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Umberto Eco Die Geschichte der Häßlichkeit Übersetzt aus dem Italienischen von Friederike Hausmann, Petra Kaiser, Sigrid Vagt ISBN-10: 3-446-20939-5 ISBN-13: 978-3-446-20939-8 Leseprobe Weitere Informationen oder Bestellungen unter http://www.hanser.de/978-3-446-20939-8 sowie im Buchhandel

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Umberto Eco

Die Geschichte derHäßlichkeit

Übersetzt aus dem Italienischen von Friederike Hausmann, PetraKaiser, Sigrid Vagt

ISBN-10: 3-446-20939-5ISBN-13: 978-3-446-20939-8

Leseprobe

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Kapitel I

Das Häßlichein der Welt der Antike

1. Eine von der Schönheit beherrschte Welt?

Von der griechischen Welt hegen wir gewöhnlich das stereotype Bild, das vonder Idealisierung des Griechentums durch den Klassizismus herrührt. Wir be-wundern an den blendend weißen Marmorstatuen von Aphrodite und Apolloin unseren Museen eine idealisierte Schönheit. Im 4. vorchristlichen Jahrhun-dert hatte Polyklet eine später als Kanon bezeichnete Figur geschaffen, in deralle Regeln für die idealen Proportionen verwirklicht waren. Im 1. Jahrhundertv. Chr. legte Vitruv die richtigen Proportionen als Teile des ganzen Körpers fest:Das Gesicht sollte ein Zehntel der Größe ausmachen, der Kopf ein Achtel, derOberkörper ein Viertel usw. Im Lichte dieses Schönheitsideals wurden alleMenschen, die nicht diesen Proportionen entsprachen, als häßlich betrachtet.Hat die Antike die Schönheit idealisiert, so hat der Klassizismus die Antike idea-lisiert und dabei vergessen, daß sie (vom Orient beeinflußt) der abendländi-schen Tradition auch Bilder von Gestalten hinterlassen hat, in denen sich dieUnproportioniertheit, die Negation jedes Kanons verkörpert.Das griechische Ideal war im Begriff der kalokagathía enthalten, der Verbin-dung von kalós (normalerweise als »schön« übersetzt) und agathos (meist als»gut« übersetzt, umfaßt aber eine ganze Reihe von positiven Werten). Man hatbehauptet, daß kalos und agathos zu sein in etwa das bezeichnete, was manunter einem Gentleman versteht, eine Person von würdigem Aussehen, Mut,Stil, Gewandtheit und sportlichen, militärischen und moralischen Tugenden.Ausgehend von diesem Ideal haben die Griechen zahlreiche Werke über denZusammenhang von körperlicher und moralischer Häßlichkeit verfaßt.Dennoch bleibt unklar, ob die Antike als »schön« all das verstanden hat, wasgefällt, Bewunderung erregt, den Blick auf sich zieht und durch seine Form dieSinne berührt, oder eine »geistige« Schönheit, eine Eigenschaft der Seele,

Bronzestatue eines Satyrs,Zweite Hälfte 4. Jahr-hundert v. Chr.München, StaatlicheAntikensammlungenund Glyptothek

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die manchmal nicht mit der Schönheit des Körpers übereinstimmt. Der Krieggegen Troja wird im Grunde durch die außergewöhnliche Schönheit Helenasausgelöst, und Gorgias hat über Helenas Schönheit eigenartigerweise einEnkomion geschrieben. Dabei konnte Helena als untreue Gattin des Menelaosgewiß nicht als ein Vorbild an Tugend betrachtet werden.Wenn für Platon nur die Welt der Ideen wirklich und unsere materielle Weltlediglich Schatten und Abbild von ihr ist, dann müßte das Häßliche das Nicht-Existente sein, denn im Parmenides wird verneint, daß es Ideen von unreinenund verwerflichen Dingen geben kann wie »Haar, Kot, Schmutz«. Das Häßlichekäme demnach nur in der Welt der Sinneswahrnehmungen vor, als Ausdruckder Unvollkommenheit der Welt der Körper gegenüber der Welt der Ideen.Später setzt Plotin, der die Materie grundsätzlich als Übel und Irrtum definiert,das Häßliche mit der materiellen Welt gleich.Doch es genügt, das Gastmahl zu lesen, den platonischen Dialog über Eros (als

