich für die vielen Jahre, die nach der Pubertät kommen. Und daneben immer die Bitte: Zeigen Sie Interesse, wirkliches Interesse am Leben Ihres Sohnes. Nutzen Sie alle Ge-legenheiten zum positiven Kontakt. Mit-einander Spaß haben ist so wichtig.

WENN ES UM FRAGEN DER PÄDAGOGIK, ELTERN-KIND-KONFLIKTE UND IHRE LöSUNG GEHT, HABEN DIE SOS-KINDERDöRFER EINE MENGE ZU SAGEN! 60 JAHRE INTENSIVE ARBEIT MIT KINDERN SIND DIE BASIS DAFÜR. ULRICH SOMMER, PSYCHOTHE-RAPEUT FÜR KINDER UND JUGEND-LICHE, GIBT RAT!

Ulrich Sommerist Psychotherapeut für Kinder und Jugend-liche und Pädagogischer Leiter des Diagnose- und Therapiezentrums „Bienenhaus“ der SOS-Kinderdörfer in Hinterbrühl, österreich. Kindern und Jugendlichen mit massiven Pro-blemen wird dort stationär geholfen.

Haben auch Sie eine Frage an Ulrich Sommer?Dann schreiben Sie an:Redaktion ubuntu, SOS-Kinderdörfer weltweit, Ridlerstr. 55, 80339 München oder [email protected]

Lieber Herr Sommer, bisher hatteicheingutesVerhältniszumeinemältes-tenSohn,abernunister16undinderPu-bertät und seit einiger Zeit haben wir esschwermiteinander.ErbrichthäufigAb-machungen,istunzuverlässig,undkleineLügengehenihmschnellüberdieLippen.Ichreagieredannoftwütend,wassicherauch nicht toll ist. Wie schaffen wir es,wiederaufeineguteEbenezukommen?Viktor B., BrunsbüttelWozuratenSiemir?

Man muss die Pubertät als eigene Phase im Leben eines Menschen verstehen. Es geht um die Verabschiedung aus der Kindheit und um die Entwicklung einer ei-genen Identität als Erwachsener. Das erfor-dert von den jungen Menschen viel Ausein-andersetzung und Reibung mit anderen und ist verbunden mit Verunsicherung und Stress. Die Jugendlichen müssen neue Ver-haltensweisen ausprobieren, an Grenzen gehen, sie auch überschreiten und viel dis-kutieren. Die Gleichaltrigen, an denen sie sich orientieren, werden jetzt extrem wich-tig. Gleichzeitig müssen sie sich von den Eltern lösen und ihren eigenen Weg finden und das geht oft nur im Streit und durch Provokationen. Diese sind häufig umso hef-tiger, je besser die Beziehung vorher war. Die Jugendlichen versuchen sich gut darzu-stellen, cool zu sein und überschätzen dabei oft ihre Fähigkeiten und Kräfte. Für die Eltern ist diese Zeit meist äußerst nervenaufreibend. Wie Ihr Sohn halten sich viele Jugendliche nicht an Vereinbarungen, versuchen sich irgendwie durchzuschum-meln und wenn man sie damit konfrontiert, bekommt man noch freche Antworten. Wie verhält man sich da richtig? Zunächst ist es so, dass man als Vater oder Mutter in der Pubertät die erste Rückmel-dung für die vergangenen Jahre bekommt: Trägt die Beziehung? Gelingt es trotz Dif-ferenzen immer wieder in den Dialog zu kommen? Wenn Sie, wie Sie sagen, bislang eine gute Beziehung zu Ihrem Sohn hatten, dann rate ich zu Gelassenheit und innerer Klarheit. Diskutieren Sie, stellen Sie ihn, was seine Lügen betrifft, zur Rede – mit viel Wohlwollen und wenn es passt, mit Humor. Manchmal auch zornig, wenn Ihnen danach Il

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„Seit mein Sohn in der Pubertät ist, hält er sich an keine Abmachung mehr!“

Fragen an Ulrich Sommer

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ubuntu Ratgeber

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www.sos-paten.de

SCHENKEN SIE

KINDERN EINE KINDHEIT.

WERDEN SIE SOS-PATE.

