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Über die sogenannte „religiöse Kurve“

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Page 1: Über die sogenannte „religiöse Kurve“

I)ber die sogenannte ,,religiiise Kurve". Nochmals ein kritischer Beitrag.

~V'on Ludwig Klages.

(Eingegangen am 23. August 1938.)

I m SchluBheft des 162. Bandes dieser Zeitschrift bringt Her r Medi- zinalrat Dr. G. Kloos (fortan Verfasser----Verf. genannt) S. 716--727 interessante Schilderungen von vier mehr oder minder kriminellen Psycho- pathen, deren Handsehr i f ten die sog. ,,religiSse Kurve" (r. K.) aufweisen sollen. Die Abhandlung hi~tte jedoch wertvollere Ergebnisse gezeitigt, wi~re Verf. aueh nur ann~hernd ebenso ver t raut gewesen mi t der Wissen- schaft vom Ausdruek, wie er es zweifellos mit der Heilkunde ist. Da das nieht der Fall, k5nnen seine fibrigens lehrreichen Ausffihrungen leider Verwirrung stiffen. Wir geben die erforderliche Richtigstellung der ~be r - sicht halber gegliedert nach Teilaufschriften.

E i n enttduschendes Exper iment . - - Nachdem Verf. mi t Beispielen belegt zu haben glaubt, daB die fragliche Kurve unter anderem in den Handschr i f ten h6ehst liederlicher Personen vorkomme, bei denen von irgendwelehem Frommsinn im mindesten nicht die Rede sein kann, ~uBert er S. 725: ,,Wie ware z .B . das Ergebnis ausgefallen, wenn die Handschr i f ten unserer 4 F~lle etwa von einem Gesch~ftsleiter, dem sie als Bewerbungsschreiben vorlagen, einem Berufsgraphologen zur Beurtei- lung fibergeben worden w~ren ? Vermutlich hs dieser - - irregeleitet durch ein ausgepr~gtes Schrif tsymptom, das yon autor i ta t iver Seite mi t groBer Bes t immthei t als Zeichen religiSser Gesinnung gedeutet worden ist - - die Ansicht gei~uBert, dab es sich bei den Schreibern um ethisch wertvolle und hochgest immte, yon religiSsem Geffihl durchdrungene PersSnlichkeiten handle, denen man daher beruhigt Vertrauensposten, z . B . die Verwaltung einer Kasse oder dergleichen fibertragen kSnne. Die Ent t~uschung wi~re nachher wahrscheinlich sehr groB g e w e s e n . " - - Der Zufall wollte, daB ich, mi t flfichtigem Durchbl~ttern des eben erhal- tenen Sonderdruckes beseh~ftigt und nach Lektfire vorers t nur der S. 725--727, den Besuch eines Bekannten erhielt, der graphologisch durch- gebildet isr Ieh sehalte ein: Abgabe eines wissenschaftlichen Gutachtens auf Grund der Handschr i f t erfordert giinstigenfalls die Arbeit eines Tages, daher es unter Kennern und KSnnern streng verp5nt ist, fiber Schrift- dokumente charakterologiseh etwas ,,aus dem Handgelenk" zu verlaut- baren. I )ennoch wagte ieh die Frage : ,,Sind Sie bereit, mir p r ima vista

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je fiinf bis sechs Eigenschaften der Urheber von vier Schriftproben zu nennen, yon denen ich Nachbildungen besitze; wie sich versteht, v611ig unverbindlich ?" Er bejahte erst, nachdem ich hinzugefiigt hatte, es handle sich um ein Experiment. Hier sind die Angaben, die ich ohne die mindeste Abdnderung, w/~hrend er sprach, notierte:

Abb. 2, S. 718: Schreckliche Handschrift. - - Streberisch, rfieksichts- los, jedoch nicht ohne Schlauheit. Ist ein Bluffer. Egozentrisch; fiber- haupt egoistisch. Hat keine sachlichen Interessen. Kleinlich.

