Ueberwachen Und Strafen Foucault

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  • 8/13/2019 Ueberwachen Und Strafen Foucault

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    Michel Foucault 1926-1984) hatte seit 1970 den Lehrstuhl fr dieGeschichte der Denksysteme am College de France in Paris inne.Von seinen Bchern sind im Suhrkamp Verlag erschienen: Psycholo-gie un Geisteskrankheit 1968); Wahnsinn un Gesellschaft 1969 ;Die Ordnung der Dinge 1971); Archologie des Wissens 1973);Der Fall Riviere Hrsg.) 1975); Sexualitt un Wahrheit. ErsterBand: Der Wille zum Wissen 1977); Zweiter Band: Der Gebrauchder Lste 1986); Dritter Band: Die Sorge um si h 1986).berwachen un Strafen. Die Geburt des Gefngnisses schliet anFoucaults Bcher ber die Geburt der Klinik und des Irrenhauses Wahnsinn un Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns imZeitalter der Vernunft; stw 39) an: s zeichnet die Frhentwicklung einer anderen totalen Institution nach, die fr die liberalebrgerliche Gesellschaft eine mindestens ebensolche definitorischeMacht gewann wie das Irrenhaus. Diese Entwicklung beginnt, nichtunabhngig von einigen groen Justizskandalen, um die Wende des18. zum 19. Jahrhundert, als sich die Okonomie der Zchtigungrevolutionierte; s entstand eine neue Theorie des Rechts und desVerbrechens, eine neue moralische und politische Rechtfertigung derStrafe, eine neue Strafpraxis. Die vielleicht entscheidendste Vernderung ist der Wegfall der krperlichen Zchtigung, der Marter,und die i n f h r u n ~ der Isolierung der Gefangenen in Zellen - alsoder Weg zum vollkommenen berwachungs- und Disziplinierungssystem. Die Gefngnisse werden brgerliche Zuchthuser, Zuchtanstalten. Diese verfeinerte Disziplinierungstechnik wird ihrerseits zurDisziplin im Sinne der Wissenschaft, zur selben Zeit brigens, alsatich die experimentelle Psychologie entsteht. Die Kontrolle der Normalitt korrespondiert der Normalitt der Kontrolle.

    j

    Michel oucaultberwachen und Strafen

    Die Geburt des GefngnissesVbersetzt

    von Walter Seitter

    Suhrkamp

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    Titel der Originalausgabe:Surveiller et punir La naissance de la

    prison. Editions Gallimard 1975

    PVtTou o~

    ST TLICHE HOCHSCHULEFUR GEST LTUNG K RLSRUHE

    HI LIOTHEK

    Die Deutsche Bibliothek - CIP-EinheitsaufnahmeFoucault Michel:berwachen und Strafen: die Geburt des GefngnissesMichel Foucault. bers. von Walter Seitter. - 10. Aufl. -Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1992Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 184)Einheitssacht. : Surveiller et punir

    ISBN 3-518-27784-7NE:GTsuhrkamp taschenbuch wissenschaft 184Erste Auflage 1977 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1976Suhrkamp Taschenbuch VerlagAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das desffentlichen Vortrags, der bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen sowie derberse tzung, auch einzelner Teile.Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden

    Printed in GermanyUmschlag nach Entwrfen vonWilly Fleckhaus und Rolf Staudt10 II 12 13 14 15 - 97 96 95 94 93 92

    nhalt

    1. MarterI Der Krper der VerUrteilten 92 Das Fest der Martern 44

    H. BestrafungI Die verallgemeinerte Bestrafung 932 Die Milde der Strafen 133

    III. Disziplin

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    I Die gelehrigen Krper 173Die Kunst der Verteilungen 181Die Kontrolle der Ttigkeit 19 2 vDie Organisation von Entwicklungen 20 IDie Zusammensetzung der Krfte 209

    2 Die Mittel der guten Abrichtung 220Die hierarchische berwachung 22 IDie normierende Sanktion 229Die Prfung 2383 Der Panoptismus 251

    IV. GefngnisI Totale und asketische Institutionen 2952 Gesetzwidrigkeiten und Delinquenz 3303. Das Kerkersystem 380

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    I arter

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    I er Krper der VerurteiltenAm 2 . Mrz I757 war Damiens dazu verurteilt worden vordem Haupttor der Kirche von Paris ffentliche Abbitte zutun, wohin er in einem Strzkarren gefahren werden sollte,nackt bis auf ein Hemd und eine brennende zwei Pfundschwere Wachsfackel in der Hand; auf dem Greve-Platz sollteer dann im Strzkarren auf ei.nem dort errichteten Gerst anden Brustwarzen Armen Oberschenkeln und Waden mitglhenden Zangen gezwickt werden; seine rechte Hand solltedas Messer halten, mit dem er den Vatermord begangen hatte,und mit Schwefelfeuer gebrannt werden, und auf die mitZangen gezwickten Stellen sollte geschmolzenes Blei, siedendes 01 brennendes Pechharz und mit Schwefel geschmolzenes Wachs gegossen werden; dann sollte sein Krper vonvier Pferden auseinandergezogen und zergliedert werden,seme Glieder und sein Krper sollten vom Feuer verzehrt undzu Asche gemacht, und seine Asche in den Wind gestreutwerden.ISchlielich vierteilte man ihn, erzhlt die Gazette d m-sterdam.2 Diese letzte Operation war sehr langwierig, weil dieverwendeten Pferde ans Ziehen nicht gewhnt waren, so daman an Stelle von vier deren sechs einsetzen mute; und alsauch das noch nicht genug war, mute man, um die Schenkeldes Ungl cklichen abzutrennen ihm die Sehnen durchschneiden und die Gelenke zerhacken Man versichert, da ihm,obwohl er immer ein groes Lstermaul gewesen war, keineBlasphemie entkam; nur schreckliche Schreie lieen ihn diebermigen Schmerzen ausstoen und oft wiederholte er:>Mein Gott hab Erbarmen mit mir Jesus hilf mir < AlleZuschauer waren erbaut von der Frsorge des Pfarrers vonSaint-Paul, der trotz seines hohen Alters keinen Augenblickversumte, um den armen Snder zu trsten.

    ie ces originales et procedures du proces fait aRobert-Franr;ois Damiens, 1757,Bd III, S. 372-374.

    Gazette d Amsterdam, 1. April 1757.9

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    Und der Polizeioffizier Bouton: Man zndete den Schwefelan, aber das Feuer war so schwach, da die Haut der Handdavon kaum verletzt wurde. Dann nahm ein Scharfrichter, diermel bis ber die Ellenbogen hinaufgestreift, eine etwaanderthalb Fu lange, zu diesem Zweck hergestellte Zange ausStahl, zwickte ihn damit zuerst an der Wade des rechtenBeines, dann am Oberschenkel, darauf am rechten Ober- undUnterarm und schlielich an den Brustwarzen. Obwohl dieserScharfrichter krftig und robust war, hatte er groe Mhe, dieFleischstcke mit seiner Zange loszureien; er mute jeweilszwei- oder dreimal ansetzen und drehen und winden; die

    z u g ~ f g t e n Wunden waren so gro wie Laubtaler.Bei diesem Zangenreien schrie Damiens sehr laut, ohriefreilich zu lstern; danach hob er das Haupt und besah sich.Derselbe Scharfrichter nahm nun mit einem Eisenlffel auseinem Topf die siedende Flssigkeit, die er auf jede Wundego. Darauf knpfte man dnneStricke an die Seile, die an diePferde gespannt werden sollten, und band damit die Pferde anje ein Glied.Der Herr Gerichtsschreiber Le Breton nherte sich mehrmalsdem Verurteilten, um ihn zu fragen, ob er etwas zu sagenhabe, was er verneinte. Bei jeder Peinigung schrie er sounbeschreiblich, wie man es von den e r d ~ m m t e n sagt: >Ver-zeihung mein Gott Verzeihung, Herr < Trotz all dieserSchmerzen hob er von Zeit zu Zeit das Haupt und besah sichunerschrocken. Die Seile, die von den Menschen so festangebunden und gezogen wurden, bereiteten ihm unaussprechliche Schmerzen. Der Herr Le Breton trat noch einmalzu ihm und fragte ihn, ob er nicht etwas sagen wolle; er sagte

    n e i n ~ Die Beichtvter nherten sich ihm und sprachen lange zuihm; er kte gerne das Kruzifix, das sie ihm darboten; erschob die Lippen vor und sagte immer: >Verzeihung, Herr Kssen Sie mich,gndige Herren < Der Pfarrherrvon Saint-Paul wagte es nicht,aber der von Marsilly schlpfte unter dem Seil des linkenArmes durch und kte ihn auf die Stirn. Die Scharfrichterstanden beisammen und Damiens sagte ihnen, sie sollten nichtlstern, sie sollten ihre Arbeit tun, er sei ihnen nicht bse. Erbat sie, Gott fr ihn zu bitten, und den Pfarrer von Saint-Paulersuchte er, bei der ersten Messe fr ihn zu beten.Nach zwei oder drei Versuchen zogen die ~ c h a r f r i c h t e r Samson und derjenige, der ihn mit der Zange gepeinigt hatte,Messer aus ihren Taschen und schnitten die Schenkel vom

    R ~ ~ p T d e s _ K p ~ ~ ~ ~ ; b ; d i ~ vier P f e r d ~ r i s s e ~ n ~ ~ - ; ; ; i ~ - ~ o l l e ; Kraft die Schenkel los : zuers t den der rechten Seite, dann denandern; dasselbe wurde bei den Armen gemacht, und zwar anden Schultern und an den Achselhhlen; man mute dasFleisch beinahe bis zu den Knochen durchschneiden; diePferde legten sich ins Geschirr und rissen zuerst den rechtenArm und dann den andern los.Nachdem diese vier Teile abgetrennt waren, kamen dieBeichtvter zu ihm und wollten mit ihm sprechen; aber derScharfrichter sagte ihnen, er sei tot, obwohl ich in Wahrheit

    g e s e h e ~ habe, wie der Mann sich bewegte und wie der Unter-

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    II;j;

    kiefer auf und nieder ging, als ob er sprche. Einer derScharfrichter sagte sogar, da r noch am Leben gewesen sei,als sie den Rumpf des Krpers aufgehoben htten, um ihn aufden Scheiterhaufen zu werfen. Die vier von den Seilen derPferde losgelsten Glieder wurden auf einen Scheiterhaufengeworfen, der in der Nhe des Gerstes vorbereitet war; dannwurde der Rumpf und das Ganze mit Scheitern und Reisigzugedeckt und am Stroh, das unter das Holz gemischt war,wurde Feuer angesteckt.In Vollstreckung des Urteils wurde alles zu Asche gemacht. Das letzte Stck, das in der Kohlenglut gefundenwurde, war erst nach halb elf am Abend gnzlich verbrannt.Die Fleischstcke und der Rumpf brannten ungefhr vierStunden lang. Die Offiziere, zu denen ich gehrte, und meinSohn sowie das Kommando der Bogenschtzen, wir sind bisfast elf Uhr auf dem Platz geblieben.Man mchte Schlufolgerungen daraus ziehen, da sich amnchsten Tag ein Hund auf die Feuerstelle legte und, als ermehrmals weggejagt wurde, immer wieder dahin zurckkehr-te. Aber es ist nicht schwer zu verstehen, da das Tier es andiesem Platz wrmer fand als anderswo.3Ein Dreivierteljahrhundert spter verfat Leon Faucher einReglement fr das Haus der jungen Gefangenen in Paris4:Art. 17. Der Tag der Hftlinge beginnt im Winter um sechsUhr morgens, im Sommer um fnf Uhr. Die Arbeit dauert zujeder Jahreszeit neun Stunden tglich. Zwei Stunden sindjeden Tag dem Unterricht gewidmet. Die Arbeit und der Tagenden im Winter um neun Uhr, im o m m ~ r um acht Uhr.Art. 18 Aufstehen. Beim ersten Trommelwirbel mssen dieHftlinge aufstehen und sich stillschweigend ankleiden, wh-rend der Aufseher die Tren der Zellen ffnet. Beim zweitenTrommelwirbel mssen sie aufsein und ihr Bett machen. Beimdritten ordnen sie sich zum Gang in die Kapelle, wo dasMorgengebet stattfindet. Zwischen jedem Trommelwirbel istein Abstand von fnf Minuten.3 Zitiert in: A. L Zevaes, Damiens le regicide 1937, S 201-2144 L Faucher, e l re/orme des prisons 1838, S 274-282 .

