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Umschlag 24.05.2005 15:49 Uhr Seite 1 Neue …Carl Schmitt stand nach eigenen Angaben in den 20er und 30er Jahren im perma-nenten »Kampf mit Weimar – Genf – Versailles«.2 Durch

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Nomos

HerausgeberDietmar Herz Franz Knöpfle Peter Cornelius Mayer-Tasch Armin Nassehi Heinrich Oberreuter Sabine von Schorlemer Theo Stammen Roland Sturm Hans Wagner Wulfdiether Zippel

Aus dem Inhalt:Zum 20. Todestag von Carl SchmittKlaus RothCarl Schmitt – ein Verfassungsfreund? SeineStellung zur Weimarer Republik in der Phaseder relativen Stabilisierung (1924–29)

Hermann LübbeSubsidiarität. Zur europarechtlichenPositivierung eines Begriffs

Volker KronenbergIntegration in Zeiten des Wandels –Zuwanderung und demographische Krise alsgesellschaftspolitische Herausforderungen

Berichte und Diskussionen:

Christian HeinzeRechtspolitische Gedanken zurAltersversorgung

Reimund OttowPolitischer Patriarchalismus in England im 16./17. Jahrhundert

200552. JahrgangJuni 2005Seite 139–258ISSN 0044-33608540 F

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Zeitschriftfür PolitikZfP

Organ der Hochschule für Politik München

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Neue Studienliteratur bei Nomos

FöderalismusEine EinführungVon Prof. Dr. Roland Sturm,Universität Erlangen und Dr.Petra Zimmermann-Steinhart,Universität Erlangen2005, 183 S., brosch., 17,90 €,ISBN 3-8329-1063-8

Der Band bietet eine systemati-sche und international verglei-chende Einführung in das ThemaFöderalismus. Die Themen um-fassen »Theoretische und staats-rechtliche Grundlagen des Föde-ralismus«, »Ausprägungen derpolitischen Willensbildung imFöderalismus«, »Auseinander-setzungen um Reformen derföderalen Ordnungen« und»Fortschreitende Föderalisie-rung und Dezentralisierung derStaaten Ost- und Westeuropas«.

Weltpolitische KonflikteEine EinführungVon Prof. Dr. Helmut Hubel,Universität Jena2005, 300 S., brosch., 19,90 €,ISBN 3-8329-1348-3

Seit Ende des Ost-West-Kon-flikts sind nicht weniger, son-dern eher mehr weltpolitischeKonflikte zu verzeichnen. Dervorliegende Band untersucht,welche Theorieansätze geeig-net sind, um das aktuelle Kon-fliktgeschehen zu analysieren,er stellt sieben Konflikttypenvor und erläutert diese an kon-kreten Beispielen. Schließlichwerden die wichtigsten Akteu-re der Konfliktbearbeitung (VN,OSZE, USA und EU) behandelt.

Kenneth N.WaltzEinführung in seine Theorieund Auseinandersetzung mitseinen KritikernMit einem Vorwort von John J.Mearsheimer und einem Nach-wort von Kenneth N.WaltzVon Priv.-Doz. Dr. Carlo Masala,Florenz2005, 149 S., brosch., 17,80 €,ISBN 3-8329-1066-2Der Band führt zunächst in dieKernthemen und -aussagen derTheorie des Neorealismus vonKenneth N. Waltz ein. Im zwei-ten Teil der Einführung setztsich Masala mit den Kritikerndes Ansatzes auseinander. Kon-trollfragen zu jedem Kapitelund ein ausführliches Literatur-verzeichnis machen den Bandzu einer optimalen Einführungin diesen Theorieansatz.