Abb. 3, S. 720 : M/~nnlicher oder weiblicher Schrifturheber ? (Ich : Das weiB ich nicht.) Wahrscheinlich miinnlich. Kiinstlich zusammengefaBt. Undurchsichtig. Selbstdarstellungsdrang. Unaufrichtig. Pathologisch. Gesellschaftliches Emporstreben. Nicht ganz normal. Eine gewisse Ge- wandtheit.

Abb. 4, S. 721: Ganz ungeniigendes Material; nur EinzelwSrter. - - (Ich: Bitte gleichwohl um Urteil, ieh wiederhole, ohne Verbiudlichkeit.) Zeigt Ansatz zur religiSsen Kurve. Ha t einen schwi~rmerischen Zug. Ist aber gleichfalls ein Streber. (Hier folgt ein Wort, das ich hernach nicht mehr entziffern konnte.) Schwi~ehliche Konstitution. Gefahr der Zer- splitterung.

Abb. 5, S. 723 : Ein eitler Kerl. Is t das eine Frau ? (Ich : Das weir ich nicht.) Unsicher. Nimmt sich zusammen aus Angst, auseinanderzufallen. Herrschtrieb im Kleinen. Sehr egoistisch. Ha t enormen Selbstschi~tzungs- drang, kann aber devot sein. Schreeklich verknorzt, steif und verklemmt. Nimmt immer, aber gibt nichts.

Nachdem ich ihm gedankt und mitgeteilt hatte, die Proben seien als Beispiele fiir r. K. verSffentlicht worden, und so h/~tte ich, well m5glieher- weise befangen, reich vergewissern wollen, ob sie einem Graphologen in solchem Lichte erscheinen kSnnten, drfickte er sich ziemlich drastisch aus ; worauf ich den Gegenstand fallen liel~. - - Die naturgem/il~ ~ul~erst k/irg- lichen Angaben sind zwar im wesentlichen richtig, lassen aber zu den ge- schilderten Lebensl/~ufen kaum eine Beziehung erkennen, aul~er in einem einzigen hernach zu berfihrenden Punkte.

Ich weil~ nicht, ob Verf. sich durch den kleinen Versuch entt/iuscht ffihlen wird. Das aber diirfte er zugeben, daf~ allein schon diese wenigen Angaben einen Gesch/~ftsleiter schwerlich veranlassen kSnnten, einen der vier Schreiber ffir eine ,,ethisch wertvolle und hochgestimmte PersSn- lichkeit" zu halten, geeignet ffir einen Vertrauensposten! - - Ich w/s bereit, den Versuch in Gegenwart des Verf.s oder sonst einer zuverl/~ssigen Kontrollperson mit gleichgiiltig welchem Schiiler yon mir zu wiederholen, und wei6 zum voraus: jeder der vier Schrifturheber wfirde mindestens ebenso ungfinstig abschneiden, welt ungiinstiger aber durch Ers ta t tung eines Gutachtens. Da muB denn in der Auffassung des Verf.s wohl etwas nicht stimmen. Wir wollen sehen!

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Falsche Beschreibung der Kurve. - - Auf S. 716 lesen wir (Schr~gdruck stets vom Verf.): ,,Das Schrif tmerkmal selbst besteht nun darin, dag die Schluflstriche an den Buehstaben- oder Wortenden nach oben rechts verl~ingert sind und die Gro/3buchstaben ansteigen." - - Nun, eben darin besteht die fragliche Kurve nicht. Da sich Verf. ausdrficklich auf meine kleine , ,Graphologie" beruft, die in der bekannten Serie ,,Wissen- sehaft und Bildung" bei Quelle und Meyer erschienen ist, bleibt mir niches anderes fibrig, als die darauf bezfigliche Stelle w6rtlich wieder- zugeben.

