30
Ulrich Mückenberger · Siegfried Timpf (Hrsg.) Zukünfte der europäischen Stadt

Ulrich Mückenberger · Siegfried Timpf (Hrsg.) Zukünfte …download.e-bookshelf.de/download/0000/0165/99/L-G-0000016599... · Zeitpolitik als Bedingung der Zukunftsfähigkeit der

  • Upload
    hahuong

  • View
    214

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Ulrich Mückenberger · Siegfried Timpf (Hrsg.)

Zukünfte der europäischen Stadt

Ulrich MückenbergerSiegfried Timpf (Hrsg.)

Zukünfte dereuropäischen StadtErgebnisse einer Enquete zur Entwicklung und Gestaltung urbaner Zeiten

.

.

1. Auflage August 2007

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007

Lektorat: Monika Mülhausen / Bettina Endres

Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesonderefür Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesemWerk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solcheNamen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachtenwären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., MeppelGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in the Netherlands

ISBN 978-3-531-15500-5

Bibliografische Information Der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhaltsverzeichnis 5

InhaltsverzeichnisInhaltsverzeichnis

Ulrich Mückenberger/Siegfried Timpf Zeitpolitik als Bedingung der Zukunftsfähigkeit der europäischen Stadt.................... 7

I Verhältnis von urbanen Räumen und Zeiten

Marco Venturi Innovationslose Städte? ..................................................................................................... 25

Guido Martinotti Space, Technologies and Populations in the New Metropolis .................................... 37

Thomas A. Horan Technology, Time and Urban Space: Implications for Recombinant Designof Digital Places and Networks........................................................................................ 53

II Akteure, Zeiten und Urbanität

Andrew Arato und Jean L. Cohen Die Zivilgesellschaft und die postmoderne Stadt: Das Überdenken unserer Kategorien im Kontext der Globalisierung.................................................................... 75

Dietrich Henckel Bedeutung der Zeitpolitik für die Zukunft der Ökonomie........................................ 119

Karin Jurczyk „Geschlechterverhältnisse und Alltagsarrangements –Neue Konturen der Teilung von Zeit und Arbeit“..................................................... 159

Hans Bertram Differenzierung, Pluralisierung, Individualisierung und Netzwerke – Soziale Beziehungen, Solidarität und neue Zeitlichkeit............................................................ 215

6 Inhaltsverzeichnis

Ilse Helbrecht Urbane Zeitpolitik – Der Zusammenhalt der Zeiten in der Stadt ............................ 233

III Mobilität in der Stadt der Zukunft

Hartmut H. Topp Szenarien zur Entwicklung von Mobilität und Verkehr............................................. 251

Christine Bauhardt Städtische Lebensqualität im Spannungsfeld von sozialer Gerechtigkeitund Fürsorgeverantwortung – Szenarien für geschlechtergerechte Mobilitätschancen............................................................................................................. 281

Felizitas Romeiß-Stracke Städtetourismus in Gegenwart und Zukunft................................................................ 299

Literaturverzeichnis ...................................................................................................... 313

Autorinnen und Autoren.............................................................................................. 335

Zeitpolitik als Bedingung der Zukunftsfähigkeit der europäischen Stadt 7

Zeitpolitik als Bedingung der Zukunftsfähigkeit der europäischen Stadt

Ulrich Mückenberger/Siegfried Timpf

Die Stadt der Zukunft kann soziale Integration immer weniger als gegeben voraus-setzen, sondern sie muss sie durch bewusste Gestaltung herstellen. Welcher Orien-tierung folgt eine ‚integrierte Stadt‘? Das Projekt Bremen 2030 hat an der von John Lockwood eingeführten und von Jürgen Habermas fortentwickelten Konzeptuali-sierung der Dichotomie von ‚Systemintegration und Sozialintegration‘ (dazu theore-tisch-geschichtlich Mückenberger 2004, S. 153-208) angesetzt und praktische Schlussfolgerungen gezogen. Eine moderne städtische Gesellschaft wird sich kaum allein über politisch-administrative Willensbildung oder über ökonomische Wohl-standssteigerung, also über Maßnahmen der Systemintegration, ‚integrieren‘ können; sie bedarf auch kommunikativer und diskursiver Formen der Einbeziehung und Verständigung der Bürger/-innen, die über Sozialintegration erzielt wird.

Die in Bremen angestoßenen Projekte zielen deshalb durchweg kommunikati-ve und diskursive Gestaltungsvorhaben unter Beteiligung von Wirtschaft, Poli-tik/Verwaltung und Zivilgesellschaft an. Schon die Schwerpunktsetzung des Ge-samtvorhabens – urbane Zeitgestaltung – bezeichnet als städtischen Integrationstyp eine Schnittstelle zwischen Sozial- und Systemintegration: Ist doch die Zeitkategorie gleichermaßen für ökonomische und politische wie für lebensweltliche Geschehnis-se unter Interaktionen bestimmend – und bedarf sie doch in ihrer praktischen Aus-gestaltung der Beteiligung derer, deren Lebenszeit jeweils verhandelt wird.

Unbestritten sind die Desintegrationskräfte, die auch in Europa das städtische Geschehen heute schon bestimmen und in Zukunft noch mehr bestimmen werden. Die Weltkommission ‚Urban 21‘ hat sie in ihrem Bericht (BMVBW, 2000) zusam-mengefasst. Für den dort gebildeten Typ der „von Überalterung geprägte(n) ausge-wachsene(n) Stadt“ (BMVBW, 12) lassen sie sich wie folgt umreißen. Die demogra-phische und soziale Entwicklung ist geprägt von einer alternden, insgesamt zurückgehenden, zunehmend individualisierten Bevölkerung – damit gehen Krisen und ‚Rückbauten‘ der sozialen Sicherungssysteme einher. Zunehmend zu verzeich-nen sind disperse Siedlungs-, Gewerbe-, Logistik- und Handelsstrukturen. Sie gehen zu Lasten der Zentren und Subzentren (wirtschaftlich, sozial und kulturell) und ziehen eine Zunahme von Bodenversiegelung und Individualverkehr (mit den be-kannten ökologischen Folgen) in der Region nach sich. Die damit einhergehenden

8 Ulrich Mückenberger/Siegfried Timpf

sozialen Segregations-, Polarisierungs- und Zersetzungsprozesse (Armut, Drogen, Kriminalität) bedrohen das überkommene Bild der ‚integrierten‘ europäischen Stadt. Von der globalisierten und virtualisierten Wirtschaft gehen Beschleunigungstenden-zen aus, die das Arbeitsleben, das Verkehrswesen, aber auch Freizeit und Familien-wesen erfassen. Diese Trendbeschreibungen stellen Extrapolationen gegenwärtiger Trends dar. Sie treten nicht automatisch und alternativlos ein. Sie können durch adäquate Politik – auch der Städte, Stadtstaaten und Regionen – gebremst, nachhal-tig gestaltet oder auch verhindert werden (so auch die Gegenüberstellung von ‚Trend‘ und ‚Trendumkehr‘ im Weltbericht Urban 21). Die Städte in Europa befin-den sich fast ausnahmslos in der Situation, sich zu diesen Trends zu verhalten und entweder Gegentrends zu konzipieren und einzuleiten oder sich auf das als ‚unver-meidbar‘ Erkannte einzurichten.

Der zeitpolitische Ansatz geht von einem Mechanismus sozialer Kohäsion aus, bei dem den Menschen – und gerade Stadtnutzer/-innen – ein Recht auf selbstbe-stimmte individuelle und kollektive Zeiten zuerkannt wird. Dieses Recht schließt Diskriminierungsfreiheit und eigen gewählte individuelle und kollektive Sinnstiftung im alltäglichen Zeitgebrauch ein (Mückenberger 2004). Der Einbindung der Einzel-nen in die lokale Gesellschaft wird durch lokale Zeitpakte und -gestaltungen Rech-nung getragen, die das Recht auf Zeit anerkennen, es in Beteiligungs- und Abstim-mungsprozesse mit parallelen oder kollidierenden Zeitinteressen bringen und so in eine lokale Zeitpolitik einbetten.

Für die Stadtplanung bedeutet es eine Wende, dem Recht auf Zeit zu folgen. Dass es sich lohnte, diese Wende zu vollziehen, sei an wenigen Argumenten de-monstriert. Das Projekt Bremen 2030 hat für seine Leitvisionsentwicklung eine internationale Enquête-Kommission gebildet und zur Erstellung von Expertisen über die derzeit vorstellbaren Zukünfte städtischen Lebens aufgefordert. Zu den Expert/-innen zählten die Stadtforscher/-in Marco Venturi, Ilse Helbrecht und Dietrich Henckel, der Stadtsoziologe Guido Martinotti, die Tourismusforscherin Felicitas Romeiß-Stracke, der Kommunikationsforscher Thomas Horan, die Mobili-tätsforscher/-in Hartmut Topp und Christine Bauhardt, die Familien-, Alltags- und Geschlechterforscher/-in Hans Bertram und Karin Jurczyk sowie die Zivilgesell-schaftsforscher/-in Andrew Arato und Jean Cohen. Die übergreifenden Grundli-nien solcher vorstellbarer Zukünfte können wie folgt charakterisiert werden.

Zukünfte sind Möglichkeitsräume. Es gibt Prognosen, die aussagen, was wir über absehbare Entwicklungen wissen und was nicht. Oft stehen wir vor Entwick-lungstendenzen, die nicht eindeutig zu bewerten sind, und solchen, die noch beein-flussbar erscheinen. Für eine Leitvision ist gerade eine solche Offenheit für unter-schiedliche Deutungen interessant. Sie sollte beides: die Tendenzen aufspüren, die sich abzeichnen – aber auch Handlungsspielräume ausfindig machen, die für Alter-nativen und Gestaltungen offen sind. Die Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft stellt die Städte in den kommenden Jahrzehnten vor deutlich veränderte Rahmen-