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    Art. 19. Das Gebet wird vom Anstaltsgeistlichen verrichtet,worauf eine moralische oder religise Lesung folgt. Diesebung darf nicht lnger als eine halbe Stunde dauern.Art. 20 Arbeit. Um Viertel vor sechs im Sommer, um Viertelvor sieben im Winter gehen die Hftlinge in den Hof, wo siesich waschen mssen und eine er te Zuteilung von BToterhalten. Unmittelbar darauf formieren sie sich zu Werkstatt-gruppen und begeben sich an die Arbeit, die im Sommer umsechs Uhr beginnen mu und im Winter um sieben Uhr.Art. 2 I Mahlzeit. Um zehn Uhr verlassen die Hftlinge dieArbeit, um sich in den Speisesaal zu begeben; im Hof waschensie sich die Hnde und ordnen sich zu Abteilungen. Nach demEssen bis zwanzig Minuten vor elf Uhr Erholung.Art. 22 Schule. Beim Trommelwirbel um ~ w n z i g vor elfformieren sich die Abteilungen, man geht zur Schule. DerUnterricht dauert zwei Stunden, die abwechselnd dem Lesen,dem Schreiben, dem geometrischen Zeichnen und dem Rechnen gewidmet werden.Art. 23. Um zwanzig Minuten vor ein Uhr verlassen dieHftlinge in Apteilungen geordnet die Schule und begebensich zur Erholung in den Hof. Beim Trommelwirbel um fnfvor eins formieren sie sich wieder zu Werkstattgruppen.Art. 24. Um ein Uhr mssen sich die Hftlinge in die Werk-sttten begeben haben: die Arbeit dauert bis vier Uhr.Art. 25. Um vier Uhr verlassen die Hftlinge die Werkstttenund begeben sich in den Hof, wo sie sich die Hnde waschenund zu Abteilungen fr den Speisesaal formieren.Art. 26. Das Abendessen und die darauffolgende Erholungdauern bis fnf Uhr: zu diesem Zeitpunkt kehren die Hftlin-ge in' die Werksttten zurck.Art. 27. Die Arbeit endet im Sommer um sieben Uhr, imWinter um acht Uhr; in den Werksttten gibt es eine letzteBrotzuteilung. Eine viertelstndige Lesung, die irgendweIchelehrreichen Begriffe oder einen wichtigen Charakterzug zumGegenstand hat, wird von einem Hftling oder einem Aufseher durchgefhrt, worauf das Abendgebet folgt.'Art. 28. Um halb acht Uhr im Sommer, um halb neun Uhr im

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    Winter mssen die Hftlinge in den Zellen sein nachdem siesich im Hof die Hnde gewaschen haben und dort die Bekleidung kontrolliert worden ist. Beim ersten Trommelwirbelentkleiden sie sich beim zweit en legen sie sich zu Bett. DieTren der Zellen werden geschlossen und die Aufseher machen die Runde in den Korridoren um sich der Ordnung undStille zu vergewissern.Das eine Mal eine Leibesmarte r das andere Mal eine Zeitplanung. Die beiden sanktionieren nicht dieselben Verbrechensie bestrafen nicht ein und denselben Typ von Delinquenten.Aber sie definieren jeweils einen bestimmten Straf-Stil. Zwischen ihnen liegt kaum ein Jahrhundert: innerhalb diesesZeitraums wurde in Europa und in den Vereinigten Staatendie gesamte konomie der Zchtigung umgestaltet. Es ist dieZeit der groen Skandale fr die Justiz die Zeit der unzhligen Reformprojekte. eue Theorien von Gesetz und Verbrechen; neue moralische oder politische e ~ h t f e r t i g u n g e n .desRechts zum Strafen; Aufhebung der alten AnordnungenEnde des Gewohnheitsrechts; Entwurf oder Abfassung moderner Gesetzbcher: 1769 Ruland; 1780 Preuen; 1786Pennsylvania und Toscana; 1788 sterreich; 1791 Jahr IV1808 und 18 10 Frankreich. Fr die Straf ustiz bricht ein neuesZeitalter an.Unter den zahlreichen nderungen sei eine hervorgehoben:das Verschwinden der Martern d h. der peinlichen Strafen.Heute pflegt man es geringzuschtzen - vielleicht war es zuseiner Zeit Anla allzu lauter Deklamationen; vielleicht hatman es allzu leichtfertig und emphatisch einerV ermenschlichung zugeschrieben die eine Analyse berflssig erscheinenlie. Und worin besteht denn eigentlich seine Bedeutung -vergleicht man es mit den groen institutionellen Transformationen: mit den ausfhrlichen und allgemeingltigen Gesetzbchern den vereinheitli chten Verfahrensregeln der fast allgemeinen Zulassung von Geschworenen der Definition derStrafe als Korrektur und jener seit dem 19. Jahrhundert stndig zunehmenden Tendenz das Ausma der Strafe von den

    indiVIduellen Bestimmungen des Schuldigen abhngig zu machen? Nicht mehr so unmittelbar physische Bestrafungeneine gewisse Diskretion in der Kunst des Zufgens von Leidein Spiel von subtileren geruschloseren und prunkloserenSchmerzen - verdient dies eine besondere Aufmerksamkeitwo es doch lediglich Effekt tiefergehender Umwlzungen ist?Gleichwohl ist eine Tatsache unbestreitbar: binnen wenigerJahrzehnte ist der gemarterte zerstckelte verstmmelte anGesicht oder Schulter gebrandmarkte lebendig oder tot ausgestellte zum Spektakel dargebotene Krper verschwundenVerschwunden. ist der Krper als Hauptzielscheibe der strafenden Repression.Am Ende des 18. Jahrhunderts zu Beginn des 19. Jahrhun-derts ist das dstere Fest der Strafe trotz einigen groenletzten Aufflackerns im Begriff zu erlschen. In dieser Transformation haben sich zwei Prozesse miteinander vermengtdie weder dieselbe Chronologie noch dieselben Grnde haben. Auf der einen Seite das Verschwinden des Strafschauspiels. Das Zeremoniell der Strafe tritt allmhlich ins Dunkelund ist schlielich nicht mehr als ein weiterer Akt des Verfahrens oder der Verwaltung. Die ffentliche Abbitte ist inFrankreich zum ersten Mal im Jahre 1791 abgeschafft wordenund nach einer nicht lange whrenden Wiedereinfhrungneuerlich 1830; der Pranger wird 1789 abgeschafft in England1837. Die ffentlichen Arbeiten die in sterreich in derSchweiz und in Teilen der Vereinigten Staaten wie in Pennsylvania auf offener Strae von Zuchthuslern verrichtet wurden- an eisernen Halsketten in buntscheckigen Gewndern Eisenkugeln an den Fen mit der Menschenmenge Drohun-gen Beleidigungen Verspottungen Schlge Zeichen vonRachsucht oder Komplizenschaft austauschend5- werden amEnde des 18. Jahrhunderts oder in der ersten Hlfte des19 Jahrhunderts fast berall abgeschafft. Die Zurschaustellung ist in Frankreich 183 beibehalten worden - trotz hefti-5 Robert Vaux Notices S 45; zit. in: N. K Teeters They were in prison 1937 S24 .

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    ger Kritiken: ekelerregende Szene sagt Rea16 ; sie wirdschlielich im A p r i l 1848 abgeschafft. Und die Kette an derdie Zuchthusler durch ganz Frankreich bis Brest und Tou-Ion zogen wird im Jahre 1837 durch dezente schwarzbemalteZellenwagen ersetzt. Die Bestrafung hat allmhlich aufgehr tein Schauspiel zu sein. Alles an ihr was nach einem Spektakelaussah wird nun negativ vermerkt. Als ob die Funktionen derStrafzeremonie immer weniger verstanden wrden, verdchtigt man nun diesen Ritus der das Verbrechen abschlo mitdiesem s.chielende Verwandtschaften zu unterhalten: ihm anUnmenschlichkeit nicht nachzustehen ja es darin zu bertreffen die Zuschauer an eine Grausamkeit zu gewhnen von derman sie fernhalten wollte ihnen die Hufigkeit der Verbrechen vor Augen zu fhren den Henker einem Verbrechergleichen zu lassen und die Richter Mrdern, im letzten Au-genblick die Rollen zu verkehren und den Hingerichteten zumGegenstand von Mitleid oder Bewunderung zu machen. Beccaria hatte es schon sehr frh gesagt: Wir sehen ja daMenschen kaltbltig hingerichtet werden obgleich der Mordals eine abscheuliche Missetat ausposaunt wird.7 Die ffentliche Hinrichtung erscheint jetzt als der Brennpunkt, in welchem die Gewalt Feuer fngt. Die Bestrafung sollte also zumverborgensten Teil der Rechtssache werden was mehrereFolgen hat: sie verlt den Bereich der alltglichen Wahrneh-mung und tritt in den des abstrakten Bewutseins ein; ihreWirksaml\.eit erwartet man von ihrer Unausweichlichkeitnicht von ihrer sichtbaren Intensi tt; die Gewihei t bestraftzu werden und nicht mehr das abscheuliche Theater soll vomVerbrechen abhalten; der Abschreckungsmechanik werdenandere Rder eingesetzt. Also bernimmt die Justiz nichtmehr ffentlich jene Gewaltsamkeit die an ihre Vollstreckunggeknpft ist. Da auch sie ttet da sie zuschlgt ist nichtmehr die Verherrlichung ihrer Kraft sondern ein Element an6 Archives parlementaires Zweite Serie Bd. LXXII I Dez. 18 317 Cesare de B e ~ c a r i a Dei delitti e delle pene 176 Hier zit. nach der deutschenbersetzung von Karl Ferd. Hommel: Des Herren Marquis von Beccaria unsterbli- hes Werk von Verbrechen un Strafen. Breslau 1778 S 144