Nach Erl~uterung gewisser Kennzeiehen des Eifers, der Strebsamkeit , des Bet~tigungsdranges heigt es: ,,Anders liegt es, sobald wir Sonderarten des Strebens ins Auge fassen, z. B. das Streben aus Ehrgeiz. Auf welehe Ziele immer der Ehrgeiz lossteuern mag, stets erscheint seinem Trgger im Verh~ltnis zur gegenwgrtigen Lage die zu erstrebende Lage als etwas Uber- legenes. Will er doch, wie man zu sagen pflegt, ,,hSher h inaus"! Dem entsprgche raumsymbolisch folgendes Bild:

j ~ .Zie l des Ehrgeizes

Ehrgeiziges I c h . . . . . . . . . .

Daraus erkl~ren sich zwei Merkmale der Bewegungsphysiognomie von mehr als durchsehnitt l ich ehrgeizigen Personen: erstens die Verlgngerung mancher Sehlul~zfige nach or (d. h. obenrechts), zweitens und vor allem ansteigende Grogbuehstaben. In Fig. 30 haben wir die wichtigsten Vor- kommnisse ansteigender Formen den entsprechenden Vorkommnissen absteigender Formen gegenfibergestellt. Von ihnen allen am sehwersten wiegt das wie ein Schlug-s gestaltete Grog-s der K u r r e n t s c h r i f t . . " (Das hier als Fig. 30 erwghnte Schema wird vom Verf. reproduziert in den beiden oberen Zeilen der Abb. 1 auf S. 717.) Es geht dann weiter: ,,Aber sogar die graphische Erscheinung noch weit speziellerer Eigen- schaften lggt sich solcherart ableiten." Wieso Verf. t rotz der Knfipfung mi t , ,aber" und obwohl er das hier vom Ehrgeiz Gesagte auf S. 725 Mitre bis 727 Mitre mit etwas anderen Worten wiederholt (!), beides miteinander verwechseln konnte, bleibt mir bis auf weiteres unver- stgndlich. - -

Also: ,,Ehrgeiz" und nicht etwa , ,Frommsinn" lautet die allgemeinste Fassung der in jenen Bewegungsspuren erscheinenden Charakterzfige. - - Hinzugefiigt sei, dab beileibe nieht etwa ieh das entdeekt habe. Es gehSrt seit langem zum Gemeingut graphologischen Wissens. Von mir rfihrt nur die Erklgrung her mi t Hilfe der Raumsymbolik, fiber deren Be- deutung ffir ,,das ganze Bewu~tsein" und die menschlichen ,,Gestaltungs- tendenzen", beili~ufig bemerkt , ieh seit 1900 (!) und wiederum keineswegs als erster publiziere (der Neukant ianer Cassierer kam dami t genau ein Viertel jahrhundert sparer !).

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Die Verwechslung ist, wie gesagt, unversti~ndlich. Anders s teht es mi t der Meinung des Verf.s, er habe vier Beispiele ffir r. K., das ist ffir das Ausklingen yon Endziigen nach oben geboten; woriiber am Schlu• das Erforderliehe beigebracht wird. Hier bemerke ieh zum Tatbes tande: einen Ansatz zur ffaglichen Kurve zeigt wirklich Abb. 4, von den iibrigen - - t ro tz Ansehein des Gegenteils in Abb. 5 - - lceine. Dagegen zeigen 2, 3 und 4 Verl/~ngerung der SchluBziige nach or, was in Verbindung mi t steigenden Formen meinem graphologischen Bekannten jedenfalls den AnstoI3 gab, in ausnahmslos allen F/~llen die Eigensehaft zu betonen, hinsiehtlieh deren seine Bemerkungen mi t denen des Verf.s iibereinstim- men, n/~mlich nicht zwar , ,Ehrgeiz", wohl aber dessen wertwidrige Ge- staltungsformen: 2 ,,streberisch" - - 3 , ,Selbstdarstellungsdrang", ,,Ge- sellschaftliehes Empors t reben" - - 4 , ,Ist aber gleichfalls ein Streber" - - 5 ,,Ein eitler Kerl" , , ,Hat enormen Selbstsch/~tzungsdrang".