Zeitpolitik als Bedingung der Zukunftsfähigkeit der europäischen Stadt 9

bedingungen, die sich auf die Alltagszeiten von deren Bewohnern und Nutzern spürbar auswirken werden. Sie können (in der vergleichenden Systematik von Car-noy 2002 und Castells 2001, 2002 und 2003) stark vereinfacht auf die Felder Er-werbsarbeit, Familie und lokale Gemeinschaft bezogen dargestellt werden. Zwar geht nicht Erwerbsarbeit zurück. Aber Wirtschaft und Arbeit verändern grundle-gend ihren Charakter. Sie werden räumlich und zeitlich ‚entgrenzt‘ (ent-betrieblicht), flexibilisiert und zum Teil prekarisiert. Wissen und ‚Lernen-Lernen‘, ‚Wissen ver-markten können‘ werden für Individuen – Männer wie Frauen, Familien, aber auch Kinder – überlebenswichtig. Lebenszyklen verlieren dadurch ihre traditionellen Rhythmen und beschleunigen sich, Phasen der Beständigkeit und Ruhe werden zur Ausnahme. Das an Wissen geknüpfte Risiko, ‚abgehängt zu werden‘, bedroht die Gesellschaft mit sozialen Spaltungen. In stadtstruktureller Perspektive besteht das Risiko, ‚abgehänhgt zu werden‘, in sozialen und räumlichen ‚Entmischungen‘ der Wohnbevölkerung durch Suburbanisierung usw. Damit sind auch – nicht nur – Probleme sozialer Gerechtigkeit verbunden. Die Veränderungen in der alltäglichen Lebensführung enthalten zwar auch die Chance größerer Freiheit und Selbständig-keit – Freiheit sowohl der Individuen und Gruppen als auch zwischen den Ge-schlechtern und Generationen. Aber mit der Flexibilisierung, Beschleunigung und zum Teil Bedrohung der Lebensverhältnisse dürfen die Individuen und Familien nicht alleingelassen werden. Sonst ist für sie der Traditionsverlust des Alltags gleichbedeutend mit stetigem Stress und fortwährender Fremdbestimmung. Was als Entgrenzung und Flexibilisierung von Arbeit durchaus bedrohliche Folgen anneh-men kann, stellt sich in anderer Perspektive als ein Prozess dar, in dessen Verlauf der vorherrschende, das gesamte sonstige Leben bestimmende Charakter von Ar-beit zurückgedrängt wird. Technische und organisatorische Veränderungen in den Unternehmen eröffnen zudem fallweise wachsende Spielräume für die Einbringung und Durchsetzung von individuellen Ansprüchen an das Unternehmen. Wenn also die lebensweltlichen Ansprüche an die Arbeit (z. B. auf demokratische Teilhabe, auf individuelle Entfaltung, auf familiengerechte Zeitgestaltung etc.) wichtiger und durchsetzungsfähiger werden, dann wird erst recht die Vereinbarkeit von Arbeit mit den anderen Lebensbereichen zum Gestaltungsgegenstand.

Die Familien und Haushalte stehen schon heute vor einer paradoxen Situation. Ihnen wird angesichts einer flexibilisierten und individualisierten Lebens- und Ar-beitswelt mehr Arbeit an der Herstellung des sozialen Zusammenhalts zugewiesen (als Rückhalt für den ‚flexiblen Menschen‘, als ‚Puffer‘ für bedrohte berufliche La-gen, als verlängerte Lern- und Arbeitsstätte). Zugleich schwindet aber aufgrund derselben Bedingungen ihre Bindekraft weiter (verändertes Geschlechterverhältnis, erhöhte Scheidungsquoten, erhöhte Mobilität, Geburtenrückgang der inländischen Bevölkerung, veränderte Haushaltsformen, Alterung der Bevölkerung etc.). Der zu erwartende zahlenmäßige Rückgang und die gleichzeitig eintretende Alterung der Bevölkerung lassen völlig neuartige Alltags-, Kommunikations-, Zeit- und Solidari-

10 Ulrich Mückenberger/Siegfried Timpf

tätsvorkehrungen erwarten. Dies bedeutet, dass die individuelle Organisation des Alltags zu einem zeitlichen Balanceakt wird, dass eine ‚Einheit des Alltages‘ kaum mehr erfahrbar wird.

Vieles spricht dafür, dass diese Schwierigkeiten in der Situation der Familien künftig eher noch zunehmen werden. Eine kulturelle Entmischung – angesichts von, den Bevölkerungsrückgang kompensierenden Einwanderungswellen – könnte die Folge sein und die soziale Bindekraft bedrohen. Die Tendenz zur Entstädterung lässt eine Re-Traditionalisierung im Geschlechterverhältnis befürchten. Die geringere Leistungskraft der Städte bedroht die Entfaltung der Entwicklungsbedingungen von Kindern. Was mit Alldem auch auf dem Spiel steht, sind die Solidaritäts- und Integ-rationsgrundlagen der Gesellschaft selbst. Wenn diese immer wieder überfordert werden, versiegen ihre Quellen. Darunter leiden nicht nur der soziale Zusammenhalt, sondern auch die wirtschaftliche Leistungskraft und die politische Integration.

Aber auch diese Entwicklung ist mehrdeutig und keineswegs ohne Alternati-ven. Gewiss ist die Familie in ihrer traditionellen Form von der dargestellten Über-lastung bedroht. Individualisierung bedeutet aber nicht nur das zahlenmäßige Schrumpfen traditioneller Sozialformen und die Lockerung ehemals fester, lebens-langer sozialer Bindungen. Die andere Seite dieser Medaille sind eine Entlastung von den damit einhergehenden Verpflichtungen und die Möglichkeit, neue, selbst-gewählte und flexiblere Formen von Gemeinschaft und Verbindlichkeit zu suchen und einzugehen. Mit neuen oder in ihrer Bedeutung wachsenden Formen von Ge-meinschaften (‚Patchwork-Familien‘, Nachbarschaften, milieuspezifische Unterstüt-zungsnetzwerke etc.) entstehen auch neue Chancen für die Förderung von sozialem Zusammenhalt und Integration. Die Forcierung von Zeitpolitik setzt bewusst an diesen Chancen an und ist einer der Wege, auf denen sie für die städtische Entwick-lung zu nutzen sind.

Aus beiden Verwerfungen – der Flexibilisierung der Arbeits- und der Individu-alisierung und Pluralisierung der Lebenswelten – erwachsen neue Anforderungen und Erwartungen gegenüber der staatlichen (kommunalen, nationalen, aber auch übernationalen) Gemeinschaft. Diese befindet sich aber selbst in zu schwieriger Lage, als dass von ihr ohne weiteres Zutun Abhilfe für die Verwerfungen von Ar-beit und Familie zu erwarten wäre.

Die lokalen Gemeinschaften verstärken oder wiederholen nämlich zuweilen diese Verwerfungen. Informelle Netze, die auf Familie oder Nachbarschaft beru-hen, verlieren oft ihre Kraft oder lösen sich auf. Die Kommunen geraten als räumli-che Einheiten durch Entstädterung in Gefahr. Sie verlieren Einwohner, nicht unbe-dingt ‚Nutzer‘ – für die Analyse städtischer Alltags- und Zeitstrukturen erscheint es immer wichtiger, zwischen ansässigen (Einwohner) und zeitweiligen Bevölkerungen der Städte (Pendler/-innen, Tourist/-innen, ‚city user‘) zu unterscheiden. Gerade unter dem Eindruck des zunehmenden Gewichts zeitweiliger Stadtbevölkerungen wächst aber auch die Konkurrenz zwischen urbanen Arbeits-, Wohn- und Freizei-

Zeitpolitik als Bedingung der Zukunftsfähigkeit der europäischen Stadt 11

tattraktoren. Durch allseitige Kommerzialisierung geraten sie unter erhöhten Beschleunigungs- und (Individual-) Verkehrsdruck und werden dadurch noch unatt-raktiver. Die Schere zwischen Aufgaben und Ausgaben (hier) der Kommunen öff-net sich weiter. Dazu tragen paradoxerweise die beiden oben genannten Verwerfun-gen bei sowie die Krise der Kommunen und des Steuerstaats. Vielfach stellt die Finanznot der Kommunen auch noch deren Identität (und damit die Identifizierung ihrer Bewohner) in Frage – eine heute geradezu verheerende Folge.

Die drei geschilderten Tendenzen werden von Analytikern der ‚Informations-gesellschaft‘ (Castells 2001) mit dem Vordringen neuer Informations- und Kom-munikationstechnologien in enge Verbindung gebracht. Es scheint, als hängen der radikale Wandel des Arbeitslebens ebenso wie bestimmte Auflösungstendenzen traditioneller Familienstrukturen oder Tendenzen der Entstädterung damit zusam-men, dass an die Stelle ‚realer‘ Beziehungen, Kommunikationen und Aushandlungs-prozesse in unvorstellbar großem Maße ‚virtuelle‘ treten – und in Zukunft noch mehr treten werden.

Für den zeitpolitischen Zugang ist auch hier eine Doppeldeutigkeit zu ver-zeichnen: Das Informationszeitalter schafft neue ungeahnte zeitliche Probleme in der Bewältigung des Alltags – es schafft aber auch ungeahnte Lösungschancen für diese Probleme. Deshalb verdienen die neuen Informations- und Kommunikations-technologien bei der Ausgestaltung der ‚zeitgerechten Stadt der Zukunft‘ große Aufmerksamkeit.

Nach dem Stand des heutigen Wissens spricht Vieles dafür, dass sich die skiz-zierten Verwerfungen in Arbeit, Familien und örtlicher Gemeinschaft in Zukunft fortsetzen, gar beschleunigen werden. Geschieht dies ohne Abmilderung und sozia-le Gestaltung, so wären nicht nur das Solidaritätsnetz, das kulturelle und soziale Leben, sondern auch die Wirtschaft und die Politik der Städte und Gemeinden am Nerv getroffen. Das Aussterben, das Veröden und die Verwahrlosung der Städte würden die Innovationskerne der heraufkommenden Wissensgesellschaft auszehren und die sozialen, kulturellen und ökonomischen Entwicklungspotenziale im Kern treffen. Unklar ist bislang unter Experten, welche der geschilderten Entwicklungs-tendenzen für die kommenden Jahrzehnte vermeidbar und welche unvermeidbar sind. Die Entwicklungen der Erwerbsarbeit und der Familien werden für kaum umkehrbar gehalten – die Entwicklungen in der Arbeitswelt wegen den Zwängen der Globalisierung, die Entwicklungen der Lebenswelten wegen der wohl nachhalti-gen Enttraditionalisierung von Lebens- und Vergesellschaftungsformen. Deshalb messen wir möglichen Alternativentwicklungen der lokalen Gemeinschaften beson-dere Aufmerksamkeit bei. Es stellt sich somit die Frage: Inwieweit kann der lokale und regionale Rahmen der Lebenswelt in den kommenden Jahren und Jahrzehnten einen grundlegenden Wandel erfahren, der sowohl den soziokulturellen als auch den ökonomischen und politischen Integrationsbedarfen besser gerecht wird?

12 Ulrich Mückenberger/Siegfried Timpf

Unsere Vermutung hierzu ist: Die lokalen Gemeinschaften werden durch eine deutlichere Orientierung ihrer Politik auf den Alltag und seine Zeitgestaltungen wie auch auf verstärkte Information, Kooperation und Partizipation dabei (‚Vernet-zung‘) eine solche erhöhte Integrationskraft erlangen. Die Integration der Zeitkom-ponente in örtliche Vernetzungen erscheint dabei als eine wesentliche und neue Dimension. Zeitpolitik hat durchaus auch eine erhaltende und bewahrende Dimen-sion. Dennoch lässt sie sich keineswegs auf einen defensiven Umgang mit den dar-gestellten Trends der städtischen Entwicklung beschränken. Der beobachtbare Wandel von Arbeit, Familie und lokalen Gemeinschaften enthält auch Chancen und positive Potentiale, die einer bewussten, zukunftsorientierten Gestaltung durch Zeitpolitik zugänglich sind. An den aufgezeigten Entwicklungstendenzen und den ihnen innewohnenden Handlungsspielräumen ist die Bedeutung der Zeitkompo-nente für das heutige und das zu erwartende kulturelle, soziale, ökonomische und politische Leben abzulesen. Werden die zeitlichen Herausforderungen der Zukunft nicht erkannt und bewältigt, so ist mit massiven Problemen zu rechnen. Eine an Zeitgerechtigkeit orientierte Politik dürfte daher gerade auf örtlicher Ebene uner-lässlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sein.