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    ihr das sie hinnehmen mu, zu dem sie sich aber kaumbekennen mag. Die Elemente der Schndlichkeit werden um-verteilt: im Straf-Schauspiel verbreite te sich vom Schafott ausein Schauer der sowohl den Henker wie den Verurteiltenumhllte - er konnte die dem Hingerichteten angetaneSchande in Mitleid oder Ruhm verkehren wie auch die gesetzmige Gewalt des Vollstreckers in Schndlichkeit verwandeln. Nunmehr sind rgernis und Licht anders verteilt: dieVerurteilung selbst hat den Delinquenten mit einem eindeutigen und negativen Zeichen zu versehen: daher die ffentlich-keit der Debatten und des Urteils; und die Vollstreckung istgleichsam eine zustzliche Schande welche dem Verurteiltenanzutun die Justiz sich schmt; sie distanziert sich von ihrversucht stndig sie anderen anzuvertrauen und zwar unterdem Siegel des Geheimnisses. Es ist hlich straffllig zu sein- und wenig ruhmvoll strafen zu mssen. Daher jenes zweifache Schutzsystem das die Justiz zwischen sich und der vonihr auferlegten Strafe errichtet hat. Der Vollzug der Strafewird allmhlich zu einem autonomen Sektor welcher derJustiz von einem Verwaltungsapparat abgenommen wird; dieJustiz befreit sich von diesem geheimen Unbehagen indem siedie Strafe in Brokratie vergrbt. Charakteristischerweise un-terstand die Gefngnisverwaltung in Frankreich lange demInnenministerium und die Verwaltung der Zuchthuser derKontrolle der Marine oder der Kolonien. Und jenseits dieserRollenverteilung vollzieht s ich die theoretische Selbstverleugnung: das Wesentliche der Strafe welche die Richter auferlegen besteht nicht in der Bestrafung sondern in dem Versuchzu bessern zu erziehen zu heilen. Eine Technik der Verbesserung verdrngt in der Strafe die eigentliche Shne desBsen und befreit die Behrden von dem lstigen Geschft desZchtigens. Es gibt in der modernen Justiz und bei ihrenSachwaltern eine Scham vor dem Bestrafen die den Eifer nichtausschliet die aber stndig wchst: auf dieser Wunde gedeihtder Psychologe und der kleine Funktionr der moralischenOrthopdie.Das Verschwinden der Martern ist also das Ende des Schau-

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    spiels, es ist aber auch die Lockerung des Zugriffs auf denKrper. Rush im Jahre I787: Ich kann nur hoffen, da dieZeit nicht mehr fern ist, in der die Galgen, der Pranger, dasSchafott, die Peitsche und das Rad in der Geschichte derpeinlichen Strafen als Zeichen der Barbarei von Jahrhundertenund Lndern betrachtet werden und als Beweise dafr, wieschwach der Einflu der Vernunft und der Religion auf denmenschlichen Geist sind.8 Und in der Tat als sechzig Jahrespter van Meenen zweiten Strafrechtskongre in Brsselerffnete, erinnerte er an die Zeit seiner Kindheit wie an eineberwl;lndene Epoche: Ich habe gesehen, wie die Erde mitRdern, Galgen, Prangern berst war; ich habe gesehen, wieSkelette auf den Straen scheulich verstreut waren.9 DasBrandmal wurde in England (I834) und Frankreich (I8 32 )abgeschafft; England wagte I820 die groe Marter der Verrter nicht mehr in vollem Umfang durchzufhren (Thistlewoodwurde nicht gevierteilt). Nur die Peitsche blieb noch ineinigen Strafsystemen (Ruland, England, Preuen). Aberganz allgemein wurden die Strafpraktiken schamhafter. Mansollte nicht mehr an den Krper rhren - oder jedenfalls sowenig wie mglich und um in ihm etwas zu erreichen, wasnicht der Krper selber ist. Zwar sind das Gefngnis, dasZuchthaus, die Zwangsarbeiten, das Aufenthaltsverbot, dieDeportation die in den Strafsystemen des 9. Jahrhunderts sowichtig waren durchaus physische Strafen: im Unterschiedzur Geldbue zielen sie ja direkt auf den Krper. Aber dieBeziehung zwischen Zchtigung und Krper ist dabei nichtdieselbe wie seinerzeit bei den peinlichen Strafen. Der Krperfungiert hier als Instrument oder Vermittler: durch Einsperrung oder Zwangsarbeit greift man in ihn ein, um das Individuum einer Freiheit zu berauben, die sowohl als ein Recht wieals ein Besitz betrachtet wird. Durch dieses Strafsystem wirdder Krper in ein System von Zwang und Beraubung, vonVerpflichtungen und Verboten gesteckt. Das physische Lei-8 B. Rush vor der Society for promoting political enquiries, in N. K. Teeters, TheCradle 0/ the penitentiary 1935, S. 30.9 Vgl. Annales de l Charite II, 1847 S. 529-530.

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    den, der Schmerz des Krpers selbst bilden nicht mehr diewesentlichen Elemente der Strafe. Die Zchtigung ist nichtmehr eine Kunst der unertrglichen Empfindungen sonderneine Okonomie der suspendierten Rechte. Soweit die Justizden Krper der Verurteilten immer noch angreifen und manipulieren mu tut sie es distanziert, sauber und nchternwobei sie ein viel hheres Ziel im Auge h t ~ Aufgrunddieser neuen Zurckhaltung wird der Scharfrichter, der unmittelbare Anatom des Leidens, von einer ganzen Armee vonTechnikern abgelst: Aufseher, rzte Priester, Psychiater,Psychologen, Erzieher; allein durch ihre Gegenwart beimVerurteilten singen sie der Justiz das Loblied, dessen siebedarf: sie garantieren ihr, da es ihrer strafenden Ttigkeitletztlich nicht um den Krper und den Schmerz geht. Manvergegenwrtige sich eines: heute mssen zum Tode Verurteilte bis zum letzten Augenblick von einem Arzt berwachtwerden, der so als Verantwortlicher fr das Wohlbefinden alsAgent des Nicht-Leidens denen an die Seite gestellt wird, diedas Leben auszulschen haben. Unmittelbar vor der Exekution werden Beruhigungsinjektionen verabreicht. Utopie einerschamhaften Justiz: man nimmt das Leben und vermeidetdabei jede Empfindung; man raubt alle Rechte, ohne leiden zumachen; man erlegt Strafen auf, die von jedem Schmerz frei.sind. Der Rckgriff auf Psychopharmaka und auf diverse _physiologische Unterbrecher liegt genau in der Richtungdieses krperlosen Strafsystems.Dieser zweifache Proze - Verschwinden des Schauspiels,Beseitigung des Schmerzes - wird von den modernen Ritualender Hinrichtung bezeugt. Ein und dieselbe Bewegung hat alle,europischen Gesetzgebungen - jede in ihrem eigenen Rhythmus - mitgerissen: gleicher Tod fr alle - ohne besondereKennzeichnung des Verbrechens oder des gesellschaftlichenStatus des Verbrechers; ein Tod der nur einen Augenblickdauert und den keine Wut im vorhinein, vervielfltigen oder. am Leichnamverlngern darf - eine Hinrichtung die eher dasLeben als den Krper betrifft. Nicht mehr jene langen Prozeduren, in denen der Tod durch kalkulierte Unterbrechungen

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    verzgert und durch sukzessive Attacken vervielfltigt wurde.N i c h ~ _ m e h r jene komplizierten Kombinationen, die man zurTtung der Knigsmrder inszenierte oder diejenige, von derzu Beginn des 18. Jahrhunderts der Autor von Hanging notPunishment enough1 trumte, und die vorsah, den Verurteilten auf dem Rad zu brechen, dann bis zur Ohnmacht auszupeitschen, darauf an Ketten aufzuhngen, um ihn langsamHungers sterben zu lassen. Nicht mehr jene Martern, beidenen der Verurtei lte auf einer Schleife gezogen wurde (um zuvermeiden, da sein Kopf auf dem Pflaster berste), bei denender Bauch geffnet wurde und die Eingeweide hastig herausgerissen wurden, damit er mit seinen eigenen Augen sehenknne, wie man sie ins Feuer warf; und bei denen er schlielich enthauptet und sein Krper.gevierteilt wurde. r Die Reduktion jener tausend Tode auf die eigentliche Hinrichtungdefiniert eine neue Moral des StrafaktesBereits im Jahre 1760 hatte man in England (fr dieHinrichtung von Lord Ferrer) eine Erhngungsmaschine ausprobiert(ein Sockel, der unter den Fen des Verurteilten verschwand,sollte die langsamen Agonien sowie die Handgreiflichkeitenzwischen Opfer und Henker vermeiden lassen). Sie wurdevervollkommnet und schlielich im Jahre 1783 endgltig eingefhrt, als man den traditionellen Zug von N ewgate nachTyburn abschaffte und nach den Gordon-Unruhenund demNeubau des Gefngnisses die Schafotte in Newgate aufstellte. 12 Der berhmte Artikel 3 des franzsischen Gesetzbuchsvon 179 I Jedem zum Tode Verurteilten wird der Kopfabgehauen - bedeutet dreierlei: ein gleicher Tod fr alle(Delikte der gleichen Art werden durch Strafen der gleichenArt sanktioniert, unabhngig von Rang und Status des Schul-10 Anonyme r Text, verffentlicht 1701.I I Hinrichtung von Verrtern, beschrieben von W. Blackstone, Commentaire sur lCode criminel anglais franz. bersetzung 1776, I, S 15. Die franzsische Ausgabesollte die Menschlichkeit de r englischen Gesetzgebung im Ge gensatz zur franzsischen Verordnung von 1670 zur Geltung bringen. Der Kommentator bemerkt dazu:Bei dieser als Spektakel erschreckenden Marter leidet der Schuldige weder viel nochlange.12 Vgl eh. Hibbert, The Roots 0/ evil 1966, S 85 f