A usdruckstheoretische Voraussetzungs/ehler. - Die Gesamtdarstel lung des Verf.s fui3t auf dem grunds/~tzlichen I r r tum, dem habituellen Bewe- gungsmerkmal oder denn seinen graphischen Spuren werde vom Aus- drucksforscher der eine und selbe Charakterzug zugeordnet, gleichgiiltig in welchem Bewegungsganzen das Merkmal sieh finde. Seit rund vierzig Jah ren sind unter anderem die ernst zu nehmenden deutschen Grapho- logen und bin zumal ich als Ausdrucksforseher bemiiht, in Wor t und Schrift und Bild diesen verheerenden I r r tum, den wir aus Frankreich be- zogen haben, zu bek/~mpfen. Es ist nicht angenehm, dessenungeachtet immer wieder erleben zu miissen, dab man da und dort t auben Ohren gesprochen hat.

Jeder Sachkenner weis heute : erstens, dab keine expressive Funktions- eigenschaft zweimaldasselbe bedeuten kann, und zwar, weft das Ausdrucks- ganze, an dem sie hervortr i t t , von Person zu Person variiert ; zweitens, daI3 sie abgesehen davon prinzipiell doppeldeutig ist und demgem/~13, sobald wir von blol3er Feststellung zu wertender Feststellung iibergehen, sowohl einen werthaltigen als auch einen wertwidrigen Charakterzug oder, ein. facher gesproehen, bald einen Vorzug, bald einen Mangel bekundet . Als soeben von graphisehen Symptomen des Ehrgeizes die Rede war, nannte ich das Wort die allgemeinste Fassung der durch sie angezeigten Charak- terziige. Ein anderes n/imlich ist Ehrgeiz in der Richtung auf Verbesserung derLeistung, wie erz.B, vom guten Schiller gefordert wird, ein anderes Ehr- geiz um der persSnlichen Geltung willen. Fiir jenen bieten sich je naeh Lage des Falles Bezeichnungen dar wie : Vervol lkommnungsdrang, leidenschaft- liehes Saehinteresse, passioniertes Streben usw., ffir diesen Bezeichnungen wie : Bedeutungsbediirfnis, Geltungstrieb, Erfolgshunger (mit den zahlrei- chen m5glichen, obschon nicht notwendigen,)[ul3erungsformen wie : Pr/~ten- tion, Ruhmredigkeit , Renommisterei , Anma8lichkeit , Hochmut usw.). Dasselbe expressive Bewegungsdatum, das hier fiir T/~tigkeitslust sprieht, zeugt dort yon Flfichtigkeit und Ungeduld ; die Symptome des Zartgeffihls

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hier, sind die einer naehtragenden Empfindliehkeit dor t ; die des Hin- gebungsverm6gens hier, der Zfigellosigkeit dort ; die der Gutmfitigkeit zugleich die der Ablenkbarkeit , die der Festigkeit zugleich die der H/~rte und Teilnahmslosigkeit und so ins Unabsehliehe fort. An dieser Stelle dafiir den Beweis zu erbringen, w/~re ebenso unm6glich wie aber aueh fiberflfissig, da er Dutzende yon Malen erbracht wurde, eingerechuet die Darlegung der miihsam erarbeiteten Methoden, mit Hilfe deren naeh Qualit/~ten des jeweiligen Ausdrucksganzen zwischen Plus und Minus die Wahl getroffen wird. (Genaues finder, wer sieh darfiber unterrichten will, in der 5. Ausgabe meiner ,,Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck".) - - W e r heute erwerbsm/~gig Handschriften deutet, ohne theoretiseh und praktiseh ver t raut zu sein mit dem Prinz ip der Doppel- deutigkeit jedes Ausdrucksdatums ist entweder ein heilloser Stiimper oder ein ScharIatan. - - Was im Anschlul~ an obiges in wenigstens entfernt /thnlicher Richtung Verf. vorbringt auf S. 725 Mitre bis S. 727 Mitre, ist zutreffend, gehSrt jedoch zu den Weisheiten, die jeder einigermal~en unterrichtete Graphologe bereits vor dreiBig Jahren, wenn eine volks- tfimliche Wendung erlaubt ist, sich an den Schuhsohlen abgelaufen hatte.