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Foto und Text

Paul Hahn

viel skeptischer. Tabatas Mutter Marlis sagt: „Die Schickimickisierung macht mir richtig Angst!“ Sie meint vor allem die Preissteigerung. Was für Spekulanten oder auch Szenegänger ein aufregender Prozess ist, nennen viele langjährige Bewohner einen Alptraum. Das Haus, in dem Marlis seit 15 Jahren wohnt, ist erst kürzlich an einen Hamburger Immobilien-Investor verkauft worden. Nun geht unter den Mie-tern die Sorge um, dass die Miete erhöht wird. „Ich bin alleinerziehend, ich kann mir weder eine hohe Miete, noch einen Umzug leisten“, sagt Marlis. Aber wenn es ihr gelingt, ihre Angst in Schach zu halten, gerät auch sie fast ins Schwärmen: „Früher konnte man die We-serstraße zum Hermannplatz in Kreuzberg kaum runterradeln. An jeder Ecke eine verqualmte Kaschemme mit Typen in Bal-lonseide. Nun sind viele junge Leute ins Viertel gezogen. Überall entstehen kleine Läden oder Boutiquen, das gibt ein ange-nehmes Flair.“ Dazu zählt auch „Madame Zucker“, ein kleines Cafe, das direkt an ihrer Hausecke aufgemacht hat, da, wo noch vor knapp zwei Jahren ein KFZ-Gut-achter sein Büro hatte. Nun wird in Wohn-zimmeratmosphäre cremiger New Yorker Cheesecake serviert; es gibt Biocafé und WLAN.Zu schön für Berlin? Manche Bewohner vertreten diese Meinung äußerst aggres-siv, werfen Scheiben solcher Läden ein

„Kreuzkölln? Das Wort ist mir noch nie begegnet!“ Thoraya, 10, blickt fragend zu ihrer Freundin Tabata, 11, aber auch die zuckt mit den Schultern. Klar kennen die beiden Mädchen Kreuzberg, und in Neu-kölln sind sie zu Hause. Doch dann über-rascht Thoraya mit ihrer Antwort: „Das sind vielleicht zwei Straßen im Kiez, und da, wo sie sich schneiden, treffen sich viele Men-schen, da ist Kreuzkölln.“ Ganz intuitiv hat die Zehnjährige auf den Punkt gebracht, wofür es kein Ortsschild gibt.Seit einigen Jahren wird der Reuterkiez, der im Nordwesten Neuköllns liegt und direkt an Kreuzberg grenzt, auch Kreuzkölln ge-nannt. Ein Kunstname, der für den rasan-ten Wandel eines Stadtbezirkes steht – vom Problemviertel zum angesagten Szenekiez. Thoraya, die deutsch-ägyptische Wurzeln hat, und Tabata, deren Vater aus dem Kongo stammt, gefällt das. Daten wie 35 Prozent Arbeitslosigkeit, 30 Prozent Ausländeranteil oder Mietsteigerungen seit 2007 von über 25 Prozent, für die das Viertel auch steht, sind für die beiden Mädchen abstrakte Grö-ßen. Für sie gleicht ihr Zuhause einer wun-dersamen Zigarrenschachtel voller exoti-scher Tiere: „Da siehst du Punks mit bunten Stachel-Haaren, Piercings und Tunnelohr-ringen. Oder Hippies im Schlabber-Look. Die laufen ganz verträumt durch die Gegend“, sagt Thoraya. Früher wohnte sie mit ihrer Familie in Wittenberge im Nordwesten von Brandenburg. „Da war es schon spannend, wenn mal ein Auto vorbeifuhr.“ Ihre Freun-din verdreht die Augen. „Da wäre ich ausge-rastet.“ Viele der erwachsenen Einwohner Kreuz-köllns sehen den Wandels ihres Viertels sehr

oder schreiben ihre Warnung an alle Hips-ter auf die Wände, wie am Landwehrka-nal, der Grenze zwischen Neukölln zu Friedrichshain und Kreuzberg. „Kreuzkot-ze“ steht da riesig auf einem Hausdach. Unterdessen turnen Tabata und Thoraya in den roten Seilen eines Klettergerüstes im Wildenbruchpark. Junge Pärchen lie-gen auf karierten Decken, Mütter beob-achten ihre Kinder, die in der Sandkiste graben. Der Ort ist eine kleine grüne Oase – inzwischen. Bis vor einiger Zeit sa-ßen auch hier eher Penner mit ihren Bier-flaschen in der Hand. Aus Thorayas Hosentasche kommt Musik. Sie hat ihr Handy lautgestellt. Im Takt wip-pen die beiden Mädchen auf den Seilen, fühlen sich wohl. Zuhause. Nie im Leben würde Tabata woanders wohnen wollen. „Berlin ist die coolste Stadt!“ Ihre Freun-din Thoraya ist sich nicht ganz sicher, da soll es noch was Cooleres geben: Kairo, die Stadt, in der sie geboren wurde, und in der ihre Großeltern, Tanten und Onkel leben. Kairo, sagt sie, soll noch viel größer sein als Berlin. Da will sie unbedingt mal hin.

