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(Aus der Landesheilanstalt Haina/Kassel [Direktor: Landes-Obermedizinalrat Dr. E. Zeifl].) Uber die sogenannte ,,religiiise Kurve" (Klages). Kritischer Beitrag zur Ausdruekspsychologie der Handschrift. Von Medizinalrat Dr. med. et phil. G. Kloos. Mit 5 Textabbildungen. (Eingegangen am 23. April 1938.) Bei Pers6nlichkeiten, deren seelische Grundhaltung eine religi6se ist, konnte Ludwig Klage8 h~ufig ein Schriftmerkmal feststellen, das er unter der Bezeichnung ,,religi6se Kurve" besehrieben hat. Der Begriff der Religiosit~t ist dabei sehr weir gespannt: er umfai~t nicht nur das ein- fache Glaubensbediirfnis, das im Rahmen der herk6mmlichen An- sehauungen und Gebr~uehe der Kirche seine Befriedigung finder, sondern auch alle Formen ,,aul~erkirchlichen Frommsinns" bis zur blol~en Vor- liebe fiir ,,t)bersinnliches", eingerechnet den Hang zum Wunderbaren und Mystischen. Klages machte hierbei nur insofern eine Einsehr~nkung, als er betonte, dal~ er nicht ,,vom Frommsinn iiberhaupt als viel mehr vom christlichen l%ommsinn" spreche. Die abgebildeten Proben ent- nahm er gr6l~tenteils der Handsehrift yon kirchlichen Wiirdentragern. In den Handschriften aus der Zeit der Romantik, auch in der Schrift yon Personen, deren Jugendjahre wenigstens noch in jene Zeit fallen, land er das Merkmal recht oft, wahrend es heute ,,h6chst selten ge- worden" und ,,am ehesten noeh in der tIandschrift yon Pfarrern" anzu- treffen sei. Er erkl~rt dieses Seltenerwerden des Merkmals daraus, dal~ ,,die Gegenwart griindlich irreligi6s" sei, woriiber auch die ,,verbreitete Seheinreligiosit~t sowie ~sthetelnde Konventikeleien keinen Charakter- forseher t~uschen werden". Das Schriftmerkmal selbst besteht nun darin, dal~ die Schluflstriche an den Buchstaben- oder Wortenden nach oben rechts verliingert sind und die Groflbuchstaben ansteigen. Die Endstriche k6nnen dabei im Einzelfalle annahernd gerade oder auch staffelf6rmig und S-f6rmig gebogen auf- steigen, sie k6nnen zart ausklingen oder mit punktartiger Verdickung, knopf~thnlichen H~kchen oder linksl~ufigen Riickbiegungen endigen; das Wesentliche daran ist die ,,Verlangerung von SehluBziigen naeh oben". -- Bei den Grol~buchstaben zeigt sich das Ansteigen z. B. darin, dab der letzte Vertikalstrich des M, N, W usw. h6her emporragt als der erste, dal~ der Querstrich des F am Schlul~ nach oben aussehwingt oder

Über die sogenannte „religiöse Kurve“ (Klages)

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Page 1: Über die sogenannte „religiöse Kurve“ (Klages)

(Aus der Landesheilanstalt Haina/Kassel [Direktor: Landes-Obermedizinalrat Dr. E. Zeifl].)

Uber die sogenannte ,,religiiise Kurve" (Klages).

Kritischer Beitrag zur Ausdruekspsychologie der Handschrift.

Von

Medizinalrat Dr. med. et phil. G. Kloos.

Mit 5 Textabbildungen.

(Eingegangen am 23. April 1938.)

Bei Pers6nlichkeiten, deren seelische Grundhal tung eine religi6se ist, konnte Ludwig Klage8 h~ufig ein Schr i f tmerkmal feststellen, das er unter der Bezeichnung ,,religi6se K u r v e " besehrieben hat . Der Begriff der Religiosit~t ist dabei sehr weir gespannt : er umfai~t nicht nur das ein- fache Glaubensbediirfnis, das im R a h m e n der herk6mmlichen An- sehauungen und Gebr~uehe der Kirche seine Befriedigung finder, sondern auch alle Formen ,,aul~erkirchlichen Frommsinns" bis zur blol~en Vor- liebe fiir ,,t)bersinnliches", eingerechnet den Hang zum Wunderbaren und Mystischen. Klages machte hierbei nur insofern eine Einsehr~nkung, als er betonte, dal~ er nicht , ,vom Frommsinn i iberhaupt als viel mehr vom christlichen l%ommsinn" spreche. Die abgebildeten Proben ent- n a h m er gr6l~tenteils der Handsehr i f t yon kirchlichen Wiirdentragern. In den Handschriften aus der Zeit der Romant ik , auch in der Schrift yon Personen, deren Jugendjahre wenigstens noch in jene Zeit fallen, l and er das Merkmal recht oft, wahrend es heute ,,h6chst selten ge- worden" und ,,am ehesten noeh in der t Iandschr i f t yon Pfa r re rn" anzu- t reffen sei. Er erkl~rt dieses Seltenerwerden des Merkmals daraus, dal~ ,,die Gegenwart griindlich irreligi6s" sei, woriiber auch die , ,verbreitete Seheinreligiosit~t sowie ~sthetelnde Konvent ikeleien keinen Charakter- forseher t~uschen werden".

Das Schriftmerkmal selbst bes teht nun darin, dal~ die Schluflstriche an d e n Buchstaben- oder Wortenden nach oben rechts verliingert sind und die Groflbuchstaben ansteigen. Die Endstr iche k6nnen dabei im Einzelfalle annahernd gerade oder auch staffelf6rmig und S-f6rmig gebogen auf- steigen, sie k6nnen zart ausklingen oder mi t punktar t iger Verdickung, knopf~thnlichen H~kchen oder linksl~ufigen Riickbiegungen endigen; das Wesentliche daran ist die , ,Verlangerung von SehluBziigen naeh oben". - - Bei den Grol~buchstaben zeigt sich das Ansteigen z. B. darin, dab der letzte Vertikalstrich des M, N, W usw. h6her emporragt als der erste, dal~ der Querstrich des F a m Schlul~ nach oben aussehwingt oder

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das GroB-S wie ein SchluB-S gestaltet wird (was als Symptom besonders schwer wiegen soll). Vgl. Abb. 1.

