Ueberwachen_und_strafen Cap 1 Der Körper Der Verurteilten

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  • Michel Foucault (1926-1984) hatte seit 1970 den Lehrstuhl fr die Geschichte der Denksysteme am College de France in Paris inne. Von seinen Bchern sind im Suhrkamp Verlag erschienen: Psycholo-gie und Geisteskrankheit (1968); Wahnsinn und Gesellschaft (1969); Die Ordnung der Dinge (1971); Archologie des Wissens (1973); Der Fall Riviere (Hrsg.) (1975); Sexualitt und Wahrheit. Erster Band: Der Wille zum Wissen (1977); Zweiter Band: Der Gebrauch der Lste (1986); Dritter Band: Die Sorge um sich (1986). berwachen und Strafen. Die Geburt des Gefngnisses schliet an Foucaults Bcher ber die Geburt der Klinik und des Irren-hauses (Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft; = stw 39) an: es zeichnet die Frhentwick-lung einer anderen totalen Institution nach, die fr die liberale brgerliche Gesellschaft eine mindestens ebensolche definitorische Macht gewann wie das Irrenhaus. Diese Entwicklung beginnt, nicht unabhngig von einigen groen Justizskandalen, um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert, als sich die Okonomie der Zchtigung revolutionierte; es entstand eine neue Theorie des Rechts und des Verbrechens, eine neue moralische und politische Rechtfertigung der Strafe, eine neue Strafpraxis. Die vielleicht entscheidendste Ver-nderung ist der Wegfall der krperlichen Zchtigung, der Marter, und die Einfhrun~ der Isolierung der Gefangenen in Zellen - also der Weg zum vollkommenen berwachungs- und Disziplinierungs-system. Die Gefngnisse werden brgerliche Zuchthuser, Zuchtan-stalten. Diese verfeinerte Disziplinierungstechnik wird ihrerseits zur Disziplin im Sinne der Wissenschaft, zur selben Zeit brigens, als atich die experimentelle Psychologie entsteht. Die Kontrolle der Nor-malitt korrespondiert der Normalitt der Kontrolle.

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    Michel Foucault berwachen und Strafen

    Die Geburt des Gefngnisses

    Vbersetzt von Walter Seitter

    Suhrkamp

  • Titel der Originalausgabe: Surveiller et punir. La naissance de la

    prison. Editions Gallimard 1975

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    STAATLICHE HOCHSCHULE FUR GESTALTUNG KARLSRUHE - HIBLIOTHEK -

    Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Foucault, Michel:

    berwachen und Strafen: die Geburt des Gefngnisses I Michel Foucault. bers. von Walter Seitter. - 10. Aufl. -

    Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1992 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 184)

    Einheitssacht. : Surveiller et punir ISBN 3-518-27784-7

    NE:GT

    suhrkamp taschenbuch wissenschaft 184 Erste Auflage 1977

    Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1976 Suhrkamp Taschenbuch Verlag

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des ffentlichen Vortrags, der bertragung

    durch Rundfunk und Fernsehen sowie der bersetzung, auch einzelner Teile.

    Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany

    Umschlag nach Entwrfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

    10 II ,12 13 14 15 - 97 96 95 94 93 92

    Inhalt

    1. Marter

    I. Der Krper der VerUrteilten 9 2. Das Fest der Martern 44

    H. Bestrafung

    I. Die verallgemeinerte Bestrafung 93 2. Die Milde der Strafen 133

    III. Disziplin

    \

    I. Die gelehrigen Krper 173 Die Kunst der Verteilungen 181 Die Kontrolle der Ttigkeit 192 v Die Organisation von Entwicklungen 20 I Die Zusammensetzung der Krfte 209

    2. Die Mittel der guten Abrichtung 220 Die hierarchische berwachung 22 I Die normierende Sanktion 229 Die Prfung 238

    3 Der Panoptismus 251

    IV. Gefngnis

    I. Totale und asketische Institutionen 295 2. Gesetzwidrigkeiten und Delinquenz 330 3. Das Kerkersystem 380

  • I. Marter

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    I. Der Krper der Verurteilten

    Am 2. Mrz I757 war Damiens dazu verurteilt worden, vor dem Haupttor der Kirche von Paris ffentliche Abbitte zu tun, wohin er in einem Strzkarren gefahren werden sollte, nackt bis auf ein Hemd und eine brennende zwei Pfund schwere Wachsfackel in der Hand; auf dem Greve-Platz sollte er dann im Strzkarren auf ei.nem dort errichteten Gerst an den Brustwarzen, Armen, Oberschenkeln und Waden mit glhenden Zangen gezwickt werden; seine rechte Hand sollte das Messer halten, mit dem er den Vatermord begangen hatte, und mit Schwefelfeuer gebrannt werden, und auf die mit Zangen gezwickten Stellen sollte geschmolzenes Blei, sie-dendes 01, brennendes Pechharz und mit Schwefel geschmol-zenes Wachs gegossen werden; dann sollte sein Krper von vier Pferden auseinandergezogen und zergliedert werden, seme Glieder und sein Krper sollten vom Feuer verzehrt und zu Asche gemacht, und seine Asche in den Wind gestreut werden.I Schlielich vierteilte man ihn, erzhlt die Gazette d'Am-sterdam.2 Diese letzte Operation war sehr langwierig, weil die verwendeten Pferde ans Ziehen nicht gewhnt waren, so da man an Stelle von vier deren sechs einsetzen mute; und als auch das noch nicht genug war, mute man, um die Schenkel des Unglcklichen abzutrennen, ihm die Sehnen durchschnei-den und die Gelenke zerhacken .... Man versichert, da ihm, obwohl er immer ein groes Lstermaul gewesen war, keine Blasphemie entkam; nur schreckliche Schreie lieen ihn die bermigen Schmerzen ausstoen und oft wiederholte er: >Mein Gott, hab Erbarmen mit mir! Jesus hilf mir!< Alle Zuschauer waren erbaut von der Frsorge des Pfarrers von Saint-Paul, der trotz seines hohen Alters keinen Augenblick versumte, um den armen Snder zu trsten.

    I Pie ces originales et procedures du proces fait a Robert-Franr;ois Damiens, 1757, Bd III, S. 372-374. 2 Gazette d'Amsterdam, 1. April 1757.

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  • Und der Polizeioffizier Bouton: Man zndete den Schwefel an, aber das Feuer war so schwach, da die Haut der Hand davon kaum verletzt wurde. Dann nahm ein Scharfrichter, die rmel bis ber die Ellenbogen hinaufgestreift, eine etwa anderthalb Fu lange, zu diesem Zweck hergestellte Zange aus Stahl, zwickte ihn damit zuerst an der Wade des rechten Beines, dann am Oberschenkel, darauf am rechten Ober- und Unterarm und schlielich an den Brustwarzen. Obwohl dieser Scharfrichter krftig und robust war, hatte er groe Mhe, die Fleischstcke mit seiner Zange loszureien; er mute jeweils zwei- oder dreimal ansetzen und drehen und winden; die

    zug~fgten Wunden waren so gro wie Laubtaler. Bei diesem Zangenreien schrie Damiens sehr laut, ohrie freilich zu lstern; danach hob er das Haupt und besah sich. Derselbe Scharfrichter nahm nun mit einem Eisenlffel aus einem Topf die siedende Flssigkeit, die er auf jede Wunde go. Darauf knpfte man dnne Stricke an die Seile, die an die Pferde gespannt werden sollten, und band damit die Pferde an je ein Glied. Der Herr Gerichtsschreiber Le Breton nherte sich mehrmals dem Verurteilten, um ihn zu fragen, ob er etwas zu sagen habe, was -er verneinte. Bei jeder Peinigung schrie er so unbeschreiblich, wie man es von den Verd~mmten sagt: >Ver-zeihung mein Gott! Verzeihung, Herr!< Trotz all dieser Schmerzen hob er von Zeit zu Zeit das Haupt und besah sich unerschrocken. Die Seile, die von den Menschen so fest angebunden und gezogen wurden, bereiteten ihm unaus-sprechliche Schmerzen. Der Herr Le Breton trat noch einmal zu ihm und fragte ihn, ob er nicht etwas sagen wolle; er sagte

    nein~ Die Beichtvter nherten sich ihm und sprachen lange zu ihm; er kte gerne das Kruzifix, das sie ihm darboten; er schob die Lippen vor und sagte immer: >Verzeihung, Herr!< Die Pferde gaben einen krftigen Ruck und zerrten dabei jeweils an eiriem Glied; jedes Pferd wurde von einem Scharf-richter gehalten. Eine Viertelstunde spter dieselbe Zeremonie noch einmal; und nach weiteren Versuchen war man gezwun-gen, die Pf~rde ziehen zu lassen: diejenigen an den Armen in

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    Richtung Kopf, diejenigen an den Schenkeln in Richtung Arme, was ihm die Arme an den Gelenken gebrochen hat. Dieses Ziehen wurde mehrmals wiederholt - ohne Erfolg. Er hob das Haupt und blickte sich an. Man war gezwungen, zwei weitere Pferde zustzlich an die Schenkel zu spannen, so da man nun sechs Pferde hatte. Aber ohne Erfolg. Schlielich sagte der Scharfrichter Samson dem Herrn Le Breton, da es kein Mittel und keine Hoffnung gebe, ans Ziel zu gelangen, und ersuchte ihn, er mge die Gerichtsherren fragen, ob sie wollten, da er ihn in Stcke schneiden lasse. Aus der Stadt zurckgekehrt, hat der Herr Le Breton _ den Befehl gegeben, neue Anstrengungen zu machen, was auch versucht wurde; aber die Pferde -wurden widerspenstig, und eines von denen, die an die Schenkel gespannt waren, fiel aufs Pflaster. Die Beichtvter traten wieder zu ihm und sprachen, mit ihm. Er sagte ihnen (ich habe es gehrt): >Kssen Sie mich, gndige Herren!< Der Pfarrherrvon Saint-Paul wagte es nicht, aber der von Marsilly schlpfte unter dem Seil des linken Armes durch und kte ihn auf die Stirn. Die Scharfrichter standen beisammen und Damiens sagte ihnen, sie sollten nicht lstern, sie sollten ihre Arbeit tun, er sei ihnen nicht bse. Er bat sie, Gott fr ihn zu bitten, und den Pfarrer von Saint-Paul ersuchte er, bei der ersten Messe fr ihn zu beten. Nach zwei oder drei Versuchen zogen die ~charfrichter Sam-son und derjenige, der ihn mit der Zange gepeinigt hatte, Messer aus ihren Taschen und schnitten die Schenkel vom R~~pTdes _K!p~~~~;b; di~ vier Pferd~ risse~ n~~-;;;i~-~olle;Kraft die Schenkel los : zuerst den der rechten Seite, dann den andern; dasselbe wurde bei den Armen gemacht, und zwar an den Schultern und -an den Achselhhlen; man mute das Fleisch beinahe bis zu den Knochen durchschneiden; die Pferde legten sich ins Geschirr und rissen zuerst den rechten Arm und dann den andern los. Nachdem diese vier Teile abgetrennt waren, kamen die Beichtvter zu ihm und wollten mit ihm sprechen; aber der Scharfrichter sagte ihnen, er sei tot, obwohl ich in Wahrheit