Nomos

Umschlag 24.05.2005 15:49 Uhr Seite 1

ZfP 52. Jg. 2/2005

2/200552. Jahrgang (Neue Folge)Seite 139–258Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und Richard Schmidt

ZfP Zeitschrift für PolitikO r g a n d e r H o c h s c h u l e f ü r Po l i t i k M ü n c h e n

Herausgeber: Prof. Dr. Dietmar Herz, Universität Erfurt; Prof. Dr. Franz Knöpfle, Universi-tät Augsburg; Prof. Dr. Peter Cornelius Mayer-Tasch, Universität München; Prof. Dr. ArminNassehi, Universität München; Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Oberreuter, Universität Passau;Prof. Dr. Dr. Sabine von Schorlemer, Technische Universität Dresden; Prof. Dr. Theo Stam-men, Universität Augsburg; Prof. Dr. Roland Sturm, Universität Erlangen-Nürnberg; Prof.Dr. Hans Wagner, Universität München; Prof. Dr. Wulfdiether Zippel, Technische UniversitätMünchen

Redaktion: Prof. Dr. Dr. Hans-Martin Schönherr-Mann, Universität München

Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ulrich Beck; Prof. Dr. Alain Besançon; Prof. Dr. Dr. h.c.mult. Karl Dietrich Bracher; Dr. Friedrich Karl Fromme; Prof. Dr. Utta Gruber; Prof. Dr.Dr. h.c. Werner Gumpel; Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle; Prof. Dr. Wilhelm Hennis;Prof. Dr. Peter Graf Kielmansegg; Prof. Dr. Leszek Kolakowski; Prof. Dr. Dr. h.c. HermannLübbe; Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Maier; Prof. Dr. Harvey C. Mansfield; Prof. Dr. Dr. h.c.Dieter Oberndörfer; Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Jürgen Papier; Prof. Dr. Roberto Racinaro;Prof. Dr. Hans Heinrich Rupp; Prof. Dr. Charles Taylor

Inhalt

Anlässlich des 20. Todestages von Carl SchmittKlaus RothCarl Schmitt – ein Verfassungsfreund? Seine Stellung zur Weimarer Republik in der Phase der relativen Stabilisierung (1924–29) .. 141

Hermann LübbeSubsidiarität. Zur europarechtlichen Positivierung eines Begriffs ........... 157

Volker KronenbergIntegration in Zeiten des Wandels – Zuwanderung und demographischeKrise als gesellschaftspolitische Herausforderungen ................................... 169

Berichte und Diskussionen

Christian HeinzeRechtspolitische Gedanken zur Altersversorgung ...................................... 179

Raimund OttowPolitischer Patriarchalismus in England im 16./17. Jahrhundert ............. 190

Buchbesprechungen .......................................................................................... 208

Inhalt.fm Seite 1 Montag, 16. Mai 2005 1:40 13

Zeitschriftfür PolitikZfP

Organ der Hochschule für Politik München

Redaktion: Prof. Dr. Dr. Hans-Martin Schönherr-Mann,Hochschule für Politik, Ludwigstraße 8, 80539 München.

Alle Beiträge sind an die Redaktion zu adressieren. Dasselbegilt für Rezensionsexemplare. Beiträge werden nur zur aus-schließlichen Alleinveröffentlichung angenommen. DieAnnahme zur Veröffentlichung muss schriftlich erfolgen.Mit der Annahme erwirbt der Verlag vom Verfasser alleRechte zur Veröffentlichung, auch das Recht der weiterenVervielfältigung zu gewerblichen Zwecken im Wege foto-mechanischer oder anderer Verfahren. Für Manuskripteund Bücher, die unaufgefordert eingesandt werden, wirdkeine Haftung übernommen.

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Verlag: NOMOS Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,Postfach 100 310, 76484 Baden-Baden, Telefon 0 72 21 / 2104-0, Telefax 0 72 21 / 21 04-43.

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Hinweise für Autoren zur Gestaltung derManuskripte

1. Manuskripte sollten der ZfP-Redaktion in 3Exemplaren sowie als Datei eingereichtwerden.

2. Der Umfang eines Artikel sollte bei etwa 25Seiten DIN A4, 1 1/2-zeilig geschrieben,liegen. Schriftgröße: 12 pt, neue Recht-schreibung.

3. Am Ende des Manuskripts ist eine deutscheund eine englische Zusammenfassung zubringen, wobei die deutsche Fassung 10 Zei-len nicht überschreiten soll.