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    digen, hie es bereits im Antrag Guillotins, der am 1. Dezember 1789 zum Beschlu erhoben wurde); ein einziger Todfr jeden Verurteilten - durch einen einzigen Schlag und ohnejene langen und infolgedessen grausamen Martern, wie sieetwa der von Le Peletier abgelehnte Galgen mit sich bringt;schlielich Strafe nur fr den Verurteilten, da die Enthauptung, die Strafe der Vornehmen, fr die Familie des Verbrechers die am wenigsten entehrende ist. 3 Die seit Mrz 1792 inVerwendung befindliche Guillotine ist die Maschine, die diesen Prinzipien entspricht. Der Tod ist damit auf ein sichtbares,aber augenblickliches Ereignis reduziert. Die Berhrung zwischen dem Gesetz bzw. seinen Vollstreckern und dem Krperdes Verbrechers dauert nur den Augenblick eines Blitzstrahls.Es gibt keine krperliche Konfrontation; der Henker hat nurmehr ein sorgfltiger Mechaniker zu sein. i ~ Erfahrung unddie Vernunft beweisen, da die in der Vergangenheit blicheMethode, einem Verbrecher den Kopf abzuschlagen, zu einergrausamen Marter wird, und nicht blo das Leben auslscht,wie es das Gesetz wnscht und weshalb die Hinrichtung ineinem Augenblick und mit einem Schlag erledigt sein sollte.Alle Beispiele zeigen, wie schwer es ist, das z erreichen.Damit das Verfahren sicher ist, mu es von konstanten mechahischen Mitteln abhngen, deren Strke und Wirkung manbestimmen kann Es ist nicht schwierig, eine derartigeMaschine zu konstruieren, deren Wirkung unfehlbar ist. DieEnthauptung wird, wie das neue Gesetz. es wnscht, in einemAugenblick vollzogen. Sollte dieser Apparat notwendig erscheinen, wird er kein Aufsehen erregen und kaum bemerktwerden.14 Beinahe ohne den Krper zu berhren, lscht dieGuillotine das Leben aus, so wie das Gefngnis die Freiheitnimmt oder eine Geldbue Besitztum. Sie soll das Gesetzweniger an einem wirklichen, schmerzempfindlichen Krpervollstrecken als vielmehr an einem juristischen Subjekt, das13 Le Peletier de Saint-Fargeau, Archives parlementaires Bd. XXVI, 3 Juni 1791. S720.4 A. Louis, Bericht ber die Guillotine; zitiert von Saint-Edme, Dictionnaire de

    penalite 1825, Bd. IV, S 161.21

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    unter anderem das Recht auf Existenz innehat. Sie mu soabstrakt sein wie das Gesetz selber.Eine Zeitlang ist in Ft:ankreich die Nchternheit der Hinrichtungen von Spuren der Martern bereichert worden. Die Vatermrder - sowie die ihnen gleichgestellten Knigsmrder -wurden unter einem schwarzen Schleier zum Schafott gefhrt; ,bis r 832 wurde ihnen dort die Hand abgehauen. Davon solltenur noch der Trauerflor brigbleiben. So bei Fieschi imNovember r836: Er soll an den Ort der Hinrichtung gefhrtwerden - bekleidet mit einem Hemd, mit bloen Fen unddas Haupt von einem schwarzen Schleier verhllt; er soll aufeinem Schafott stehen, whrend ein Gerichtsdiener vor demVolk das Urteil verliest, und gleich darauf soll er hingerich tetwerBen. Man mu sich anDamiens erinnern: die letzte Zutatzur Todesstrafe ist ein Trauerschleier. Der Verurteilte darfnicht mehr gesehen werden. Allein die Verlesung des Urteilsauf dem Schafott kndet von einem Verbrechen, das keinGesicht haben dart 5 Die letzte Spur der groen lviartern istderen endgltige Aufhebung: eine Draperie, die einen Krperverbirgt. Benolt, der dreifach Ruchlose - Mrder seiner Mutter, Homosexueller, Mrder - , war der erste e r w a n d t e n m r ~der, dem das Gesetz das Abhauen der Faust ersparte: Whrend man das Urteil verlas, stand er auf dem Schafott, gesttztvon den Scharfrichtern. Es war schauerlich, dieses SpektakeLzu sehen: eingehllt in ein weites weies Leinentuch, dasGesicht von einem Trauerflor bedeckt, entkam der Mutter- .mrder den Blicken der schweigenden Menge, und unterdieser geheimnisvollen und schauerlichen Gewandung manifestierte sich das Leben nur noch durch schreckliches Geheul,das unter dem Messer alsbald erstarb.16Zu Beginn des r9. Jahrhunderts geht also das groe Schauspiel15 Ein fr die Zeit typisches Motiv: der Verbrecher mu, da er ein Monster ist, desLichtes beraubt werden: darf nicht sehen und nicht gesehen werden. -Fr denVatermrclttr mte man einen Kfig aus Eisen bauen o der ein undurchdringlichesVersteck graben, wo er fr ewig zurckgezogen ist De Molene, De 'humanite deslais criminelles, 1830, S 275-277.6 Gazette des tribunaux, 30. August 1832.

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    der peinlichen Strafe zu Ende; man schafft den gemartertenKrper beiseite; man verbannt die Inszenierung des e i d e n ~ iaus der Zchtigung. Man tritt ins Zeitalter der Strafnchternjpe'li-ein. Dieses Verschwinden der Martern wird zwischenIr830 und r848 endgltig. Allerdings bedarf diese globale:Rehauptung gewisser Einschrnkungen. Einmal mu bemerktwerden, da sich die Transformationen nicht berall gleichmig und nicht in einem einheitlichen Proze vollzogen. Esgab Verzgerungen. Paradoxerweise war England recht widerspenstig gegenber der Abschaffung der peinlichen Strafen: vielleicht wegen der Modellrolle, die seinem Kriminalrecht aufgrund der Institution der Geschworenen, des ffentlichen Verfahrens, des Respekts des Habeas Corpus zukam;und vor allem, weil es die Strenge seiner Strafgesetze whrendder groen sozialen Unruhen r780-r820 nicht mildern wollte.Lange Zeit versuchten Romilly, Mackintosh und Fowell Buxton vergeblich, die Vielfalt und die Schwere der vom englischen Gesetz vorgesehenen Strafen 'herabzusetzen - jenerschauerlichen Schlchterei, wie Rossi sagte. Die Strenge desGesetzes (die allerdings von den Geschworenen nicht immervoll durchgese tzt wurde, gerade weil sie exzessiv erschien) hatsogar zugenommen, denn Blackstone zhlte 1760 in der englischen Gesetzgebung r60 Kapitalverbrechen, whrend manr8r9 auf 223 kam. Dann mte man die Beschleunigungenund die Rckschlge in Rechnung stellen, die der Gesamtproze zwischen r760 und r840 erfahren hat: die Reformeile ineinigen Lnden-i wie sterreich, Ruland, den VereinigtenStaaten und Frankreich zur Zeit der VerfassunggebendenVersammlung und den Rckschlag in der Periode der Restauration in Europa und der groen sozialen Angst der Jahrer820-r848; mehr oder weniger vorbergehende Modifikatio-:nen, die durch Gerichte oder Ausnahmegesetze herbeigefhrtwurden; die Verzerrung der wirklichen Praxis der Gerichtegegenber dem Z ~ s t a n d der Gesetzgebung. All dies macht dieEntwicklung vom r8. ins r9. Jahrhundert hinein recht unregelmig.Wenngleich schlielich das Wesentliche der Transformation

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    um I840 vollzogen ist und die Mechanismen der Bestrafungihre neue Funktionsweise angenommen haben, so ist doch derGesamtproze keineswegs abgeschlossen. Die Einschrnkungder Marter ist eine Tendenz, die in der groen Transformationder Jahre I760-I840 verwurzelt ist. Aber sie ist nicht vollendet; die Praxis der Marter hat unser Strafsystem noch langeZeit durchwirkt und noch heute steckt sie darin. Die Guillotine, diese Maschinerie der schnellen und diskreten Tode, hattein Frankreich eine neue Ethik des legalen Todes angekndigt,doch wurde sie von der Revolution alsbald mit einem groentheatralischen Ritual umgeben. Jahre hindurch hat sie einSpektakel abgegeben. Man mute sie ans Stadttor Saint-J acques verlegen, man mute den offenen Karren durch einengeschlossenen Wagen ersetzen, man mute den Verurteiltenhastig aus dem Wagen und aufs Brett stoen und die Hinrich-tungen in aller Eile und zu ungewohnten Stunden durchfh-ren. Schlielich mute man die Guillotine innerhalb der -fngnisse aufstellen und dem Zugang des Publikums entziehen(nach der Hinrichtung von Weidmann im Jahre I939), dieStraen zum Gefngnis absperren, in welchem das Schafottversteckt ist und wo die Hinrichtung unter Geheimhaltungvollzogen wird Hinrichtung von Buffet und Bontemps. imJahre I972). Man mute den Zeugen der Szene jedes Berichtenunter Androhung gerichtlicher Verfolgung verbieten, damitdie Hinrichtung endlich kein Spektakel mehr sei, damit sie einGeheimnis zwischen der Justiz und ihrem Verurteilten bleibe.So viele Vorsichtsmaregeln machen wohl einsichtig, da imGrunde die Hinrichtung auch heute noch ein Schauspiel ist,das man eben deswegen zu untersagen hat.Auch der Zugriff auf den Krper hat sich in der Mitte desI9. Jahrhunderts nicht vllig gelst. Zweifellos hat die Strafeseither nicht mehr die Schmerzenstechnik der Marter zumMittelpunkt; ihr Hauptziel ist der Verlust eines Besitzes odereines, Rechts. Aber eine Strafe wie die Zwangsarbeit oder auchdas Gefngnis - die bloe Freiheitsberaubung - kam niemalsohne ein Element aus, das den Krper selbst in Mitleidenschaft zog: Rationierung der Nahrung, Entziehung sexueller

    Mglichkeiten, Schlge, Isolierung. Handelt es sich um ungewollte aber unvermeidliche Konsequenzen der Einsperrung?Tatschlich verfgte das Gefngnis immer ber gezielte Ein-richtungen, die ein bestimmtes Ma an krperlichem Leidensichern. Die Kritik, der sich der Strafvollzug in der erstenHlfte de s I9. Jahrhunderts hufig ausgesetzt sah (das -fngnis strafe zu wenig: die Hftlinge litten oft weniger unterHunger und Klte, seien insgesamt weniger benachteiligt alsdie Armen oder selbst viele Arbeiter), enthlt ein Postulat, dasniemals wirklich aufgehoben wurde: es ist gerecht, da einVerurteilter physisch mehr leidet als die anderen Menschen.