    gesehe~ habe, wie der Mann sich bewegte und wie der Unter-II

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    kiefer auf und nieder ging, als ob er sprche. Einer der Scharfrichter sagte sogar, da r noch am Leben gewesen sei, als sie den Rumpf des Krpers aufgehoben htten, um ihn auf den Scheiterhaufen zu werfen. Die vier von den Seilen der Pferde losgelsten Glieder wurden auf einen Scheiterhaufen geworfen, der in der Nhe des Gerstes vorbereitet war; dann wurde der Rumpf und das Ganze mit Scheitern und Reisig zugedeckt und am Stroh, das unter das Holz gemischt war, wurde Feuer angesteckt. ... In Vollstreckung des Urteils wurde alles zu Asche ge-macht. Das letzte Stck, das in der Kohlenglut gefunden wurde, war erst nach halb elf am Abend gnzlich verbrannt. Die Fleischstcke und der Rumpf brannten ungefhr vier Stunden lang. Die Offiziere, zu denen ich gehrte, und mein Sohn sowie das Kommando der Bogenschtzen, wir sind bis fast elf Uhr auf dem Platz geblieben. Man mchte Schlufolgerungen daraus ziehen, da sich am nchsten Tag ein Hund auf die Feuerstelle legte und, als er mehrmals weggejagt wurde, immer wieder dahin zurckkehr-te. Aber es ist nicht schwer zu verstehen, da das Tier es an diesem Platz wrmer fand als anderswo.3 Ein Dreivierteljahrhundert spter verfat Leon Faucher ein Reglement fr das Haus der jungen Gefangenen in Paris4: Art. 17. Der Tag der Hftlinge beginnt im Winter um sechs Uhr morgens, im Sommer um fnf Uhr. Die Arbeit dauert zu jeder Jahreszeit neun Stunden tglich. Zwei Stunden sind jeden Tag dem Unterricht gewidmet. Die'Arbeit und der Tag enden im Winter um neun Uhr, im Somm~r um acht Uhr. Art. 18. Aufstehen. Beim ersten Trommelwirbel mssen die Hftlinge aufstehen und sich stillschweigend ankleiden, wh-rend der Aufseher die Tren der Zellen ffnet. Beim zweiten Trommelwirbel mssen sie aufsein und ihr Bett machen. Beim dritten ordnen sie sich zum Gang in die Kapelle, wo das Morgengebet stattfindet. Zwischen jedem Trommelwirbel ist ein Abstand von fnf Minuten. 3 Zitiert in: A. L. Zevaes, Damiens le regicide, 1937, S. 201-214. 4 L. Faucher, De la re/orme des prisons, 1838, S. 274-282.

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    Art. 19. Das Gebet wird vom Anstaltsgeistlichen verrichtet, worauf eine moralische oder religise Lesung folgt. Diese bung darf nicht lnger als eine halbe Stunde dauern. Art. 20. Arbeit. Um Viertel vor sechs im Sommer, um Viertel vor sieben im Winter gehen die Hftlinge in den Hof, wo sie sich waschen mssen und eine er$te Zuteilung von BTot erhalten. Unmittelbar darauf formieren sie sich zu Werkstatt-gruppen und begeben sich an die Arbeit, die im Sommer um sechs Uhr beginnen mu und im Winter um sieben Uhr. Art. 2I. Mahlzeit. Um zehn Uhr verlassen die Hftlinge die Arbeit, um sich in den Speisesaal zu begeben; im Hof waschen sie sich die Hnde und ordnen sich zu Abteilungen. Nach dem Essen bis zwanzig Minuten vor elf Uhr Erholung. Art. 22. Schule. Beim Trommelwirbel um ~wanzig vor elf formieren sich die Abteilungen, man geht zur Schule. Der Unterricht dauert zwei Stunden, die abwechselnd dem Lesen, dem Schreiben, dem geometrischen Zeichnen und dem Rech-nen gewidmet werden. Art. 23. Um zwanzig Minuten vor ein Uhr verlassen die Hftlinge in Apteilungen geordnet die Schule und begeben sich zur Erholung in den Hof. Beim Trommelwirbel um fnf vor eins formieren sie sich wieder zu Werkstattgruppen. Art. 24. Um ein Uhr mssen sich die Hftlinge in die Werk-sttten begeben haben: die Arbeit dauert bis vier Uhr. Art. 25. Um vier Uhr verlassen die Hftlinge die Werksttten und begeben sich in den Hof, wo sie sich die Hnde waschen und zu Abteilungen fr den Speisesaal formieren. Art. 26. Das Abendessen und die darauffolgende Erholung dauern bis fnf Uhr: zu diesem Zeitpunkt kehren die Hftlin-ge in' die Werksttten zurck. Art. 27. Die Arbeit endet im Sommer um sieben Uhr, im Winter um acht Uhr; in den Werksttten gibt es eine letzte Brotzuteilung. Eine viertelstndige Lesung, die irgendweIche lehrreichen Begriffe oder einen wichtigen Charakterzug zum Gegenstand hat, wird von einem Hftling oder einem Aufse-her durchgefhrt, worauf das Abendgebet folgt.' Art. 28. Um halb acht Uhr im Sommer, um halb neun Uhr im

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  • Winter, mssen die Hftlinge in den Zellen sein, nachdem sie sich im Hof die Hnde gewaschen haben und dort die Beklei-dung kontrolliert worden ist. Beim ersten Trommelwirbel entkleiden sie sich, beim zweiten legen sie sich zu Bett. Die Tren der Zellen werden geschlossen und die Aufseher ma-chen die Runde in den Korridoren, um sich der Ordnung und Stille zu vergewissern.

    Das eine Mal eine Leibesmarter, das andere Mal eine Zeitpla-nung. Die beiden sanktionieren nicht dieselben Verbrechen, sie bestrafen nicht ein und denselben Typ von Delinquenten. Aber sie definieren jeweils einen bestimmten Straf-Stil. Zwi-schen ihnen liegt kaum ein Jahrhundert: innerhalb dieses Zeitraums wurde in Europa und in den Vereinigten Staaten die gesamte konomie der Zchtigung umgestaltet. Es ist die Zeit der groen Skandale fr die Justiz, die Zeit der unzhli-gen Reformprojekte. Neue Theorien von Gesetz und Verbre-chen; neue moralische oder politische Re~htfertigungen .des Rechts zum Strafen; Aufhebung der alten Anordnungen, Ende des Gewohnheitsrechts; Entwurf oder Abfassung mo-derner Gesetzbcher: 1769 Ruland; 1780 Preuen; 1786 Pennsylvania und Toscana; 1788 sterreich; 1791, Jahr IV, 1808 und 18 10 Frankreich. Fr die Straf justiz bricht ein neues Zeitalter an. Unter den zahlreichen nderungen sei eine hervorgehoben: das Verschwinden der Martern, d. h. der peinlichen Strafen. Heute pflegt man es geringzuschtzen - vielleicht war es zu seiner Zeit Anla allzu lauter Deklamationen; vielleicht hat man es allzu leichtfertig und emphatisch einer V ermenschli-chung zugeschrieben, die eine Analyse berflssig erscheinen lie. Und worin besteht denn eigentlich seine Bedeutung -vergleicht man es mit den groen institutionellen Transforma-tionen: mit den ausfhrlichen und allgemeingltigen Gesetz-bchern, den vereinheitlichten Verfahrensregeln, der fast all-gemeinen Zulassung von Geschworenen, der Definition der Strafe als Korrektur und jener seit dem 19. Jahrhundert stn-dig zunehmenden Tendenz, das Ausma der Strafe von den

    indiVIduellen Bestimmungen des Schuldigen abhngig zu ma-chen? Nicht mehr so unmittelbar physische Bestrafungen, eine gewisse Diskretion in der Kunst des Zufgens von Leid, ein Spiel von subtileren, geruschloseren und prunkloseren Schmerzen - verdient dies eine besondere Aufmerksamkeit wo es doch lediglich Effekt tiefergehender Umwlzungen ist? Gleichwohl ist eine Tatsache unbestreitbar: binnen weniger Jahrzehnte ist der gemarterte, zerstckelte, verstmmelte, an Gesicht oder Schulter gebrandmarkte, lebendig oder tot aus-gestellte, zum Spektakel dargebotene Krper verschwunden .. Verschwunden. ist der Krper als Hauptzielscheibe der stra-fenden Repression. Am Ende des 18. Jahrhunderts, zu Beginn des 19. Jahrhun-derts ist das dstere Fest der Strafe, trotz einigen groen letzten Aufflackerns, im Begriff zu erlschen. In dieser Trans-formation haben sich zwei Prozesse miteinander vermengt, die weder dieselbe Chronologie noch dieselben Grnde ha-ben. Auf der einen Seite das Verschwinden des Strafschau-spiels. Das Zeremoniell der Strafe tritt allmhlich ins Dunkel und ist schlielich nicht mehr als ein weiterer Akt des Verfah-rens oder der Verwaltung. Die ffentliche Abbitte ist in Frankreich zum ersten Mal im Jahre 1791 abgeschafft worden und nach einer nicht lange whrenden Wiedereinfhrung neuerlich 1830; der Pranger wird 1789 abgeschafft, in England 1837. Die ffentlichen Arbeiten, die in sterreich, in der Schweiz und in Teilen der Vereinigten Staaten wie in Pennsyl-vania auf offener Strae von Zuchthuslern verrichtet wurden - an eisernen Halsketten, in buntscheckigen Gewndern, Ei-senkugeln an den Fen, mit der Menschenmenge Drohun-gen, Beleidigungen, Verspottungen, Schlge, Zeichen von Rachsucht oder Komplizenschaft austauschend5 -, werden am Ende des 18. Jahrhunderts oder in der ersten Hlfte des 19 Jahrhunderts fast berall abgeschafft. Die Zurschaustel-lung ist in Frankreich 183 I beibehalten worden - trotz hefti-

    5 Robert Vaux, Notices, S. 45; zit. in: N. K. Teeters, They were in prison, 1937, S. 24 .

  • ger Kritiken: ekelerregende Szene sagt Rea16 ; sie wird , schlielich im ~April 1848 abgeschafft. Und die Kette, an der die Zuchthusler durch ganz Frankreich, bis Brest und Tou-Ion, zogen, wird im Jahre 1837 durch dezente schwarzbemalte Zellenwagen ersetzt. Die Bestrafung hat allmhlich aufgehrt, ein Schauspiel zu sein. Alles an ihr, was nach einem Spektakel aussah, wird nun negativ vermerkt. Als ob die Funktionen der Strafzeremonie immer weniger verstanden wrden, verdch-tigt man nun diesen Ritus, der das Verbrechen abschlo, mit diesem s.chielende Verwandtschaften zu unterhalten: ihm an Unmenschlichkeit nicht nachzustehen, ja es darin zu bertref-fen, die Zuschauer an eine Grausamkeit zu gewhnen, von der man sie fernhalten wollte, ihnen die Hufigkeit der Verbre-chen vor Augen zu fhren, den Henker einem Verbrecher gleichen zu lassen und die Richter Mrdern, im letzten Au-genblick die Rollen zu verkehren und den Hingerichteten zum Gegenstand von Mitleid oder Bewunderung zu machen. Bec-caria hatte es schon sehr frh gesagt: Wir sehen ja, da Menschen kaltbltig hingerichtet werden, obgleich der Mord als eine abscheuliche Missetat ausposaunt wird.7 Die ffent-liche Hinrichtung erscheint jetzt als der Brennpunkt, in wel-chem die Gewalt Feuer fngt. Die Bestrafung sollte also zum verborgensten Teil der Rechtssache werden, was mehrere Folgen hat: sie verlt den Bereich der alltglichen Wahrneh-mung und tritt in den des abstrakten Bewutseins ein; ihre Wirksaml\.eit erwartet man von ihrer Unausweichlichkeit, nicht von ihrer sichtbaren Intensitt; die Gewiheit, bestraft zu werden, und nicht mehr das abscheuliche Theater, soll vom Verbrechen abhalten; der Abschreckungsmechanik werden andere Rder eingesetzt. Also bernimmt die Justiz nicht mehr ffentlich jene Gewaltsamkeit, die an ihre Vollstreckung geknpft ist. Da auch sie ttet, da sie zuschlgt, ist nicht mehr die Verherrlichung ihrer Kraft, sondern ein Element an