Seelenkundliche Voraussetzungs/ehler. - - Ist das Prinzip hinreichend erSrtert (und das gesehieht selbstverst/tndlich auch in oben erw/ihnter ,,Graphologie"), so mul~ es zwar im Lehrbuch auf jedes graphisch fa6bare Allgemeinmerkmal aueh angewandt werden (und das geschieht in jedem meiner Lehrbfieher); nicht aber mehr in Einzelaufs/itzen und nicht in einer durch Enge des verffigbaren Raumes auf das Notwendigste zu be- sehr/inkenden Einffihrung. Wenn ich dergestalt die r. K. nur in bezug auf die positive Seite des Sachverhalts besprochen habe, so durfte ich voraus- setzen, dab die mSgliche Kehrseite ffir jeden gebildeten Leser zu den Selbstverst/~ndlichkeiten gehSre. Rfickfibertragen wir den Namen , ,Frommsinn" in das gebr/iuchliehere ,,Religiosit/~t", so kann seit Novalis und so muff seit Nietzsches klassischer Zergliederung der seelischen Ent- stehungsbedingungen des Christentums jeder wissen, da$ auch Rehgiosit/~t mit dem Janusant l i tz behaftet ist. Anderthalb Jahrtausende lang war die Gesehichte des Christentums unter anderem eine Geschichte bodenloser Greuel ad majorem dei gloriam. Niemandem aber ist heute noch jene Wald-Feld-und-Wiesen-Psychologie der neunziger Jahre gestattet , der- zufolge die Innozenz III , , Alba, Torquemada, ob sie sehon ohne Frage entsetzliche Menschen waren, iibrigens infame Heuehler gewesen seien. Religiosit/~t als solche hat bald ein positives, bald ein negatives Vorzeichen und gew/~hrleistet, isoliert betrachtet , nicht, da6 ihr Tr/~ger eine ,,ethisch wertvolle" PersSnlichkeit sei ! Und davon bilden sogar religiSse Anwand- lungen Krimineller keine Ausnahme!

Asmussen hat in seinem 1933 verSffentliehten Aufsatz fiber einen RaubmSrder die fibrigens nur am Schlu6-s in dessen Handsehrift , dort