Peter Paul Rubens,Das Haupt der Medusa,um 1618Wien, KunsthistorischesMuseum

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Liebe) und Schönheit, um viele Nuancen festzustellen. In diesem und in denanderen platonischen Dialogen wie auch allgemein in fast allen philosophi-schen Erörterungen über das Schöne und Häßliche werden diese Werte zwargenannt, aber nie durch Beispiele erläutert (weshalb wir, wie in der Einführungerwähnt, gezwungen sind, die philosophischen Aussagen mit konkreten künst-lerischen Darstellungen zu vergleichen). Schwer zu sagen, was die Schönheitder Dinge ausmacht, die unser Begehren erregen. In bezug auf den Begriff desGuten beinhaltet der Dialog vor allem ein Lob der päderastia im ursprüng-lichen Wortsinn von Liebe, die ein weiser und reifer Mann der Schönheit einesJugendlichen entgegenbringt. Diese Knabenliebe war in der griechischen Ge-sellschaft allgemein akzeptiert, aber in dem Dialog wird ein großer Unterschieddeutlich zwischen der von Pausanias gelobten Päderastie (nämlich dem physi-schen Begehren der Schönheit des jungen Mannes) und der sublimiertenPäderastie (die wir heute »platonisch« nennen würden) des Sokrates.

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Pausanias unterscheidet den Eros der »irdischen« Aphrodite als den Eros der»niedrigdenkenden« Menschen, die ohne Unterschied Frauen und jungeMänner und mehr ihre Körper als ihre Seelen lieben, von dem Eros der »himm-lischen« Aphrodite, der ausschließlich Liebe zu jungen Männern ist, nicht zuunbedarften Kindern, sondern zu denen, »welche schon zu Verstand kommen;dies fällt aber ungefähr mit der Zeit des ersten Bartwuchses zusammen.« Dochauch Pausanias räumt ein, daß man unter den jungen Männern die »Edelstenund Besten, wenn sie auch viel häßlicher sind als die anderen« lieben muß, des-halb handelt der Liebhaber schimpflich, der mehr den Körper als die Seeleliebt. In diesem Sinne stiftet die Knabenliebe, auch wenn sie die physischeVereinigung nicht ausschließt, eine erotisch-philosophische Freundschaft zwi-schen dem Geliebten (dem Jungen, der die Gesellschaft eines reifen Mannesakzeptiert, um in die Weisheit und das Erwachsenenleben eingeführt zu wer-den, und sich dem Älteren dafür hingibt) und dem Liebhaber, dem Weisen, dersich in die Anmut und Tugend des Jungen verliebt.Nach Pausanias kommt Aristophanes zu Wort, der erzählt, daß es anfangs dreiGeschlechter gegeben habe, das männliche, das weibliche und das androgyne.Erst nachdem Zeus jedes zweigeteilt habe, gebe es »Schnittlinge der männ-lichen Gattung«, die ihre Freude daran haben, »neben den Männern zu ruhenund von Männern umschlungen zu werden«, und Frauen, die »sich weit mehr