    6 Archives parlementaires, Zweite Serie, Bd. LXXII, I. Dez. 1831. 7 Cesare de Be~caria, Dei delitti e delle pene, 176+ Hier zit. nach der deutschen bersetzung von Karl Ferd. Hommel: Des Herren Marquis von Beccaria unsterbli-ches Werk von Verbrechen und Strafen. Breslau 1778, S. 144

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    ihr, das sie hinnehmen mu, zu dem sie sich aber kaum bekennen mag. Die Elemente der Schndlichkeit werden um-verteilt: im Straf-Schauspiel verbreitete sich vom Schafott aus ein Schauer, der sowohl den Henker wie den Verurteilten umhllte - er konnte die, dem Hingerichteten angetane Schande in Mitleid oder Ruhm verkehren, wie auch die gesetz-mige Gewalt des Vollstreckers in Schndlichkeit verwan-deln. Nunmehr sind rgernis und Licht anders verteilt: die Verurteilung selbst hat den Delinquenten mit einem eindeuti-gen und negativen Zeichen zu versehen: daher die ffentlich-keit der Debatten und des Urteils; und die Vollstreckung ist gleichsam eine zustzliche Schande, welche dem Verurteilten anzutun die Justiz sich schmt; sie distanziert sich von ihr, versucht stndig, sie anderen anzuvertrauen, und zwar unter dem Siegel des Geheimnisses. Es ist hlich, straffllig zu sein - und wenig ruhmvoll, strafen zu mssen. Daher jenes zweifa-che Schutzsystem, das die Justiz zwischen sich und der von ihr auferlegten Strafe errichtet hat. Der Vollzug der Strafe wird allmhlich zu einem autonomen Sektor, welcher der Justiz von einem Verwaltungsapparat abgenommen wird; die Justiz befreit sich von diesem geheimen Unbehagen, indem sie die Strafe in Brokratie vergrbt. Charakteristischerweise un-terstand die Gefngnisverwaltung in Frankreich lange dem Innenministerium und die Verwaltung der Zuchthuser der Kontrolle der Marine oder der Kolonien. Und jenseits dieser Rollenverteilung vollzieht sich die theoretische Selbstverleug-nung: das Wesentliche der Strafe, welche die Richter auferle-gen, besteht nicht in der Bestrafung, sondern in dem Versuch zu bessern, zu erziehen, zu heilen. Eine Technik der Ver-besserung verdrngt in der Strafe die eigentliche Shne des Bsen und befreit die Behrden von dem lstigen Geschft des Zchtigens. Es gibt in der modernen Justiz und bei ihren Sachwaltern eine Scham vor dem Bestrafen, die den Eifer nicht ausschliet, die aber stndig wchst: auf dieser Wunde gedeiht der Psychologe und der kleine Funktionr der moralischen Orthopdie. Das Verschwinden der Martern ist also das Ende des Schau-

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  • spiels, es ist aber auch die Lockerung des Zugriffs auf den Krper. Rush im Jahre I787: Ich kann nur hoffen, da die Zeit nicht mehr fern ist, in der die Galgen, der Pranger, das Schafott, die Peitsche und das Rad in der Geschichte der peinlichen Strafen als Zeichen der Barbarei von Jahrhunderten und Lndern betrachtet werden und als Beweise dafr, wie schwach der Einflu der Vernunft und der Religion auf den menschlichen Geist sind.8 Und in der Tat, als sechzig Jahre spter van Meenen d~n zweiten Strafrechtskongre in Brssel erffnete, erinnerte' er an die Zeit seiner Kindheit wie an eine berwl;lndene Epoche: Ich habe gesehen, wie die Erde mit Rdern, Galgen, Prangern berst war; ich habe gesehen, wie Skelette auf den Straen scheulich verstreut waren.9 Das Brandmal wurde in England (I834) und Frankreich (I8 32 ) abgeschafft; England wagte I820 die groe Marter der Verr-ter nicht mehr in vollem Umfang durchzufhren (Thistle-woodwurde nicht gevierteilt). Nur die Peitsche blieb noch in einigen Strafsystemen (Ruland, England, Preuen). Aber ganz allgemein wurden die Strafpraktiken schamhafter. Man sollte nicht mehr an den Krper rhren - oder jedenfalls so wenig wie mglich und um in ihm etwas zu erreichen, was nicht der Krper selber ist. Zwar sind das Gefngnis, das Zuchthaus, die Zwangsarbeiten, das Aufenthaltsverbot, die Deportation, die in den Strafsystemen des I 9. Jahrhunderts so wichtig waren, durchaus physische Strafen: im Unterschied zur Geldbue zielen sie ja direkt auf den Krper. Aber die Beziehung zwischen Zchtigung und Krper ist dabei nicht dieselbe wie seinerzeit bei den peinlichen Strafen. Der Krper fungiert hier als Instrument oder Vermittler: durch Einsper-rung oder Zwangsarbeit greift man in ihn ein, um das Indivi-duum einer Freiheit zu berauben, die sowohl als ein Recht wie als ein Besitz betrachtet wird. Durch dieses Strafsystem wird der Krper in ein System von Zwang und Beraubung, von Verpflichtungen und Verboten gesteckt. Das physische Lei-8 B. Rush vor der Society for promoting political enquiries, in N. K. Teeters, The Cradle 0/ the penitentiary, 1935, S. 30. 9 Vgl. Annales de la Charite, II, 1847, S. 529-530.

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    den, der Schmerz des Krpers selbst bilden nicht mehr die wesentlichen Elemente der Strafe. Die Zchtigung ist nicht mehr eine Kunst der unertrglichen Empfindungen, sondern eine Okonomie der suspendierten Rechte. Soweit die Justiz den Krper der Verurteilten immer noch angreifen und mani-pulieren mu, tut sie es distanziert, sauber und nchtern, wobei sie ein viel hheres Ziel im Auge hat~ Aufgrund dieser neuen Zurckhaltung wird der Scharfrichter, der un-mittelbare Anatom des Leidens, von einer ganzen Armee von Technikern abgelst: Aufseher, rzte, Priester, Psychiater, Psychologen, Erzieher; allein durch ihre Gegenwart beim Verurteilten singen sie der Justiz das Loblied, dessen sie bedarf: sie garantieren ihr, da es ihrer strafenden Ttigkeit letztlich nicht um den Krper und den Schmerz geht. Man vergegenwrtige sich eines: heute mssen zum Tode Verur-teilte bis zum letzten Augenblick von einem Arzt berwacht werden, der so als Verantwortlicher fr das Wohlbefinden, als Agent des Nicht-Leidens, denen an die Seite gestellt wird, die das Leben auszulschen haben. Unmittelbar vor der Exeku-tion werden Beruhigungsinjektionen verabreicht. Utopie einer schamhaften Justiz: man nimmt das Leben und vermeidet dabei jede Empfindung; man raubt alle Rechte, ohne leiden zu machen; man erlegt Strafen auf, die von jedem Schmerz frei. sind. Der Rckgriff auf Psychopharmaka und auf diverse _ physiologische Unterbrecher liegt genau in der Richtung dieses krperlosen Strafsystems. Dieser zweifache Proze - Verschwinden des Schauspiels, Beseitigung des Schmerzes - wird von den modernen Ritualen der Hinrichtung bezeugt. Ein und dieselbe Bewegung hat alle ,europischen Gesetzgebungen - jede in ihrem eigenen Rhyth-mus - mitgerissen: gleicher Tod fr alle - ohne besondere Kennzeichnung des Verbrechens oder des gesellschaftlichen Status des Verbrechers; ein Tod, der nur einen Augenblick dauert und den keine Wut im vorhinein, vervielfltigen oder

    . am Leichnamverlngern darf - eine Hinrichtung, die eher das Leben als den Krper betrifft. Nicht mehr jene langen Proze-duren, in denen der Tod durch kalkulierte Unterbrechungen

  • verzgert und durch sukzessive Attacken vervielfltigt wurde. Nich~_)mehr jene komplizierten Kombinationen, die man zur Ttung der Knigsmrder inszenierte oder diejenige, von der zu Beginn des 18. Jahrhunderts der Autor von Hanging not Punishment enough10 trumte, und die vorsah, den Verurteil-ten auf dem Rad zu brechen, dann bis zur Ohnmacht auszu-peitschen, darauf an Ketten aufzuhngen, um ihn langsam Hungers sterben zu lassen. Nicht mehr jene Martern, bei denen der Verurteilte auf einer Schleife gezogen wurde (um zu' vermeiden, da sein Kopf auf dem Pflaster berste), bei denen der Bauch geffnet wurde und die Eingeweide hastig heraus-gerissen wurden, damit er mit seinen eigenen Augen sehen knne, wie man sie ins Feuer warf; und bei denen er schlie-lich enthauptet und sein Krper.gevierteilt wurde. Ir Die Re-duktion jener tausend Tode auf die eigentliche Hinrichtung definiert eine neue Moral des Strafaktes . Bereits im Jahre 1760 hatte man in England (fr dieHinrich-tung von Lord Ferrer) eine Erhngungsmaschine ausprobiert (ein Sockel, der unter den Fen des Verurteilten verschwand, sollte die langsamen Agonien sowie die Handgreiflichkeiten zwischen Opfer und Henker vermeiden lassen). Sie wurde vervollkommnet und schlielich im Jahre 1783 endgltig ein-gefhrt, als man den traditionellen Zug von N ewgate nach Tyburn abschaffte und nach den Gordon-Unruhenund dem Neubau des Gefngnisses die Schafotte in Newgate aufstell-te. 12 Der berhmte Artikel 3 des franzsischen Gesetzbuchs von 179 I - Jedem zum Tode Verurteilten wird der Kopf abgehauen - bedeutet dreierlei: ein gleicher Tod fr alle (Delikte der gleichen Art werden durch Strafen der gleichen Art sanktioniert, unabhngig von Rang und Status des Schul-10 Anonymer Text, verffentlicht 1701. I I Hinrichtung von Verrtern, beschrieben von W. Blackstone, Commentaire sur le Code criminel anglais, franz. bersetzung 1776, I, S. 15. Die franzsische Ausgabe sollte die Menschlichkeit der englischen Gesetzgebung im Ge'gensatz zur franzsi-schen Verordnung von 1670 zur Geltung bringen. Der Kommentator bemerkt dazu: Bei dieser als Spektakel erschreckenden Marter leidet der Schuldige weder viel noch lange. 12 V gl. eh. Hibbert, The Roots 0/ evil, 1966, S. 85 f.