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jedoch unverkennbar vorhandene r. K. in Riicksicht auf den erwiesenen Umstand, dal3 der Verbrecher sich viel mi t religiSsen Gegenst/~nden be- faBte, aus Scheinheiligkeit hergeleitet. Das kann zutreffen, muB es aber nicht unbedingt. Unl/ingst wurde im K a n t o n St. Gallen ein 24j/~hriger Bursche, Typus eines jugendlichen Gangsters, dessen Handschrif t iibrigens die r. K. nicht aufweist, wegen Diebstahls, Betruges und zweier Mordta ten zum Tode verurteilt. Aburtei lung wegen einer dri t ten Mord- t a t s teht in einem anderen Kan ton noch bevor; eine Brandst if tung war verj/~hrt. Der in allen Punkten gest~ndige Verbrecher ha t in der Haf t , aus der er fibrigens wiederholt ausbrach, eine , ,Selbstbiographie" verfal3t, die nach dem Urteil der Presse und nach den daraus mitgeteil ten Proben ohne weiteres gedruckt werden kSnnte. Man erf/~hrt dabei unter anderem, was auch yon Zeugen best/~tigt wurde, dab sein immer wiederholter Aus- spruch war: ,,Ich will Kaplan werden". U n d e r wollte es wirklich! Schon mi t 16 Jahren t ra t er in ein Kapuzinerklos ter ein, aus dem er naeh einiger Zeit wegen Unzuverliissigkeit entlassen wurde. Dann versuchte er es mi t einem Trappistenkloster im Elsal3, mul3te aber nach wenigen Monaten wiederum entlassen werden, well, wie es heiflt, ,,der Versucher an ihn herangetreten war und ihm die SchSnheit und die Geniisse der Wel t " gezeigt hatte. Beachtet man, dab ihm nicht e twa Mangel an Recht- gl/~ubigkeit, sondern - - aus der katholischen Sprache in die unsrige fiber- setzt - - Verfiihrbarkeit vorgeworfen wird, infolge, wie kaum hinzugefiigt werden mul3, anderer Triebfedern yon grSl3erer Vehemenz, so diirfte in diesem recht eigentlich verworfenen Charakter gegenfiber einer Reihe schwerster Entartungseigenschaften die Religiosit/it die Rolle eines kompensatorischen Zuges gespielt haben und w/~re dann keineswegs unecht gewesen. Aber das ist nur eine MSglichkeit aus vielen.

Wer sich mit einer anderen und sehr verbre i te ten befassen will, muB sich - - am besten unter der Leitung Nietzsches - - jener Form der G1/~ubig- keit zuwenden, fiir die sich seit dem Ende des 17. Jahrhunder t s der Name des Pietismus eingebtirgert hat. Zweifellos, un te r Pietisten befanden sieh jederzeit nicht wenige Personen, die wir mi t Rech t im iiblen Sinn , ,bigott" nennen wiirden, und ebenso zweifellos befanden sich darunter viele Per- sonen, deren christlicher Frommsinn durch und durch echt war. S ta t t das hier erkl/~ren zu wollen, was eine Abhandlung erfordern wiirde, sei es mir erlaubt, an Hand eines einzigen Beispiels mich selbst zu zitieren. Ein tats~chlich f rommer Mann war der s treng pietistische Augenarzt Johann Heinrich Stilling, Jung Stilling genannt , der bekanntlich aus hSchst entbehrungsreicher Jugend sich zum bedeutendsten Staroperateur seiner Zeit emporarbeitete, auch sonst viel Gutes getan und uns abgesehen yon seinen heute vergessenen Romanen eine geradezu vorbildliche , ,Lebensgeschichte" hinterlassen ha t ; im Hinbl ick auf welche ich in meinen ,,Psychologischen Errungenschaften Nietzsches" gleichwohl zu folgendem Ergebnis gelangte: ,,Die klassische Darstel lung pietistischer Weltauf-

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fassung mi t ihrer Vergot tung des Erfolges und aller dazu verhelfenden Diplomatenkfinste des Innern bietet nach wie vor Jung Stillings Lebens- gesehiehte, ein Buch, dessen genaueste Lektfire jedem Seelenforscher nieht genug empfohlen werden kann. Aueh das ist nieht Zufall, dab dabei , ,Gott als Bankier" das H a u p t t h e m a bildet." Mit diesem Fingerzeig muB ieh es bier bewenden lassen. - -

Damit kein Mil~verst~ndnis entstehe : das hier zum Problem der F r f m - migkeit Ausgefiihrte ha t keine Beziehung zu den vier vom Verf. abgebil- deten Handsehriften, die ja auller Nr. 4 ffir die r. K. nieht ins Gewicht fallen. Es sollte im Gegensatz zu einem immer noch nieht entschwundenen Vorurteil lediglich betont sein, dab sogar echte G1/~ubigkeit als solehe durchaus nieht notwendig ffir sittliche Vortrefflichkeit spricht.