Die innere Beziehung dieser Eigenheit der Handschrif t zum religiSsen Erleben leitet Klages aus der Raumsymbolilc des menschlichen Denkens, aus gewissen ,,NStigungen des Raumgefi ihls" ab, wie sie auch in der Sprache ihren Niederschlag linden: Wenn man z. B. Worte, wie ,,hoch- sch~tzen", , ,Hochadel", ,,hSchstes Wesen", ,,hochheilig", , ,Oberbefehl", ,,emporkommen" usw. gebraucht und ihnen Redewendungen wie , ,unter alIer Wiirde", ,,auf tiefer Stufe", , ,Unter tan", , ,unterliegen" usw. gegen- iiberstellt, so bringt man darin einen erlebten Wertunterschied raum- symbolisch zum Ausdruck. Eine innere Ausrichtung nach ,,oben" liegt auch dem religi6sen Gefiihl zugrunde: Eine Einstellung auf irgendetwas,

Abb. 1. Aus Klages: Die ,,reliffiSse Kurve" in der Ha~dsehNft. Z. Mensehenkde 2, H. 5,

was das eigene Ich an GrSBe, Herrl ichkeit und Erhabenhei t unermeBlich ,~berragt, sei es nun als ein persSnliches Wesen gedacht (deistisch) oder als etwas gemeint, was sich in der Natur , im Weltall verkSrpert (pan- theistisch). Diese innere Antriebsrich~ung der Religiosit~t ,,nach oben" wirkt sich auch in der elementaren Schreibbewegung aus und erzeugt dabei das beschriebene Schrif tmerkmal. - - Das Vorhandensein dieses Merkmals ,,nStigt" zwar, wie Klages meint, ,,zur Annahme einer irgendwie religiSs gefarbten Gemfitsverfassung" ; dagegen sei der umgekehrte SchluB, dab ein religi5ser Charakter in der t tandschr i f t das besprochene Schrift- merkmal aufweisen m(isse, ~dcht berechtigt.

Der Aufsatz yon Klages ist inzwischen in weitesten Kreisen beachte t worden, auch au~erhalb des graphologischen Schrif t tums; so n i m m t z. B. Jahrrei]3 in einem psychopathologischen Handbuchbei t rag auf die ,,religi6se K u r v e " Bezug. Irgendwelche Zweifel an der Richtigkeit der Deutung dieses Schrif tmerkmals scheinen bisher nicht laut geworden zu sein. Zwar ha t 1933 A. Asmussen die ,,religiSse Kurve" in der Hand- schrift eines zum Tode verurtei l ten Raubm5rders nachweisen kSnnen, der schon vorher einmal wegen Verleitung zum Meineide und Brand- st if tung mi t insgesamt 10 Jahren Zuchthaus bestraft worden war; aber er glaubte sie immerhin wenigstens auf die ,,frSmmlerische Schein- heiligkeit im Dienste eigenpersSnlicher In te ressen"zur f i ck f f ih ren zu

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k6nnen , die de r Verb reche r zur Schau t r u g u n d m i t de r er sogar den Geis t l ichen seines W o h n o r t e s zu t~uschen ve rmoch te . Asmussen ver- 6f fen thchte seine Beobach tung , u m , ,auf die Aul3ergewShnl ichkei t hin- zuweisen" , dab e inmal auch eine unech t e Gl~ub igke i t , e ine bloBe Schein- re l igiosi t~t in d e m von Klages beschr i ebenen M e r k m a l z u m A u s d r u c k k o m m e n k6nne.

Ob es sich hier wi rk l ich um eine ,,AuBergewShnhchkeit" h a n d e l t und ob die yon Klages m i t soleher B e s t i m m t h e i t gegebene D e u t u n g des g e n a n n t e n Sch r i f tme rkma l s i i b e r h a u p t s t i c h h a l t i g ist , wol len wir nun a n H a n d unseres e igenen B e o b a c h t u n g s g u t e s nachpr i i f en . W i r be- schr~nken uns dabe i von vo rnhe re in auf einige F a l l e yon ausgeprdgtester

A b b . 2. B r i e f a u s s e h n i t t e .

, , religi6ser K u r v e " in de r H a n d s c h r i f t , d ie wi r aus de r Re ihe der i ibr igen ausw~hlen. Die in Abb . 2 wiedergegebene Sehr i f t b i e t e t das M e r k m a l de r wel t nach oben rech t s ve r l~nger ten , z a r t a u s k l i n g e n d e n Schlul~- s t r i che in e ind rucksvo l l e r Weise. Auch das Grol~-S m i t d e m hoch- s t r ebenden E n d s t r i c h - - worauf Klages, wie e r w ~ h n t , ganz besonderen W e r t leg t - - is t in de r beschr i ebenen Weise ges t a l t e t . Es k a n n ke inem Zweifel unter l iegen, d a b hier genau das vor l i eg t , was K/ages u n t e r der , ,religi6sen K u r v e " v e r s t a n d e n wissen will . ][st a b e r de r Schre ibe r ein Menseh yon rel igiSser Denkungsax t , i n sbesonde re i m Sinne christIichen , ,F romras inns" , auf den Klages das g e n a n n t e S c h r i f t s y m p t o m in e rs te r L in ie bez ieh t ? W i r lassen den Sch re ibe r - - be i d e m es s ich u m einen ~ a b r i k a r b e i t e r hande l t , de r sich s e lb s t l e rnend z ieml ieh vie l B i l dung angee igne t h a t - - a m bes t en se lbs t zu W o r t e k o m m e n .