I. DAS HÄSSLICHE IN DER WELT DER ANTIKE

Der Begriff des HäßlichenPlaton (5.–4. Jh. v. Chr.), Parmenides, 130b–dAuch etwa dergleichen: ein Begriff desGerechten für sich und des Schönen undGuten und alles dessen, was wiederum dieserArt ist? Ja, habe er gesagt.Und wie, auch einen Begriff des Menschenaußerhalb von uns und von allem, das ebendas ist wie wir: so einen Begriff für sich, desMenschen oder des Feuers oder des Wassers? Hierüber, habe er gesagt, bin ich oftmals inZweifel gewesen, o Parmenides, ob man auchhiervon eben das behaupten soll wie vonjenem oder etwas anderes.Etwa auch über solche Dinge, o Sokrates, wel-che gar lächerlich herauskämen, wie Haare,Schlamm, Schmutz und was sonst noch rechtgeringfügig und verächtlich ist, bist du inZweifel, ob man behaupten solle, daß es auchvon jedem unter diesen einen Begriff beson-ders gebe, der wiederum etwas anderes ist alsdie Dinge, die wir handhaben, oder ob man essich nicht behaupten solle? Keineswegs, habe Sokrates gesagt, sonderndaß diese wohl eben sind, wie wir sie sehen,und daß zu glauben, es gebe noch einenBegriff von ihnen, doch gar zu wunderlich seinmöchte.

Das moralisch HäßlichePlotin (3. Jh.), Enneaden, I, 6Nehmen wir also eine häßliche, zügellose undungerechte Seele, vollgepfropft mit sinnlichenBegierden, eine Seele voll Unruhe, voll feigerFurcht, voll kleinlichen Neides, […] in ihremLeben nur von körperlichen Einflüssen abhän-gig, eine Seele, die am Häßlichen ihre Lust fin-det: werden wir nun nicht sagen, daß ebendiese Häßlichkeit wie ein ihr ursprünglichfremdes Übel an sie herangetreten ist, welchessie schmählich verunstaltet, sie unrein gemacht,sie mit dem Bösen gleichsam durchsäuert hat,so daß sie kein reines Leben, keine reine Emp-findung mehr hat, sondern durch die Ver-mischung mit dem Bösen ein verschwomme-nes, vielfach vom Tode durchdrungenes Lebenführt, nicht mehr das sieht, was eine Seele sehen soll, nicht mehr im Stande ist, bei sichselbst zu bleiben, weil sie stets zum Äußer-lichen, Irdischen und Dunkeln hingezogenwird? [… Sie hat] durch die Vermischung mitdem Schlechten ein ganz andres Aussehenangenommen; gleichsam wie wenn einer sichin Schlamm oder Schmutz eintaucht und nunnicht mehr seine ursprüngliche Schönheiterscheinen läßt, sondern mit dem gesehenwerden muß, was von dem Schlamm undSchmutz sich an ihm festgesetzt hat.

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1. EINE VON DER SCHÖNHEIT BEHERRSCHTE WELT?

Die Zentauren am Hofdes Königs Peirithoos,Wandmalerei ausPompeji,1. JahrhundertNeapel, Museo Archeologico Nazionale

den Frauen zuwenden« (für beide Kategorien gilt: auf »Ehe und Kindererzeu-gung dagegen ist ihr Sinn von Natur nicht gerichtet, sondern sie werden nurvom Gesetze dazu gezwungen«) und diejenigen, die wir als heterosexuell be-zeichnen. Als nächster Teilnehmer des Gesprächs stellt dann Agathon Eros alsimmerwährend schön und jung dar (diese Verbindung von Schönheit mit Ju-gend und Häßlichkeit mit Alter ist in der griechischen Welt seit Pindar geläufig).An diesem Punkt zeigt Sokrates (der seine eigenen Vorstellungen einer fiktivenPriesterin namens Diotima in den Mund legt), daß Eros, der das begehrt, was ernicht hat, weder schön noch gut sein kann, sondern eine Art »Dämon« ist, einMittelglied zwischen Gott und Mensch, reine Hinwendung zu den ideellenWerten, die er stets zu erreichen sucht. Eros ist Sohn der Penia (Mangel, Armut)und des Poros (Erwerb, Betrieb), und als solcher hat er von der Mutter ein er-bärmliches Äußeres (er ist »rauh und nachlässig im Äußern, barfuß und obdach-los«), vom Vater dagegen die Fähigkeit, dem Guten und Schönen nachzustellen,denn er ist »ein gewaltiger Jäger«. Daher gehört zum Wesen des Eros das Be-dürfnis nach »Zeugung«, um den Wunsch des Menschen nach Unsterblichkeitzu befriedigen. Neben der physischen Zeugung gibt es allerdings auch die Zeu-gung von geistigen Werten, durch die man die Unsterblichkeit des Ruhmesgewinnt. Man könnte sagen, daß die Unwissenden Kinder hervorbringen, dieje-nigen aber, die den Adel des Geistes kultivieren, Schönheit und Weisheit.