Schlupwort. Wenn Verf. S. 725 hervorhebt: ,,Allerdings stehen dem Berufsgraphologen auch nu t selten die objektiven Unter lagen fiir eine solche Kontrolle zu Gebote, fiber die z. B. der graphologisch interessierte Psychiater in Form yon Krankengesehichten, Pflegerberiehten, Gerichts- und Ffirsorgeakten, Aussagen yon Angehfrigen usw. verf i ig t . . ", so ha t er nur allzu sehr recht. Daffir indes hat der ausfibende Graphologe andere Beglaubigungsmittel. Eines ist die Bew/~hrungskontrolle, an der es zumal demjenigen Prak t iker nicht mangelt , der jahrelang Gutaehten zu ers ta t ten ha t ffir die GroBindustrie. Ein anderes ist die Untersuehung der Hand- sehriften 5ffentlicher Persfnl iehkeiten der Vergangenheit, soweit deren Leistungen und Lebensl/s hinreichend brauehbare Schlfisse auf ihr Wesen ermfglichen. Davon sogleieh noeh; zuvor muB eine Lfieke aus- gefiillt werden.

Anders als mi t der unverst~ndhchen Verweehslung yon Ehrgeiz- symptomen mi t solchen des Frommsinns stehe es, so sagte ieh oben, mi t der yore Verf. getroffenen Auswahl vermeintlich widerlegender Schrift- proben, und hole je tz t nach: in der Beziehung hegt die Ursaehe seiner MiBgriffe weniger bei ihm als bei mir. Als ich 1927 meinen kleinen Auf- satz fiber die r. K. verfffent l iehte, glaubte ich, ausschheShch Proben der eigenen Autographensammlung bringen zu sollen ; und das war ein Fehler. Ieh brachte deren sieben. Von ihnen sind sechs dem Sachverhal t vfl l ig angemessen und ist eine teilweise ungeniigend. Da ich das inzwisehen, wie sieh versteht, 1/~ngst e rkann t habe, blieb sie in allen sp/s Behandlungen des Themas fort. Man bet raehte auf S. 717, Abb. 1 die linksseitige Probe: sie ist ausgezeichnet ; man betrachte die rechtsseitige: sie ist teilweise un- genfigend und kann daher den graphologiseh Ungeschulten irreffihren. Wer sieh als solcher auf eben diese stiitzt (es ist die fatale der sieben), mag allerdings glauben, die r. K. sei in Abb. 2, 3 und 5 ebenfalls gegeben. (Sie ist es wirkheh in Abb. 4, fiber die ich aber erst urteilen k fnn te a n

H a n d eines mindestens zehnmal grfBeren Materials.) Die,e Verweehslung des Verf.s ist somit verst/mdlich.

Z . f . 0 . g . Neur . u. P s y c h . 163. 38

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Inbetreff historischer Handschriften wird vielleicht folgendes inter- essieren und es zugleich begriinden helfen, weshalb ich die echte r. K. als stark im Abnehmen begriffen bezeichnet habe. Es linden sich, um in zeitlicher Reihenfolge einige Proben herauszugreifen, die mir gerade zur Hand sind, vonder r. K. Ans~tze in den Handschriften folgender Per- sSnlichkeiten : Gel ler t~-Kant- -Campe--Leisewitz--Hegel- -H61der l in-- Novalis Varnhagen von Ense--Brentano. Und es finder sich die r. K. mehr oder minder ausgepr~gt bei: Jakob B6hme--Basedow--Klop- s tock--Schuber t - -Lenz--Schi l ler (sowie seiner Frau) - - G n e i s e n a u - - Brettschneider (Theologe) - - J a h n - - J o h a n n e s yon M/iller Lenau- -Fon- tane. In den Handschriften namhafter Autoren, die nach 1850 geboren sind, wird die echte r. K. zufolge dem mir verfiigbaren Material immer seltener.