    . Die Strafe lt sich kaum von dem Zusatz krperlichenSchmerzes ablsen. Was sollte eine unkrperliche Zchtigungsein?Es bleibt also ein peinlicher Rest in den modernen Mechanismen der Kriminaljustiz - ein Rest, der nicht ganz berwun-den wird, der aber immer mehr in ein Strafsystem des Krper-losen integriert wird.Die Milderung der Strafstrenge im Laufe der letzten Jahrhun-derte ist ein Phnomen, das den Rechtshistorikern wohlbe-kannt ist. Aber lange Zeit wurde es global als ein quantitativesPhnomen betrachtet: weniger Grausamkeit, weniger Leiden,mehr Milde, mehr Respekt, mehr Menschlichkeit. In Wirk-lichkeit hat sich hinter diesen Vernderungen eine VerschiebUJ:?g im Ziel der Strafoperation vollzogen. Es handelt sichnicht so sehr um eine Intensittsmittderung als vielmehr umeine Zielnderung.Wenn sich das Strafsystem in seinen strengsten Formen nichtmehr an den Krper wendet, worauf richtet es dann seinenZugriff? Die Antwort der Theoretiker - jener, die um I760eine bis heute nicht abgeschlossene Periode erffnen - isteinfach, fast banal. Sie scheint in der Frage selbst enthalten zusein. Da es nicht mehr der Krper ist, ist es die Seele. DerShne, die dem Krper rasende Schmerzen zufgt, mu eineStrafe folgen, die in der Tiefe auf das Herz, das Denken, denWillen, die Anlagen wirkt. Ein fr allemal hat Mably das

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    Prinzip formuliert: Die Strafe soll, wenn ich so sagen darf,eher die Seele treffen als den Krper.I7 .Dies ist ein wichtiger Augenblick. Die alten Mitspieler desStraf-Festes, der Leiq und das Blut, rumen den Platz. Auf dieBhne tritt eine neue Person - verschleiert. Eine gewisseTragdie ist zu Ende, es beginnt eine Komdie mit schattenhaften Silhouetten, gesichtslosen Stimmen, unbetastbaren Wesen. Der Apparat der Straf ustiz hat es nun mit dieser krperlosen Realitt zu tun.Ist das blo eine theoretische Behauptung, die von der Strafpraxis dementiert wird? Dies zu sagen, wre voreilig. Wahrist, da Strafe auch heute nicht einfach in der Konversioneiner Seele besteht; aber der Grundsatz von Mably ist auchnicht blo ein frommer Wunsch geblieben. Seine Wirkungenlassen sich im gesamten modernen Strafsystem verfolgen.Zunchst also handelt es sich darum, da die Objekte undZiele des Strafens andere werden. Damit ist nicht gesagt, daman sich sogleich darangemacht hat, andere Verbrechen zulJestrafen. Zwar hat sich seit zwei Jahrhunderten viel gendert:die Definition der Gesetzesbertretungen, die Hierarchie ihrer Schwere, die Grenzen der Duldung - der faktischen Toleranz und der gesetzlichen Erlaubtheit; viele Verbrechen habenaufgehrt, welche zu sein, weil sie mit einem bestimmtenVollzug religiser Autoritt oder mit einem Typ des wirtschaftlichen Lebens verbunden waren - die Gotteslsterunghat ihren Status als Verbrechen verloren, der Schleichhandelund der husliche Diebstahl einen Teil ihrer Schwere. Aberdiese Verschiebungen sin d wohl nicht die wichtigste Tatsache:die Grenzziehung zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen hat ber die Jahrhunderte hinweg eine gewisse Konstanzgewahrt. Hingegen ist der Gegenstand Verbrechen, da-sObjekt der Strafpraxis, tiefgehend verndert worden: dieQualitt, die Natur, die Substanz gewissermaen des Strafbaren eher als seine formelle Abgrenzung. Die relative Stabilittdes Ges e1tzes hat z ~ h l r e i h e subtile und rasche Ablsungen17 G. de Mably, e la legislation Euvres completes 1789, Bd. IX, S. 326.

    verdeckt. Als Verbrechen oder Vergehen beurteilt man immernoch Rechtsgegenstnde, die vom Gesetzbuch definiert sind,ab,er gleichzeitig urteilt man ber Leidenschaften, Instinkte,Anomalien, Schwchen, Unangepatheiten, Milieu- oder Erbschden; man bestraft Aggressionen, aber durch sie hindurchAggressivitten; Vergewaltigungen, aber zugleich Perversionen; Morde, die auch Triebe und Begehren sind. Nun wirdman sagen: nicht darber wird geurteilt; man zieht es heran,um die zu beurteilenden Tatsachen zu erklren und um zubestimmen, inwieweit der Wille des Subjekts am Verbrechenbeteiligt ist. Die Antwort ist ungengend, denn es sind dieseSchatten hinter den Tatsachen des Verfahrens, die in Wirklichkeit beurteilt und bestraft werden. Beurteilt werden sie vermittels der mildernden Umstnde, die in den Wahrspruch janicht nur die Umstnde der Tat eintreten lassen, sondernetwas ganz anderes, rechtlich gar nicht Kodifizierbares: dieErkenntnisse und Einschtzungen betreffend den Verbrecher,das Wissen von den Beziehungen zwischen ihm, seiner Vergangenheit und. seinem Verbrechen, die Erwartungen vonseiner Zukunft. Geurteilt wird ber jene Schatten auch durchall die Begriffe, die seit dem I9. Jahrhundert zwischen Medizin und Jurisprudenz zirkulieren die Monster der Zeit vonGeorget, die psychischen Anomalien der Verfgung vonChaumie, die Perversen und Unangepaten der heutigenGutachten) und die unter dem Vorwand, eine Tat zu erklren,ein Individuum qualifizieren. Bestraft werden jene Schattendurch eine Zchtigung, die dem Delinquenten nicht nur dasVerlangen sondern auch die Fhigkeit geben soll, in Respektvor dem Gesetz zu leben und fr seine eigenen Bedrfnisse zusorgen; bestra ft werden sie durch die innere konomie einerStrafe, die zwar das Verbrechen sanktionieren soll, sich aber jenach dem Verhalten des Verurteilten ndern kann (durchAbkrzung oder Verlngerung); bestraft werden sie auchdurch jene Sicherheitsmanahmen, welche die Strafe begleiten Aufenthaltsverbot, berwachte Freiheit, Gerichtsvormundschaft, Zwang zu medizinischer Behandlung) und welche nicht die Gesetzesbertretung sanktionieren sollen, son-

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    dern das Indiv iduum kontrol lieren seinen gefhrlichen Zu-stand neutralisieren seine verbrecheri schen Anlagen verndern und erst nach erreichter nderung aufhren sollen. Aufdie Seele des Verbrechers beruft man sich vor Gericht nichtnur zur Erklrung seines Verbrechens und zur Feststellungihrer Verantwortlichkeit; man beruft sich auf sie mit einersolchen Emphase mit einem solchen Bemhen um e r s t n d ~nis und einem so groen wissenschaftlichen Eifer um siegleichzeitig mit dem Verbrechen zu verurteilen und zur Bestrafung zu bernehmen. In das gesamte Strafritual - vomZeugenverhr bis zur U rteilsverkndung und bis zu denletzten Straffolgen - hat man einen Bereich von Gegenstndeneindringen lassen welche die juristisch definierten und kodifizierten Gegenstnde ergnzen aber auch in Frage stellen. Daspsychiatrische Gutachten sowie ganz a l l g e m e i ~ die Kriminalanthropologie und der hartnckige Diskurs der Kriminologiehaben hier ihre Funktionen: indem sie die Gesetzesbertretungen feierlich in den ereich der wissenschaftlich erkennbaren Gegenstnde einweisen berechtigen sie die Mechanismender gesetzlichen Bestrafung zum Zugriff nicht nur auf dieGesetzesbertretungen sondern auf die Individuen - nichtnur auf das was die Individuen getan haben sondern auf daswas sie sind sein werden sein knnen. Die Seelen-Zugabe diesich die Justiz gesichert hat hat nur anscheinend erklrendeund begrenzende Funktion; tatschlich handelt es sich umeine Annexion. Seitdem vor 15 oder 2 Jahren Europa seineneuen Strafsysteme geschaffen hat sind die Richter Schritt frSchritt - im Zuge einer noch weiter zurckreichenden Ent-wicklung - darangegangen ber etwas anderes als die Verbrechen zu richten: ber die Seele der Verbrecher.Und damit haben sie auch begonnen etwas anderes zu tun alszu richten. Oder genauer gesagt: in das richterliche Urteile nhaben sich andere Arten des Abschtzens und Beurteilens

    eingeschlichen, die seinen Charakter wesentlich modifizieren.Seitdem das Mittelalter langsam und mhselig das groe Verfahren der Untersuchung aufgebaut hatte bedeut ete das Richten die Feststellung der Wahrheit eines Verbrechens die Be-

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    stimmung seines Urhebers die Verhngung einer gesetzlichenSanktion. Die Erkenntnis des Vergehens die Erkenntnis des,Verantwortlichen und die Erkenntnis des Gesetzes - diese dreiBedingungen erlaubten es ein Urteil auf Wahrheit zu grn-den. Jetzt aber ist im Urteil eine ganz andere Wahrheitsfrageenthalten. Nicht mehr blo die Frage: Ist die Tat festgestelltund handelt es sich um ein Vergehen? sondern auch dieFrage: Was ist denn eigentlich diese Tat was ist diesesGewaltverbrechen oder dieser Mord? Welcher Ebene oderwelchem Bereich ist die Tat zuzuordnen - Wahngebildepsychotische Reaktion Augenblick der Verwirrung Perversitt?. Nicht mehr einfach: Wer ist der Tter? sondern:Wie kann man den Kausalproze der zur Tat gefhrt hateinordnen? Wo ist sein Ursprung im Tter selbst? InstinktUnbewutes, Milieu Erbanlage?. Nicht mehr einfach: Welches Gesetz sanktioniert dieses Vergehen? sondern: Welche Manahmen sind die angemessensten? Wie lt sich dieEntwicklung des Individuums voraussehen? Auf welcheWeise wird es am sichersten gebessert werden knnen? Eineganze Reihe von abschtzenden diagnostischen .prognostischen normativen Beurteilungen des kriminellen Individuumsist in die Apparatur des Gerichtsurteils eingezogen. Eineandere Wahrheit hat die von der Justizniechanik erforderteWahrheit durchdrungen: eine Wahrheit die in ihrer Verwicklung mit dieser aus der Schuldbehauptung einen sonderbarenwissenschaftlich-juristischen Komplex macht. Eine dafr bezeichnende Tatsache ist die Art, in der sich die Frage desWahnsinns in der Strafpraxis entwickelt hat. Nach dem Strafgesetzbuch von 181 stellte sich diese Frage nur im Artikel 64der feststellt da weder ein Verbrechen noch ein Vergehenvorliegt wenn der Tter im Augenblick der Tat im Zustanddes Wahnsinns war. Die Diagnose eines Wahnsinns schloalso die Qualifizierung einer Tat als Verbrechen aus: war derTter wahnsinnig so wurde dadurch nicht die Schwere desVergehens oder die Bemessung der Strafe modifiziert - dasVergehen selber verschwand. Es war also unmglich jemanden gleichzeitig fr schuldig und wahnsinnig zu erklren. Die