4. Es gibt kein Literaturverzeichnis am Endedes Manuskripts; vielmehr werden in derZfP Literaturverweise und zitierte Literaturausschließlich in den Fußnoten (FN) in nor-maler Groß- und Kleinschreibung genannt,Reihenfolge der Angaben, Hervorhebun-gen (Kursivschrift, Anführungszeichen) undInterpunktion entsprechend den folgendenBeispielen:

Bücher:Christine Landfried, Das politische Europa,Baden-Baden 2005, S. …

Artikel:Niklas Luhmann, »Das Gedächtnis der Politik«in: Zeitschrift für Politik, 2/1995, S. 109-121oder in: Buchzitation wie oben angegeben

Bei zwei oder mehr Autoren und zwei odermehr Erscheinungsorten wird der Schräg-strich/ verwendet; bei den Autoren mit jeweilseiner Leertaste vor und nach dem Schräg-strich, bei den Erscheinungsorten ohne Leer-stellen.

Verwendete Abkürzungen: ebd., S. … undaaO. (FN…), S. …

Beilagenhinweis: Dieser Ausgabe liegt einProspekt des Blätter Verlags und der NomosVerlagsgesellschaft bei. Wir bitte freundlichstum Beachtung.

Autoren dieses Heftes

Dr. jur. Christian Heinze, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Verwaltungsrecht in München

Prof. Dr. Dr.h.c. Hermann Lübbe, Honorarprofessor für Philosophie und Politische Theorie ander Universität Zürich

PD Dr. Volker Kronenberg, Akad. Oberrat und Geschäftsführer des Seminars für Politische Wis-senschaft der Universität Bonn

Dr. habil. Raimund Ottow, wissenschaftlicher Mitarbeiter an DFG-Projekten an der TU Dresdenund der Humboldt-Universität zu Berlin

PD Dr. Klaus Roth, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin

Inhalt.fm Seite 2 Montag, 16. Mai 2005 1:40 13

ZfP 52. Jg. 2/2005

Klaus Roth

Carl Schmitt – ein Verfassungsfreund? Seine Stellung zur Weimarer Republik in der Phase

der relativen Stabilisierung (1924–29)1

Carl Schmitt stand nach eigenen Angaben in den 20er und 30er Jahren im perma-nenten »Kampf mit Weimar – Genf – Versailles«.2 Durch diese Selbstcharakterisie-rung hat er es seinen Kritikern leicht gemacht, die in ihm einen Verfassungsfeind, ei-nen Gegner und Verächter der Demokratie erblicken, der – als »Apokalyptiker derGegenrevolution«3 – seinen Beitrag zur Zerstörung der ersten deutschen Demokra-tie geleistet hat und zum »Wegbereiter des Nationalsozialismus« geworden ist.4Diese Kritiker stützen sich gewöhnlich auf die Schriften aus den Krisenzeiten, derGeburts- und der Endkrise der Weimarer Republik, sowie auf die späteren ArbeitenSchmitts aus den ersten Jahren der NS-Zeit. Dabei wird unterstellt, dass ein geraderWeg von der Parlamentarismusschrift von 1923 zum »Hüter der Verfassung«(1931), zu »Legalität und Legitimität« (1932) sowie zu »Der Führer schützt dasRecht« (1934) usw. führe.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Entwicklung tatsächlich so geradlinig ver-lief. Dies lässt sich bezweifeln. Schmitt selbst verstand sich jedenfalls in der zweiten

1 Der Text ist die erweiterte Fassung des Vortrags, den ich im Rahmen meines Habilitati-onsverfahrens am 3. Juli 2002 am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften derFreien Universität Berlin gehalten habe. Für Anregungen und Kritik danke ich AxelBaake, Gerhard Göhler, Bernd Ladwig, Arnhelm Neusüss und Klaus Reimus.

2 Vgl. Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles1923–1939, Hamburg-Wandsbek 1940 (Nachdruck Berlin 1988). Dazu Helmut Qua-ritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1989.