Er richtet an einen Freund eine Ar t ,,Lehrbrief", in dem er u. a. ausfiihrt: Er sei iiberzeugt, ,,dab Christus, seine Heiligen und Propheten, wenn sie in der Gegen- wart leben wiirden, wie sie ehemals gelebt und sich betgtigt haben, heute als Geistes- kranke im Irrenhaus interniert werden mi i f l t en . . . Demnach ist es aber Wahnsinn, einen Religionsgott anzubeten, der h e u t e . . , als Geisteskranker interniert werden miiflte. Noch lgcherlicher ist es, eine Geisteskultur zu ziichten, die unter dem Patronat des Christus steht, dessen Geist heute yon der Wissenschaft als Irrsinn erkannt werden mtiBte. Vergegenw~rtigen Sie sich doch, es kommt heute ein Zimmergeselle, der Jesus heiBt und kommunistischer Lebensanschauung ist, zum Psychiater und erzghlt ihm, daft er eine Stimme h6re, die ihm sagt, er sei der Sohn

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Gottes. Da wfirde ihm der Psychla te r erklaren, dab solche S6hne Gottes , die St im- men h6ren, schon zahlreich die I r r enhaus m aue r n ffillen u n d e r den Kre i s der Him- melss6hne vergr61]ern soll. Aber der ganze Religionsschein beruh t auf dem in tu i t iven und vis ionaren Gehal t solcher P e r s o n e n . . . DaB auch die Nichtglgubigen sich den Si t ten solcher nar r i schen G6t te r un te ro rdnen sollen, das spr icht gegvn die Ver- nunf t . H a t t e es schon vor 2000 J a h r e n I r renhguser und eine Wissenschaf t wie heute gegeben, so ware Chris tus n ich t den Verbrecher tod am Kreuze, sondern im I r renhaus gestorben, er ha t t e keine Legende und die Wel t hgt te nie etwas ,con i hm erfahren. Es wfirden d a n n zum Segen al ler Menschen auch keine pgps t l iehen Pr ies ter und Ki rchen da sein; n u r weil die I r renhauser fehlten, h a b e n wir diese Ku l tu rzus tgnde . "

Von chris t l ichem , ,F r om m s i nn" also keine Spur; in zynisch-ehrfurehts loser Weise zerpflfickt dieser zur Kommunis t i schen Par te i ne igendeAutodidak t die ganze christ l iche Glaubigkeit . N u n k a n n m an sich ja auch, wie Schiller in einem b e k a n n t e n Xenion hervorhob, gerade , ,aus Religion" zu keiner (herk6mmlichen) Rel igion bekennen ; aber selbst einen solchen , ,au~erkirchlichen F r o m m s i n n " vermiBt m a n bei dem Schreiber v611ig. E r h a t ffir alle Religiosit~t nur das i~berhebliche, gering- schatzige Lgeheln des , ,Aufgekla r ten" . ,,Ich bin/rei yon #der religi6sen Be/angenheit'" be ton t er selbst. Auch sein soziales Verha l ten zeugt n icht yon einer auf Herzens- frSmmigkei t be ruhenden Nachstenl iebe und Sit t l ichkeit : Um seine ihm last ig gewordene Ehef rau ]oszuwerden, s t rengte er einen Ehescheidungsproze~ gegen sie an, in welchem er sie des Ehebruchs mi t seinen Freunden und der B lu t schande m i t ih rem Bruder beschuldigte. Als , ,Beweis" verwer te te er welt zurfickliegende, ha rm- lose Vorfalle, die er in ~uBerst boshaf te r Weise aufbausehte und ffir seine Zwecke zu rech tmach te ; un te r dem Vorwand der Beweisaufnahme teil te er seine Besehul- digungen auch al len m6glichen B e k a n n t e n und Verwandten seiner F r a u und dem Bfirgermeister ihres Wohnor tes mit , um sie gesellschaftlich unm6glich zu maehen. Der Grund ton seiner sozialen Gesinnung is t das t~essentiment; ein leidenscha]tlicher Ha~ gegen die h6heren Gesellscha]tsschichten t r ieb ihn ins kommunis t i sche F a h r - wasser. E r sehreibt z. B. an einen F r eund : ,,Das heutige Kul turb i ld , das durch die Lfigen und Verdrehungen der Pr ies te rschaf t zustande gekommen ist, d ient den be- s i tzenden Klassen zum sorgenfreien Leben auf Kosten der a rbe i tenden Bev61kerung. Insbesondere sind die f iberheblichen Akademiker alle Drohnen, und vol lends geh6r t ein St raf r ichter eher ins Gefangnis als der Dieb, den er verurtei l t , da er du rch sein d rohnenhaf tes und fiberflfissiges Dasein Diebstahl am Volksgut begeht . " - - Sich selbst i~berscMitzt er mafllos, ha l t sich ffir einen ,,groBen problemat ischen Denke r" , einen , ,heroischen Kampfe r " , spr ich t gern yon seiner , ,vornehmen Lebensa r t " , e rwahn t in einem Briefe seine , ,vorbildl ichen moral ischen Eigenschaf ten" und seine , ,unan tas tbare Logik", die zu begreifen andere Leute viel zu dumm seien. E r mach te auch Andeu tungen yon ,,groflen Sachen", die er vorhabe. ~uBerl ich t rug er ein hochmi~tiges Wesen zur Schau, verweiger te die Arbe i t und machte a l l e rhand Schwie- r igkeiten, so dab schlieBlich seine Beobach tung in einer psychia t r ischen A n s t a l t veranlal~t wurde. D o r t entwickelte er sich zu einem tiblen Querulanten, dessen Ein- gaben yon auflerordentlicher Bosheit zeugen und selbst vor groben Ver leumdlmgen n ich t zuriickschrecken. Als er merk te , dab er auf dieseWeise nichts erreichen k a n n , stel l te er sich um, wurde fiigsam und einsichtig, so dab er schliel]lich en t lassen werden konnte .