BuchempfehlungUli Hannemann: Neulich in Neukölln Aus der Sicht des Taxifahrers schildert der Autor das Leben in Neukölln. Seine Erleb-nisse hat er mit viel Sprachwitz und Sinn für Skurriles aufgeschrieben. Ullstein, Berlin 2007, ISBN 978-3-548-26818-7

Kreuzkölln inBerlin

Die Kinder von …

Wo Kreuzberg und Neukölln aufeinander-

treffen, fühlen sie sich wohl: Tabata, 11,

und Thoraya, 10. Sie lieben ihr Viertel,

weil immer etwas los ist und die Men-

schen so bunt sind wie exotische Tiere.

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ubuntu Portrait

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SCHLECHTE LUFT MACHT KINDER KRANK

Dass Luftverschmutzung und erhöhte Ozon-Werte Kinder schädigen, zeigt eine neue Studie, die auf den Daten des Sozio-ökono-mischen Panels (SOEP) basiert. Es wurde nachgewiesen, dass in Regionen mit hohen Kohlenmo-noxid-Werten Kinder mit geringe-rem Geburtsgewicht zur Welt kommen. Der Grund: die Versor-gung der Babys mit Sauerstoff ist schlechter. „Das ist ein klarer Hinweis darauf, wie sehr die Luft-verschmutzung Kindern bereits im Mutterleib schaden kann“, sagt C. Katharina Spieß, eine der Au-torinnen. Hohe Ozonwerte machen vor allem zwei- bis dreijährige Kinder krank: Sie leiden häufiger unter Atemwegserkrankungen oder Bronchitis, da vor allem die Luft nahe dem Boden viel Ozon aufweist. Kleine Kinder atmen da-von viel mehr ein als Erwach-sene. Zudem ist ihr Immunsystem noch nicht voll ausgereift. Das SOEP ist die größte und am längs-ten laufende multidisziplinäre Langzeitstudie in Deutschland. In die Studie flossen Daten von etwa 2.000 Kindern ein.

Begleitung für Eltern

Für einkommens-schwache Familien und Eltern mit Migrations-

hintergrund hat das Bundesfamilienministe-

rium das Programm „Elternchance ist Kinder-

chance“ entwickelt. 4.000 Elternbegleiter sollen die Fähigkeiten

der Kinder einschätzen und Eltern über Bil-

dungswege und Lernchan-cen aufklären. Psy-

chologen der Universität Erlangen-Nürnberg

und Wissenschaftler des Deutschen Jugendinsti-

tuts in München beglei-ten das Programm.

In Deutschland kom-men die meisten Babys zur Frühstückszeit auf die Welt, in Italien dagegen zwischen dem ersten Cappuccino und der Pasta zum Mittag, und in Spanien erblicken die meisten Neugeborenen erst nach der Siesta das Licht der Welt. Das ergab eine Unter-suchung der Leipziger Nabel-schnurblutbank Vita 34.Dr. Eberhard Lampeter, Ärzt-licher Leiter der Blutbank, vermutet, dass der Grund für die unterschiedlichen Ta-geszeiten die steigende Zahl an Kaiserschnittgeburten ist. „Offenbar wählen viele Kreißsaalteams für den Kaiserschnitt den für sie ide-alen Termin. Das ist in

Deutschland offenbar der frühe Vormittag.“ Etwa 30 Prozent der Kinder kom-men hier per Kaiserschnitt zur Welt, in Italien sind es 37 Prozent, in Spanien 25 Pro-zent. Die Kaiserschnittrate könnte auch das zweite Er-

gebnis der Studie erklären: Die meisten Kinder kom-men montags bis freitags zur Welt. Am Wochenende ge-hen die Geburtenzahlen in allen Ländern zurück.