3 Jacob Taubes, Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin 1987, S. 7 ff.4 Vgl. die früheren Studien von Jürgen Fijalkowski, Die Wendung zum Führerstaat. Ideo-

logische Komponenten in der politischen Philosophie Carl Schmitts, Köln/Opladen 1958;Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie CarlSchmitts, Neuwied/Berlin 1964; Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. EineUntersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958(Nachdruck Frankfurt/M/New York 1990); Peter Schneider, Ausnahmezustand undNorm. Eine Studie zur Rechtslehre von Carl Schmitt, Stuttgart 1957; Kurt Sontheimer,Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik (1962), München 1978, bes. S. 78ff. Aus der jüngeren Literatur vgl. Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Auf-stieg zum »Kronjuristen des Dritten Reiches«, Darmstadt 1995 (mit umfassenden Litera-turhinweisen); Ingeborg Maus, Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus. Zur sozialenFunktion und aktuellen Wirkung der Theorie Carl Schmitts, München 1976, 19802; Vol-ker Neumann, Der Staat im Bürgerkrieg. Kontinuität und Wandlung des Staatsbegriffsin der politischen Theorie Carl Schmitts, Frankfurt/M./New York 1980.

Roth.fm Seite 141 Dienstag, 17. Mai 2005 10:26 10

Klaus Roth · Carl Schmitt – ein Verfassungsfreund?142

Hälfte der 20er Jahre als Freund der Weimarer Reichsverfassung, die er zu verteidi-gen und zu stabilisieren versuchte.5 Das ist der Grund, weshalb er 1928 seine Verfas-sungslehre erscheinen ließ. Er sah in der – recht verstandenen – Verfassung ein ge-eignetes Instrument, um der aufgewühlten Massengesellschaft Form, d. h. Strukturund Ordnung zu vermitteln. Dafür mussten aber ihre Antinomien und Paradoxienaufgelöst werden. Schmitt hat sie deshalb in einem eigenwilligen Sinn interpretiert,der vor allem gegen die liberale und sozialdemokratische Lesart gerichtet war.

Um zu prüfen, wie es sich mit seiner Verfassungsfreundschaft tatsächlich verhält,muss man nicht auf die von ihm mitformulierten Notstandspläne aus der Zeit derPräsidialkabinette nach 1930 oder die Aktivitäten des Preußischen Staatsrats in Hit-lers Reich6 rekurrieren. Die folgende Untersuchung wird sich stattdessen auf jenePhase konzentrieren, die in der Schmitt-Diskussion ein wenig unterbelichtet geblie-ben ist, nämlich die Zeit der relativen Stabilisierung, die Blütezeit der Weimarer Re-publik, die »Goldenen Zwanziger Jahre«. Schmitt soll weder als »jüngster Klassikerdes politischen Denkens« inthronisiert7 noch als »Präfaschist« entlarvt werden, viel-mehr soll durch eine Kontextualisierung seines Werkes sein Beitrag zur Selbstrefle-xion der ersten deutschen Republik betrachtet werden. Dadurch wird ein gelassene-rer Umgang mit seinem Werk möglich.8 Es wird sich zeigen, dass Carl Schmittseinerzeit tatsächlich kein Gegner der Weimarer Reichsverfassung, sondern instän-dig bemüht war, sie vor der Auflösung zu bewahren. Zu erwägen ist jedoch, ob sei-ne Interpretation nicht allzu viel von ihrer Substanz preiszugeben bereit war.

Zunächst sei kurz an die politische, wirtschaftliche und soziale Lage nach derÜberwindung der Krise erinnert. Allen Schwierigkeiten zum Trotz hatte sich dieWeimarer Republik seit Ende 1924 einigermaßen stabilisiert.9 Die wissenschaftlicheLiteratur betont zwar stets, dass diese Stabilisierung nur »relativ« war, doch hält sie

5 Daß dies auch noch seine Haltung während der Zeit der Präsidialkabinette gewesen sei,betonen Joseph W. Bendersky, Carl Schmitt. Theorist for the Reich, Princeton 1983 undLutz Berthold, Carl Schmitt und der Staatsnotstandsplan am Ende der Weimarer Repu-blik, Berlin 1999.