E s h a n d e l t s i ch h i e r a l so , c h a r a k t e r o l o g i s c h g e s e h e n , u m e i n e areligi6se, z i e m l i c h asoziale, v o n ]cdmp/erischemRessentiment er f i i l l t e P e r s 6 n l i c h k e i t m i t s t a r k e r Selbsti~berschdtzung u n d e i n e r N e i g u n g z u s k r u p e l l o s e r Querulanz.

A u c h d ie n ~ c h s t e S c h r i f t p r o b e s t a m m t y o n e i n e m a s o z i a l e n C h a - r a k t e r m i t d e n k b a r u n g i i n s t i g e n E i g e n s c h a f t e n . D ie n a c h r e c h t s o b e n

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ver l~nger ten Ends t r iche laufen n ich t so rein aus wie im vor igen Fal le , son- de rn meis t p lump, dick und keulenfSrmig, was hier e iner e rhebl ich grSberen, b ru ta len Wesensar t en t spr ich t . I n gleicher W e i s e - s t e i g e n auch die u-Haken, der Schluf~strich des W, F, K usw. schr~g empor , tei ls geradlinig, teils in f lachen S - K u r v e n . Ohne Zweifel l iegt auch hier das vor , was Klages als ,,religiSse K u r v e " beschr ieben ha t .

Der Schreiber ist ein ehemaliger Kaufmann, der aus einer Sauferfamilie stammt und auch selbst ein schwerer Alkoholiker geworden ist. Sein Grol3vater verlor dureh Trunksucht seinen Bauernhof, sein Vater beging mit 34 Jahren Selbstmord, und ein Bruder ist wegen Diebstahls vorbestraft. - - Er selbst hat ein unstetes Leben

Abb. 3. Ausschnitte aus einer Beschwerdeschrift.

hinter sich, ring alle m6glichen Geseh/~fte an und gab sie wieder auf; zuletzt fristete er sein Leben als Webereiarbeiter. Trotz seiner gesch/~ftlichen Mil3erfolge, die er offensiehtlich selbst verschuldet hat, ist er nach Aussage seiner Bekannten sehr von sich eingenommen, hat grofle Anspriiche, will immer ,,hoch hinaus" und zeigt keinerlei Selbstkritik. Von seiner ersten Frau wurde er schuldig geschieden, da er sie unter dem Einflul3 seiner zunehmenden Trunksucht fortgesetzt mil3handelte, t/~tlieh bedrohte und einmal sogar auf offener Stral3e in den Leib trat, weil sie ihn einen ,,Schurken, der alles vers/~uft", genannt hatte; wiederholt hatte er sie unter wiisten Beschimpfungen sogar mit einem Messer oder einer Axt angegriffen, so dab sie fliehen mul3te. Aueh mit seiner jetzigen Frau lebt er in Unfrieden. - - Aus seinen Straf- akten geht hervor, dal~ er bereits 1919 (im Alter yon 28 Jahren) wegen Diebstahls mit 9 Monaten Gef~ngnis bestraft wurde. Er hatte Mehlsi~cke aus einem Proviant- magazin gestohlen. In der Urteilsbegriindung wird die besonders freche Ausfiihrung der Tat hervorgehoben. 1921 wurde er wegen eines Lederdiebstahls zu 3 Monaten Gef~ngnis verurteilt. 1923 erhielt er 2 Jahre Gef~ngnis, da er aus einer Feldscheune mit aui3ergew6hnlicher Dreistigkeit Roggen gestohlen hatte. In der Strafhaft schrieb er dauernd querulatorische Eingaben, in denen er behauptete, er verbtiBe seine Strafe unschuldig. 1932 erfolgte eine erneute Bestrafung wegen unbefugten Waffenbesitzes und K6rperverletzung: Er hatte einen Zechgef/~hrten auf der Stral3e iiberfallen und so miflhandelt, dab dieser zusammenbrach. Die Urteils- begriindung weist auf das ,,aul3erst robe Vorgehen" hin und hebt hervor, dab der

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Angeklagte als ,,gewalttatiger Mensch" schon bekannt sei. - - 1923 zog er sich eine Syphilis zu. - - Von Reue oder irgendwelchen religi6sen Anwandlungen war bei ihm noch nie etwas zu bemerken; er ist religiSs g~nzlich uninteressiert, sucht nieht einmal den Anschein yon FrSmmigkeit zu erwecken und zeigt auch in seiner praktischen Lebensgestaltung keinen Anflug yon Rsligiosit&t. - - Er befindet sich zur Zeit in unserer Anstalt zur Alkoholentziehung und Unfruchtbarmachung. Seine sehr m~igen Leistungen im Rahmen der Besch&ftigungstherapie i~bersch~itzt er mafllos

,2

A b b . 4. B r i e f a u s s c h n i t t e .

und schreibt prahlerische Briefe fiber die ,,gro0en Werte", die er durch seine Arbeit hier schaffe.

N a c h den vor l i egenden T a t s a c h e n w~re der U rhe be r de r Schr i f t - p robe 3 also als e in g e m i i t s k a l t e r und hal t loser , asozialer u n d b r u t a l e r , i ibe rheb l icher u n d anma[3endvr P s y c h o p a t h zu kennze ichnen , de r se i t J a h r e n schwerer A lkoho l ike r is t und b isher weder in Worten noch in Taten auch n u t die geringste Andeu tung von , ,Frommsinn" a n den Tag ge legt ha t .

~ h n l i c h z a r t aus l au fend wie im e r s ten Fal le , nur s t a r k e r zur K u r v e gebogen, l i n d e n wir das besp rochene S c h r i f t m e r k m a l b e i m n~chs t en Schre iber , de r d ie , ,religiSse K u r v e " in ge radezu klass ischer A u s p r ~ g u n g aufweis t . Sie is t h ier besonder s fo rmenschSn ausgeb i lde t u n d s t e ig t s te l lenweise ungewShnl ich hoch an . Wie die Ends t r i che s t r e b e n auch d ie u - H a k e n und Gro l~buchs taben (z. B. das H) empor (Abb. 4).