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I. DAS HÄSSLICHE IN DER WELT DER ANTIKE

In diesem Streben achtet der Mann, der wirklich kalós und agathos ist, »die gei-stige Schönheit für weit schätzbarer … als die des Körpers« und wird sich des-halb eines jungen Mannes annehmen, weil er sehr tugendhaft ist, selbst wenn»dabei sein körperlicher Reiz nur gering« sein mag, aber er bleibt nicht bei derSchönheit eines einzelnen Körpers stehen, sondern versucht durch die Erfah-rung unterschiedlicher Schönheiten die Erfahrung des Schönen an sich, des»Urschönen«, der Schönheit als Idee zu erreichen.Daß sich Sokrates dieser Art der Liebe widmet, wird deutlich, als Alkibiades,bereits betrunken, bei dem Gastmahl erscheint und erzählt, daß er aus demWunsch, an der Weisheit des Sokrates teilzuhaben, sich Sokrates mehr als ein-mal angeboten, dieser aber die fleischliche Vereinigung stets verweigert habeund nur keusch bei ihm gelegen sei.In diesem Zusammenhang hält Alkibiades die berühmte Lobrede auf dieäußerliche Häßlichkeit des Sokrates, der unter dem Äußeren eines Silens einetiefe innere Schönheit verbirgt.In diesem einen Dialog verbergen sich also unterschiedliche Vorstellungen vonSchönheit und Häßlichkeit, so daß sich das vereinfachte Schema der Häßlich-keit als Gegenpol zur kalokagathía verkompliziert. Dieser Komplexität war sichdie griechische Kultur stets bewußt, wie später aus der Lobrede auf einen

Silen,Terracotta,3.–1. Jahrhundert v. Chr.München, StaatlicheAntikensammlungenund Glyptothek

Porträt des Sokrates,4. Jahrhundert v. Chr.Selçuk (Türkei)Ephesos (heute Efes),Museum

Rechte SeiteAnthonis van Dyck,Trunkener Silen,um 1620Dresden,GemäldegalerieAlte Meister,StaatlicheKunstsammlungen

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ThersitesHomer (9. Jh. v. Chr.),Ilias, II, 216–221Der häßlichste Mann vor Ilios, war er gekommen: /Schielend war er und lahm am anderen Fuß; unddie Schultern / Höckerig, gegen die Brust ihmgeengt; und oben erhub sich / Spitz sein Haupt,auf der Scheitel mit dünnlicher Wolle besäet. /Widerlich war er vor allen des Peleus Sohn undOdysseus; / Denn er lästert’ sie stets. […]

Äsop, der HäßlicheÄsoproman, I (1.–2. Jh.)Der Fabeldichter Äsop, ein Phrygier aus Phry-gien, […] häßlich und zu schwerer Arbeit un-brauchbar. Er hatte einen Hängebauch und einenvorstehenden Kopf, war stumpfnasig, taub undvon schmutziger Hautfarbe. Wie ein Krüppel saher aus, seine Arme waren verschieden lang, under ging krumm. Außerdem schielte er und trugeinen Schnurrbart – kurz, schon von weitemwirkte Äsop abstoßend. Zu allen diesen Mängelnkam ein noch viel größerer als seine Häßlichkeit:seine Stummheit; er hatte keine Zähne undkonnte sich nur schwer verständlich machen.

Sokrates als SilenPlaton (5.–4. Jh. v. Chr.),Das Gastmahl, 203c–dIch behaupte nämlich, er [Sokrates] sei äußerstähnlich jenen Silenen in den Werkstätten derBildhauer, welche die Künstler mit Pfeifen oderFlöten vorstellen, in denen man aber, wenn mandie eine Hälfte wegnimmt, Bildsäulen vonGöttern erblickt.