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    Diagnose eines Wahnsinns konnte nicht ins Urteil eingehensondern sie unterbrach das Verfahren und hob den Zugriff derJustiz auf den Urheber der Tat auf. Nicht nur die Untersuchung des mglicherweise Wahnsinnigen sondern auch derenResultate muten dem Urteilsspruch uerlich bleiben. Sehrbald haben nun die Gerichte des 19. Jahrhunderts diesenArtikel 64 mideutet. Obwohl der Oberste Gerichtshof inmehreren Urteilen daran erinnerte da der Zustand desWahnsinns weder zu einem Strafnachla noch zu einem Freispruch fhren kann sondern nur zu einer Einstellung desVerfahrens haben sie das Problem des Wahnsirins in ihreUrteilssprechung i n g h ~ n lassen. Sie haben zugelassen daman zugleich schuldig und wahnsinnig sein kann: um soweniger schuldig allerdings je mehr man wahnsinnig ist; auchls Schuldiger eher einzusperren und zu pflegen als zu bestra

    fen; ein gefhrlicher Schuldiger aufgrund .offenkundigerKrankheit. Vom Standpunkt des Strafgesetzbuches auswaren das allesamt juristische Absurditten. Aber hier lag derAusgangspunkt fr eine Entwicklung die im Laufe der folgenden 150 Jahre von der Rechtsprechung und von der Gesetzgebung selbst vorangetrieben werden sollte. Bereits dieReform von r832 welche die mildernden Umstnde einfhrtemachte es mglich da im Urteil Grade einer Krankheit undFormen eines Halbwahnsinns bercksichtigt wurden. Und diebei Geschworenengerichten allgemein bliche gelegentlichauf die Strafkammern ausgedehnte Praxis des psychiatrischenGutachtens fhrt dazu da das Gerichtsurteil obgleich esimmer auf eine gesetzliche Sanktion abzielt mehr oder weniger verdeckt Urteile ber Normalitt KausalzuordnungenAbschtzungen mglicher Vernderungen Voraussagenberdie Zukunft der Delinquenten enthlt. All diese Erkenntnisleistungen bereiten ein wohlbegrndetes Urteil keineswegs blovon auen vor vielmehr gehen sie in den Proze der Urteils-

    findung unmittelbar ein. Anstatt da der Wahnsinn im ur sprnglichen Sinne des Artikels 64 das Verbrechen auslschtist nun mit jedem Verbrechen oder Vergehen als ein legitimerVerdacht aber auch als ein beanspruchbares Recht die Hypo-

    these des Wahnsinns oder jedenfalls der Anomalie verbunden.Und Verurteilung oder Freispruch sind nicht mehr blo Beurteilungen von Schuld oder Nichtschuld und legale Sanktionsentscheidungen; vielmehr enthalten sie Normalittsabschtzungen und technische Vorschriften im Hinblick auf einemgliche Normalisierung. Der Richter unserer Tage - obBeamter oder Geschworener - hat nicht mehr ausschlielichzu richten.Aber er ist auch nicht mehr der einzige der zu richten hat. Imgesamten Verlauf des Strafverfahrens und des Strafvollzugswimmelt es von zahlreichen angeschlossenen Instanzen.Kleine Gerichtsbarkei ten und Nebenrichter haben sich um dieHauptrechtsprechung herum vervielfltigt: psychiatrischeoder psychologische Sachverstndige Beamte des Strafvollzugs Erzieher Funktionre der Justizverwaltung zerstckelndie gesetzliche Strafgewalt; zwar ist es richtig da keiner vonihnen wirklich am Recht zu strafen teilhat; da die einen nachdem Urteils spruch nur das Recht haben eine vom Gerichtfestgesetzte Strafe zu vollstrecken und da vor allem dieanderen - die Sachverstndigen - davor nicht eingeschaltetwerden um ein Urteil zu fllen sondern um die Entscheidungder Richter zu erhellen. Sobald aber die vom Gericht festgesetzten Strafen und Sicherheitsmanahmen nicht von vornherein endgltig bestimmt werden sondern im Lauf des Vollzugsmodifiziert werden knnen sobald andere als die Strafrichterentscheiden knnen ob der Verurteilte verdient in HalbFreiheit oder bedingte Freiheit gesetzt zu werden ob seineBevormundung aufgehoben werden kann - in diesem Moment werden eben doch Mechanismen der gesetzlichen Bestrafung in die Hnde dieser anderen gelegt und ihrer Einschtzung anheimgestellt: Nebenrichter aber gleichwohlRichter. Der ganze Apparat der sich seit Jahren um denVollzug der Strafen und ihre Anpassung an die Individuenentwickel t hat vervielfltigt die Instanzen der richterlichenEntscheidung und verlngert diese ber den Urteilsspruchhinaus. Wie weit es die psychiatrischen Sachverstndigen auchvon sich weisen mgen Richte r zu sein seit dem Rundschrei-

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    ben von 1958 haben sie auf folgende drei Fragen zu antwor-ten: Stellt der Beschuldigte eine Gefahr dar? Kann er einerBestrafung zugefhrt werden? Kann er geheilt oder wiederangepat werden? Diese Fragen haben .mt dem Artikel 64ebensowenig zu tun wie mit einem mglichen Wahnsinn desTters im Augenblick der Tat. Sie betreffen nicht die Verantwortlichkeit des Tters, sondern die d m i n i s ~ r a t i o n derStrafe, ihre Notwendigkeit ihren Nutzen ihre mgliche Wir-kung. Sie erlauben es, in einem kaum kodifizierten Vokabularanzugeben, ob die Heilanstalt dem Gefngnis vorzuziehen ist,ob eine kurze oder eine lange Haft vorzusehen ist, einemedizinische Behandlung oder Sicherheitsrnanahmen. DerPsychiater ist nicht Experte in Sachen Verantwortlichkeit,sondern Berater in Sachen Bestrafung. Er hat zu sagen, ob dasIndividuum gefhrlich ist, wie man sich davor schtzenkann, wie man es verndern kann, ob man es eher niederhaltenoder heilen soll. Zu Beginn seiner Geschichte hatte das psych-iatrische Gutachten wahre Stze ber den Anteil zu formu-lieren, den die Freiheit des Tters an seiner Tat hatte. Nun-mehr hat sie eine Empfehlung zu seiner gerichtsmedizinischen Behandlung abzugeben.Seitdem das neue Strafsystem, das durch die groen Gesetzb-cher des 18. und 19. Jahrhunderts definiert wird in Kraft ist,hat ein globaler Proze dazu gefhrt, da die Richter beretwas anderes als ber Verbrechen richten; da sie in ihrenUrteilen etwas anderes tun als zu richten; und da dieRichtgewalt teilweise anderen Instanzen als den Strafrichternbertragen worden ist. Die gesamte Operation des Bestrafenshat sich mit auerjuristischen Element en und Personen aufgeladen. Man knnte sagen, da daran nichts Ungewhnlichesist, da das Recht nun einmal ihm fremde Elemente zu absorbieren pflegt. Aber eines ist doch merkwrdig in der moder-nen Straf ustiz: auerrechtliche Element e hat sie nicht aufge-

    co nommen um sie zu verrechtlichen und allmhlich in dieeigentliche Strafgewalt zu integrieren, sondern um sie innerhalb der Operation des Bestrafens als nichtrechtliche Elemente zu belassen, um dieser Operation den Charakter der bloen

    Bestrafung zu nehmen, um dem Richter die Schmach zuersparen, einfach nur der zu sein, der bestraft: Gewi, wirfllen ein Urteil, das von einem Verbrechen veranlat wordenist; aber fr uns ist es lediglich eine Anleitung zur Behandlungeines Kriminellen. Wir bestrafen zwar, doch wollen wir damiteine Heilung erreichen. Funktion und Rechtfertigung der

    . Kriminal justiz liegen heute nur mehr in diesem stndigenBezug auf etwas anderes als sie selber, in ihrer stndig erneuerten Integration in nichtrechtliche Systeme. Sie mu sich ihreQualifikation immer wieder durch das Wissen besttigen lassen. Hinter der zunehmenden Milde der Strafen lt sich alsoeine Verschiebung ihres Ziels beobachten - und damit auchein neues Feld von Gegenstnden, ein neues Regime derWahrheit und eine Reihe bislang unbekannter Rollen imVollzug der Kriminaljustiz. Es formiert sich ein Wissen, dasTechniken und wissenschaftliche Diskurse einschliet undsich mit der Praxis der Strafgewalt verflicht.Thema dieses Buches ist eine Korrelationsgeschichte der mo-dernen Seele und einer neuen Richtgewalt. Eine Genealogiedes heutigen Wissenschaft/Justiz-Komplexes, in welchem dieStrafgewalt ihre Sttzen, ihre Rechtfertigungen und ihre Regeln findet, ihre Wirkungen ausweitet und ihre ungeheureEinzigartigkeit maskiert.Wie aber lt sie sich erfassen und darstellen, diese Geschichteder modernen Seele im Gerichtsurteil? Hlt man sich an dieEntwicklung der Rechtsregeln und der Strafverfahren, so luftman Gefahr, die Vernderung der kollektiven Sensibilitt, denFortschritt des Humanismus oder die Entwicklung der Hu-manwissenschaften als massive, feststehende und ursprng-liche Tatsache anzusehen. Analysiert man wie DurkheimI8lediglich die allgemeinen gesellschaftlichen Formen so riskiertman, als Prinzip der Strafmilderung Individualisierungsprozesse anzusetzen, die eher zu den Wirkungen und zu denneuen Strafmechanismen neuer Machttaktiken gehren. Dievorliegende Studie hlt sich an vier allgemeine Regeln:8 E Durkheim, eux lois e / evolution penale, in: Annee sociologique, IV,

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    I Die Analyse der Strafmechanismen soll nicht in erster Liniean deren repressiven Wirkungen als Sanktionen ausgerichtet sein, sondern sie in die Gesamtheit ihrer positivenWirkungen, auch der zunchst marginal erscheinenden, einordnen. Die Bestrafung soll demnach als eine komplexe gesellschaftliche Funktion betrachtet werden.2 . Die Strafmethoden sollen nicht als bloe Konsequenzen ausRechtsregeln oder Indikatoren von Gesellschaftsstrukturenanalysiert werden; vielmehr als Techniken, die im allgemeineren Feld der brigen Gewaltverfahren ihre Eigenart haben.Die Bestrafungen sind in der Perspektive der politischenTaktik zu betrachten.3 Die Geschichte des Strafrechts um:l die Geschichte derHumanwissenschaften sollen nicht als ~ w e i getrennte Linienbehandelt werden, deren berschneidung sich auf die eineoder andere oder auf heide strend oder frdernd auswirkt.Vielmehr soll untersucht werden, ob es nicht eine gemeinsameMatrix gibt und ob nicht beide Geschichten in einen einzigen

    e p i s t e m o l o g i s c h - j u r i s ~ i ~ c h e n Formierungsproze hineingehren. Die Technologie der Macht soll also als Prinzip derVermenschlichung der Strafe wie auch der Erkenntnis desMenschen gesetzt werden.4. Die Seele tritt auf die Bhne der Justiz, und damit wird einganzer Komplex wissenschaftlichen Wissens in dieGerichtspraxis einbezogen. Zu untersuchen ist, ob dies nichtdadurch bewirkt wird, da sich die Art und Weise, in welcherder Krper von den Machtverhltnissen besetzt wird, transformiert hat.Es soll also der Versuch unternommen werden, die Metamor-phoseder Strafmethoden von einer politischen Technologiedes Krpers her zu untersuchen, aus der sich vielleicht eine ge-meinsame Geschichte der Machtverhltnisse und der Erkennt-nisbeziehungen ablesen lt. So knnte aus der Analyse derStrafmilde verstndlich werden, wie der Mensch, die Seele, dasnormale oder anormale Individuum zu weiteren Zielen derStrC .fintervention neben dem Verbrechen geworden sind; undwie eine spezifische Unterwerfungs methode zur Geburt des