Ein Projekt der vorliegenden Art steht immer in Gefahr, ein Projekt der jewei-ligen Spezialisten zu werden: Spezialisten für Mobilitätsfragen, Spezialisten für Zu-kunftsfragen usw. Für ein Projekt der sozialen Integration ist diese Gefahr ernst zu nehmen. Nicht nur verselbständigen sich dabei die jeweiligen Spezialisten gegenein-ander (hat man schon einen Spezialisten für Mobilitätsfragen mit Spezialisten für Zukunftsfragen folgenreich kommunizieren sehen?) – sie verselbständigen sich auch noch allesamt gegenüber dem ‚Rest der Welt‘: Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft. Für das Projektteam „Bremen 2030“ war dies Anlass, immer wieder Rückvermitt-lungen zwischen den Fachdiskursen, zwischen den Projekten und hin zu einem breiteren Publikum zu suchen. Einer der gelungenen Versuche waren die Bremer Stadtentwicklungsgespräche (Mückenberger/Timpf 2005), die vier Veranstaltungen dem Projekt „Bremen 2030 – eine zeitgerechte Stadt“ widmeten. Jedes dieser Ge-spräche warf eines der zentralen zeitpolitischen Probleme auf. Dargestellt wurden konkrete Bremer Praxisvorhaben und die jeweils einschlägigen Expertisengeber aus der Enquête-Kommission stellten sich mit ihren Einschätzungen dem Publikum.

Im ersten Gespräch wurde kritisch der Anschluss an einen Diskurs gesucht, in dem Bedeutungsverluste der Stadt als Zentrum vielfältiger Alltagsaktivitäten in Be-tracht gezogen werden. Individualisierung, soziale Segregation und räumliche Auf-lösungsprozesse verändern die Aktivitätsmuster und die Gestalt der Stadt. Diese Strukturbrüche lassen es fraglich erscheinen, ob der europäischen Stadt zukünftig noch jene urbane Qualität zugeschrieben werden kann, die über Jahrhunderte als ihr wesentliches Merkmal verstanden wurde. War die Stadt einst der Ort der Kommu-nikation, der sozialen Orientierung und des gemeinschaftlichen Engagements, so droht sie gegenwärtig zu einer für ihre Nutzer/-innen fremden Welt zu werden und

Zeitpolitik als Bedingung der Zukunftsfähigkeit der europäischen Stadt 13

ihre Integrationskräfte zu verlieren. Wird die Zeit als integraler Bezugspunkt städti-scher Planung und Entwicklung ernst genommen, so orientiert sich diese an den Alltags- und Zeitpräferenzen der Menschen, welche die Stadt in vielfältiger Weise nutzen. Sicher müssen wir mit zunehmenden Zeitkonflikten rechnen – denn die Herrschaft der tradierten Zeitordnungen der Familie, der Schule, der Betriebe und eben der Stadt dürfte ein für allemal vorbei sein. Und wir müssen neuartige Beteili-gungsprozesse und ‚Zeitpakte‘ vorsehen – denn uniform und ‚von oben‘ lässt sich die Stadt der Zukunft nicht führen. Und: Stadtplanung wird sich schon heute auf ‚Lernfähigkeit‘ einstellen müssen, also auf die Fähigkeit, Wohnungen, Freiflächen, Straßen, öffentliche Parks und Plätze ‚umnutzen‘ zu können, wenn es der gesell-schaftliche Wandel erfordert.

Gegenstand des zweiten Gespräches war die Gratwanderung zwischen Mobili-tät und Rastlosigkeit und die Auslotung der Chancen einer gemeinsam organisierten Mobilität. Wir können unsere Städte nicht mehr von stabilen Einwohnerbeziehun-gen her denken und planen, sondern müssen die neuen Stadtnutzer/-innen, Tou-rist/-innen, Geschäftsleute usw. (vgl. Martinotti 1993) mitdenken. Mobilität ist als Form freier (sozialer und geographischer) Bewegung wünschenswert und wo mög-lich zu steigern. Zugleich wären aber die Mobilitätszwänge und die Zeitanforderun-gen für Verkehr wo möglich zu verringern. Dazu im Widerspruch steht der gegen-wärtige Megatrend zum motorisierten Individualverkehr und zur Beschleunigung in der Stadt. Sind Alternativen im Sinne von differenzierten Zeitmustern in der Stadt: schnellen vs. langsamen, zielgerichteten vs. ziellosen, erreichbar? Ihnen muss gleiche Wertigkeit im Tempo der Stadt (schnell – langsam) und in Beteiligungsprozessen zugestanden werden. Gerade für eine mögliche Trendwende zugunsten von öffent-licher Personenbeförderung kommt es auf integrierte Sichtweisen und Behandlung mobilitätsorientierter Dienstleistungen an (gemeinsame Schalter, Stadtinformations-systeme auch für Tourist/-inn/en, Belebung von Bahnhofsarealen usw.). Auch hierzu gehören territoriale ‚Pakte‘, die das Mobilitätsgeschehen gemeinsam anwoh-nergerecht, wirtschaftlich effektiv und nachhaltig aushandeln und umsetzen.

Im dritten Gespräch standen Orte und Zeiten für junge Menschen in der Stadt im Mittelpunkt. Wir leben in Zukunft wohl noch mehr in einer Zeit, die einerseits von veränderten Anforderungen der Individuen/Familien an die Stadt (Individuali-sierung, patch-work-Biographien, multilokale Mehrgenerationenfamilie), anderer-seits von veränderten Anforderungen der Stadt an die Individuen/Familien (Zersie-delung, Autos, Flexibilisierung) geprägt ist. Dabei ist gewiss, dass Kinder Zeit sowie – für Kultur und Alltag – offene Räume brauchen, um ihre Zeit zu verbringen. Offene unverplante Räume werden seltener – damit aber auch die Selbstbestim-mungschancen für Kinder und Jugendliche. Raumdefinitionen von Kindern sind nämlich andere als diejenigen von Erwachsenen – und sie sind noch einmal zwi-schen Jungen und Mädchen unterschiedlich. Mit der Koexistenz jugendlicher und erwachsener Zeitstrukturen sind zukünftig Zeitkonflikte vorprogrammiert. Auch

14 Ulrich Mückenberger/Siegfried Timpf

hier werden neue ‚Pakte‘ die einzige Lösungsform werden. Dabei können Kinder und Jugendliche sich sehr wohl selbst beteiligen – und das wollen sie auch. Sie müs-sen aber frühzeitig und wirksam einbezogen werden, sonst verlieren sie das Interes-se. Mehr denn je werden in Zukunft neue Kooperationen zwischen Betrieben, Schulen und Stadtteilen, zwischen Ressorts notwendig sein: eben ein ‚Denken in Lebenslagen, nicht in Ressortzuständigkeiten‘.

Die Zwänge und Spielräume städtischer Ökonomie wurden im vierten Ge-spräch thematisiert. Wird die Stadt der Zukunft die 24-Stunden-Stadt sein? Im Hin-blick auf die vielfältigen gegenwärtigen und zukünftigen Arbeitspopulationen zeich-net sich nicht linear die ‚24-Stunden-Stadt‘ ab, wohl aber vielfach differenzierte Zeitregime in der Stadt. Mit post-fordistischer Arbeit sind vielfache Entgrenzungen verbunden – mit Risiken und Chancen. Arbeit und Alltag können sich in permanen-ter Spannung entwickeln, aber auch in gelingende Koordination treten. Das Ge-schlechterverhältnis wird in den modernen Arbeitsbeziehungen durch Erwerbsteil-nahme, Arbeitsinhalte wie auch Verschränkung von Arbeit und Leben enttraditionalisiert – mit der Chance einer Neudefinition (Esping-Andersen 2002). Mit dieser neuartigen Vielfalt der städtischen Zeiten können urbane Qualitätsge-winne verbunden sein, wohl aber wiederum auch neuartige Zeitkonflikte. Wird es gelingen, Medienquartieren und Kulturdistrikten einen weiter gestreckten Zeit- und Aktivitätshorizont einzuräumen als Wohnquartieren – und beides zu vereinbaren? Wieder sind die Städte der Zukunft gefordert, Koordinationen zwischen gesell-schaftlichen Akteuren und die Suche nach Vereinbarkeit verschiedener Lebenswei-sen und Lebensbereiche (Arbeit, Leben usw.) inhaltlich und institutionell zu för-dern. Sie können sich dabei nicht mehr an tradierten einheitlichen Lebens-, Alltags-, Geschlechter- und Zeitmustern orientieren. Deshalb ist auch hier Zeitpolitik neu zu erfinden: als Beteiligungs- und Dezentralisierungsstrategie sowie deren neuer flexib-ler Institutionalisierung.

Der Überblick über die Stadtentwicklungsgespräche zeigt, dass alle Zukunfts-szenarien von hoher Ungewissheit und Zielambivalenz geprägt sind. Deshalb mün-det jede Zukunftsthematik in eine doppelte Einsicht. Einmal haben alle heute ge-troffenen Entscheidungen Wirkungen, die erst morgen oder übermorgen eintreten und die deshalb heute nicht mit derselben Gewichtung gewertet werden wie Wir-kungen, die bereits heute eintreten, z. B. Kosten. Man nennt dieses Problem in der Umweltökonomie die ‚Diskontierung‘ der Zukunft (Bayer 2000). In praktischer Konsequenz dieser Erkenntnis müssen heute getroffene Entscheidungen so ausge-richtet sein, dass sie Revisionsmöglichkeiten enthalten, die sie auch morgen noch als zukunftsfähig erscheinen lassen. Zum anderen werden wir in Zukunft viel mehr intelligente Verständigungsmechanismen, brauchen: Formen der Beteiligung – auch solcher Personenkreise, die dazu zunächst weniger fähig oder geeignet erscheinen – und Formen der Verständigung über unterschiedliche Vorstellungen und Interessen – eben ‚Runde Tische‘ und ‚Zeitpakte‘. Fehlen solche Formen, so droht Stadtent-

Zeitpolitik als Bedingung der Zukunftsfähigkeit der europäischen Stadt 15

wicklungspolitik eine Domäne der Profis der Macht und des Geldes zu bleiben. Sie wird dann aber nicht die Legitimität eines Gemeinwesens gewinnen, von dem die Bürger/-innen wissen, dass es das ‚ihre‘ ist – d. h. sie werden ohne soziale Integrati-onskraft bleiben. Zeitpolitiken in diesem Sinne sind Versuche, solche Integrationskraft bewusst herbeizuführen. Sie widmen sich dem Ziel einer ‚lernfähigen Stadt‘ oder einer ‚lernenden Region‘, also eines Gemeinwesens, das demokratisch gesteuerte Verände-rung in den Modus seiner Identitätsfindung und Integration einbezieht. Integration wird dabei weder als einfache Unterordnung der Individuen und Gruppen unter Im-perative der Machbarkeit und Finanzierbarkeit noch als einfache Negierung der Not-wendigkeit von Mach- und Finanzierbarkeit verstanden, sondern als lebendiger Pro-zess der Vermittlung zwischen lebensweltlichen Qualitäts- und Glücksanliegen der Menschen mit den deren Verwirklichung ermöglichenden Bedingungen – ein Wech-selverhältnis, welches Giddens mit „reflexiver Modernisierung“ bezeichnet. Das ist denn auch der Typ sozialer Integration, den lokale Zeitpolitik stimuliert.

Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen haben den millionen-fachen Alltagen die tradierten ‚Zeitpuffer‘ geraubt (die Zeit der Hausfrauen, der Großeltern usw.). Die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen – bei wesentlich gleichbleibender Rollen – und damit Zeitverteilung von Männern und Frauen in den Familien – haben vor allem diese Frauen in zunehmende ‚Zeitklemmen‘ ge-bracht (so genannte Doppel- und Dreifachbelastung). Unter diesem Blickwinkel müssen die Stadtgestaltung, die territoriale Infrastruktur, Betreuungs- und Schulwe-sen, Gesundheitseinrichtungen usw. neu ‚erfunden‘ werden. Die Entgrenzung von Arbeit und Wirtschaft hat das Mobilitätsgeschehen systematisch erhöht und – nimmt man die steigende Freizeitmobilität hinzu – bindet zunehmende tägliche Zeitanteile im Verkehr – oder auch im Stau. All dies macht öffentliche und private Dienstleister so nötig wie nie zuvor. Das Problem ist nur, dass diese meist eher mit den eigenen Arbeitsorganisations-, Effizienz- und Kostenproblemen (‚Binnenper-spektive’) als mit den realen Alltagen ihrer Klientel beschäftigt sind (‚Außenperspek-tive‘) und daher trotz enorm steigender Effizienz die ‚Einheit des Alltags‘ ihrer Klientel oft verfehlen (Mückenberger 2003). All diese Tendenzen schaffen neuartige Zeitprobleme in der Alltagsorganisation der ‚modernen‘ Menschen. Wird an diese Probleme mit einem ernstgemeinten Recht auf eigene Zeit herangegangen, findet man ein reichhaltiges Anwendungsfeld vor.

Wir wissen, dass solche Gründe (wie das vielfältige Leiden an der Zeit) nicht ausreichen, um einem Recht auf Zeit zum Durchbruch zu verhelfen. Die genannten Zeitprobleme der Alltagsorganisation stellen sich heute – so viel lässt sich immerhin sagen – in einer Form, dass sie nicht mehr als bloßes ‚Gerechtigkeitsproblem‘ der davon individuell Betroffenen abgetan werden können, sondern dass sie als ‚Sys-temproblem‘ wahrgenommen werden müssen. Sie werfen allesamt zwei langfristige Reproduktionsprobleme unserer Ökonomie und Politik auf.

16 Ulrich Mückenberger/Siegfried Timpf

1. Die europäischen Wissensgesellschaften hängen alle von der steigenden Er-werbstätigkeit (auch) von Frauen ab – der EU-Gipfel von Lissabon 2000 benannte die Quote von 60 Prozent für 2010. Deutschland ist davon zwar im Durchschnitt nicht weit entfernt. Jedoch ist die Erfüllung dieser Quote stark ‚lebenslagenabhän-gig‘: je jünger die Kinder in den Familien sind, desto geringer ist die Erwerbstätig-keit der Frauen (sie sinkt in Deutschland bis zu 38 Prozent ab).

2. Deutschland liegt in seiner Geburtenrate weit unter der gesellschaftlichen Reproduktionsrate. Die allmählich aus der Verdrängung aufsteigenden und bekannt werdenden Folgen sind die Verringerung und Alterung der Bevölkerung. Ohne Wanderungsgewinne wird Deutschland 2050 noch etwa 60 Millionen Menschen und – selbst bei bescheidenen Wanderungsgewinnen – einen Altenquotienten vonweit über 50 (gegenüber heute 25) aufweisen. Auf qualitativer Ebene wird das Ferti-litätsproblem schnell wieder als Zeitproblem entschlüsselbar. Hoch qualifizierte Frauen sind die kinderärmsten – fast die Hälfte aller westdeutschen Hochschulab-solventinnen hat keine Kinder (BMSFSJ 2003: 76).

Beide Probleme verweisen auf die Unvereinbarkeit von Berufstätigkeit und El-ternschaft – insbesondere in der Biographie von Frauen. Mütter kleiner Kinder trauen sich die Berufstätigkeit nicht zu, weil ihnen die Versorgung ihrer Kinder nicht möglich ist. Hoch qualifizierte Frauen trauen sich aus gleichen Gründen die Elternschaft nicht zu. Das lässt sich nicht auf die Fragen der zeitlichen Alltagsorga-nisation reduzieren, aber diese spielen eine zentrale Rolle. Dies lässt sich dadurch belegen, dass Erwerbstätigkeit und Elternschaft nur dort in Widerspruch zueinander stehen, wo die infrastrukturelle Kinderbetreuung schwach ausgebildet ist – etwa in Deutschland –, nicht aber dort, wo diese besser ausgestattet ist – wie etwa die Bei-spiele Schweden oder Frankreich zeigen (BMFSFJ 2003; Mückenberger u. a. 2003).

An Gründen und an sozialer, kultureller wie ökonomischer Brisanz fehlt es al-so nicht, um einem Recht auf Zeit zur Existenz zu verhelfen. Es ist wohl auch kein Zufall, dass der rechtliche Charakter von Zeit jüngst in Europa zunehmend zum Thema wird (Winkler 1995; Ost 1999; Mückenberger/Muth 2001). Was fehlt, sind die gesellschaftlichen und politischen Turbulenzen – also soziale Bewegungen, die dem Thema Nachdruck verschaffen. Zeitprobleme werden meist noch als individu-elle und seriell zu lösende Probleme wahr- und hingenommen. Sie gelten damit als nicht veränderbar und nicht gestaltbar. Zeitpolitik als Ensemble der Bedingungen zur Einlösung des Rechts auf eigene Zeit hat daher noch keinen adäquaten Träger – keine Akteure oder Akteurskonstellationen, die ihr Recht auf Zeit gegenüber den Taktgebern in Wirtschaft und Politik durchsetzen. Vielleicht muss Zeitpolitik ohne diese Turbulenzen wirken – vielleicht braucht es auch nur noch ‚Zeit‘, bis diese Turbulenzen anstehen. Dennoch liegen die Vorteile des zeitpolitischen Zuganges auf der Hand: Es handelt sich um einen Zugang, der Verbindungen zwischen an-sonsten getrennt entwickelten Wissensbeständen herstellen kann, und zugleich die-ses Wissen, das Begründungen für wünschbare Gestaltungsoptionen des urbanen

Zeitpolitik als Bedingung der Zukunftsfähigkeit der europäischen Stadt 17

Alltages enthält, in eben diesen Alltag gestaltend einzubringen vermag. Zeit wird als zentrales Analyse- und Gestaltungsfeld erkennbar, in dem zum einen die veränder-ten Signaturen der konkreten alltäglichen Nutzung des Urbanen transparent werden und neue Möglichkeiten der Zeitverfügung entstehen können, wenn Verfahren gefunden werden, die zwischen zivilgesellschaftlichen Bedarfen und politisch-administrativen und ökonomischen Handlungslogiken vermitteln. Die europäische Stadt hat einzigartige Möglichkeiten, die in ihr geschichtlich gewachsene Diversität von Lebensstilen und Lebenslagen in eine produktive Kraft zu verwandeln, wenn es gelingt, Differenzierung und Integration auszubalancieren (vgl. Veltz 2004). Ein wichtiger Hebel ist die zeitpolitische Gestaltung.

Die Beiträge in diesem Sammelband sind so angelegt, dass allgemeine Trends, zentrale Konfliktfelder und Möglichkeiten der sogenannten ‚Trendumkehr‘ behan-delt werden. Es geht also nicht um einfache ‚Trendfortschreibungen‘, sondern gera-de um potenzielle Alternativen, Szenarien und Optionen. Die Herausforderung in der Zusammenstellung der Foci besteht darin, dass innerhalb des komplexen The-mas der Stadt Zusammenhänge zwischen verschiedenen Teilbereichen bestehen, die im Sinne einer heuristischen Kombinatorik zusätzliche Erkenntnisse in der Zu-sammenschau erwarten lassen. Die Expertisen wurden für diese Veröffentlichung in drei thematische Gruppen gegliedert.

Mit im weitesten Sinne morphologischen Aspekten sind die Beiträge von Mar-co Venturi, Guido Martinotti und Thomas Horan befasst. Marco Venturi öffnet in einem ersten Schritt den Blick für die historische Dimension des Verhältnisses von Innovation und Stadt. Als Einschnitt analysiert er die industrielle Revolution, die eine Unvereinbarkeit neuer städtischer Einrichtungen mit der bestehenden Stadt in ringförmigen Erweiterungen aufgelöst habe. Die neu entstandene Disziplin der Stadtplanung hat danach entscheidend zu einem Verlust der Kontinuität des städti-schen Gefüges mit einer Mischung unterschiedlichster Funktionen auf engstem Raum beigetragen. Mit diesem Verlust geht eine Verlagerung der Orte der Innova-tion an die ausfasernden Ränder entlang der Verbindungslinien zwischen großen Städten einher. In der Bewältigung dieser neu geschaffenen Strukturen sei die Stadtplanung gegenwärtig nicht mehr mit großen Entwürfen für gesamtstädtische Entwicklungsprozesse befasst, sondern mit der Vernetzung einer polyzentrischen Struktur, in der die Knoten komplementär und nicht im Hinblick auf ihre Konkur-renzfähigkeit gestaltet würden. Marco Venturi sieht die zukünftige Entwicklung verknüpft mit einer analytischen Sicht auf Innovationsprozesse, die sich kleinteilig vollziehen und durch chirurgisch genaue Interventionen stimuliert werden können. Eine solche Vorgehensweise, gestützt auf zeitnahe Erhebung von Daten aus den städtischen Versorgungssystemen, die Nutzungsänderungen signalisieren, kann diejenigen Teile der Stadt mit geringerer Geschwindigkeit und Innovationsneigung schützen vor Interventionen, die komplementäre Raum-Zeit-Strukturen (benach-

18 Ulrich Mückenberger/Siegfried Timpf

barte Quartiere mit unterschiedlicher Nutzungsdauer, Nutzungsfunktion und Ge-schwindigkeit) beeinträchtigen oder gar zerstören.