Es handelt sich beim Schreiber um einen (jetzt 41j~hrigen) Handlungsgehilfen, der schon im Schulalter durch seine lebha]te Phantasie und sein #tar#es Geltungs- bedi~r]nis auffiel. Als in dem Geschiehtsunterricht die Schlacht yon Salamis

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besprochen wurde, glaubte er f(irmlich zu ,,hSren", wie die Schilder prasselten und die Sehiffe der Griechen und Perser aufeinanderstieBen, und ,,sah" sieh selbst dabei mitten drin im Kampfgetiimmel. Er war bereits in der Jugend oft innerlich unruhig, getrieben und erregt; er beneidete, wie er sich sp~ter ~uBerte, alle Menschen, die zu einem ruhig-gleichm~Bigen Lebenswandel f~hig sind; ,,bei mir muBte immer etwas platzen". Erkonntenieohne irgendeine,,Sensation"leben. Soliei]ereinmal(1926) eine Verlobungsanzeige in die Zeitung setzen, ohne verlobt zu sein. Er verwendete dabei den ~amen einer gesellschaftlich hochgestel]ten Dame, mit der er sich gerne vereint h~tte. Er /~uBerte sp/~ter dariiber, dab ihm damals Wunschphantasie und Wirklichkeit v61lig ineinander zer]lossen seien. Der Beweggrund war vor allem sein gesteigerter Geltungsdrang und die Absicht, Aufsehen zu erregen. Aus /~hnlichen Motiven kaufte er einmal 100 Kragen und eine Offiziersuniform, obwohl er nie Offizier war. Er lebte i~ber seine Verhdiltnisse, machte Schulden und trat besonders in Damengesellschaft dguflerst groflspurig auf. Wenn er gerade Geld hatte, trank er wochenlang fiberm/~i3ige Mengen Alkohol und lud dabei gSnnerhaft alle mSglichen Leute, auch vOllig Fremde, zum Trinken ein. Er prahlte gern mit seinem Trinken, erz/~hlte, dab er auf einen Sitz 30 Grogs hinuntergieBen kSnne, an einem einzigen Abend Zechen yon 70 RM. mache usw. - - 1921 beging er einen Einbruchdiebstahl bei einem Gastwirt, dem er dabei Kleidungsstiicke, W~sche, Weinflaschen, Lebens- mittel usw. entwendete. Einem Bauern, bei dem er voriibergehend arbeitete, stahl er ein Scheckbuch. 1933 lockte er 7--11j~hrige M/~dchen an sich, indem er ihnen Karusselfahrten bezahlte, und nahm an ihnen dann unsittliche Handlungen vor. Vor Gericht bekam er hysterische Zuckungen und Kr/~mpfe, konnte angeblich auf ein- mal nicht mehr schreibeu, als er ein Protokoll unterzeichnen sollte, redete sich auf ein ,,Nervenleiden" aus und behauptete, yon allem nichts zu wissen. Da seine Zurechnungsf~higkeit zweifelhaft war, wurde er einer psychiatrischen Anstalt iiberwiesen. Dort entwickelte er ein sehr intrigantes Wesen, hetzte und st/~nkerte, verleumdete Kranke und Pfleger beim Oberarzt, wurde einmal auch gegen diesen ausf/~llig und schimpfte ihn einen ,,frechen Liimmel", benahm sich lieblos gegen Mitkranke, redete einem derselben zu, sich zu erh/~ngen, beschmutzte sein Zimmer absichtlich mit Kot, um den verhaBten Pflegern Arbeit zu machen, zerschlug aus Bosheit NachttSpfe, zerriB sein Bettzeug, als ihm ein Wunsch abgeschlagen wurde, und zeigte sich charakterlich iiberhaupt yon den schlechtesten Seiten. Um Urlaub zu erhalten, log er, seine Mutter sei ,,todkrank". Religi6se Anwandlungen konnten bei ihm noch hie bemerkt oder auch nur vermutet werden.

Fassen wir das charak te ro log i sch Wich t igs t e zusammen, so haben w i r e s hier mi t e inem gemi i t ska l ten , asozialen P s y c h o p a t h e n zu tun , bei d e m insbesondere pseudologis t ische u n d hys ter i sche Ztige, wie eine k rank- ha f t gesteigerte Geltung~sucht u n d eine Neigung zu psychogenen Reak- t ionen, hervor t re ten . Seine Asoz ia l i t~ t zeigt sich in e iner R e i h e yon S t r a f t a t e n und in se inem ausgesprochen bSswil l igen V e r h a l t e n zu seiner U m g e b u n g in der He i l ans ta l t . E r ist theore t i sch und p rak t i s ch v61li 9 areligi6s.

W i r ffigen den bisher igen F~l len noch e inen wei te ren an, bei d e m die sog. ,,religiSse K u r v e " besonders s t a r k v e r t r e t e n war . F a s t bei j e d e m Grol~buchstaben, u - H a k e n oder W o r t e n d e s te ig t der Schlui3strich steil hoch und endigt , wie das schon Klages in m e h r e r e n F~l len gesehen h a t (s. oben), oft mi t e inem H ~ k c h e n (Abb. 5a). Zeigt dieses S c h r i f t m e r k m a l n u n e twa hier i rgendeine A r t yon , ,Frommsinn" an ? B e t r a c h t e n wir e inma l die PersSnhchkei t des Schreibers .

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E r is t der Sohn eines schweren Alkoholikers, der wegen seiner T runksuch t in einem Arbei t shause un te rgeb rach t war und an progressiver Para lyse s tarb . Der Schreiber selbst zeigte als K i n d Erscheinungen der angeborenen Lues (Hornhau t - entz i indungen u .a . ) . T ro tz wiederholter Kuren heil te die K r a n k h e i t n i ch t ganz aus und ffihrte in sp~tteren J a h r e n zu einer Hemiplegie. - - Nach den Angaben seines Bruders war er ein sehr begab te r Schtiler; auch heute noch m a e h t er einen rech t intel l igenten E indruck . E r ff ihrte einen uns te ten Lebenswandel , a rbei te te in den verschiedensten Berufen, so als Kellner, Kiempner , Packer, Postaushelfer , Expe- dient, als Quar t i e r smarm im Hamburger Hafen, als Arbei ter in einer S~ckefabrik usw. Etwa alle 14 Tage war er schwer be t runken. E r zog sich nache inande r mehrere Tripper infekt ionen zu. - - E r war immer ein sehr unternehmungslustiger, betr ieb- samer Mensch, wollte i m m e r alles MSgliche anfangen, hatte immer Grofles vor, wol l te

b Abb. 5a und b. a aus einer Beschwerdcschrift, b aus cinem Gcsch~ftsbrief.