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    digen, hie es bereits im Antrag Guillotins, der am 1. De-zember 1789 zum Beschlu erhoben wurde); ein einziger Tod fr jeden Verurteilten - durch einen einzigen Schlag und ohne jene langen und infolgedessen grausamen Martern, wie sie etwa der von Le Peletier abgelehnte Galgen mit sich bringt; schlielich Strafe nur fr den Verurteilten, da die Enthaup-tung, die Strafe der Vornehmen, fr die Familie des Verbre-chers die am wenigsten entehrende ist. 13 Die seit Mrz 1792 in Verwendung befindliche Guillotine ist die Maschine, die die-sen Prinzipien entspricht. Der Tod ist damit auf ein sichtbares, aber augenblickliches Ereignis reduziert. Die Berhrung zwi-schen dem Gesetz bzw. seinen Vollstreckern und dem Krper des Verbrechers dauert nur den Augenblick eines Blitzstrahls. Es gibt keine krperliche Konfrontation; der Henker hat nur mehr ein sorgfltiger Mechaniker zu sein. Di~ Erfahrung und die Vernunft beweisen, da die in der Vergangenheit bliche Methode, einem Verbrecher den Kopf abzuschlagen, zu einer grausamen Marter wird, und nicht blo das Leben auslscht, wie es das Gesetz wnscht und weshalb die Hinrichtung in einem Augenblick und mit einem Schlag erledigt sein sollte. Alle Beispiele zeigen, wie schwer es ist, das zu erreichen. Damit das Verfahren sicher ist, mu es von konstanten mecha-hischen Mitteln abhngen, deren Strke und Wirkung man bestimmen kann ... Es ist nicht schwierig, eine derartige Maschine zu konstruieren, deren Wirkung unfehlbar ist. Die Enthauptung wird, wie das neue Gesetz. es wnscht, in einem Augenblick vollzogen. Sollte dieser Apparat notwendig er-scheinen, wird er kein Aufsehen erregen und kaum bemerkt werden.14 Beinahe ohne den Krper zu berhren, lscht die Guillotine das Leben 'aus, so wie das Gefngnis die Freiheit nimmt oder eine Geldbue Besitztum. Sie soll das Gesetz weniger an einem wirklichen, schmerzempfindlichen Krper vollstrecken als vielmehr an einem juristischen Subjekt, das 13 Le Peletier de Saint-Fargeau, Archives parlementaires, Bd. XXVI, 3. Juni 1791. S. 720. 14 A. Louis, Bericht ber die Guillotine; zitiert von Saint-Edme, Dictionnaire de penalite, 1825, Bd. IV, S. 161.

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  • unter anderem das Recht auf Existenz innehat. Sie mu so abstrakt sein wie das Gesetz selber. Eine Zeitlang ist in Ft:ankreich die Nchternheit der Hinrich-tungen von Spuren der Martern bereichert worden. Die Vater-mrder - sowie die ihnen gleichgestellten Knigsmrder -wurden unter einem schwarzen Schleier zum Schafott gefhrt; , bis r 832 wurde ihnen dort die Hand abgehauen. Davon sollte nur noch der Trauerflor brigbleiben. So bei Fieschi im November r836: Er soll an den Ort der Hinrichtung gefhrt werden - bekleidet mit einem Hemd, mit bloen Fen und das Haupt von einem schwarzen Schleier verhllt; er soll auf einem Schafott stehen, whrend ein Gerichtsdiener vor dem Volk das Urteil verliest, und gleich darauf soll er hingerichtet werBen. Man mu sich anDamiens erinnern: die letzte Zutat zur Todesstrafe ist ein Trauerschleier. Der Verurteilte darf nicht mehr gesehen werden. Allein die Verlesung des Urteils auf dem Schafott kndet von einem Verbrechen, das kein Gesicht haben dart 15 Die letzte Spur der groen lviartern ist deren endgltige Aufhebung: eine Draperie, die einen Krper verbirgt. Benolt, der dreifach Ruchlose - Mrder seiner Mut-ter, Homosexueller, Mrder -, war der erste Verwandtenmr~ der, dem das Gesetz das Abhauen der Faust ersparte: Wh-rend man das Urteil verlas, stand er auf dem Schafott, gesttzt von den Scharfrichtern. Es war schauerlich, dieses SpektakeL zu sehen: eingehllt in ein weites weies Leinentuch, das Gesicht von einem Trauerflor bedeckt, entkam der Mutter- . mrder den Blicken der schweigenden Menge, und unter dieser geheimnisvollen und schauerlichen Gewandung mani-festierte sich das Leben nur noch durch schreckliches Geheul, das unter dem Messer alsbald erstarb.16 Zu Beginn des r9. Jahrhunderts geht also das groe Schauspiel

    15 Ein fr die Zeit typisches Motiv: der Verbrecher mu, da er ein Monster ist, des Lichtes beraubt werden: darf nicht sehen und nicht gesehen werden. -Fr den Vatermrclttr mte man einen Kfig aus Eisen bauen oder ein undurchdringliches Versteck graben, wo er fr ewig zurckgezogen ist. De Molene, De !'humanite des lais criminelles, 1830, S. 275-277. 16 Gazette des tribunaux, 30. August 1832.

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    der I peinlichen Strafe zu Ende; man schafft den gemarterten! Krper beiseite; man verbannt die Inszenierung des Leiden~i aus der Zchtigung. Man tritt ins Zeitalter der Strafnchternj pe'li-ein. Dieses'Verschwinden der Martern wird zwischen Ir830 und r848 endgltig. Allerdings bedarf diese globale :Rehauptung gewisser Einschrnkungen. Einmal mu bemerkt werden, da sich die Transformationen nicht berall gleich-mig und nicht in einem einheitlichen Proze vollzogen. Es gab Verzgerungen. Paradoxerweise war England recht wi-derspenstig gegenber der Abschaffung der peinlichen Stra-fen: vielleicht wegen der Modellrolle, die seinem Kriminal-recht aufgrund der Institution der Geschworenen, des ffent-lichen Verfahrens, des Respekts des Habeas Corpus zukam; und vor allem, weil es die Strenge seiner Strafgesetze whrend der groen sozialen Unruhen r780-r820 nicht mildern wollte. Lange Zeit versuchten Romilly, Mackintosh und Fowell Bux-ton vergeblich, die Vielfalt und die Schwere der vom engli-schen Gesetz vorgesehenen Strafen 'herabzusetzen - jener schauerlichen Schlchterei, wie Rossi sagte. Die Strenge des Gesetzes (die allerdings von den Geschworenen nicht immer voll durchgesetzt wurde, gerade weil sie exzessiv erschien) hat sogar zugenommen, denn Blackstone zhlte 1760 in der engli-schen Gesetzgebung r60' Kapitalverbrechen, whrend man r8r9 auf 223 kam. Dann mte man die Beschleunigungen und die Rckschlge in Rechnung stellen, die der Gesamtpro-ze zwischen r760 und r840 erfahren hat: die Reformeile in einigen Lnden-i wie sterreich, Ruland, den Vereinigten Staaten und Frankreich zur Zeit der Verfassunggebenden Versammlung und den Rckschlag in der Periode der Restau-ration in Europa und der groen sozialen Angst der Jahre r820-r848; mehr oder weniger vorbergehende Modifikatio-:-nen, die durch Gerichte oder Ausnahmegesetze herbeigefhrt wurden; die Verzerrung der wirklichen Praxis der Gerichte gegenber dem Z~stand der Gesetzgebung. All dies macht 'die Entwicklung vom r8. ins r9. Jahrhundert hinein recht unre-gelmig. Wenngleich schlielich das Wesentliche der Transformation

  • um I840 vollzogen ist und die Mechanismen der Bestrafung ihre neue Funktionsweise angenommen haben, so ist doch der Gesamtproze keineswegs abgeschlossen. Die Einschrnkung der Marter ist eine Tendenz, die in der groen Transformation der Jahre I760-I840 verwurzelt ist. Aber sie ist nicht voll-endet; die Praxis der Marter hat unser Strafsystem noch lange Zeit durchwirkt und noch heute steckt sie darin. Die Guilloti-ne, diese Maschinerie der schnellen und diskreten Tode, hatte in Frankreich eine neue Ethik des legalen Todes angekndigt, doch wurde sie von der Revolution alsbald mit einem groen theatralischen Ritual umgeben. Jahre hindurch hat sie ein Spektakel abgegeben. Man mute sie ans Stadttor Saint-J ac-ques verlegen, man mute den offenen Karren durch einen geschlossenen Wagen ersetzen, man mute den Verurteilten hastig aus dem Wagen und aufs Brett stoen und die Hinrich-tungen in aller Eile und zu ungewohnten Stunden durchfh-ren. Schlielich mute man die Guillotine innerhalb der Ge-fngnisse aufstellen und dem Zugang des Publikums entziehen (nach der Hinrichtung von Weidmann im Jahre I939), die Straen zum Gefngnis absperren, in welchem das Schafott versteckt ist und wo die Hinrichtung unter Geheimhaltung vollzogen wird (Hinrichtung von Buffet und Bontemps. im Jahre I972). Man mute den Zeugen der Szene jedes Berichten unter Androhung gerichtlicher Verfolgung verbieten, damit die Hinrichtung endlich kein Spektakel mehr sei, damit sie ein Geheimnis zwischen der Justiz und ihrem Verurteilten bleibe. So viele Vorsichtsmaregeln machen wohl einsichtig, da im Grunde die Hinrichtung auch heute noch ein Schauspiel ist, das man eben deswegen zu untersagen hat. Auch der Zugriff auf den Krper hat 'sich in der Mitte des I9. Jahrhunderts nicht vllig gelst. Zweifellos hat die Strafe seither nicht mehr die Schmerzenstechnik der Marter zum Mittelpunkt; ihr Hauptziel ist der Verlust eines Besitzes oder eines, Rechts. Aber eine Strafe wie die Zwangsarbeit oder auch das Gefngnis - die bloe Freiheitsberaubung - kam niemals ohne ein Element aus, das den Krper selbst in Mitleiden-schaft zog: Rationierung der Nahrung, Entziehung sexueller

    Mglichkeiten, Schlge, Isolierung. Handelt es sich um unge-wollte aber unvermeidliche Konsequenzen der Einsperrung ? Tatschlich verfgte das Gefngnis immer ber gezielte Ein-richtungen, die ein bestimmtes Ma an krperlichem Leiden sichern. Die Kritik, der sich der Strafvollzug in der ersten Hlfte de's I9. Jahrhunderts hufig ausgesetzt sah (das Ge-fngnis strafe zu wenig: die Hftlinge litten oft weniger unter Hunger und Klte, seien insgesamt weniger benachteiligt als die Armen oder selbst viele Arbeiter), enthlt ein Postulat, das niemals wirklich aufgehoben wurde: es ist gerecht, da ein Verurteilter physisch mehr leidet als die anderen Menschen.