Theoriesystematisch ist die soziale Morphologie Guido Martinottis (1993) eine von fünf Perspektiven auf morphologische Aspekte von Stadt, die zunächst in einer integrativen Morphologie zusammengeführt werden müssten, damit die Vorzüge und Probleme der Teilansätze transparent werden. Der Aspekt der Nutzung er-scheint nur als ein erster Schritt in der Befassung mit morphologischen Aspekten, auch Guido Martinotti verweist auf die gesellschaftlichen Kräfte, welche die gebaute Form beeinflussen, also den Produktionsaspekt gegenüber dem Nutzungsaspekt. Letzterer ist natürlich für den Zeitgestaltungsansatz unmittelbar interessant, in ei-nem zweiten Schritt ist aber der Produktionsaspekt wichtig, weil die zukünftigen Nutzungsbewegungen von den durch die Produktion von Formen und ihrer Vertei-lung im Raum erzeugten Bedingungen abhängen. Guido Martinotti leistet in erster Linie einen analytischen Zugang zu den Ergebnissen städtischer Entwicklung, der in zweifacher Weise von Nutzen ist. Zum einen ermöglicht er eine Synthese der Effek-te fordistischer Stadtentwicklung, die in letzter Konsequenz die Stadt als Form im Raum auflöste und trotz einer gegenläufigen Tendenz zur Attraktivität des Urbanen (Läpple 2006) nicht an Aktualität eingebüßt hat. Die Notwendigkeit einer politi-schen Gestaltung dessen, was als Zwischenstadt (Sieverts 1997) oder Netzstadt (Baccini/Oswald 1998) Eingang in den Diskurs gefunden hat, besteht nach wie vor, weil für die Attraktivität des Urbanen sowohl das entstehende Neue in den inner-städtischen Quartieren als auch der produktive Umgang mit funktionaler Zergliede-rung/‚wilder Ausfaserung‘ in ihrer Gesamtheit von Bedeutung sind.

Der dritte Gesichtspunkt verweist auf das Verhältnis von elektronischen und physischen Räumen in der Stadt. Da es sich nicht um eine Parallelentwicklung han-delt, ist die Frage der Integration dieser Räume von herausragender Bedeutung. Tho-mas Horan geht wie andere Autorinnen und Autoren in diesem Band davon aus, dass die Separierung von Funktionen und damit von sozialen Raum- und Zeitnutzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr weit vorangetrieben wurde. Die Archipe-lisierung der Stadt wird nach seiner Auffassung jedoch durch die digitalen Technolo-gien verändert. Dies betrifft die Logik monofunktionaler Räume als auch die konven-tionelle Art des Gebäudebaues gleichermaßen. Für die Bereiche Wohnen/Arbeiten, Schulen, Gesundheit und öffentliche Räume entwirft er Szenarien, in denen eine neue Art von rekombinierbaren digitalen, sozialen und physischen Qualitäten den örtlichen Gemeinschaften neue Möglichkeiten der Integration eröffnet. Entscheidend wird die Gestaltung der Interfaces sein, die – so Thomas Horan – die Nutzer/-innen selbst zur treibenden Kraft der Rekombinierung werden lassen.

Die zweite Gruppe von Beiträgen ist fokussiert um die Themenfelder Akteure, Zeiten und Urbanität. Jean L. Cohen und Andrew Arato nutzen die Gelegenheit, die von Ihnen entwickelten Kategorien (Cohen/Arato 1992) einer Reflexion zu unter-ziehen, die insbesondere die globale Dimension zivilgesellschaftlicher Aktivität

Zeitpolitik als Bedingung der Zukunftsfähigkeit der europäischen Stadt 19

einbezieht. Die Globalisierung des Diskurses um Zivilgesellschaft hat nach ihrer Auffassung zu einer vielfältigen und widersprüchlichen Verwendung des Begriffs geführt. Sie prüfen insbesondere die Tendenz zur Auflösung des nationalstaatlich orientierten Modells der Zivilgesellschaft hin zu einer Orientierung an dem Modell des Zusammenhanges von Globalem und Lokalem. Die Verlagerung von Souvera-nität von Nationalstaaten auf die lokalen/regionalen und überstaatlichen Ebenen bewirkt eine Multiplizierung von Ebenen der Governance und des Governments, die nicht notwendig zu einer Schwächung der nationalstaatlichen Ebene führen muss, da sie die Nationalstaaten von Aufgaben entlastet. Auf der anderen Seite ist das Gegenüber der Zivilgesellschaft nicht mehr exklusiv der Nationalstaat, und von Kooperation bis zu Konkurrenz reicht der Spannungsbogen möglicher Verbindun-gen. Sie prüfen unter diesen Voraussetzungen den Begriff der Zivilgesellschaft unter den Bedingungen des souveränen Nationalstaates und vergleichen diesen in den vier kategorialen Bestimmungen Pluralität, Öffentlichkeit, Privatheit und Legalität mit dem Begriff der Zivilgesellschaft unter den Bedingungen der Globalisierung. Sie kommen zu dem Schluss, dass die transnationale Zivilgesellschaft in allen kategoria-len Bestimmungen neue Formen ausgebildet hat, die eine Analyse in den alten Be-grifflichkeiten nicht erfassen kann. Sie sehen ein Zusammenspiel von globaler und lokaler Aktivität, in dem den Städten eine zentrale Bedeutung zukommt. Diese gründet nicht in der schieren Größe der Städte, sondern in der kulturellen Rolle, der Diversität und der Offenheit der Stadt.

Dietrich Henckel stellt einen Ausschnitt des zeitlichen Strukturwandels in den Mittelpunkt seines Beitrages, dem zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet werde: den ökonomischen Wirkungen. Damit diese überhaupt öffentlich wahrgenommen wer-den könnten, sei eine systematische Kategorisierung, Beschreibung und Quantifizie-rung notwendig. Dietrich Henckel schlägt vor, Beschleunigung, Flexibilisierung und Ausdehnung als analytische Kategorien zu verwenden. Er konzentriert sich auf die Folgen der Ausdehnung ökonomischer Aktivität und belegt, dass diese ambivalent sind. Am Beispiel der Wachstumseffekte lässt sich dies zeigen. Sie ermöglichen zusätzliche Arbeitsplätze – diese sind jedoch überwiegend prekär. Darüber hinaus fallen Kosten der zeitlichen Ausdehnung an, die schwer zu beziffern sind, aber als Auflösung sozialer Rhythmen, Koordinationsprobleme oder im Anstieg der Trans-aktionskosten sichtbar werden. Die Ausdehnung bis hin zur kontinuierlichen Akti-vität erhöhe zwar die Optionalität aller Nachfrager, sie sei jedoch auf Verdichtungs-räume konzentriert und bewirke eine weitere Abkoppelung von natürlichen und traditionellen sozialen Rhythmen. Ein weiteres Problem bestehe darin, dass die Kosten der Ausdehnung überwiegend als externe Kosten anfielen, in Koordinati-onskosten (personell), in zeitlicher Kolonisierung (räumlich) oder Langzeitkosten (zeitlich). Die Möglichkeiten einer Trendwende stellt Dietrich Henckel anschaulich in zwei Szenarien dar. Die bewusste Gestaltung des zeitstrukturellen Wandels wird einer ungesteuerten Entwicklungsvariante gegenübergestellt. In seinen Schlussfolge-

20 Ulrich Mückenberger/Siegfried Timpf

rungen wendet sich Dietrich Henckel gegen eine zeitpolitisch motivierte umfassen-de Regulierung der Stadt, entwirft jedoch eine positive Möglichkeit der Koppelung von stabilen und instabilen Rhythmen, in der zeitliche Orientierungsmarken ihre Bedeutung erhalten und zugleich die Kosten des zeitlichen Strukturwandels interna-lisiert werden.

Den harten Kern der Kontroversen um Geschlechterarrangements sieht Karin Jurczyk in der geschlechtlichen Arbeitsteilung, an die unterschiedliche Folgen ge-knüpft sind wie etwa Anerkennung oder die Verfügung über Geld, Zeit und Raum. Die Zuordnung von Erwerbsarbeit zu Männern und der privaten Care-Work zu Frauen sei wohl nicht mehr ungebrochen, doch sei die Lage unübersichtlich. Ten-denzen zu mehr Gleichheit, das Fortbestehen alter und die Entstehung neuer Un-gleichheiten ohne einen grundsätzlichen Bruch in der männlichen Hegemonie seien Komponenten dieser Entwicklung. In zeitlicher Hinsicht sei diese eingebettet in eine Verflüssigung der Gesellschaft und das Verschwinden zeitlicher Grenzmarken. Die Folgen der Entgrenzung seien ambivalent. Sie erfordern neue Ordnungsleistun-gen und die Wahrnehmung neuer Gestaltungsmöglichkeiten in der alltäglichen Le-bensführung. Karin Jurczyk analysiert zunächst die aktuellen Konstellationen von Geschlechterverhältnissen in Erwerbsleben und Familie. Anschließend entwickelt sie geschlechtsspezifisch differenzierte Szenarien zum Verhältnis von Arbeit und Leben und skizziert dann die Bedingungen, unter denen das Szenario geschlechter-demokratisch egalisierter Lebensmöglichkeiten realisiert werden könnte.

Hans Bertram entwirft das Bild eines Transformationsprozesses, in dem der uniforme Zeittakt der Industriegesellschaft von einem komplexen Zeitkontinuum postindustrieller Gesellschaften abgelöst wird. Unter Referenz auf Sassen und Sen-nett wird das zentrale Problem als Enträumlichung sozialer Beziehungen gefasst, das jedoch durch politische Gestaltung beeinflussbar sei. Zwei Linien des zeitgenös-sischen Diskurses sind für Hans Bertram zentral. Es ist zum einen die Lösung der Solidarnetze sowohl der städtischen Eliten als auch der neuen Dienstleister von den Städten, in denen diese Akteure leben. Zum anderen ist dies die Ersetzung standar-disierter fordistischer Organisationsprinzipien durch soziale Netze und flexible Organisationsformen. Für die familialen Netze, die Leistungsträger im Alter zwi-schen 35 und 45 Jahren, ältere Menschen und Migrant/-inn/en prüft Hans Bertram auf der Basis von Best Practices aus den USA und verschiedenen europäischen Ländern die Möglichkeiten, diese Bevölkerungsgruppen zukünftig stärker in das Alltagsleben der Stadt zu integrieren.