Guten Morgen, Deutschland

ZU VIELE PFUNDE

Eltern können oft nicht einschätzen, ob das Gewicht ihres Kindes zu hoch ist, so das Ergebnis einer Untersuchung der Uni Leipzig. Wenn ein Kind übergewichtig ist, sei das für viele Eltern noch nicht problema-tisch – und sie tun nichts dagegen. Erst wenn ein Kind eindeutig als fettleibig (adi-pös) eingestuft werde, würden Eltern aktiv und nähmen an Präventionsprogrammen teil. Die Familien von „nur“ übergewichtigen Kindern waren häufig der Meinung, dass kein Handlungsbedarf bestehe, weil sie ge-sund genug lebten oder das Gewicht des eigenen Kindes im Rahmen liege. Fazit der Forscher: In den Familien muss erst ein Be-wusstsein für die negativen Folgen von Übergewicht geschaffen werden, damit die Programme Betroffene erreichen. 80 Pro-zent aller dicken Kinder werden später zu übergewichtigen Erwachsenen.

WARUM KINDER SCHULE SCHWÄNZEN

Viele Schüler, die die Schule schwän-zen, wurden vorher gemobbt. Das ist das Ergebnis einer Studie des Universität-Klini-kums Heidelberg. Die Forscher befragten 2.700 Acht- und Neuntklässler aus unter-schiedlichen Schularten, warum und wie häufig sie nicht in den Unterricht gehen. Es zeigte sich, dass Schulschwänzer oft psy-chische Probleme wie Angst oder Depres-sion haben. Viele hatten deutlich mehr Mobbingerfahrungen gemacht als ihre Mit-schüler. Die Untersuchung ist Teil der in-ternationalen und von der EU geförderten Studie WE STAY („Working in Europe to Stop Truancy Among Youth“). Insgesamt werden in fünf europäischen Ländern und Israel etwa 10.000 Jugendliche befragt. Ziel ist es, herauszufinden, welche gesellschaftlichen Probleme hinter Schulschwänzen stecken und was man dagegen tun kann.

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ubuntu Wissen

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Fatih Akin

Wie waren Sie als Kind …

Interview Martina Koch

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Fatih Akin, 39Der deutsch-türkische Regisseur, Drehbuch-autor und Produzent Fatih Akin lebt mit seiner Familie in Hamburg. Akins Regie-Arbeit umfasst Filme wie das vielfach aus gezeichnete Liebesdrama „Gegen die Wand“ und die Ham-burg-Komödie „Soul Kitchen“, aber auch Dokus wie „Crossing The Bridge – The Sound of Istanbul“. Am 6.12. läuft sein Dokumentarfilm „Müll im Garten Eden“ an.

IhrDokumentarfilm„MüllimGartenEden“erzähltvonderUmweltver-schmutzunginÇamburnu,einemtürki-schenBergdorf.EswareinmaldieHeimatIhresGroßvaters–einOrtIhrerKindheit?Nein, ich habe Çamburnu erst vor ein paar Jahren zum ersten Mal bereist. Vorher kannte ich es nur aus Erzählungen meines Vaters. Mein Großvater ist noch vor der Ge-burt meines Vaters dort weggezogen.SieundIhrältererBrudersindinHam-burggeboren,nachdemIhreElternMitteder1960erJahrenachDeutschlandge-kommenwaren.WashabenSiealsKindvonderTürkeimitbekommen?Meine Eltern stammen beide von der Schwarzmeerküste. In den Ferien sind wir zu den Geburtsorten meiner Eltern gefahren. Die wenigen Wochen, die wir immer dort waren, haben mich sehr geprägt. Eine schö-ne Kindheit.Waswarsoschön?Mit dem Meer aufzuwachsen. Wir sind fischen gegangen, haben bis spät abends am Strand gesessen. In Hamburg gab es nur den Elbstrand. Baden konnte man da nicht, weil der ganze Ostblock seinen Müll in den Fluss kippte.SiehabendenFilmIhremVatergewidmet–warenSieehereinPapa-Kind?Meine Eltern haben sich bei unserer Erzie-hung ergänzt, ich empfand die beiden eher als gleichwertig. Beide waren recht streng – und meistens auch noch einer Meinung.HabenSieeinBeispiel?Meine Mutter war Grundschullehrerin, ihr war der Wert von Bildung sehr bewusst. Deshalb bestanden sie darauf, dass ich Abitur mache und ein Studium, wobei es ihnen egal war, was ich studiere.SiesindineinemProblemviertelaufge-

wachsenundbeiIhnenzuhausewurdenurTürkischgesprochen–undSieschaff-tenestrotzdemaufsGymnasium.HattenSieesschwerinderSchule?Eher trifft’s das: Ich war ein schwieriger Schüler. Ich war immer einer, der alles so gerade eben schaffte. Viele Lehrer wollten mich gar nicht zum Abitur zulassen.Woranlag’s?Ich war schon damals ein Freigeist und hatte Probleme mit Autoritäten. Außerdem war ich klug genug zu sehen, wo meine Talente liegen. Leider schätzte man die auf dem Gymnasium nicht. Meine Fantasien taten