    . Die Strafe lt sich kaum von dem Zusatz krperlichen Schmerzes ablsen. Was sollte eine unkrperliche Zchtigung sein? Es bleibt also ein peinlicher Rest in den modernen Mecha-nismen der Kriminaljustiz - ein Rest, der nicht ganz berwun-den wird, der aber immer mehr in ein Strafsystem des Krper-losen integriert wird.

    Die Milderung der Strafstrenge im Laufe der letzten Jahrhun-derte ist ein Phnomen, das den Rechtshistorikern wohlbe-kannt ist. Aber lange Zeit wurde es global als ein quantitatives Phnomen betrachtet: weniger Grausamkeit, weniger Leiden, mehr Milde, mehr Respekt, mehr Menschlichkeit. In Wirk-lichkeit hat sich hinter diesen Vernderungen eine Verschie-bUJ:?g im Ziel der Strafoperation vollzogen. Es handelt sich nicht so sehr um eine Intensittsmittderung als vielmehr um eine Zielnderung. Wenn sich das Strafsystem in seinen strengsten Formen nicht mehr an den Krper wendet, worauf richtet es dann seinen Zugriff? Die Antwort der Theoretiker - jener, die um I760 eine bis heute nicht abgeschlossene Periode erffnen - ist einfach, fast banal. Sie scheint in der Frage selbst enthalten zu sein. Da es nicht mehr der Krper ist, ist es die Seele. Der Shne, die dem Krper rasende Schmerzen zufgt, mu eine Strafe folgen, die in der Tiefe auf das Herz, das Denken, den Willen, die Anlagen wirkt. Ein fr allemal hat Mably das

  • Prinzip formuliert: Die Strafe soll, wenn ich so sagen darf, eher die Seele treffen als den Krper.I7 . Dies ist ein wichtiger Augenblick. Die alten Mitspieler des Straf-Festes, der Leiq und das Blut, rumen den Platz. Auf die Bhne tritt eine neue Person - verschleiert. Eine gewisse Tragdie ist zu Ende, es beginnt eine Komdie mit schatten-haften Silhouetten, gesichtslosen Stimmen, unbetastbaren We-sen. Der Apparat der Straf justiz hat es nun mit dieser krper-losen Realitt zu tun. Ist das blo eine theoretische Behauptung, die von der Straf-praxis dementiert wird? Dies zu sagen, wre voreilig. Wahr ist, da Strafe auch heute nicht einfach in der Konversion einer Seele besteht; aber der Grundsatz von Mably ist auch nicht blo ein frommer Wunsch geblieben. Seine Wirkungen lassen sich im gesamten modernen Strafsystem verfolgen. Zunchst also handelt es sich darum, da die Objekte und Ziele des Strafens andere werden. Damit ist nicht gesagt, da man sich sogleich darangemacht hat, andere Verbrechen zu lJestrafen. Zwar hat sich seit zwei Jahrhunderten viel gendert: die Definition der Gesetzesbertretungen, die Hierarchie ih-rer Schwere, die Grenzen der Duldung - der faktischen Tole-ranz und der gesetzlichen Erlaubtheit; viele Verbrechen haben aufgehrt, welche zu sein, weil sie mit einem bestimmten Vollzug religiser Autoritt oder mit einem Typ des wirt-schaftlichen Lebens verbunden waren - die Gotteslsterung hat ihren Status als Verbrechen verloren, der Schleichhandel und der husliche Diebstahl einen Teil ihrer Schwere. Aber diese Verschiebungen sind wohl nicht die wichtigste Tatsache: die Grenzziehung zwischen dem Erlaubten und dem Verbote-nen hat ber die Jahrhunderte hinweg eine gewisse Konstanz gewahrt. Hingegen ist der Gegenstand Verbrechen, da-s Objekt der Strafpraxis, tiefgehend verndert worden: die Qualitt, die Natur, die Substanz gewissermaen des Strafba-ren eher als seine formelle Abgrenzung. Die relative Stabilitt des Ges'e1tzes hat z~hlreiche subtile und rasche Ablsungen

    17 G. de Mably, De la legislation, CEuvres completes, 1789, Bd. IX, S. 326.

    verdeckt. Als Verbrechen oder Vergehen beurteilt man immer noch Rechtsgegenstnde, die vom Gesetzbuch definiert sind, ab,er gleichzeitig urteilt man ber Leidenschaften, Instinkte, Anomalien, Schwchen, Unangepatheiten, Milieu- oder Erb-schden; man bestraft Aggressionen, aber durch sie hindurch Aggressivitten; Vergewaltigungen, aber zugleich Perversio-nen; Morde, die auch Triebe und Begehren sind. Nun wird man sagen: nicht darber wird geurteilt; man zieht es heran, um die zu beurteilenden Tatsachen zu erklren und um zu bestimmen, inwieweit der Wille des Subjekts am Verbrechen beteiligt ist. Die Antwort ist ungengend, denn es sind diese Schatten hinter den Tatsachen des Verfahrens, die in Wirklich-keit beurteilt und bestraft werden. Beurteilt werden sie ver-mittels der mildernden Umstnde, die in den Wahrspruch ja nicht nur die Umstnde der Tat eintreten lassen, sondern etwas ganz anderes, rechtlich gar nicht Kodifizierbares: die Erkenntnisse und Einschtzungen betreffend den Verbrecher, das Wissen von den Beziehungen zwischen ihm, seiner Ver-gangenheit und. seinem Verbrechen, die Erwartungen von seiner Zukunft. Geurteilt wird ber jene Schatten auch durch' all die Begriffe, die seit dem I9. Jahrhundert zwischen Medi-zin und Jurisprudenz zirkulieren (die Monster der Zeit von Georget, die psychischen Anomalien der Verfgung von Chaumie, die Perversen und Unangepaten der heutigen Gutachten) und die unter dem Vorwand, eine Tat zu erklren, ein Individuum qualifizieren. Bestraft werden jene Schatten durch eine Zchtigung, die dem Delinquenten nicht nur das Verlangen sondern auch die Fhigkeit geben soll, in Respekt vor dem Gesetz zu leben und fr seine eigenen Bedrfnisse zu sorgen; bestraft werden sie durch die innere 0 konomie einer Strafe, die zwar das Verbrechen sanktionieren soll, sich aber je nach dem Verhalten des Verurteilten ndern kann (durch Abkrzung oder Verlngerung); bestraft werden sie' auch durch jene Sicherheitsmanahmen, welche die Strafe beglei-ten' (Aufenthaltsverbot, berwachte Freiheit, Gerichtsvor-mundschaft, Zwang zu medizinischer Behandlung) und wel-che nicht die Gesetzesbertretung sanktionieren sollen, son-

  • dern das Individuum kontrollieren, seinen gefhrlichen Zu-stand neutralisieren, seine verbrecherischen Anlagen vern-dern und erst nach erreichter nderung aufhren sollen. Auf die Seele des Verbrechers beruft man sich vor Gericht nicht nur zur Erklrung seines Verbrechens und zur Feststellung ihrer Verantwortlichkeit; man beruft sich auf sie mit einer solchen Emphase, mit einem solchen Bemhen um Verstnd~ nis und einem so groen wissenschaftlichen Eifer, um sie gleichzeitig mit dem Verbrechen zu verurteilen und zur Be-strafung zu bernehmen. In das gesamte Strafritual - vom Zeugenverhr bis zur U rteilsverkndung und bis zu den letzten Straffolgen - hat man einen Bereich von Gegenstnden eindringen lassen, welche die juristisch definierten und kodifi-zierten Gegenstnde ergnzen, aber auch in Frage stellen. Das psychiatrische Gutachten sowie ganz allgemei~ die Kriminal-anthropologie und der hartnckige Diskurs der Kriminologie haben hier ihre Funktionen: indem sie die Gesetzesbertre-tungen feierlich in den Bereich der wissenschaftlich erkennba-ren Gegenstnde einweisen, berechtigen sie die Mechanismen der gesetzlichen Bestrafung zum Zugriff nicht nur auf die Gesetzesbertretungen, sondern auf die Individuen - nicht nur auf das, was die Individuen getan haben, sondern auf das, was sie sind, sein werden, sein knnen. Die Seelen-Zugabe, die sich die Justiz gesichert hat, hat nur anscheinend erklrende und begrenzende Funktion; tatschlich handelt es sich um eine Annexion. Seitdem vor 150 oder 200 Jahren Europa seine neuen Strafsysteme geschaffen hat, sind die Richter Schritt fr Schritt - im Zuge einer noch weiter zurckreichenden Ent-wicklung - darangegangen, ber etwas anderes als die Verbre-chen zu richten: ber die Seele der Verbrecher. Und damit haben sie auch begonnen, etwas anderes zu tun als zu richten. Oder genauer gesagt: in das richterliche Urteilen haben sich andere Arten des Abschtzens und Beurteilens

    'eingeschlichen, die seinen Charakter wesentlich modifizieren. Seitdem das Mittelalter langsam und mhselig das groe Ver-fahren der Untersuchung aufgebaut hatte, bedeutete das Rich-ten die Feststellung der Wahrheit eines Verbrechens, die Be-

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    stimmung seines Urhebers, die Verhngung einer gesetzlichen Sanktion. Die Erkenntnis des Vergehens, die Erkenntnis des, Verantwortlichen und die Erkenntnis des Gesetzes - diese drei Bedingungen erlaubten es, ein Urteil auf Wahrheit zu grn-den. Jetzt aber ist im Urteil eine ganz andere Wahrheitsfrage enthalten. Nicht mehr blo die Frage: Ist die Tat festgestellt und handelt es sich um ein Vergehen?, sondern auch die Frage: Was ist denn eigentlich diese Tat, was ist dieses Gewaltverbrechen oder dieser Mord? Welcher Ebene oder welchem Bereich ist die Tat zuzuordnen - Wahngebilde, psychotische Reaktion, Augenblick der Verwirrung, Perversi-tt?. Nicht mehr einfach: Wer ist der Tter?, sondern: Wie kann man den Kausalproze, der zur Tat gefhrt hat, einordnen? Wo ist sein Ursprung im Tter selbst? Instinkt, Unbewutes, Milieu, Erbanlage?. Nicht mehr einfach: Wel-ches Gesetz sanktioniert dieses Vergehen?, sondern: Wel-che Manahmen sind die angemessensten? Wie lt sich die Entwicklung des Individuums voraussehen? Auf welche Weise wird es am sichersten gebessert werden knnen? Eine ganze Reihe von abschtzenden, diagnostischen, .prognosti-schen, normativen Beurteilungen des kriminellen Individuums ist in die Apparatur des Gerichtsurteils eingezogen. Eine andere Wahrheit hat die von der Justizniechanik erforderte Wahrheit durchdrungen: eine Wahrheit, die in ihrer Verwick-lung mit dieser aus der Schuld behauptung einen sonderbaren wissenschaftlich-juristischen Komplex macht. Eine dafr be-zeichnende Tatsache ist die Art, in der sich die Frage des Wahnsinns in der Strafpraxis entwickelt hat. Nach dem Straf-gesetzbuch von 1810 stellte sich diese Frage nur im Artikel 64, der feststellt, da weder ein Verbrechen noch ein Vergehen vorliegt, wenn der Tter im Augenblick der Tat im Zustand des Wahnsinns war. Die Diagnose eines Wahnsinns schlo also die Qualifizierung einer Tat als Verbrechen aus: war der Tter wahnsinnig, so wurde dadurch nicht die Schwere des Vergehens oder die Bemessung der Strafe modifiziert - das Vergehen selber verschwand. Es war also unmglich, jeman-den gleichzeitig fr schuldig und wahnsinnig zu erklren. Die