Ilse Helbrecht ist ebenfalls mit Integrationsaspekten befasst, wählt jedoch ei-nen analytischen Zugang, in dem sie mindestens fünf Formen der Zeit unterschei-det, die sich in der subjektiven Wahrnehmung und Erfahrung überlagern und er-gänzen: Uhrzeit, Naturzeit, gesellschaftliche Zeit, psychologische Zeit und Geschichte. Eine Kombination von Raum- und Zeitplanung in Städten erscheint ihr plausibel und sinnvoll, doch kritisiert sie die Fokussierung kommunaler Zeitpolitik

Zeitpolitik als Bedingung der Zukunftsfähigkeit der europäischen Stadt 21

auf die sozialtechnologisch gedeutete Optimierung von gesellschaftlichen Zeiten in der Stadt. Im Diskurs um das, was künftig Urbanität bedeuten kann, erkennt sie eine Verrätselung, die sich in drei Diskurslinien verzweigt: die Illusion des Cyber-space, das Rätsel der Kernstadtorientierung und die Verwunderung über ‚irrationale‘ und hochselektive Erfolgsfaktoren. Grundsätzlich geht Ilse Helbrecht davon aus, dass die Revitalisierung des Städtischen nicht zu trennen ist von einer semiotischen Aufwertung und Umwertung der Stadt, die auf Veränderungen von Wirtschaft und Kultur beruht. Diese semiotische Aufwertung zeige sich in einer Diskursivierung des Raumes, dem Einzug der Ökonomie der Zeichen und der Pluralisierung und Ästhetisierung der Lebensstile und stelle die Herausforderung, gelingende Urbanität über eine räumliche Verwebung verschiedenster Zeiten – nicht allein der gesell-schaftlichen Zeit – zu erreichen.

Die dritte Gruppe von Beiträgen thematisiert aus unterschiedlichen Blickwin-keln die Gestaltbarkeit räumlicher Mobilität in der Stadt. Alle einschlägigen Progno-sen gehen von einer Zunahme sowohl des Güterverkehrs als auch des Personen-verkehrs aus. Innerhalb des Modalsplits ist weiter mit einem zunehmenden Anteil der Nutzung von PKW’s zu rechnen. Über die Motive für die Wahl bestimmter Mobilitätsmittel ist wenig gesichertes Wissen vorhanden. Das Wissen bezieht sich darauf, dass diese Wahl nicht mit herkömmlichen Rationalitätsmaßstäben zu be-schreiben und analysieren ist. Aus einer funktionalen Perspektive ist unter Berück-sichtigung der Beiträge zur veränderten Morphologie des Städtischen die Fragestel-lung zentral, wie verschiedene Mobilitätsmittel innerhalb eines Netzes mit zum Teil beweglichen Knotenpunkten unter dem Gesichtspunkt von Zeit- und Kostengüns-tigkeit integriert werden können. Es geht nicht um die Kritik des rational schwer fassbaren Automobilismus, weil sie zu kurz greift – wohl aber um Chancen einer ‚Trendwende‘ zu Gunsten nachhaltiger Mittel der Fortbewegung.

Hartmut Topp leitet seinen Beitrag ein mit der Unterscheidung von Mobilität und Verkehr und dem Nachweis, dass in den letzten Jahrzehnten trotz der Verdop-pelung und Verdreifachung der zurückgelegten Kilometer eine Mobilitätseinbuße festzustellen ist. Ein ganzes Bündel von Ursachen wie Motorisierung, billige Raum-überwindung, abnehmende Dichte räumlicher Strukturen, geringere Fertigungstie-fen in der Produktion und die Individualisierung von Lebensstilen wirke zusammen mit dem Effekt eines immer höheren Verkehrsaufwandes. Entsprechend komplex sind die Szenarien angelegt, die in eine pessimistische und eine optimistische Vari-ante gegliedert sind. Nachhaltige Mobilität sei nicht mit einfachen Rezepten er-reichbar, weil die sich überlagernden und gegenseitig beeinflussenden Einflussfakto-ren komplexe Interventionen erforderten. Eine politisch durchzusetzende ‚Kostenwahrheit im Verkehr‘ bilde eine zentrale Voraussetzung, eine andere sei die technische Entwicklung, in der es jedoch bereits hoffnungsvolle Ansätze gebe, die breit angewendet werden sollten.

22 Ulrich Mückenberger/Siegfried Timpf

Christine Bauhardt verbindet in ihrem Beitrag eine epistemologische Kritik an der männlichen Konstruktion von Aufklärung und der Verbindung von Freiheit und Stadt mit konkreten Szenarien zur differenzierten Verbesserung der Verkehrs-verhältnisse in einer zeitbewussten Stadt. Ihre Kritik an der Verkehrsplanung wen-det sich gegen eine Behandlung von Raum und Zeit als verwertbare Ressourcen. Werden sie hingegen als soziale Kategorien und damit Voraussetzungen für Le-bensqualität in der Stadt behandelt, entsteht ein anderes Wohlstandsmodell, das von den Bedürfnissen des sozialen Zusammenlebens ausgeht. Komponenten sind vor allem eine Entschleunigung des Verkehrs sowie die Optimierung des nicht-motorisierten Verkehrs und des Öffentlichen Nahverkehrs. Es seien nicht die fi-nanziellen Restriktionen entscheidend, sondern die politischen. Die notwendige Veränderung verkehrspolitischer Prioritäten ist nach Auffassung von Christine Bauhardt nicht gegen die Menschen durchzusetzen. Die Partizipationsprozesse in der Umsetzung dieser Vorschläge sollen in Geschlechterparität und unter besonde-rem Augenmerk auf Versorgungsarbeit und Fürsorgeverantwortung sowie einschlä-gigen wissenschaftlichen Kompetenzen aus der Genderforschung und der feministi-schen Verkehrsplanung organisiert werden.

Felicitas Romeiß-Stracke untersucht in ihrem Beitrag die Entwicklung des Städ-tetourismus. Die nach einfachen Strukturprinzipien konstruierten europäischen Städ-te mit ausgeprägten historischen Ensembles seien nach wie vor attraktiv für die Gruppe der Kulturtourist/-inn/en, doch habe sich eine Vielfalt von anderen Interes-sen entwickelt, die Felicitas Romeiß-Stracke auf der Basis der Lebensstilforschung kategorisiert. In ihrer Typologie werden Städtetourist/-inn/en nach multiplen oder singulären Ambientes und nach der historisch-semiotischen Tiefe unterschieden. Letzterer Aspekt wird ausgebaut, um eine semiotische Treppe zu bilden, die eine Unterscheidung von Bewohner/-inne/n und Tourist/-inn/en nach der Art und Weise der Orientierung in der Zeichenfülle der Stadt ermöglicht. Den Tourist/-inn/en wird danach eine Hyperrealität zugeordnet, die darauf ausgerichtet ist, in kürzester Zeit maximale Erlebnistiefe zu vermitteln. Eine Schlussfolgerung aus den modellartigen Verdichtungen ist, dass nur noch ein Teil der modernen Städtetou-rist/-inn/en sich auf die historisch gewachsene Stadt bezieht. Die Attraktivität werde u. a. durch die Verinselung der historischen Ensembles beeinträchtigt, deren städti-sche Umgebung durch uniforme Handelsketten und Siedlungsstrukturen geprägt sei. Letztlich hänge die künftige Attraktivität von der Möglichkeit der Teilhabe an unge-wöhnlichen lokalen Szenen ab, die sich in umgestalteten Stadtvierteln biete.

I Verhältnis von urbanen Räumen und Zeiten 23

I Verhältnis von urbanen Räumen und Zeiten

Innovationslose Städte? 25

Innovationslose Städte?

Marco Venturi

Wenn wir uns die Aufforderung Braudels zu Eigen machen, in der Geographie der Zeit mehr Aufmerksamkeit zu schenken und in der Geschichte dem Raum und dem, was ihn darstellt, mehr Platz zu lassen, könnte das Studium der Innovation zu einem außerordentlich ergiebigen Forschungsprogramm werden.

Es erlaubt nämlich, ausgehend von den Zäsuren in der Kontinuität der Phä-nomene, diese gleichzeitig als Indikatoren in zwei Richtungen zu gebrauchen: für Veränderung der räumlichen Strukturen, die durch exogenen Druck erzeugt wer-den, und für die Rolle der räumlichen Organisation bei der Produktion und Diffusi-on des sozialen Wandels und des Wandels in der Produktionsweise.

Beide Forschungsrichtungen können, wenn sie nicht auf Hypostasierungen der Aktualität, sondern auf Beispielen und auf historisch vergleichbaren Reihen basie-ren, zu „starken“ Hypothesen über die Grundprobleme unserer Disziplin führen.

Ich beziehe mich auf die Dialektik zwischen „Außen“ und „Innen“ in der Ge-schichte des Städtebaus, das heißt, zwischen denjenigen, die die Entwicklung inner-halb eines Untersuchungsgebietes von etwas abhängig machen, das außerhalb da-von stattfindet und denjenigen, die die Analyse der Paradigmen der Disziplin auch als Kriterium für die Interpretation des „Außen“ benutzen, da sie als Elemente der Steuerung des Wandels und der Umverteilung von Mitteln und Macht zwischen verschiedenen sozialen Gruppen darstellen.

Der technologische Wandel, der auf der Schnittstelle zwischen zwei Katego-rien von Phänomenen steht, erlaubt es, diese anhand von Katalysatorereignissen zu untergliedern, die jeweils eine ganze Reihe von Folgereaktionen nach sich ziehen: die Innovation stellt einen Bruch dar, eine Unterbrechung in der Kontinuität einer Entwicklung, von der man sonst annimmt, sie verlaufe linear. Dieses „lineare“ Mo-dell, bestehend aus vielen kleinen Innovationen, die zusammen jedoch eine Traditi-on darstellen, eine lang andauernde innere Ordnung, wird durch den Einbruch des Neuen untergliedert. In dieser Sichtweise macht es die Innovation möglich, der Zeit eine Form zu geben, die Synkopen eines ansonsten gleichförmigen Rhythmus ein-zufügen und auszumachen, neue filigrane Figuren in einem regelmäßigen Geflecht zu erkennen.

26 Marco Venturi

Innovation also als induzierte Evolution, als Bruch der bestehenden Ordnung. Das ist das große Thema des städtischen Wandels, das für eine ganze Reihe von Aporien unserer Disziplin bezeichnend ist.

Es scheint fast so, als ob der Städtebau – oder zumindest seine Tradition – le-diglich in der Lage sei, sich mit linearen Entwicklungsprozessen auseinander zu setzen: in Zeiten ungestümer Innovation werden die Unzulänglichkeiten unseres Handwerkszeugs bereits angesichts der geringen Fähigkeit zur Voraussicht deutlich. Vor allem aber treten sie angesichts der praktischen Unmöglichkeit zu Tage, die Phänomene zu registrieren und darzustellen. Die Machtlosigkeit des traditionellen Rüstzeugs bei der Unterstützung operativer Entscheidungen wird zurzeit in den Ländern Osteuropas besonders deutlich: Ein Wandel dieser Art und in dieser Grö-ßenordnung lässt sich mit den normalen statistischen, graphischen oder verwal-tungstechnischen Methoden nicht erfassen.