6 Vgl. Dirk Blasius, Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich, Göttingen 2001(mit umfassenden Literaturhinweisen: S. 233 ff.); Bernd Rüthers, Carl Schmitt im Drit-ten Reich. Wissenschaft als Zeitgeist-Verstärkung? München 1989.

7 Vgl. Bernard Willms, »Carl Schmitt – jüngster Klassiker des politischen Denkens« in:Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988,599–608.

8 Vgl. dazu auch aus der jüngeren Schmitt-Rezeption Armin Adam, Rekonstruktion desPolitischen. Carl Schmitt und die Krise der Staatlichkeit 1912–1933, Weinheim 1992;Friedrich Balke, Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts, München1996; Hans-Georg Flickinger (Hg.), Die Autonomie des Politischen. Carl SchmittsKampf um einen beschädigten Begriff, Weinheim 1990; Andreas Göbel / Dirk van Laak/ Ingeborg Villinger (Hg.), Metamorphosen des Politischen, Berlin 1995; Reinhard Meh-ring, Pathetisches Denken. Carl Schmitts Denkweg am Leitfaden Hegels: KatholischeGrundstellung und antimarxistische Hegelstrategie, Berlin 1989; Henning Ottmann,»Carl Schmitt« in: Karl Graf Ballestrem / H.Ottmann (Hg.), Politische Philosophie des20. Jahrhunderts, München 1990, 61–87; Rüdiger Voigt (Hg.), Mythos Staat. CarlSchmitts Staatsverständnis, Baden-Baden 2001.

Roth.fm Seite 142 Dienstag, 17. Mai 2005 10:26 10

ZfP 52. Jg. 2/2005

Klaus Roth · Carl Schmitt – ein Verfassungsfreund? 143

als gesichertes Faktum dreierlei fest: 1. der Bürgerkrieg, der von 1918 bis 1923 ohneUnterbrechung getobt hatte, war beendet; 2. die ökonomischen Verhältnisse konso-lidierten sich, ein wirtschaftlicher Aufschwung setzte ein; 3. das Land erlebte einekulturelle Blüte.

Es waren keine fremden Truppen mehr im Land. Das Ruhrgebiet war geräumt.Der Dawes-Plan war von Deutschland akzeptiert worden, die Reparationsforde-rungen der Alliierten waren darin gegenüber dem Versailler Vertrag abgemildertworden. Die Inflation von 1923 hatte zu einer Konzentration des Kapitals geführt.Stresemanns Außenpolitik half die Isolierung Deutschlands zu überwinden. Es flosswieder ausländisches Kapital ins Land. Auch in der Innenpolitik wurde eine relativeStabilisierung bemerkbar. Zwar blieben die Mehrheitsverhältnisse ungesichert, esgab sie aber. Das parlamentarische System erfüllte seine Aufgaben einigermaßen zu-friedenstellend. Es übte die Gesetzgebung aus und brachte funktionstüchtige Regie-rungen hervor, die es kontrollierte. In Notsituationen nutzte Friedrich Ebert alsReichspräsident die mächtige Stellung, die ihm die Reichsverfassung im Art. 48 ein-geräumt hatte. Die Deutschnationalen ließen sich auf die republikanischen Verhält-nisse ein. Der Verfassungskonsens verbreiterte sich entsprechend. Es war sogar eineGroße Koalition unter Einschluss der Sozialdemokraten und der DNVP denkbargeworden. Die KPD hingegen blieb isoliert, und die NSDAP spielte seinerzeitüberhaupt keine Rolle. Die einzige Erschütterung in dieser Phase war der TodEberts (25. 2. 1925) und die anschließende Wahl Hindenburgs als Repräsentant desBürgerblocks zum Reichspräsidenten. Diese sollte sich vor allem in der Krisenzeitseit 1930 als folgenreich erweisen.