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  • Diagnose eines Wahnsinns konnte nicht ins Urteil eingehen, sondern sie unterbrach das Verfahren und hob den Zugriff der Justiz auf den Urheber der Tat auf. Nicht nur die Untersu-chung des mglicherweise Wahnsinnigen, sondern auch deren Resultate muten dem Urteilsspruch uerlich bleiben. Sehr bald haben nun die Gerichte des 19. Jahrhunderts diesen Artikel 64 mideutet. Obwohl der Oberste Gerichtshof in mehreren Urteilen daran erinnerte, da der Zustand des Wahnsinns weder zu einem Strafnachla noch zu einem Frei-spruch fhren kann, sondern nur zu einer Einstellung des Verfahrens, haben sie das Problem des Wahnsirins in ihre Urteilssprechung eingeh~n lassen. Sie haben zugelassen, da man zugleich schuldig und wahnsinnig sein kann: um so weniger schuldig allerdings, je mehr man wahnsinnig ist; auch als Schuldiger eher einzusperren und zu pflegen als zu bestra-fen; ein gefhrlicher Schuldiger aufgrund . offenkundiger Krankheit. .. Vom Standpunkt des Strafgesetzbuches aus waren das allesamt juristische Absurditten. Aber hier lag der Ausgangspunkt fr eine Entwicklung, die im Laufe der fol-genden 150 Jahre von der Rechtsprechung und von der Ge-setzgebung selbst vorangetrieben werden sollte. Bereits die Reform von r832, welche die mildernden Umstnde einfhrte, machte es mglich, da im Urteil Grade einer Krankheit und Formen eines Halbwahnsinns bercksichtigt wurden. Und die bei Geschworenengerichten allgemein bliche, gelegentlich auf die Strafkammern ausgedehnte Praxis des psychiatrischen Gutachtens fhrt dazu, da das Gerichtsurteil, obgleich es immer auf eine gesetzliche Sanktion abzielt, mehr oder weni-ger verdeckt Urteile ber Normalitt, Kausalzuordnungen, Abschtzungen mglicher Vernderungen, Voraussagen ber die Zukunft der Delinquenten enthlt. All diese Erkenntnislei-stungen bereiten ein wohlbegrndetes Urteil keineswegs blo von auen vor, vielmehr gehen sie in den Proze der Urteils-

    , findung unmittelbar ein. Anstatt da der Wahnsinn im ur-sprnglichen Sinne des Artikels 64 das Verbrechen auslscht, ist nun mit jedem Verbrechen oder Vergehen als ein legitimer Verdacht, aber auch als ein beanspruchbares Recht, die Hypo-

    these des Wahnsinns oder jedenfalls der Anomalie verbunden. Und Verurteilung oder Freispruch sind nicht mehr blo Beur-teilungen von Schuld oder Nichtschuld und legale Sanktions-entscheidungen; vielmehr enthalten sie Normalittsabscht-zungen und technische Vorschriften im Hinblick auf eine mgliche Normalisierung. Der Richter unserer Tage - ob Beamter oder Geschworener - hat nicht mehr ausschlielich zu richten. Aber er ist auch nicht mehr der einzige, der zu richten hat. Im gesamten Verlauf des Strafverfahrens und des Strafvollzugs wimmelt es von zahlreichen angeschlossenen Instanzen. Kleine Gerichtsbarkeiten und Nebenrichter haben sich um die Hauptrechtsprechung herum vervielfltigt: psychiatrische oder psychologische Sachverstndige, Beamte des Strafvoll-zugs, Erzieher, Funktionre der Justizverwaltung zerstckeln die gesetzliche Strafgewalt; zwar ist es richtig, da keiner von ihnen wirklich am Recht zu strafen teilhat; da die einen nach dem Urteils spruch nur das Recht haben, eine vom Gericht festgesetzte Strafe zu vollstrecken, und da vor allem die anderen - die Sachverstndigen - davor nicht eingeschaltet werden, um ein Urteil zu fllen, sondern um die Entscheidung der Richter zu erhellen. Sobald aber die vom Gericht festge-setzten Strafen und Sicherheitsmanahmen nicht von vornher-ein endgltig bestimmt werden, sondern im Lauf des Vollzugs modifiziert werden knnen, sobald andere als die Strafrichter entscheiden knnen, ob der Verurteilte verdient, in Halb-Freiheit oder bedingte Freiheit gesetzt zu werden, ob seine Bevormundung aufgehoben werden kann - in diesem Mo-ment werden eben doch Mechanismen der gesetzlichen Be-strafung in die Hnde dieser anderen gelegt und ihrer Ein-schtzung anheimgestellt: Nebenrichter, aber gleichwohl Richter. Der ganze Apparat, der sich seit Jahren um den Vollzug der Strafen und ihre Anpassung an die Individuen entwickelt hat, vervielfltigt die Instanzen der richterlichen Entscheidung und verlngert diese ber den Urteilsspruch hinaus. Wie weit es die psychiatrischen Sachverstndigen auch von sich weisen mgen, Richter zu sein, seit dem Rundschrei-

  • ben von 1958 haben sie auf folgende drei Fragen zu antwor-ten: Stellt' der Beschuldigte eine Gefahr dar? Kann er einer Bestrafung zugefhrt werden? Kann er geheilt oder wiederan-gepat werden? Diese Fragen haben .mt, dem Artikel 64 ebensowenig zu tun wie mit einem mglichen Wahnsinn des Tters im Augenblick der Tat. Sie betreffen nicht die Verant-wortlichkeit des Tters, sondern die Adminis~ration der Strafe, ihre Notwendigkeit, ihren Nutzen, ihre mgliche Wir-kung. Sie erlauben es, in einem kaum kodifizierten Vokabular anzugeben, ob die Heilanstalt dem Gefngnis vorzuziehen ist, ob eine kurze oder eine lange Haft vorzusehen ist, eine medizinische Behandlung oder Sicherheitsrnanahmen. Der Psychiater ist nicht Experte in Sachen Verantwortlichkeit, sondern Berater in Sachen Bestrafung. Er hat zu sagen, ob das Individuum gefhrlich ist, wie man sich davor schtzen kann, wie man es verndern kann, ob man es eher niederhalten oder heilen soll. Zu Beginn seiner Geschichte hatte das psych-iatrische Gutachten wahre Stze ber den Anteil zu formu-lieren, den die Freiheit des Tters an seiner Tat hatte. Nun-mehr hat sie eine Empfehlung zu seiner gerichtsmedizini-schen Behandlung abzugeben. Seitdem das neue Strafsystem, das durch die groen Gesetzb-cher des 18. und 19. Jahrhunderts definiert wird, in Kraft ist, hat ein globaler Proze dazu gefhrt, da die Richter ber etwas anderes als ber Verbrechen richten; da sie in ihren Urteilen etwas anderes tun, als zu richten; und da die Richtgewalt teilweise anderen Instanzen als den Strafrichtern bertragen worden ist. Die gesamte Operation des Bestrafens hat sich mit auerjuristischen Elementen und Personen aufge-laden.' Man knnte sagen, da daran nichts Ungewhnliches ist, da das Recht nun einmal ihm fremde Elemente zu absor-bieren pflegt. Aber eines ist doch merkwrdig in der moder-nen Straf justiz: auerrechtliche Elemente hat sie nicht aufge-

    co. nommen, um sie zu verrechtlichen und allmhlich in die eigentliche Strafgewalt zu integrieren, sondern um sie inner-halb der Operation des Bestrafens als nichtrechtliche Elemen-te zu belassen, um dieser Operation den Charakter der bloen

    Bestrafung zu nehmen, um dem Richter die Schmach zu ersparen, einfach nur der zu sein, der bestraft: Gewi, wir fllen ein Urteil, das von einem Verbrechen veranlat worden ist; aber fr uns ist es lediglich eine Anleitung zur Behandlung eines Kriminellen. Wir bestrafen zwar, doch wollen wir damit eine Heilung erreichen. Funktion und Rechtfertigung der

    . Kriminaljustiz liegen heute nur mehr in diesem stndigen Bezug auf etwas anderes als sie selber, in ihrer stndig erneuer-ten Integration in nichtrechtliche Systeme. Sie mu sich ihre Qualifikation immer wieder durch das Wissen besttigen las-sen. Hinter der zunehmenden Milde der Strafen lt sich also eine Verschiebung ihres Ziels beobachten - und damit auch ein neues Feld von Gegenstnden, ein neues Regime der Wahrheit und eine Reihe bislang unbekannter Rollen im Vollzug der Kriminaljustiz. Es formiert sich ein Wissen, das Techniken und wissenschaftliche Diskurse einschliet und sich mit der Praxis der Strafgewalt verflicht. Thema dieses Buches ist eine Korrelationsgeschichte der mo-dernen Seele und einer neuen Richtgewalt. Eine Genealogie des heutigen Wissenschaft/Justiz-Komplexes, in welchem die Strafgewalt ihre Sttzen, ihre Rechtfertigungen und ihre Re-geln findet, ihre Wirkungen ausweitet und ihre ungeheure Einzigartigkeit maskiert. Wie aber lt sie sich erfassen und darstellen, diese Geschichte der modernen Seele im Gerichtsurteil? Hlt man sich an die Entwicklung der Rechtsregeln und der Strafverfahren, so luft man Gefahr, die Vernderung der kollektiven Sensibilitt, den Fortschritt des Humanismus oder die Entwicklung der Hu-manwissenschaften als massive, feststehende und ursprng-liche Tatsache anzusehen. Analysiert man wie DurkheimI8 lediglich die allgemeinen gesellschaftlichen Formen, so riskiert man, als Prinzip der Strafmilderung Individualisierungspro-zesse anzusetzen, die eher zu den Wirkungen und zu den neuen Strafmechanismen neuer Machttaktiken gehren. Die vorliegende Studie hlt sich an vier allgemeine Regeln: 18 E. Durkheim, Deux lois de /'evolution penale, in: Annee sociologique, IV, 1899-1900.