Genau in dem Moment, in dem es am notwendigsten wäre, unmittelbar zu wissen, was sich in der Stadt ändert und wie es sich ändert, erweisen sich die Reak-tionszeiten des traditionellen Apparates als vollkommen unangemessen, so sehr, dass sie die größten Städte zu offensichtlich volontaristischen Entscheidungen, bar jeden Anspruchs auf planerische Rationalität bringen.

Die Zeiten der Stadtplanung scheinen also an langen Zyklen gemessen zu sein, während die innovativen Prozesse immer schneller werden. Vielleicht könnte dies eine „strukturelle“ Erklärung für die derzeitige Vorliebe für „Großereignisse“ und „Großprojekte“ sein, die jenseits der traditionellen planerischen Logiken stehen: Einen derartigen Versuch, mit Sonderinstrumenten und Sonderprogrammen auf grundlegende Umwälzungen in den städtischen Politiken zu antworten, hat es be-reits gegeben: in Europa nach 1848, und in der ganzen Welt nach 1929.

Die Reihe der Übereinstimmungen zwischen Änderungen in der Form des Pla-nes, Technologieinnovationen und wirtschaftlichen und sozialen Bewegungen scheint also durch die These von einer grundlegenden Verflechtung zwischen ver-schiedenen Ebenen, von einer „unmittelbaren“ Beziehung zwischen Strukturen und Überbau bestätigt.

Aus diesem Blickwinkel würde die historische Gegenüberstellung zwischen technologischen Entwicklungssprüngen und Umbau der Stadt es ermöglichen, zu-mindest zu überprüfen, ob wir heute tatsächlich epochalen Veränderungen oder einfachen Setzungsphänomenen gegenüberstehen.

Die Tradition

Die Gegenprobe dieser These könnte aus der Geschichte der städtischen Phäno-mene selbst kommen. Seit ihren Anfängen ist die Geschichte der Stadt eng ver-flochten mit der Geschichte der Innovation, es ließe sich sogar behaupten, die Stadt

Innovationslose Städte? 27

selbst sei ein perfektes Beispiel interdisziplinärer technologischer Innovation, eine Vorrichtung zur Maximierung sozialer Interaktion, von Austausch und somit von Innovation.

Es ist sicher, dass von Anfang an keine Stadt ohne die Schaffung von Surplus durch technologische Innovationen, zumindest bei den Anbautechniken existiert hat. Es handelt sich im Übrigen um eine Beziehung, die von Anfang an die dynami-schen von den statischen Gesellschaften unterscheidet: Die Landwirtschaft wird als künstlicher Akt und als eine Form der Gewalt an Mutter Erde erlebt, und die My-then über die ersten gegründeten Städte verbinden deren Entstehung mit Sakrile-gen. Enoch, die erste Stadt der biblischen Geschichte, wird von Kain gegründet; Rama in der islamischen Tradition bietet Schönheit und Reichtum, aber kein Leben; man muss bis zu Sargon kommen, um Akkadu zu finden, die erste Stadt, deren Gründung auf einen Menschen zurückgeführt wird.

Die Innovation, die Hybris, die Veränderung der Natur ist somit der Ursprung der Möglichkeit des städtischen Zusammenschlusses an sich und gibt gleichzeitig – ausgehend von der Idee des Innen-Außen, die in allen Ideogrammen zur Stadt prä-sent ist – den ersten städtischen Archetypen ihre Form. Sie steht vor allem am Ur-sprung der Möglichkeiten der Arbeitsteilung unter Spezialisten, die in der Lage sind, eine Ordnung wiederherzustellen, und die ihre Legitimation aus dem Wissen bezie-hen: Wissen um Mythen, Wissen um Gesetze und Verwaltung, Wissen über die Kriterien der Standortwahl und die Formen der Organisation der Stadt, mit einem Wort, Wissen über die Funktionsweise, über den Einsatz und die Kontrolle von Innovationen.

Eine seinerzeit weit verbreitete These, die zum Beispiel von Wittfogel vertre-ten wurde (wenn auch mit politischen Absichten, die nicht immer geteilt werden können), tendierte dahin, den Ursprung der verschiedenen Staatsformen auf die unterschiedlichen Techniken der Kontrolle und Verteilung der Ressource Wasser zurückzuführen; die Planung des Be- und Entwässerungssystems also als Organisa-tion des Raumes und gleichzeitig als Form der sozialen Organisation und als System der Steuereintreibung.

Dieses Thema führt uns zu einer in der Folge wichtigen Unterscheidung in-nerhalb der technologischen Innovationsprozesse, nämlich zwischen der sozusagen „häuslichen“ Innovation, die von den Einzelnen oder den Familien eingesetzt wird, und deren Auswirkung auf das städtische Leben in wirtschaftlicher, hygienischer, kultureller und sozialer Hinsicht äußerst weit gehend sein können, bei der aber die individuelle Wahlfreiheit in Bezug auf die Nutzung der neuen Technologien beste-hen bleibt, und auf der anderen Seite die kollektive Innovation vor allem in Verbin-dung mit öffentlichen Infrastrukturen, bei der die Wahlfreiheit in Bezug auf Alter-nativen eine ganz andere Bedeutung erhält.

Es handelt sich um kollektive Entscheidungen über Einrichtungen und öffent-liche Dienste, bei denen Risiken und Wahlmöglichkeiten, Ausgrenzung oder Teil-

28 Marco Venturi

nahme von der „Erzählung“ über die Zukunft einer Gemeinschaft und von der technischen Fähigkeit seitens Einiger, diese wahr zu machen, abhängen.

Das verleiht denjenigen eine besondere soziale Rolle, die in der Lage sind, den kollektiven Bedürfnissen „Form zu verleihen“ und sie in Handlungskonzepte um-zusetzen. Gleichzeitig führt dies zu einer Artikulation der räumlichen Optionen und wird mit der Zeit zu Tradition, zu Kultur, zu spezifischer Art des Verstehens, zur Konjugation und Aneignung der städtischen Formenkategorien.

Die Innovation hebt in diesem Fall gleichermaßen die Aspekte der Beständig-keit und der Vergänglichkeit hervor, die durch die Überlagerung verschiedener „Kulturen“ entstehen: die räumlichen Strukturen tendieren dazu, weit über die Be-stimmung hinaus fortzubestehen, für die sie geschaffen wurden. Das impliziert mit Sicherheit ein Problem der Amortisierung kollektiver Investitionen sowie das Prob-lem der Ersatzkosten. Vor allem aber impliziert es die Tatsache, dass die technolo-gischen Innovationen selten in Konkurrenz zur bestehenden Ordnung treten. Zu-mindest in einer ersten Phase können die neuen Techniken mit den vorhergehenden zusammenleben und tendieren dazu, Elemente der überkommenen räumlichen Struktur weiter zu nutzen.

Innovation erscheint so im Allgemeinen eher durch Verzerrung, Neuinterpre-tation und -organisation der Vergangenheit als durch Beseitigung und Ersatz des Alten zu erfolgen. Die Erfahrung mit der Aneignung der römischen und helleni-schen Städte durch die Araber andere Völker unterschiedlicher Herkunft und Kul-tur, ebenso wie die Geschichte der europäischen Kolonialisierung in Afrika oder Asien kann meiner Meinung nach einige konstante Charakteristika des Phänomens und vielleicht auch einige verallgemeinerbare Kategorien der Beziehung zwischen städtischer Form und dem Wandel in ihrem Gebrauch deutlich machen.

Die Akteure

Eine bedeutende technologische Innovation erlaubt vielleicht eine weitere Präzisie-rung des Problems: die Einführung der öffentlichen Uhren in allen urbanisierten Gebieten Westeuropas im Laufe der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts. In diesem Fall hatte der Übergang von einer subjektiven und mit den Jahreszeiten und Breitengraden wechselnden Auffassung von Zeit zu einer Regelmäßigkeit „erga omnes“ offensichtlich entscheidende Rückwirkungen auf die städtische Ordnung, schon allein in Hinblick auf den Übergang bei der Lohnarbeit vom Stücklohn zum Stundenlohn.

Gleichzeitig hat dieser Wandel, abgesehen vom Anbringen der Turmuhren, keine unmittelbaren sichtbaren Veränderungen gezeitigt.

In diesem Fall kann uns die Untersuchung des Phänomens – zunächst kon-zentriert in den Städten, die ihre Textilindustrie neu strukturierten – Einsichten in

Innovationslose Städte? 29

die Rolle verschaffen, die die räumliche und städtische Ordnung selbst beim Her-vorbringen der Innovation spielt.

In Bezug auf die Innovation muss nämlich nicht nur der Aspekt der Erfindung (vermutlich nur dort, wo eine „kritische“ Masse des Austausches von Erkenntnissen und technologischem Wissen besteht), betrachtet werden. Vielmehr ist vor allem der Aspekt der Verbreitung (die dort möglich wird, wo sowohl effiziente Kommu-nikationsnetze, als auch ein für die Annahme von Neuerungen günstiges Umfeld existieren) von Bedeutung.

Die Verbreitung der Innovation stellt also offenbar nicht nur einen Koloniali-sierungsprozess, ein Prozess passiver Rezeption dessen dar, was von oben oder außen kommt, sondern ist vielmehr ein aktiver Prozess, der aus den einzelnen Ge-meinschaften heraus erwächst, wobei, neben den Verbindungen zu bestimmten räumlichen Systemen und der bestehenden Konkurrenz zu anderen, vor allem auch das Modell, die Idee der Stadt, auf die gezielt wird, eine Rolle spielen.

Die Architekturhandbücher des sechzehnten Jahrhunderts und die Abhand-lungen zur Organisation der Städte auf der einen, die Einführung des Schießpulvers und der Kanonen auf der anderen Seite können unter diesem Blickwinkel als zwei Aspekte desselben gigantischen Prozesses gelten, der zur Homologisierung bis da-hin unterschiedlichster städtischer Geschichten auf europäischer Ebene geführt hat: noch wichtiger erscheint in diesem Zusammenhang der Wandel der Rolle der Inge-nieure und Bautechniker in jener Zeit zu sein. Einerseits erlaubte es die Verbreitung der darstellenden Geometrie und der maßstabgerechten Zeichnung, sich vom Alltag der Baustelle zu lösen und die entwerferische Arbeit aufzuwerten, andererseits über-stiegen diese Aufgaben angesichts der technischen Schwierigkeiten der ballistischen Berechnungen und der Berechnung der neuen Befestigungsanlagen die Fähigkeiten der Auftraggeber. Nicht auf der Basis von Macht, sondern aufgrund ihres Wissens wurden diese Techniker so von vormals einfachen ausführenden Figuren zu Akteu-ren der großen städtischen Entscheidungen.