Er/indungen maehen u n d es schnell zu etwas br ingen - - es fehl te ihm jedoch an der n6tigen Ausdauer . U . a . r i ch te te er auch ein - - sehr kurzlebiges - - , , Ins t i tu t ffir R a t in Frauerde iden" ein, schrieb immer sehr viel, querulier te u n d s t~nker te fiberall, z. B. im Gasthaus , wo er sich mindes tens dari iber beschweren muBte, dab der Wein nach Korken sehmecke oder dergleichen. E r lebte iibrigens sehr gesellig, war wegen seiner Vergni~gtheit, optimistischen Grundstimmung, stets guten Laune u n d Neigung zu Scherzen in wei ten Kre isen bel iebt und wurde als hei terer Fes t redner in einem groBen Hamburge r Verein sehr gesch~tzt. Bei aller gu ten Laune u n d Gemii t l ichkei t war er jedoch sehr erregbar. E r erhiel t schon in jungen J a h r e n eine Gef~ngnisstrafe wegen KSrperver le tzung. Sparer wurde er wiederholt wegen Bet rugs best raf t . E r ha t t e e inmal s t a t t der bes te l l ten Erbsen einen leeren, bloB auf dem Boden mi t Erbsen bes t reu ten E i senbahnwagen abgehen lassen u n d nachher versucht , ffir den angebliehen , ,Ver lus t" der L a d u n g die Re ichsbahn h a f t b a r zu machen. Als er w~hrend der U n t e r s u c h u n g s h a f t yon den Scheidungsabsichten seiner F r a u h6r te , sehob er aus Boshei t alle Sehuld am Erbsenbe t rug auf diese u n d s tel l te sie als die

. . . . �9

Ans t i f t e rm hin. Auch e lnen Mitangeklagten ver leumdete er m schwers ter Weise. i n der S t ra fha f t m a c h t e er theat ra l i sche Selbstmordversuche, Durchsteehereien, schrieb dauernd JBeschwerden fiber den Gefiingnisarzt, obwohl dieser sich wiederhol t sehr warm ffir i hn e ingesetz t ha t t e , verhetz te die anderen Insassen, vers topf te das Klosett , verf ibte eine B r a n d s t i f t u n g und machte bei den S taa t sanwal t seha f t en eine Unzah l yon ergebnislosen St rafsachen anh~ngig, wobei tells sein Geltungsbedi2r/nis und die Absicht, Au/sehen zu erreqen, teils das Bestreben, miBliebigen B e k a n n t e n

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. 162. 45

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724 G. Kloos:

durch Verleumdungen zu schaden, der Beweggrund war. Da man mit ihm im Straf- vollzug nicht fertig werden konnte, wurde er mit der Diagnose ,,arger Querulant'" in eine psychiatrische Anstalt verlegt 1. t0ber seine religi6sen Ansichten befragt, erteilte er nur die lakonische Antwort: ,,Quatsch !"

Man wird nicht behaupten k6nnen, dab der Lebenslauf dieses Mannes yon religi6ser Gesinnung zeugt. Er ist ein rticksichtsloser und boshafter, asozialer und geItungsbedi~r/tiger Charakter mit hypomanischem Tem- perament und hochstrebendem, aber unstetem und skrupellosem Unter. nehmungsdrang. Wie in seinen Taten, ha t er auch in seinen Worten niemals auch nur das geringste religiSse Ge]iihl bekundet, sondern hat dafiir nut wegwerfende Redensarten fibrig. - - Der Fall ist insofern besonders aufsehlul~reich, als man bei ihm die Entstehung der ,,religi5sen" Kurve verfolgen kann; er hat ]riiher so geschrieben, wie es die Schriftprobe 5 b zeigt: Also mit ann~hernd waagerecht nach rechts auslaufenden SehluB- ziigen. Erst einige Jahre nachdem er sich zum Querulanten entwickelt hat te und sein ganzes Fiihlen und Denken yon einem ohnm~ehtigeu Hasse gegen alle ,,Obrigkeit'" durehdrungen war, bekamen seine End- striehe die aggressive Wendung nach oben, wie in Abb. 5a. - - Bei den anderen F~llen war uns eine solehe Betrachtung im zeitlichen ,,Li~ngs- schnit t" , die Schorsch mit Recht fiir wichtig und aufschluSreieh h~lt, leider nicht mSglich, da uns friiheres Sehriftmaterial fehlte.

Diese 4 Beispiele, die leicht noch um weitere vermehrt werden kSnnten, mSgen hier geniigen. Sie zeigen bereits mii hinl~nglicher Deutliehkeit, daft die sog. ,,religiSse Kurve", entgegen der Ansieht yon Klages, durchau~ noch nicht den Schlufl au] Religiositdt des Schreibers erlaubt und hdu/i 9 iiberhaupt nicht das geringste mit ,,Frommsinn" irgendwelcher Prdgunff zu tun hat. Wenn Klages meint, dieses Schrif tmerkmal sei selten geworden, weft unsere Zeit so ,,grtindlich irreligiSs" sei, und finde sich fast nur noch bei Pfarrern, so ist hier demgegenfiber zu betonen, dal~ wit es verhdltnis- mdflig hdu/ig feststellen konnten, und zwar besonders bei den (meist kriminellen) /nsassen der gesicherten Abteilungen yon psychiatrischen Anstalten.