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anderen äußerlich häßlichen, seelisch aber edlen und an Weisheit reichenMann hervorgeht: Äsop.Doch die Welt der Griechen ist auch von anderen Widersprüchen durchzogen.Da das Häßliche als Mangel an Harmonie das Gegenteil des seelisch Guten sei,empfahl Platon in Hippias maior, vor der Jugend nichts Häßliches darzustellen,gab aber zu, daß im Grunde alle Dinge in dem Maße eine eigene Schönheitbesäßen, in dem sie mit der entsprechenden Idee übereinstimmten; deshalbkönne man ein Mädchen schön nennen, eine Stute und ein Gefäß, aber jedeseinzelne sei häßlich gegenüber dem vorausgehenden. Aristoteles legte in sei-ner Poetik das jahrhundertelang allgemein akzeptierte Prinzip fest, daß häß-liche Dinge schön nachgeahmt werden können – und von Anfang an bewun-derte man die Art, in der Homer die physische und moralische Widerlichkeitdes Thersites dargestellt hat.Später erkennt ein Stoiker wie Marc Aurel an, daß selbst das Häßliche, ja sogarUnvollkommenheiten wie die Risse in der Brotrinde zur Annehmlichkeit desGanzen beitragen können. Dieses Prinzip beherrscht das Denken der Kirchen-väter und Scholastiker, bei denen das Häßliche, im Kontext aufgehoben, zurHarmonie des Universums beiträgt.

I. DAS HÄSSLICHE IN DER WELT DER ANTIKE

Bildnis des Äsop,Holzschnitt,Basel 1490

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1. EINE VON DER SCHÖNHEIT BEHERRSCHTE WELT?

Diego Velázquez,Äsop,1639–1642Madrid, Museo delPrado

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Über die Schwierigkeit, häßlich und schönzu definierenPlaton (5.–4. Jh. v. Chr.), Hippias I, 286c–289bSokrates: Denn neulich, bester Mann, hat micheiner recht in Verlegenheit gesetzt, als ich angewissen Reden einiges tadelte als schlecht,anderes lobte als schön, indem er mich, unddas ganz spöttisch, so etwa fragte: Aber woher,Sokrates, weißt du mir denn, was schön ist undwas schlecht? Denn sprich, könntest du wohlsagen, was das Schöne ist? […]Hippias: Nämlich wisse nur, Sokrates, wenn iches dir recht sagen soll, ein schönes Mädchen istschön.Sokrates: Wie sinnreich du bist, Sokrates, wird ersagen. Eine schöne Stute aber, ist die nichtschön, die doch der Gott selbst im Orakelgelobt hat? Was sollen wir sagen, Hippias?Müssen wir nicht sagen, auch eine Stute seischön, eine schöne nämlich? […]Hippias: Du hast recht, Sokrates, und ganz rich-tig hat auch der Gott dieses gesagt. Denn sehrschöne Stuten gibt es bei uns.Sokrates: Wohl, wird er also sagen. Aber wie,eine schöne Leier, ist die nicht schön? […] Eineschöne Kanne, ist die nicht schön? […] Wenndie Kanne von einem guten Töpfer gedreht ist,hübsch glatt und rund und dann schön ge-brannt, wie es solche schönen Kannen gibt,zweihenklige, von denen, die sechs Maß halten,welche sehr schön sind: Wenn er eine solcheKanne meint, werden wir wohl gestehen müs-sen, daß sie schön ist. […]Hippias: Allein, o Sokrates, es verhält sich, glau-be ich, so: Auch ein solches Gefäß ist freilichschön, wenn es schön gearbeitet ist; aber dieganze Sache verdient nicht mitgerechnet zuwerden als etwas Schönes im Vergleich mit Pfer-den, Mädchen und allem sonstigen Schönen.Sokrates: Wohl! Nun verstehe ich, Hippias, daßwir dem, welcher dergleichen fragt, so entgeg-nen müssen: Weißt du denn nicht, Mensch, daßHerakleitos recht hat, daß der schönste Affehäßlich ist, mit dem menschlichen Geschlechtverglichen? Und so ist auch die schönsteKanne häßlich, mit Mädchen verglichen, wieder weise Hippias sagt. […]Hippias: Wie aber, Sokrates, wenn jemand nundie Mädchen im allgemeinen mit den Göttin-nen vergliche, wird es ihnen nicht ebenso er-gehen wie den Kannen im Vergleich mit denMädchen? Wird nicht das schönste Mädchenhäßlich erscheinen?