die meisten Lehrer und auch meine Mit-schüler als Spinnereien ab.DazuzählteschonfrühderWunsch,Filmezudrehen.WiekamenSiedazu?Früher, vor dem Internet, vor dem Satel-litenfernsehen, funktionierte der kulturelle Zugang zum eigenen Land für Einwander-erfamilien oft nur über den Videorekorder. Deswegen hatten viele türkische Familien sehr früh einen, und wir eben auch. Da habe ich viele Filme aufgenommen: Actionfil-me, Science Fiction, Gruselfilme, querbeet. Außerdem betrieben Bekannte von meinen Eltern eine Videothek. Wir besuchten die Leute eine Zeitlang jedes Wochenende, so konnte ich viel gucken.

SiehabendanntatsächlichinderSchuleIhreerstenFilmegedrehtundinderTheater-AGmitgewirkt.Andererseitswa-renSiemit16JahrenMitgliedeinerStra-ßengang.Wiepasstdaszusammen?Das war eine Form von Rebellion. Die Woh-nung meiner Eltern befand sich in einem Stadtteil, der eine hohe Jugendkriminali-tätsrate hatte. Ich musste mich da ebenso durchschlagen wie am Gymnasium. Die meisten Gangmitglieder kannte ich seit Kin-dertagen. Doch meine Eltern haben mich davor bewahrt, so richtig in kriminelle Struk-turen abzudriften. Wenn ich doch mal Ärger mit der Polizei hatte – haben die echt heftig reagiert.WelcheSanktionenbekamenSiezuspüren?Die haben mir viel mit ihrer Gesundheit gedroht. Meine Mutter war zu der Zeit krebs-krank. Die hatten die Gabe, mir zu vermit-teln, dass sie auch deswegen krank ist, weil sie unglücklich ist. Ich musste versprechen, keinen Mist mehr zu machen, damit sich der Stressfaktor für sie nicht noch erhöht.Siestammenauseinemmuslimischge-prägtenElternhaus,warenineinemkatho-lischenKindergarten,verbrachtenspätervielZeitineinemevangelischenJugend-zentrum.WardasHin-undHerspringenzwischendenReligionennichtanstren-gend?Während meiner Kindheit und Jugend nicht. Das ganze Theater um den Islam ging ja erst mit dem 11. September los. Ich glaube, heute hat es ein Kind mit meiner Biographie schwerer in Deutschland.

„Meine Eltern haben mich davor bewahrt, in kriminelle Strukturen

abzudriften.“

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ubuntu Interview

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GERNE KöNNEN SIE SICH AuCH TELEFONISCH INFORMIEREN uNTER: 0800 50 30 300 (GEBÜHRENFREI) ODER BESuCHEN SIE uNS AuF uNSERER WEBSITE

uNTER www.sos-kinderdoerfer.de

420.000Mädchen und Jungen haben seit dem zehnjährigen Bestehen der Spenden- und Laufaktion „Kinder laufen für Kinder“ mitgemacht.

2Siegerinnen gab es bei der erstmaligen Verleihung des SOS- Kinderliteraturpreises 2012.

506Spendenaktionen gibt es aufwww.meine-spendenaktion.de

57Euro helfen, ein hungerndes Klein-kind in Afrika sechs Wochen lang mit Spezialmilch und angereicher-ter Erdnusspaste zu versorgen.

32,40Euro kostet die Therapie für ein an Tuberkulose erkranktes Kind in Indien.

6.066SOS-Familien leben in den 533 SOS-Kinderdörfern in aller Welt.

In Minsksind jedes Jahr 250 Familien mit geringem Einkommen kostenlos während der Behandlung ihrer Kinder an der Klinik für Kinder-onkologie im SOS-Sozialzentrum untergebracht.

In Caldonazzoin Norditalien gingen 2012 bei der ersten SOS-Olympiade 150 junge Olympioniken aus sieben Ländern an den Start.

In Salzburghaben seit 2001 600 unbegleite-te minderjährige Flüchtlinge ein Zuhause im SOS-Clearing-Housegefunden. 30

Jahre besteht die Hermann-Gmeiner-Akademie in Innsbruck als Schulungseinrichtung und Begegnungsort für Mitarbeiter aus der ganzen Welt.