Die yon Klages gegebene Deutung der nach oben verl~ngerten End- striche und ansteigenden Grol~buchstaben ist also nicht allgemein zu- treHend; vermutlich ist sie auf Grund eines empirischen Ausgangs- materials zustande gekommen, welches das kriminalpsychologische ]3eob- achtungsgut nicht mitumfal~te. Man sieht daraus, wie bedenklich es ist, spezieUe graphologlsche Lehren au/zustellen, bevor sie au] einer m6glichst breiten und viels~itigen empirischen Grundlage nachgeprii/t und bestdtigt worden sind. Ohne diese solide Unterlage sind alle ,,intuitiven" grapho- logischen Deutungen nicht trag/dhig und bleiben zwar interessante und

1 Dieser Fall geh6rt, wie auch 2 der vorhergehenden, dem Material der Staats- krankenanstalt Hamburg-Langenhorn an; ftir die Uberlassung der 3 Falle, die ich w~hrend meiner dortigen Ti~tigkeit in Behandlung hatte, bin ich tterrn Prof. K6rtke zu Dank verpflichtet.

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~ber die sogenannte ,,religiSse Kurve" (Klages). 725

oft sehr geistreiche, aber praktisch wenig verwertbare Spekulationen. Wie ware z. B. das Ergebnis ausgefallen, wenn die Handschrfften unserer 4 Falle etwa von einem Gesch~ftsleiter, dem sie als Bewerbungssehreiben vorlagen, einem Berufsgraphologen zur Beurteilung fibergeben worden w~ren ? Vermutlich h~tte dieser - - irregeleitet durch ein ausgepr~gtes Schriftsymptom, das yon autori tat iver Seite mit grol3er Best immthei t als Zeichen religi6ser Gesinnung gedeutet worden ist - - die Ansicht ge~ul3ert, dal3 es sich bei den Schreibern um ethisch wertvolle und hoeh- gestimmte, von religiSsem Geffihl durehdrungene PersSnlichkeiten handle, denen man daher beruhigt Vertrauensposten, z .B . die Verwal- tung einer Kasse od. dgl. fibertragen k6nne. Die Entt~usehung ware naehher wahrscheinlieh sehr grol3 gewesen. Gerade am eindrueksvollen Beispiel der sog. ,,religiSsen Kurve" erkennt man, dal3 die etwas kfihle Zurfickhaltung, auf welche die Graphologie in anspruehsvolleren wissen- sehaftliehen Kreisen auch heute noeh st6i3t, nicht ganz unberechtigt ist. Von dieser Seite mul3 man den Graphologen - - yon wenigen rfihmlichen Ausnahmen abgesehen - - im allgemeinen den Vorwurf maehen, dal3 sie allzu sehr geneigt sind, ihrer ,,Intuition" zu vertrauen und sich in zu ge- ringem Marie methodisch verp/lichtet /i~hlen, die Deutungen empirisch au] ihre Richtigkeit nachzupri~/en. Allerdings stehen dem Berufsgraphologen aueh nur selten die objektiven Unterlagen ffir eine solehe Kontrolle zu Gebote, fiber die z. B. der graphologiseh interessierte Psychiater in Form yon Krankengeschichten, Pflegerberichten, Geriehts- und Ffirsorge- akten, Aussagen yon AngehSrigen usw. verffigt, so dal3 er ein nahezu lfiekenloses Bild vom Lebenslauf und Charakter seiner F~lle erh~lt, das noch dureh die eigene Beobaehtung vertieft wird.

Wir wollen aber bei diesen negativen l%stste]lungen nieht stehen bleiben, sondern eine Synthese zwisehen der Auffassung yon Ktages und unseren abweiehenden Ergebnissen versuchen. Der gCmeinsame Nenner wird, wie yon vornherein klar ist, nur auf einer Ebene gr6rierer Allgemeinheit der Deutung liegen k6nnen.

Betraehten wir zun~ehst das chara]cterologisch Gemeinsame unserer 4 Fdlle: Sie sind alle sehr yon sich eingenommen, i~berschdtzeu sich zum Teil ganz gewaltig, wollen alle, jeder auf seine Art, ,,hoch hinaus", und legen einen sehr gesteigerten Geltuugsdrang an den Tag. Der eine gl~nzt mit seiner angelesenen Bildung und strebt fiber seinen Arbeiterstand hinaus, will ffir einen ,,heroischen K~mpfer" und ,,tiefgrfindigen Denker" gehalten werden und macht dunkle Andeutungen fiber hoch/liegende Pldue, der andere sucht dureh eine Offiziersuniform zu blenden und durch nobles, gSnnerhaftes Auftreten, groBzfigige Zechgelage, eine falsche Verlobungsanzeige u. dgl. Eindruek zu maehen und mehr zu scheinen als er ist, ein weiterer lebt anspruchsvoll fiber seine Verh~ltn~sse, und der letzte will grorie Er]indungen maehen und als ,,GeseUsehaftskanone", beliebter Vereinsredner usw. eine Rolle spielen. Alle vier sind lebhafte,

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aktivc Menschen mit zum Teil ausschwei/cnder Phantasie und einer Neigung zu aggressiver Querulanz, fast alle mehr oder weniger mit so- zialem _Ressentiment geladen. Der Grundzug all dieser persSn]ichen Eigenheiten besteht in einer inneren Einvtellung au/etwas H6heres, dem eigenen Ich Ubergeordnetes: In positiver Richtung auf ein Wunschbild vom Ich, das man anstrebt oder dfinkelhaft schon erreicht zu haben glaubt bzw. vorti~uscht, ferner auf hohe Lebensziele, Plane, Erfindungen usw., durch die man es zu Wohlstand, Bedeutung oder l~uhm bringen will; in negativer Richtung eine Einstellung e twa auf das sozial ~ber - legene, das man ha, fit und bek~mpft - - seien es nun die hSheren Gesell- schaftsschichten oder die BehSrden, denen m a n durch Querulanz aller- hand zu sehaffen macht und dabei zugleich sich selbst in den Vorder- grund riickt; es liegt also in jedem Falle eine Anspannung der Alctivitdt au/ etwas Ubergeordnete8 vor, das einen a//ektiv stark besch~iftigt - - im Sinne yon Liebe oder yon Haft. Von der ersteren wird das innere Ver- h~ltnis zu religiSsen Vorstellungen und jedem angestrebten Idealbilde und Lebensziel best immt, w~hrend der nach , ,oben" gerichtete Ha[~ besonders im Ressentiment, in querulatorischen Angriffen auf hSher gestellte Instanzen u . a . zum Ausdruck kommt .