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    Menschen als Wissensgegenstand fr emen wissenschaftlichen Diskurs fhren konnte.Doch erhebe ich nicht den Anspruch der erste zu sein, d ~ r indieser Richtung arbeitet. 19Aus dem groen Buch von Rusche und Kirchheimer20 lassensich einige wesentliche Richtlinien gewinnen. Festzuhalten ist

    "zunchst, da man sich von der Illusion lsen mu dasStrafsystem sei ~ o r allem (oder gar ausschlielich) eine Metho-de der Unterdrckung von Verbrechen und in dieser Funk-"tion knne es je nach den Gesellschaftsformen, den politischen oder religisen Systemen streng oder. nachsichtig, aufShnung oder auf Wiedergutmachung,. auf Verfolgung vonIndividuen oder auf Feststellung kollektiver Verantwortlich-keiten gerichtet sein. Vielmehr sind die konkreten Strafsysteme zu analysieren, und zwar als gesellschaftliche Erscheinungen, die weder durch die juristische Apparatur der Gesell-. schaft noch durch ihre ethischen Grundentscheidungen hin-reichend erklr t werden knnen. Sie sind in ihr Funktionsfeldeinzuordnen, in welchem die S a n k t i o n i ~ r u n g der Verbrechennicht das einzige Element ist. Es ist zu zeigen, da dieStrafmanahmen nicht einfach negative Mechanismen sind,die einschrnken, verhindern, ausschlieen, unterdrcken;sondern da sie an eine Reihe positiver und nutzbringenderEffekte geknpft sind, welche sie befrdern '- in diesem Sinnekann man sagen, da die gesetzlichen Strafen zwar zur Sanktionierung der Vergehen bestimmt sind, die Definition derVergehen und deren Verfolgung aber wiederum dazu dienen,die Strafmechanismen in Gang zu halten. Rusche und Kirchheimer haben in dieser Perspektive die verschiedenen Strafsysteme mit den Produktionssystemen in Beziehung gesetzt, in19 Auf keinen Fall vermag ich durch Hinweise oder Zitate sichtbar zu machen, wasdieses Buch G. Deleuze und seiner gemeinsamen Arbeit mit F. Guattari verdankt(Deleuze/Guattari, Anti-Odipus. Kapitalismus un Schizophrenie I. Frankfurt1974- Ebenso verpflichtet bin ich R. Castel Le Psychanalysme, Paris 1973) und P.Nora.20 G. Rusche and O. Kirchheimer, Punishment and soci l structures, 1939 Deut-sche Ausgabe: Sozialstruktur und Strafvollzug. Frankfurt/Kln 1974

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    welchen sie ihre Wirkungen ausben: in einer Sklavenwirtschaft haben die Strafmechanismen die Aufgabe, zustzlicheArbeitskraft herbeizuschaffen - und damit eine zivile Sklaverei neben der durch Krieg und Handel sichergestellten zuschaffen; mit dem Feudalzeitalter und seiner geringen Ent-wicklung von Geld und Produktion nehmen die krperlichenZchtigungen stark zu - der Krper ist ja hufig das einzigeerreichbare Gut; das Zuchthaus Hpital generale, Spinhuisoder Rasphuis), die Zwangsarbeit, die Strafmanufaktur erscheinen mit der Entwicklung der Tauschwirtschaft. Da -doch das industrielle System einen freien Markt der Arbeitskraft verlangt, geht im 19. Jahrhundert der Anteil derZwangsarbeit innerhalb der Strafmechanismen zurck; an ihreStelle tritt eine Internierung zum Zweck der Besserung. Zudiesen eindeutigen Zuordnungen werden sicher einige Bemerkungen zu machen sein.Zweifellos aber lt sich ein Gedanke festhalten: da inunseren Gesellschaften die Strafsysteme in eine bestimmtepolitische konomie des Krpers einzuordnen sind. Selbstwenn sie auf gewaltsame oder blutige Zch tigungen verzichten, selbst wenn sie die ;>milden Methoden der Einsperrungoder Besserung verwenden, geht es doch immer um denKrper - um den Krper und seine Krfte, um deren Ntz-lichkeit und Gelehrigkeit, um deren Anordnung und Unter-werfung. Selbstverstndlich ist es legitim, einer Geschichte der.strafen moralische Ideen oder juristische Strukturen zugrundezu legen. Die Frage aber ist, ob man ihr auch eine Geschichteder Krper zugrunde legen kann, da die Strafen doch nurmehr auf die geheime Seele der Strafflligen abzielen wollen.Die Historiker beschftigen sich seit lngerer Zeit mit derGeschichte des Krpers. Sie haben den Krper im Feld der

    [historischen Demographie und Pathologie studiert. Sie habenihn als Sitz von Bedrfnissen und Gelsten, als Ort vonphysiologischen Prozessen und von Metabolismen, als Zielscheibe fr die Angriffe von Mikroben und Viren untersucht.Sie haben gezeigt, bis. zu welchem Grade die historischenProzesse in das verwickelt waren, was als rein biologischer

    Sockel der Existenz gelten mochte und welcher Platz in derGeschichte der Gesellschaften biologischen Ereignissen wieder Ausbreitung von Bazillen oder der Verlngerung derLebensdauer einzurumen ist. I Aber der Krper steht auchunmittelbar im Feld des Politischen; die Machtverhltnisselegen ihre Hand auf ihn; sie umkleiden ihn, markieren ihn,dressieren ihn, martern ihn, zwingen ihn zu Arbeiten, verpflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen.Diese politische Besetzung des Krpers ist mittels komplexerund wechselseitiger Beziehungen an seine konomische Nut-zung gebunden; zu einern Gutteil ist der Krper als Produk-tionskraft von Macht- und Herrschaftsbeziehungen besetzt;auf der anderen Seite ist seine Konstituierung als Arbeitskraftnur innerhalb eines Unterwerfungssystems mglich (in welchem das Bedrfnis auch ein sorgfltig gepflegtes, kalkuliertesund ausgenutztes politisches Instrument ist); zu einer ausnutzbaren Kraft wird der Krper nur, wenn er sowohl pro-duktiver wie unterworfener Krper ist. Diese Unterwerfungwird aber nicht allein durch Instrumente der Gewalt oder derIdeologie erreicht; sie kann sehr wohl direkt und physischsein, Kraft gegen Kraft ausspielen, materielle Elemente einbeziehen und gleichwohl auf Gewaltsamkeit verzichten; sie kannkalkuliert, organisiert, technisch durchd acht, subtil sein, weder Waffen noch Terror gebrauchen und gleichwohl physischer Natur sein. Es kann also ein Wissen vorn Krpergeben,-das nicht mit der Wissenschaft von seinen Funktionenidentisch ist, sowie eine Meisterung seiner Krfte, die mehr istals die Fhigkeit zu ihrer Besiegung: dieses Wissen und dieseMeisterung stellen die politische konomie des Krpers dar.Gewi, diese Technologie ist diffus, in zusammenhngendenund systematischen Diskursen kaum formuliert; sie setzt sichaus Stcken und Stckchen zusammen; sie arbeitet mit disparaten Werkzeugen und Verfahren; trotz der Kohrenz ihrerResultate ist sie hufig ein vielgestaltiger Proze. Man kann sieauch weder in bestimmten Institutionen noch im Staatsappa-2I Vgl E Le Roy-Ladurie, L histoire immobile, in: Annales mai-juin I974

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    rat festmachen. Diese greifen auf sie zurck; sie bentzen,frdern der erzwingen ihre Przeduren. Aber sie selbstmitsamt ihren Mechanismen und Wirkungen liegt auf eineranderen Ebene. Es handelt sich gewissermaen um eine Mikrphysik der Macht, die vn den Apparaten und Institutinen eingesetzt wird; ihre Wirksamkeit liegt aber szusagenzwischen diesen gren Funktinseinheiten und den Krpernmit ihrer Materialitt und ihren Krften.Das Studium dieser Mikrphysik setzt nUn vraus, da diedarin sich entfaltende Macht nicht als Eigentum, sndern alsStrategie aufgefat wird, da ihre Herrschaft swirkungen nichteiner Aneignung zugeschrieben werden, sndern Dispsitinen, Manvern, Techniken, Funktinsweisen; da in ihrein Netz vn stndig gespannten und ttigen Beziehungenentziffert wird anstatt eines fes.tgehaltenen Privilegs; da ihrals Mdell die immerwhrende Schlacht zugrundegelegt wirdund nicht der Vertrag ber die Abtretung eines Gebietes derdie Erberung, die sich eines slchen bemchtigt . Diese Machtist nicht so. sehr etwas, was jemand besitzt, sndern vielmehretwas, was sich entfaltet; nicht so. sehr das erwrbene derbewahrte Privileg der herrschenden Klasse, sndern vielmehr die Gesamtwirkung ihrer strategischen Psitionen - eineWirkung, welche durch die Psitin der Beherrschten ffenbart und gelegentlich erneuert wird. Anderseits richtet sichdiese Macht nicht einfach als Verpflichtung der Verbt andiejenigen, welche sie nicht haben; sie sind ja vn der Machteingesetzt, die Macht verluft ber sie und durch sie hindurch;sie sttzt sich auf sie, ebenso. wie diese sich in ihrem Kampfgegen sie darauf sttzen, da sie vn der Macht durchdrungensind. Diese Beziehungen reichen nmlich tief in die Gesellschaft hinein und reduzieren sich nicht auf das Verhltnis desStaates zu den Brgern der auf die Schranke zwischen denKlassen; sie beschrnken sich nicht darauf, auf der Ebene derIndividuen, der Krper, der Gesten und der Verhalt;ensweisendie allgemeine Frm des Gesetzes der der Herrschaft zureprduzieren. Zwar besteht ein Zusammenhang, zwischenihnen denn sie sind durch zahlreiche kmplexe .Rderwerke