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  • I. Die Analyse der Strafmechanismen soll nicht in erster Linie an deren repressiven Wirkungen als Sanktionen ausge-richtet sein, sondern sie in die Gesamtheit ihrer positiven Wirkungen, auch der zunchst marginal erscheinenden, ein-ordnen. Die Bestrafung soll demnach als eine komplexe gesell-schaftliche Funktion betrachtet werden. 2. Die Strafmethoden sollen nicht als bloe Konsequenzen aus Rechtsregeln oder Indikatoren von Gesellschaftsstrukturen analysiert werden; vielmehr als Techniken, die im allgemeine-ren Feld der brigen Gewaltverfahren ihre Eigenart haben. Die Bestrafungen sind in der Perspektive der politischen Taktik zu betrachten. 3. Die Geschichte des Strafrechts um:l die Geschichte der Humanwissenschaften sollen nicht als ~wei getrennte Linien behandelt werden, deren berschneidung sich auf die eine oder andere oder auf heide strend oder frdernd auswirkt. Vielmehr soll untersucht werden, ob es nicht eine gemeinsame Matrix gibt und ob nicht beide Geschichten in einen einzigen

    epistemologisch-juris~i"~chen Formierungsproze hineinge-hren. Die Technologie der Macht soll also als Prinzip der Vermenschlichung der Strafe wie auch der Erkenntnis des Menschen gesetzt werden. 4. Die Seele tritt auf die Bhne der Justiz, und damit wird ein ganzer Komplex wissenschaftlichen Wissens in die Gerichtspraxis einbezogen. Zu untersuchen ist, ob dies nicht dadurch bewirkt wird, da sich die Art und Weise, in welcher der Krper von den Machtverhltnissen besetzt wird, trans-formiert hat. Es soll also der Versuch unternommen werden, die Metamor-phoseder Strafmethoden von einer politischen Technologie des Krpers her zu untersuchen, aus der sich vielleicht eine ge-~ meinsame Geschichte der Machtverhltnisse und der Erkennt-

    nisbeziehungen ablesen lt. So knnte aus der Analyse der Strafmilde verstndlich werden, wie der Mensch, die Seele, das normale oder anormale Individuum zu weiteren Zielen der StrC!.fintervention neben dem Verbrechen geworden sind; und wie eine spezifische Unterwerfungs methode zur Geburt des

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    Menschen als Wissensgegenstand fr emen wissenschaftli-chen Diskurs fhren konnte. Doch erhebe ich nicht den Anspruch, der erste zu sein, d~r in dieser Richtung arbeitet. 19 Aus dem groen Buch von Rusche und Kirchheimer20 lassen sich einige wesentliche Richtlinien gewinnen. Festzuhalten ist

    "zunchst, da man sich von der Illusion lsen mu, das Strafsystem sei ~or allem (oder gar ausschlielich) eine Metho-de der Unterdrckung von Verbrechen und in dieser Funk-"tion knne es je nach den Gesellschaftsformen, den politi-schen oder religisen Systemen streng oder. nachsichtig, auf Shnung oder auf Wiedergutmachung,. auf Verfolgung von Individuen oder auf Feststellung kollektiver Verantwortlich-keiten gerichtet sein. Vielmehr sind die konkreten Strafsyste-me zu analysieren, und zwar als gesellschaftliche Erscheinun-gen, die weder durch die juristische Apparatur der Gesell-

    . schaft noch durch ihre ethischen Grundentscheidungen hin-reichend erklrt werden knnen. Sie sind in ihr Funktionsfeld einzuordnen, in welchem die Sanktioni~rung der Verbrechen nicht das einzige Element ist. Es ist zu zeigen, da die Strafmanahmen nicht einfach negative Mechanismen sind, die einschrnken, verhindern, ausschlieen, unterdrcken; sondern da sie an eine Reihe positiver und nutzbringender Effekte geknpft sind, welche sie befrdern '- in diesem Sinne kann man sagen, da die gesetzlichen Strafen zwar zur Sank-tionierung der Vergehen bestimmt sind, die Definition der Vergehen und deren Verfolgung aber wiederum dazu dienen, die Strafmechanismen in Gang zu halten. Rusche und Kirch-heimer haben in dieser Perspektive die verschiedenen Strafsy-steme mit den Produktionssystemen in Beziehung gesetzt, in

    19 Auf keinen Fall vermag ich durch Hinweise oder Zitate sichtbar zu machen, was dieses Buch G. Deleuze und seiner gemeinsamen Arbeit mit F. Guattari verdankt (Deleuze/Guattari, Anti-Odipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt 1974- Ebenso verpflichtet bin ich R. Castel (Le Psychanalysme, Paris 1973) und P. Nora. 20 G. Rusche and O. Kirchheimer, Punishment and social structures, 1939 Deut-sche Ausgabe: Sozialstruktur und Strafvollzug. Frankfurt/Kln 1974

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  • welchen sie ihre Wirkungen ausben: in einer Sklavenwirt-schaft haben die Strafmechanismen die Aufgabe, zustzliche Arbeitskraft herbeizuschaffen - und damit eine zivile Skla-verei neben der durch Krieg und Handel sichergestellten zu schaffen; mit dem Feudalzeitalter und seiner geringen Ent-wicklung von Geld und Produktion nehmen die krperlichen Zchtigungen stark zu - der Krper ist ja hufig das einzige erreichbare Gut; das Zuchthaus (Hpital generale, Spinhuis oder Rasphuis), die Zwangsarbeit, die Strafmanufaktur er-scheinen mit der Entwicklung der Tauschwirtschaft. Da je-doch das industrielle System einen freien Markt der Arbeits-kraft verlangt, geht im 19. Jahrhundert der Anteil der Zwangsarbeit innerhalb der Strafmechanismen zurck; an ihre Stelle tritt eine Internierung zum Zweck der Besserung. Zu diesen eindeutigen Zuordnungen werden sicher einige Bemer-kungen zu machen sein. Zweifellos aber lt sich ein Gedanke festhalten: da in unseren Gesellschaften die Strafsysteme in eine bestimmte politische konomie des Krpers einzuordnen sind. Selbst wenn sie auf gewaltsame oder blutige Zchtigungen verzich-ten, selbst wenn sie die ;>milden Methoden der Einsperrung oder Besserung verwenden, geht es doch immer um den Krper - um den Krper und seine Krfte, um deren Ntz-lichkeit und Gelehrigkeit, um deren Anordnung und Unter-werfung. Selbstverstndlich ist es legitim, einer Geschichte der .strafen moralische Ideen oder juristische Strukturen zugrunde zu legen. Die Frage aber ist, ob man ihr auch eine Geschichte der Krper zugrunde legen kann, da die Strafen doch nur mehr auf die geheime Seele der Strafflligen abzielen wollen. Die Historiker beschftigen sich seit lngerer Zeit mit der Geschichte des Krpers. Sie haben den Krper im Feld der

    [historischen Demographie und Pathologie studiert. Sie haben ihn als Sitz von Bedrfnissen und Gelsten, als Ort von physiologischen Prozessen und von Metabolismen, als Ziel-scheibe fr die Angriffe von Mikroben und Viren untersucht. Sie haben gezeigt, bis. zu welchem Grade die historischen Prozesse in das verwickelt waren, was als rein biologischer

    Sockel der Existenz gelten mochte und welcher Platz in der Geschichte der Gesellschaften biologischen Ereignissen wie der Ausbreitung von Bazillen oder der Verlngerung der Lebensdauer einzurumen ist. 2I Aber der Krper steht auch unmittelbar im Feld des Politischen; die Machtverhltnisse legen ihre Hand auf ihn; sie umkleiden ihn, markieren ihn, dressieren ihn, martern ihn, zwingen ihn zu Arbeiten, ver-pflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen. Diese politische Besetzung des Krpers ist mittels komplexer und wechselseitiger Beziehungen an seine konomische Nut-zung gebunden; zu einern Gutteil ist der Krper als Produk-tionskraft von Macht- und Herrschaftsbeziehungen besetzt; auf der anderen Seite ist seine Konstituierung als Arbeitskraft nur innerhalb eines Unterwerfungssystems mglich (in wel-chem das Bedrfnis auch ein sorgfltig gepflegtes, kalkuliertes und ausgenutztes politisches Instrument ist); zu einer aus-nutzbaren Kraft wird der Krper nur, wenn er sowohl pro-duktiver wie unterworfener Krper ist. Diese Unterwerfung wird aber nicht allein durch Instrumente der Gewalt oder der Ideologie erreicht; sie kann sehr wohl direkt und physisch sein, Kraft gegen Kraft ausspielen, materielle Elemente einbe-ziehen und gleichwohl auf Gewaltsamkeit verzichten; sie kann kalkuliert, organisiert, technisch durchdacht, subtil sein, we-der Waffen noch Terror gebrauchen und gleichwohl physi-scher Natur sein. Es kann also ein Wissen vorn Krper geben,-das nicht mit der Wissenschaft von seinen Funktionen identisch ist, sowie eine Meisterung seiner Krfte, die mehr ist als die Fhigkeit zu ihrer Besiegung: dieses Wissen und diese Meisterung stellen die politische konomie des Krpers dar. Gewi, diese Technologie ist diffus, in zusammenhngenden und systematischen Diskursen kaum formuliert; sie setzt sich aus Stcken und Stckchen zusammen; sie arbeitet mit dispa-raten Werkzeugen und Verfahren; trotz der Kohrenz ihrer Resultate ist sie hufig ein vielgestaltiger Proze. Man kann sie auch weder in bestimmten Institutionen noch im Staatsappa-

    2I Vgl. E. Le Roy-Ladurie, L'histoire immobile, in: Annales, mai-juin I974

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  • rat festmachen. Diese greifen auf sie zurck; sie bentzen, frdern der erzwingen ihre Przeduren. Aber sie selbst mitsamt ihren Mechanismen und Wirkungen liegt auf einer anderen Ebene. Es handelt sich gewissermaen um eine Mi-krphysik der Macht, die vn den Apparaten und Instituti-nen eingesetzt wird; ihre Wirksamkeit liegt aber szusagen zwischen diesen gren Funktinseinheiten und den Krpern mit ihrer Materialitt und ihren Krften. Das Studium dieser Mikrphysik setzt nUn vraus, da die darin sich entfaltende Macht nicht als Eigentum, sndern als Strategie aufgefat wird, da ihre Herrschaftswirkungen nicht einer Aneignung zugeschrieben werden, sndern Dispsi-tinen, Manvern, Techniken, Funktinsweisen; da in ihr ein Netz vn stndig gespannten und ttigen Beziehungen entziffert wird anstatt eines fes.tgehaltenen Privilegs; da ihr als Mdell die immerwhrende Schlacht zugrunde gelegt wird und nicht der Vertrag ber die Abtretung eines Gebietes der die Erberung, die sich eines slchen bemchtigt. Diese Macht ist nicht so. sehr etwas, was jemand besitzt, sndern vielmehr etwas, was sich entfaltet; nicht so. sehr das erwrbene der bewahrte Privileg der herrschenden Klasse, sndern viel-mehr die Gesamtwirkung ihrer strategischen Psitionen - eine Wirkung, welche durch die Psitin der Beherrschten ffen-bart und gelegentlich erneuert wird. Anderseits richtet sich diese Macht nicht einfach als Verpflichtung der Verbt an diejenigen, welche sie nicht haben; sie sind ja vn der Macht eingesetzt, die Macht verluft ber sie und durch sie hindurch; sie sttzt sich auf sie, ebenso. wie diese sich in ihrem Kampf gegen sie darauf sttzen, da sie vn der Macht durchdrungen sind. Diese Beziehungen reichen nmlich tief in die Gesell-schaft hinein und reduzieren sich nicht auf das Verhltnis des Staates zu den Brgern der auf die Schranke zwischen den Klassen; sie beschrnken sich nicht darauf, auf der Ebene der Individuen, der Krper, der Gesten und der Verhalt;ensweisen die allgemeine Frm des Gesetzes der der Herrschaft zu reprduzieren. Zwar besteht ein Zusammenhang, zwischen ihnen (denn sie sind durch zahlreiche kmplexe .Rderwerke

    an Gesetz und Herrschaft angeschlssen), dch handelt es sich nicht um einen Zusammenhang analger der hmlger Art, sndern um einen Zusammenhang je spezifischer Mechanis-men und Verfahren. Die Beziehungen sind keine eindeutigen Relatinen, vielmehr definieren sie zahllse Knfrntatirts-punkte und Unruheherde, in denen Knflikte, Kmpfe und zumindest vrbergehende Umkehrung der Machtverhltnis-se drhen. Die Umwlzung dieser Mikrmchte gehrcht nicht dem Gesetz des Alles der Nichts. Sie wird nicht ein fr allemal durch eine neue Kntrlle ber die Apparate erreicht, ebenswenig wie durch eine Erneuerung der Zerstrung der Institutinen; vielmehr besteht sie aus einzelnen Episden, die jeweils in ihr Geschichtsnetz verflchten sind.