Man erkennt daraus erstens, da~ jenes ,,H6herc", au/welches jemand innerlich ausgerichtet ist, durchaus nicht nur ein reliffi6ser Inhalt sein kann, und zweitens, dal~ die Art (das ,, Vorzeichcn") dieser Ausrichtung ]ccines- wegs immer positiv zu sein braucht . Welcher Ar t diese Einstellung auf etwas ,,HSheres" sein und welchen Inha l t dieses HShere auch haben mag - - immer wird sie sich raumsymbolisch in der Handschr i f t in nach oben gerichteten Endstr ichen ausdrficken kSnnen. In wie hohem Grade das ganze Bewu~tsein yon raumsymbolischen Gliederungen und Ge- staltungstendenzen durchdrungen ist, ha t bereits Ernst Cassirer in seiner ,,Philosophie der symbolischen Formen" gezeigt, freilich ohne daraus entsprechende graphologische ~olgerungen abzuleiten.

In diesem aUgemeinsten raumsymbolischen Deutungsansatz s t immen wir mit Klages also vSllig fiberein, der die hochstrebenden Endstriche iibrigens selbst zun~chst blol~ mi t gesteigertem Ehrgeiz in Verbindung gebracht hat ; nu t seine in der weiteren Ausfiihrung des Grundgedankens vorgenommene Einengung des Sinnes dieses Schrif tmerkmals auf das spezielle Gebiet des Religi6sen miissen wir auf Grund unserer eigenen Beobachtungen ablehnen. Ebenso scheint uns die Einschr~nkung der Deutung auf eine positive Art der Einstellung zu ~bergeordne tem nicht allgemein zutreffend zu sein; das raumsymbolisch mit starker A//ekt- betonu~g als h6herstehend Erlebtc kann nicht nur geliebt, sondern auch geha[3t ~ nicht nur angestrebt, sondern auch bekdmp# werden. Gerade unter dem ]~influl~ einer solchen negat iven Einstellung zu aller , ,Obrigkeit" entwickelte sich, wie wit vermuten , die ,,religiSse" Kurve im Tall 4.

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Asrnussen ha t a us seinem oben erwahnten Falle zwar nicht diesen Schlul3 gezogen, aber er ergibt sich ohne weiteres aus seinen charak- terologischen Angaben: Es handelte sich bei seinem RaubmSrder mi t der ,,religiSsen" Kurve ebenfalls um eine PersSnlichkeit mi t starkem sozialem Auftrieb, Bildungsstreben und Geltungsdrang, dem die Religion nur als Mittel zum Zweck und als Maske diente; den Raubmord ha t t e er begangen, um sich in den Besitz der sauberen Ausweispapiere des Er- schlagenen zu setzen, die ihm zur Vertuschung seiner Vorstrafen und zum Aufbau einer hSheren sozialen Existenz dienen sollten, die ihm als ehemaligem Zuchthausler versperr t gewesen ware. Aus diesem akt iven Emporstreben und nicht aus der nur ganz auBerlich er lebten Schein- religiositat diirften sich die nach oben gerichteten Endstr iche in seiner Handschrif t erklaren.

Wenn wir hier unter Ablehnung der zu speziellen Auslegung yon Klages eiiie allgemeinere I )eutung der ,,relig~Ssen K u r v e " zu geben versuchen, wollen wir dabei aber nicht in denselben methodischen Fehler verfallen, den wir hier gerade bekampfen: Wir sind uns dessen bewul3t, dal~ unsere bisherige Kasuis t ik noch nicht zu weit tragenden theoretischen Folgerungen berechtigt; es ware falsch, daraus schon bestimmter gehaltene graphologische Schliisse abzuleiten. Es sollte lediglich eine Denlcm6gIich- keit aufgewiesen werden, die vielleicht geeignet ist, auf die richtige Deu- tung des besprochenen Schr i f tsymptoms hinzufiihren. Zu einer end- giiltigen Stel lungnahme wird erst eine auf umfangreicheres Material gesttitzte Untersuchung fiihren kSnnen, zu der die vorliegende Arbeit anregen mSchte.

Wir ]assen somit zusammen: Die ,,religiSse Kurve" yon Klages ist keiue religi6se Kurve ; denn sie k o m m t 5fters auch bei vSllig areligiSsen und kriminellen PersSnlichkeiten vor. Sie kann, wie wir auf Grund unserer Beobachtungen vermuten, aul~er religiSsem Gefiihl auch ganz andere Ziele und Arten der inneren Ausrichtung auf , ,HSheres" ~us- drticken (z. B. Geltungssucht, Ressentiment usw.). Wegen dieser Viel- deutigkeit ist sie ein Ausdruckssymptom yon sehr begrenztem Weft .

Literaturverzeichnis. Asmussen, A.: Z. Menschenkde 9, 173. - - Cassirer, E.: Philosophie der sym-

bolischen Formen, 3 B~nde. Berlin 1923--29. - - Jahrreifl, W.: Bumkes Handbuch der Geisteskrankheiten, Bd. 1, S. 590. - - Klages, L.: Die ,,religi6se Kurve" in der �9 Iandschrift. In: Zur Ausdruekslehre und Charakterkunde, Ges. Abh. Heidelberg 1926; auszugsweise wiederabgedruckt in Graphologie. Leipzig 1932. Derselbe Auf- satz ferner in der Z. Menschenkde 2, H. 5, 1--8. - - Schorsch, (7.: Z. Neur. 1,494 ( 1938 ).