    an Gesetz und Herrschaft angeschlssen), dch handelt es sichnicht um einen Zusammenhang analger der hmlger Art,sndern um einen Zusammenhang je spezifischer Mechanismen und Verfahren. Die Beziehungen sind keine eindeutigenRelatinen, vielmehr definieren sie zahllse Knfrntatirtspunkte und Unruheherde, in denen Knflikte, Kmpfe undzumindest vrbergehende Umkehrung der Machtverhltnisse drhen. Die Umwlzung dieser Mikrmchte gehrchtnicht dem Gesetz des Alles der Nichts. Sie wird nicht ein frallemal durch eine neue Kntrll e ber die Apparate erreicht,ebenswenig wie durch eine Erneuerung der Zerstrung derInstitutinen; vielmehr besteht sie aus einzelnen Episden, diejeweils in ihr Geschichtsnetz verflchten sind.Man mu whl auch einer Denktraditin entsagen, die vnder Vrstellung geleitet ist, da es Wissen nur drt gebenkann, wo. die Machtverhltnisse suspendiert sind, da dasWissen sich nur auerhalb der Befehle, Anfrderungen, Interessen der Macht entfalten kann. Vielleicht mu man demGlauben entsagen, da die Macht wahnsinnig macht und daman nur unter Verzicht auf die Macht ein Wissender werdenkann. Eher ist whl anzunehmen, da die Macht Wissenhervrbringt und nicht bl frdert, anwendet, ausnutzt);da Macht und Wissen einander unmittelbar i n s c h l i e ~ n daes keine Machtbeziehung gibt, hne da sich ein entsprechendes Wlssensfeld knstituiert, und kein Wissen, das nichtgleichzeitig Machtbeziehungen vraussetzt und knstituiert.Diese Macht/Wissen-Beziehungen sind darum nicht vn einem Erkenntnissubjekt aus zu analysieren, das gegenber demMachtsystem frei der unfrei ist. Vielmehr ist in Betracht zuziehen, da das erkennende Subjekt, das zu erkennende Objekt und die Erkenntnisweisen jeweils Effekte jener fundamentalen Macht/Wissen-Kmplexe und ihrer histrischenTransformatinen bilden. Es ist also. nicht so. da die Aktivitt des Erkenntnissubjekts ein fr die Macht ntzliches dergefhrliches Wissen hervrbringt; sndern die Frmen undBereiche der Erkenntnis werden vm Kmplex Macht/Wis-

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    sen, von den ihn durchdringenden und konstituierenden Prozessen und Kmpfen bestimmt.Analysiert ma? die politische Besetzung des Krpers und dieMikrophysik der Macht, so mu man im Hinblick auf dieMacht den Gegensatz Gewalt/Ideologie, die Metapher des.Eigentums, das Modell des Vertrags sowie das der Eroberungfallenlassen ; im Hinblick auf das Wissen ist der Gegensatzzwischen dem interessierten und dem desinteressiertenebenso aufzugeben wie das Modell der Erkenntnis und derPrimat des Subjekts. Man knnte an eine politische Anatomie denken, sofern man dem Wort einen anderen Sinn gibtals im I7. Jahrhundert Petty und seine Zeitgenossen. Gemeintwre damit nicht die Analyse eines Staates als Krper mitseinen Elementen, Energiequellen, Krften), aber auch nichtdie Analyse des Krpers und seiner Umgebung als kleinerStaat. Zu behandeln wre der politische Krper als Gesamtheit der materiellen Elemente und Techniken, welche alsWaffen, Schaltstationen, Verbindungswege und Sttzpunkteden Macht- und Wissensbeziehungen dienen, welche diemenschlichen Krper besetzen und unterwerfen, indem sieaus ihnen Wissensobjekte machen.Die Bestrafungstechniken - ob sie sich im Ritual der Marterndes Krpers bemchtigen oder sich an die Seele wenden - s indin die Geschichte dieses politischen Krpers einzuordnen. DieStrafpraktiken sind weniger als eine Folge von Rechtstheorienzu betrachten denn als ein Kapitel der politischen Anatomie.Kantorowicz hat dem Krper des Knigs eine bemerkenswerte Untersuchung gewidmet: nach der Rechtstheologie desMittelalters handelt s sich um einen zweifachen Krper da erauer dem vergnglichen Element, welches geboren wird undstirbt, eines enthlt, welches ber die Zeit hinweg dauert undsich als der physische und gleichwohl unberhrbare Trgerdes Knigtums erhlt; um diese Zweiheit herum die ursprnglich dem christologischen Modell nahestand, organisie- Ernst H. Kantorowicz, The King s two Bodies. A Study in Mediaeval PoliticalTheology, Princeton 1957.

    ren sich eine Ikonographie, eine politische Theorie der Monarchie, Rechtsmechanismen, welche die Person des Knigsund die Erfordernisse der Krone zugleich trennen und verbinden, sowie ein Ritual, das in der Krnung im Leichenbegngnis und in den Unterwerfungszeremonien seine strksten Augenblicke findet. Am Gegenpol knnte man sich den Krperdes Verurteilten vorstellen. Auch er hat seinen rechtlichenStatus; auch ihm sind ein Zeremoniell und ein theoretischerDiskurs zugeordnet; aber dieser Diskurs begrndet nicht dasMachtplus, das die Person des Souverns auszeichnet, sonderndas Machtminus, das die Strafflligen kennzeichnet. Inder dstersten Region des Politischen bildet der Verurteiltedie Gegengestalt des Knigs. Zu untersuchen wre, was manKantorowicz zu Ehren den geringsten Krper des Verurteilten nennen knnte.Das Mehr an Macht auf seiten des Knigs fhrt zur Verdoppelung seines Krpers - hat nicht die bermacht die sich amunterworfenen Krper des Verurteilten auslt, eine andere

    . Verdoppelung hervorgerufen? Die Verdoppelung durch einUnkrperliches - eine Seele, wie Mably sagte. Die Geschichte dieser Mikrophysik der Strafgewalt wre also eineGenealogie oder ein Stck der Genealogie der modernenSeele. In dieser Seele wre also nicht ein wiederbelebtesRelikt einer Ideologie zu erblicken, sondern der aktuelleBezugspunkt einer bestimmten Technologie der Macht berden Krper. Man sage nicht, die Seele sei eine Illusion oder einideologischer Begriff. Sie existiert, sie hat eine Wirklichkeit,sie wird stndig produziert - um den Krper, am Krper imKrper - durch Machtausbung an jene]), die man bestraft,und in einem allgemeineren Sinn an jenen, die man berwacht,dressiert und korrigiert, an den Wahnsinnigen, den Kindern,den Schlern, den Kolonisierten, an denen, die man an einenProduktionsapparat bindet und ein Leben lang kontrolliert.Historische Wirklichkeit dieser Seele, die im Unterschied zuder von der christlichen Theologie vorgestellten Seele nichtschuldbeladen und strafwrdig geboren wird, sondern ausProzeduren der Bestrafung, der berwachung der Zchti-

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    gung des Zwangs geboren wird. Diese wirkliche und unkrperliche Seele ist keine Substanz; sie ist das Element inwelchem sich die Wirkungen einer bestimmten Macht und derGegenstandsbezug eines Wissens miteinander verschrnken;sie ist das Zahnradget riebe mittels dessen die Machtbeziehungen ein Wissen ermglichen und das Wissen die Machtwirkungen erneuert und verstrkt. ber dieser Verzahnung vonMachtwirklichkeit und Wissensgegenstand hat man verschiedene Begriffe und Ufltersuchungsbereiche konstruiert: Psyche Subjektivitt Persnlichkeit Bewutsein Gewissenusw.; man hat darauf wissenschaftliche Techniken und Diskurse erbaut; man hat darauf die moralischen Ansprche desHumanismus gegrndet. Doch tusche man sich nicht: manhat an die Stelle der Seele der Illusion der Theologen, nichteinen wirklichen Menschen einen Gegenstand des Wissensder philosoph ischen Reflexion oder technischen Intervention,gesetzt. Der Mensch von dem man uns spricht und zu dessenBefreiung man einldt ist bereits in sich das Resultat einerUnterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine Seele wohnt inihm und schafft ihm eine Existenz die selber ein Stck derHerrschaft ist welche die Macht ber den Krper ausbt. DieSeele : Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. DieSeele: Gefngnis des Krpers.Da die Bestrafungen und im besonderen das Gefngnis zueiner politischen Techn ologie des Krpers gehren habe ichvielleicht weniger von der Geschich te als von der Gegenwartgelernt. Im Laufe der letzten Jahre haben sich in verschiedenen Teilen der Erde Gefngnisrevolten abgespielt. Ihre Zieleihre Forderungen, ihr Ablauf hatten gewi etwas Paradoxes.Es waren Revol ten gegen ein physisches Elend das seit bereinem Jahrhundert andauert: gegen die Klte gegen das Er-

    sticken, gegen die Uberfllung, gegen die alten a b g ~ n u t z t e nMauern, gegen den Hunger, gegen die Schlge. waren aberauch Revolten gegen die Mustergefngnisse gegen die Tranquilizers gegen die Isolierung gegen die medizini sche oderpdagogische Betreuung. Hatten die Revolten nur materielle

    Ziele? Waren die Revolten widersprchlich: gegen das Elend -aber auch gegen den Komfort, gegen die Aufseher - aber auchgegen die Psychiater? Tatschlich ging es um die Krper undum materielle Dinge in all diesen Bewegungen ebenso wie inden zahllosen Diskursen die das Gefngnis seit dem Beginndes I9. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Wovon diese Diskurse und diese Revolten diese Erinnerungen und dieseSchmhungen gelebt haben waren gewi diese kleinen diesewinzigen Materialitten. Man mag darin nur blinde o r d e r ~ n -gen oder von auen gelenkte Strategien sehen. In Wirklichkeithandelte es sich um eine Revolte auf der Ebene der Krpergegen den Krper des Gefngnisses. Letztlich ging es nicht umden allzu veralteten oder allzu aseptischen allzu kargen oderallzu perfektionierten Rahmen des Gefngnisses . sondern umseine Materialitt als Machtwerkzeug und -trger; um jeneganze Technologie der Macht ber den Krper, die von derTechnologie der Seele - derjenigen der Erzieher Psychologen und Psychiater - weder maskiert noch kompensiert werden kann, da sie ja nur eines ihrer Instrumente ist. DieGeschichte dieses Gefngnisses mit all den politischen Besetzungen des Krpers die es in seiner geschlossenen Architektur versammelt mchte ich schreiben. Werden hier nicht dieZeiten zu einem Anachronismus verquickt? Nun, ich habenicht vor die Geschichte der Vergangenheit in die Begriffe derGegenwart zu fassen. Wohl aber ist es meine Absicht dieGeschichte der Gegenwart zu schreiben. 3

    3 Ich werde die Geburt des Gefngnisses nur innerhalb des franzsischen t r a f s y ~sterns untersuchen. Die Unterschiede in den historischen Entwicklungen und in denInstitutionen lassen eine umfassende un detaillierte Darstellung kaum zu; unterVerzicht auf die Details aber wrde eine Rekonstruktion des Gesamtphnomensallzu schematisch werden.