Wie sehr der Status der Disziplin Stadtplanung sich geändert hat, lässt sich mit dem Abstand von 200 Jahren, mit dem Beginn der Phase der Schleifung der Fes-tungsanlagen feststellen. Der Machtumfang der mit der Neustrukturierung der städ-tischen Form beauftragten Spezialisten wird deutlich, angesichts des Mentalitäts-wandels, der sich darin ausdrückt, dass ummauerte Städte in offene Räume verwandelt wurden, angesichts des Widerstandes der traditionsverbundenen sozia-len Gruppen oder auch angesichts des Zusammenhangs zwischen Beseitigung der Zollschranken und der Neuordnung des Verkehrsnetzes.

Im Übrigen scheint eines der Charakteristika städtischer Innovation darin zu bestehen, sich selbst zu verstärken, und so logarithmische Kurven von immer schnelleren Zyklen hervorzubringen. Die Konzentration von Arbeitskraft, wissen-schaftlicher Erkenntnis und finanziellen Mitteln durch die zunehmende Verstädte-rung einerseits und die Expansion der Einzugsgebiete und die Intensivierung des

30 Marco Venturi

Austausches durch die Entwicklung der Kommunikationsnetze andererseits, stellen das Szenario einer Epoche dar, die Technologieinnovation zu ihrem grundlegenden Charakterzug machen wird.

In Hinblick auf die Siedlungsstruktur jedoch führt dies zu neuen Modellen, die – vor allem in der ersten Phase – durch die Abhängigkeit von Energiequellen ge-kennzeichnet ist. Das bedeutete, sich auf die Bereiche außerhalb der Städte beziehen zu müssen, die Stadtentwicklung auf die den Produktionsstätten innewohnende Logik zu stützen, Wohngebiete rings um die Fabriken wachsen lassen und ein neues System der Zentralitäten zu schaffen.

Das bedeutet auch, das Schicksal der einzelnen Städte an den Erfolg bestimm-ter Technologieinnovationen zu knüpfen, sowohl im Sinne der Abhängigkeit der städtebaulichen Programme von den wirtschaftlichen Ergebnissen einzelner lokaler Industrieproduktionen, wie auch in dem Sinn wirklicher Spekulationen mit der Effizienz einzelner spezifisch städtischer Innovationen für das bessere Funktionie-ren der Stadt.

Die Investitionen der städtischen Verwaltungen zur Förderung oder Entwick-lung einer Produktion oder eines örtlichen Patents sind angesichts der gegenwärti-gen Krisen der öffentlichen Finanzen unvorstellbar. Zu jener Zeit jedoch wurde in neue Transportsysteme ebenso investiert (in Wuppertal wird eine Stadt „erfunden“, indem die in einem Flusstal verstreuten Orte durch eine über dem Fluss, der das Rückgrat der Produktionsanlagen darstellte, aufgehängte Eisenbahnlinie miteinan-der verbunden werden), wie in neue sanitäre Infrastrukturen (in Paris ist der Stolz auf die Kanalisationsanlagen derartig groß, dass Bootstouren mit Laternen in den Hauptsammlern organisiert werden) und in Techniken der Wasser- und Stromver-sorgung (in einigen Fällen wurde in Frankreich das Flusswasser unterirdisch kanali-siert, auch um durch Flaschenzüge vertikale Energie zu erzeugen und Produktions-anlagen mitten im Zentrum und in den oberen Geschossen der historischen Gebäude möglich zu machen).

Wer in diesem Bereich der städtischen Technologien spät aktiv wurde, konnte daraus in einigen Fällen sogar Nutzen ziehen, denn die Investitionen in diese Ein-richtungen und Infrastrukturen wurden von denjenigen teuer bezahlt, die übereilt in die falschen Patente investiert hatten. Paris war zum Beispiel die erste Großstadt mit einem Telefonnetz, war aber die Letzte, die mit einem System automatischer Vermittlungsstellen ausgestattet wurde, eben weil sie zu viel in die Systeme mit ma-nueller Vermittlung investiert hatte, als dass sie die Kosten der Umrüstung zu fort-schrittlicheren Methoden hätte tragen können. In Italien kam hingegen die Energie-versorgung der Städte vergleichsweise spät, aber fast immer in der Form von Elektrizität, ohne den Umweg über den Einsatz von Wasserdruck oder Dampf.

Innovationslose Städte? 31

Städtische Umformungen

Jenseits der Unterschiede in den einzelnen Stadtgeschichten und spezifischen tech-nologischen Entscheidungen gibt es jedoch in der Zeit der Industrialisierung ein allen städtischen Entwicklungen gemeinsames und scheinbar verallgemeinerbares Charakteristikum, das zu entscheidenden Änderungen in der städtischen Form und in der Art der Planung der Stadterweiterung führt. Es handelt sich um die Unver-einbarkeit der neuen städtischen Einrichtungen – sowohl hinsichtlich ihrer Struktur, als auch hinsichtlich ihrer Dimension – mit der bestehenden Stadt.

Dabei geht es nicht mehr darum, die Stadt umzustrukturieren, ihre Funktionen den neuen Zielen und Wertskalen anzupassen, sondern darum, eine neue Stadt weit gehend „außerhalb“ der existierenden Stadt zu schaffen. Die existierende Stadt wird als spezialisierter Teil von einer „anderen“ Stadt vereinnahmt, die von anderen Menschen und anderen Funktionen geschaffen wurde.

Denkt man an Bahnhöfe und Gasometer, an Wassertürme und Kraftwerke, an Flusshäfen und Kläranlagen, so wird deutlich, dass es sich um Flächen mit einer anderen Körnung handelt, als die der Flächen der historischen Zentren. Nur selten können also die neuen Einrichtungen in Gebäuden oder Baublöcken der existieren-den Stadt untergebracht werden. Mit Ausnahme vielleicht einiger seltener Fälle der Umnutzung von Klostergebäuden, die zu früheren Zeiten durch die verschiedenen bürgerlichen Regierungen enteignet worden waren, findet die Stadterweiterung also ringförmig um die alten Zentren statt und kehrt die Quantitäten kleinteiliger Wohn-bebauung außerhalb dieses Rings, noch weiter außen (in einer Meile Abstand: die Banlieue) um.

Dieser ringförmige Streifen enthält nicht nur urbane technische Produktionen, sondern auch das neue System der repräsentativen Institutionen und Dienstleis-tungseinrichtungen, die ebenfalls aus politischen Gründen oder angesichts ihrer Dimension nicht in die historischen Altstadtzentren „eingepasst“ werden können.

Im Ruhrgebiet wird angesichts des Risikos, „Studenten und Arbeiter im Kampf vereint“ zu sehen, die Einrichtung von Universitäten von einer Regierung zur Nächsten, bis in die Mitte der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts verschoben, was die strategische Bedeutung beweist, die der wissenschaftlichen Forschung zugeschrieben wird: die alten Universitäten waren verknöchert und häu-fig reaktionär in ihren Inhalten, boten aber die notwendigen Rahmenbedingungen für die Produktion technologischer Innovation, die wiederum für den Wettbewerb zwischen den Produzenten von zentraler Bedeutung war.

Aber Technik und Forschung als Elemente des wirtschaftlichen Erfolgs sind offensichtlich auch hinsichtlich ihrer Standortwahl zu kontrollieren. Von nun an müssen Dimension und städtische Organisation als entscheidende ökonomische Faktoren in Betracht gezogen werden und können daher nicht mehr der Summe

32 Marco Venturi

von Einzelentscheidungen überlassen werden, sondern unterliegen häufig grundle-genden kollektiven Entscheidungen.

Die Stadt als solche stellt einen entscheidenden Markt für das Erreichen einer kritischen Masse für Expansionsstrategien dar, und so bemüht sich die Industrie selbst, in den Arbeitern auch mögliche Konsumenten, sozusagen ein potentielles Publikum zu sehen. Es sind also vor allem die Bedingungen für die Reproduktion der Arbeitskräfte zu schaffen, indem die in der Industrie erprobten Techniken auf die Stadt angewendet werden.

„Vom Löffel zur Stadt“ ist nicht nur der Slogan der Architekten der Moderne, sondern bereits im 19. Jahrhundert das Motto, mit dem die Produktivkräfte sich den Raum erobern. Lange vor Taylor wird den Industriellen klar, dass der Raum eine knappe Ressource ist und dass seine Organisation zu einem ökonomisch immer bedeutenderen Faktor wird, der insbesondere eine antizyklischen Funktion hat, da Investitionen in neue städtische Einrichtungen die Überwindung von Beschäfti-gungskrisen, die Optimierung des Gebrauches existierender und die Erschließung neuer Ressourcen für zukünftige Entwicklungen ermöglichen.

Wenn der Erfolg der neuen Technologien zu ihrer Erprobung außerhalb der Fabrik, an der ganzen Stadt führt, macht dies neue Kenntnisse über ihre Anwen-dung auf den Raum und die Neuverteilung und Neuzusammensetzung des durch die veränderte räumliche Anordnung der Produktionsfaktoren gewonnenen Wis-sens erforderlich: neue Techniker, die nicht durch das Aufpropfen auf den alten Stamm der Stadtverschönerung, sondern aufgrund der Anforderungen von „aufge-klärten“ Industriellen entstehen. Es handelt sich dabei um Industrielle, die besorgt darüber sind, dass die Entwicklungen die natürlichen Ressourcen erschöpfen oder die sozialen Spannungen verschärfen könnten.

Das Studium der Rolle, die die Auftraggeber bei den Politiken der Industrie-stadt gespielt haben, würde deren entscheidende Bedeutung für die Entstehung der Stadtplanung als Disziplin beleuchten. Die Stadtplanung als Disziplin ist nicht durch interne Weiterentwicklung alter Berufszweige, sondern durch die Forderungen „e-xogener“ Gruppen von Unternehmern entstanden, die davon überzeugt waren, industrielle Technologien könnten nicht nur auf die konstituierenden Elemente der Stadt, auf ihre „Teile“, sondern ebenso auf ihre Struktur, auf ihre raison d'être an-gewendet werden, und die zu Investitionen und Experimenten in unterschiedlichen Feldern drängten, wobei die neue Figur des Technikers der Stadtentwicklung ten-denziell ein verbindendes Element darstellte.

Die Techniker der Stadtplanung sollten vor allem im Bereich der Stadthygiene und der rationellen räumlichen Verteilung der Dienstleistungen und öffentlichen Einrichtungen die wissenschaftlichen Grundlagen liefern und aufzeigen, wie sich diese Prinzipien in die Gestaltung des städtischen Raumes übersetzen lassen; sie sollten in der Lage sein, den wachsenden Waren- und Personenverkehr durch inno-vative Studien zu Transportmitteln und -netzen miteinander verknüpfen sowie in-