    Man mu whl auch einer Denktraditin entsagen, die vn der Vrstellung geleitet ist, da es Wissen nur drt geben kann, wo. die Machtverhltnisse suspendiert sind, da das Wissen sich nur auerhalb der Befehle, Anfrderungen, Inter-essen der Macht entfalten kann. Vielleicht mu man dem Glauben entsagen, da die Macht wahnsinnig macht und da man nur unter Verzicht auf die Macht ein Wissender werden kann. Eher ist whl anzunehmen, da die Macht Wissen hervrbringt (und nicht bl frdert, anwendet, ausnutzt); da Macht und Wissen einander unmittelbar einschlie~n; da es keine Machtbeziehung gibt, hne da sich ein entsprechen-des Wlssensfeld knstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen vraussetzt und knstituiert. Diese Macht/Wissen-Beziehungen sind darum nicht vn ei-nem Erkenntnissubjekt aus zu analysieren, das gegenber dem Machtsystem frei der unfrei ist. Vielmehr ist in Betracht zu ziehen, da das erkennende Subjekt, das zu erkennende Ob-jekt und die Erkenntnisweisen jeweils Effekte jener funda-mentalen Macht/Wissen-Kmplexe und ihrer histrischen Transformatinen bilden. Es ist also. nicht so., da die Aktivi-tt des Erkenntnissubjekts ein fr die Macht ntzliches der gefhrliches Wissen hervrbringt; sndern die Frmen und Bereiche der Erkenntnis werden vm Kmplex Macht/Wis-

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  • sen, von den ihn durchdringenden und konstituierenden Pro-zessen und Kmpfen bestimmt. Analysiert ma? die politische Besetzung des Krpers und die Mikrophysik der Macht, so mu man im Hinblick auf die Macht den Gegensatz Gewalt/Ideologie, die Metapher des .Eigentums, das Modell des Vertrags sowie das der Eroberung fallenlassen ; im Hinblick auf das Wissen ist der Gegensatz zwischen dem interessierten und dem desinteressierten ebenso aufzugeben wie das Modell der Erkenntnis und der Primat des Subjekts. Man knnte an eine politische Anato-mie denken, sofern man dem Wort einen anderen Sinn gibt als im I7. Jahrhundert Petty und seine Zeitgenossen. Gemeint wre damit nicht die Analyse eines Staates als Krper (mit seinen Elementen, Energiequellen, Krften), aber auch nicht die Analyse des Krpers und seiner Umgebung als kleiner Staat. Zu behandeln wre der politische Krper als Ge-samtheit der materiellen Elemente und Techniken, welche als Waffen, Schaltstationen, Verbindungswege und Sttzpunkte den Macht- und Wissensbeziehungen dienen, welche die menschlichen Krper besetzen und unterwerfen, indem sie aus ihnen Wissensobjekte machen. Die Bestrafungstechniken - ob sie sich im Ritual der Martern des Krpers bemchtigen oder sich an die Seele wenden - sind in die Geschichte dieses politischen Krpers einzuordnen. Die Strafpraktiken sind weniger als eine Folge von Rechtstheorien zu betrachten denn als ein Kapitel der politischen Ana-tomie. Kantorowicz22 hat dem Krper des Knigs eine bemerkens-werte Untersuchung gewidmet: nach der Rechtstheologie des Mittelalters handelt es sich um einen zweifachen Krper, da er auer dem vergnglichen Element, welches geboren wird und stirbt, eines enthlt, welches ber die Zeit hinweg dauert und sich als der physische und gleichwohl unberhrbare Trger des Knigtums erhlt; um diese Zweiheit herum, die ur-sprnglich dem christologischen Modell nahestand, organisie-22 Ernst H. Kantorowicz, The King's two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957.

    ren sich eine Ikonographie, eine politische Theorie der Mon-archie, Rechtsmechanismen, welche die Person des Knigs und die Erfordernisse der Krone zugleich trennen und verbin-den, sowie ein Ritual, das in der Krnung, im Leichenbegng-nis und in den Unterwerfungszeremonien seine strksten Au-genblicke findet. Am Gegenpol knnte man sich den Krper des Verurteilten vorstellen. Auch er hat seinen rechtlichen Status; auch ihm sind ein Zeremoniell und ein theoretischer Diskurs zugeordnet; aber dieser Diskurs begrndet nicht das Machtplus, das die Person des Souverns auszeichnet, son-derndas Machtminus, das die Strafflligen kennzeichnet. In der dstersten Region des Politischen bildet der Verurteilte die Gegengestalt des Knigs. Zu untersuchen wre, was man Kantorowicz zu Ehren den geringsten Krper des Verurteil-ten nennen knnte. Das Mehr an Macht auf seiten des Knigs fhrt zur Verdoppe-lung seines Krpers - hat nicht die bermacht, die sich am unterworfenen Krper des Verurteilten auslt, eine andere

    . Verdoppelung hervorgerufen? Die Verdoppelung durch ein Unkrperliches - eine Seele, wie Mably sagte. Die Ge-schichte dieser Mikrophysik der Strafgewalt wre also eine Genealogie oder ein Stck der Genealogie der modernen Seele. In dieser Seele wre also nicht ein wiederbelebtes Relikt einer Ideologie zu erblicken, sondern der aktuelle Bezugspunkt einer bestimmten Technologie der Macht ber den Krper. Man sage nicht, die Seele sei eine Illusion oder ein ideologischer Begriff. Sie existiert, sie hat eine Wirklichkeit, sie wird stndig produziert - um den Krper, am Krper, im Krper - durch Machtausbung an jene]), die man bestraft, und in einem allgemeineren Sinn an jenen, die man berwacht, dressiert und korrigiert, an den Wahnsinnigen, den Kindern, den Schlern, den Kolonisierten, an denen, die man an einen Produktionsapparat bindet und ein Leben lang kontrolliert. Historische Wirklichkeit dieser Seele, die im Unterschied zu der von der christlichen Theologie vorgestellten Seele nicht schuldbeladen und strafwrdig geboren wird, sondern aus Prozeduren der Bestrafung, der berwachung, der Zchti-

  • gung, des Zwangs geboren wird. Diese wirkliche und unkr-perliche Seele ist keine Substanz; sie ist das Element, in welchem sich die Wirkungen einer bestimmten Macht und der Gegenstandsbezug eines Wissens miteinander verschrnken; sie ist das Zahnradgetriebe, mittels dessen die Machtbeziehun-gen ein Wissen ermglichen und das Wissen die Machtwir-kungen erneuert und verstrkt. ber dieser Verzahnung von Machtwirklichkeit und Wissensgegenstand hat man verschie-dene Begriffe und Ufltersuchungsbereiche konstruiert: Psy-che, Subjektivitt, Persnlichkeit, Bewutsein, Gewissen usw.; man hat darauf wissenschaftliche Techniken und Dis-kurse erbaut; man hat darauf die moralischen Ansprche des Humanismus gegrndet. Doch tusche man sich nicht: man hat an die Stelle der Seele, der Illusion der Theologen, nicht einen wirklichen Menschen, einen Gegenstand des Wissens, der philosophischen Reflexion oder technischen Intervention, gesetzt. Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einldt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine Seele wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stck der Herrschaft ist, welche die Macht ber den Krper ausbt. Die Seele : Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefngnis des Krpers.

    Da die Bestrafungen und im besonderen das Gefngnis zu einer politischen Technologie des Krpers gehren, habe ich vielleicht weniger von der Geschichte als von der Gegenwart gelernt. Im Laufe der letzten Jahre haben sich in verschiede-nen Teilen der Erde Gefngnisrevolten abgespielt. Ihre Ziele, ihre Forderungen, ihr Ablauf hatten gewi etwas Paradoxes. Es waren Revolten gegen ein physisches Elend, das seit ber einem Jahrhundert andauert: gegen die Klte, gegen das Er-

    (sticken, gegen die Uberfllung, gegen die alten abg~nutzten Mauern, gegen den Hunger, gegen die Schlge. ~s waren aber auch Revolten gegen die Mustergefngnisse, gegen die Tran-quilizers, gegen die Isolierung, gegen die medizinische oder pdagogische Betreuung. Hatten die Revolten nur materielle

    Ziele? Waren die Revolten widersprchlich: gegen das Elend -aber auch gegen den Komfort, gegen die Aufseher - aber auch gegen die Psychiater? Tatschlich ging es um die Krper und um materielle Dinge in all diesen Bewegungen, ebenso wie in den zahllosen Diskursen, die das Gefngnis seit dem Beginn des I9. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Wovon diese Dis-kurse und diese Revolten, diese Erinnerungen und diese Schmhungen gelebt haben, waren gewi diese kleinen, diese winzigen Materialitten. Man mag darin nur blinde Forder~ngen oder von auen gelenkte Strategien sehen. In Wirklichkeit handelte es sich um eine Revolte auf der Ebene der Krper gegen den Krper des Gefngnisses. Letztlich ging es nicht um den allzu veralteten oder allzu aseptischen, allzu kargen oder allzu perfektionierten Rahmen des Gefngnisses,. sondern um seine Materialitt als Machtwerkzeug und -trger; um jene ganze Technologie der Macht ber den Krper, die von der Technologie der Seele - derjenigen der Erzieher, Psycholo-gen und Psychiater - weder maskiert noch kompensiert wer-den kann, da sie ja nur eines ihrer Instrumente ist. Die Geschichte dieses Gefngnisses mit all den politischen Beset-zungen des Krpers, die es in seiner geschlossenen Architek-tur versammelt, mchte ich schreiben. Werden hier nicht die Zeiten zu einem Anachronismus verquickt? Nun, ich habe nicht vor, die Geschichte der Vergangenheit in die Begriffe der Gegenwart zu fassen. Wohl aber ist es meine Absicht, die Geschichte der Gegenwart zu schreiben.23

    23 Ich werde die Geburt des Gefngnisses nur innerhalb des franzsischen Strafsy~ sterns untersuchen. Die Unterschiede in den historischen Entwicklungen und in den Institutionen lassen eine umfassende und detaillierte Darstellung kaum zu; unter Verzicht auf die Details aber wrde eine Rekonstruktion des Gesamtphnomens allzu schematisch werden.