Die Darstellung des Häßlichen vermeidenPlaton (5.–4. Jh. v. Chr.), Der Staat, III, 401b–c […] und die Unanständigkeit und Ungemes-senheit und Mißtönigkeit sind dem schlechtenGeschwätz und der Übelgesinntheit verschwi-stert, das Gegenteil aber ist mit dem Gegenteil,dem besonnenen und guten Gemüt, verschwi-

stert und dessen Darstellung. […] Müssen wiralso die Dichter allein in Aufsicht halten undsie nötigen, dieser guten Gesinnung Bild ihrenDichtungen einzubilden oder überhaupt nichtbei uns zu dichten? Oder müssen auch alleanderen Arbeiten unter Aufsicht stehen undabgehalten werden, dies Bösartige und Un-bändige und Unedle und Unanständige wederin Abbildungen des Lebenden noch in Gebäu-den noch an irgendeinem anderen Werk anzu-bringen; oder wer das nicht könnte, dem wärenicht zu gestatten, bei uns zu arbeiten, damitnicht unsere Wehrmänner, wenn sie, bei lauterBildern des Schlechten aufgezogen wie beischlechtem Futter, täglich wiewohl bei weni-gem vieles von vielerlei abpflücken und ge-nießen, am Ende unvermerkt sich ein großesÜbel in ihrer Seele angerichtet haben.

Schön nachahmenAristoteles (4. Jh.v.Chr.), Poetik, 1448b Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dicht-kunst hervorgebracht zu haben, und zwarnaturgegebene Ursachen. Denn sowohl dasNachahmen selbst ist den Menschen angebo-ren – es zeigt sich von Kindheit an, und derMensch unterscheidet sich dadurch von denübrigen Lebewesen, daß er in besonderemMaße zur Nachahmung befähigt ist und seineersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt –als auch die Freude, die jedermann an Nach-ahmungen hat. Als Beweis hierfür kann eineErfahrungstatsache dienen. Denn von Dingen,die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken,sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbil-dungen, z. B. Darstellungen von äußerst unan-sehnlichen Tieren und von Leichen.

Es gibt keine Häßlichkeit in der NaturMarc Aurel (2. Jh.), Selbstbetrachtungen, III, 2So bekommt zum Beispiel manchmal das Brotbeim Backen Risse, und diese Zwischenräume,die nicht in der Absicht des Bäckers liegen,haben doch eine gewisse Annehmlichkeit, einebesondere Anziehungskraft für den Appetit.So brechen auch die Feigen bei ihrer Reife auf,und den Oliven verleiht gerade der Zustandnaher Fäulnis noch einen besonderen Reiz. Diezur Erde geneigten Ähren, die Augenbrauendes Löwen, der Schaum an der Schnauze deswilden Schweines und so viele andere Dingehaben für sich betrachtet nichts Schönes, unddoch tragen sie zu ihrem Schmucke bei undmachen uns Vergnügen, weil sie Zubehör ihreseigenen Wesens sind. Hat daher jemandEmpfänglichkeit und ein tieferes Verständnisfür alles, was im Weltganzen geschieht, so gibtes kaum etwas, was uns auch unter solchenNebenumständen nicht als eine Art harmoni-scher Übereinstimmung mit dem großenGanzen erschiene.

1. EINE VON DER SCHÖNHEIT BEHERRSCHTE WELT?

Perseus tötet dieMedusa,Metope des Tempelsvon Selinunt (Detail),540 v. Chr.Palermo, MuseoNazionale