Nach seinem Biographen Paul Noack glitt Carl Schmitt »zusammen mit der Wei-marer Republik in eine kurze Zeit der persönlichen Balance und der politischen Be-ruhigung hinein«.10 Er bekleidete seit 1921 eine Professur in Bonn, ehe er 1928 andie Handelshochschule in Berlin berufen wurde. Bekannt geworden war er durchzahlreiche Aufsätze und Bücher, die in schneller Folge erschienen. Er konnte sichalso politisch wie privat in Sicherheit wiegen, doch traute er dem Frieden nicht. Dasliberale Vertrauen auf das freie Spiel der Kräfte und der damit verbundenen Vor-marsch des ökonomischen und technischen Denkens erschien ihm als verhängnis-voll.11 Dabei drohte das Bewusstsein für das Politische auf der Strecke zu bleiben,

9 Vgl. Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik (Oldenbourg Grundriß der Geschichte.Bd.16), München 19882, S. 54 ff. (mit umfassenden Literaturhinweisen); Hans Momm-sen, Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918bis 1933, Frankfurt/M/Berlin 1990, S. 141 ff.; Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Repu-blik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt/M 1987, S. 191 ff.; GerhardSchulz, Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in derWeimarer Republik. Bd.2: Deutschland am Vorabend der Großen Krise, Berlin/NewYork 1987, bes. S. 68 ff.; Michael Stürmer, Koalition und Opposition in der WeimarerRepublik 1924–1928, Düsseldorf 1967; Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933.Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 244 ff.

10 Paul Noack, Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin, Frankfurt/M 1993, S. 64 f.11 Zu seiner Einschätzung des Liberalismus vgl. auch Klaus Hansen / Hans Lietzmann

(Hg.), Carl Schmitt und die Liberalismuskritik, Opladen 1988.

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Klaus Roth · Carl Schmitt – ein Verfassungsfreund?144

d. h. die »Fähigkeit, Freund und Feind zu unterscheiden«.12 Diese Fähigkeit wollteer wiedererwecken und stärken. Unter der Oberfläche wirtschaftlicher Rationalitätund Rechenhaftigkeit sollte die nötige Ernsthaftigkeit wiedergewonnen werden, dievon den gesellschaftlichen Kräften der Moderne verdrängt wurde.

Allerdings war Schmitt – im Gegensatz zu Ernst Jünger – kein Bellizist, keinApologet der Feindschaft als Selbstzweck.13 Während bei Jünger die Freund-Feind-Differenzierung aus der Begeisterung und Abenteuerlust und aus dem Ekel vor derbürgerlich-kapitalistisch-proletarischen Welt resultiert, entspringt sie bei Schmittder Erfahrung bzw. dem Gefühl einer permanenten Bedrohung. Während Jünger inder Feindschaft ein Existential erblickt, eine Chance, der Tristesse und Langeweilezu entrinnen, will Schmitt seine Zeitgenossen vor den Gefahren warnen, die aus derIgnorierung oder Verdrängung der realen Gefährdungen resultiert. Für Jünger ge-hört die Feindschaft zu einem sinnvollen Leben. Sie erst gibt ihm Würze und Halt.Ohne sie bleibt es oberflächlich und fad. Die Ersetzung des Kampfs durch den gere-gelten Streit der Faktionen und Parteien bzw. durch die ökonomische Konkurrenzaller gegen alle erscheint als Verödung und Verflachung des Lebens. Die eigentlichlebenswichtigen Instinkte werden – wie schon Nietzsche moniert hatte – unter-drückt und in leer laufenden Formen der Betätigung sublimiert. Berechenbarkeitund ein allgemeines Sicherheitsdenken verdrängen das tragische Bewusstsein. Er-bärmlich und trostlos erscheint diese Welt. Jünger sehnte sich deshalb in die »Stahl-gewitter« des Weltkrieges zurück.

Für Schmitt sah die Sache ganz anders aus. Er fürchtete sich vor dem tatsächli-chen Ausbruch der Feindschaft, für den er vorbeugen und den Staat rüsten wollte.Er begriff den Krieg nicht als Ziel und Zweck oder gar als Inhalt der Politik, son-dern als eine reale Möglichkeit, auf die man immer gefasst sein musste (BdP, S. 34).Er verstand sich folglich als Mahner, der seinen Zeitgenossen die von allen Seitendrohenden Gefahren vor Augen führen wollte. Die Verfassungslehre, die zwischen1926 und 1928 entstand, verstand sich in diesem Sinne. Schmitt war deshalb vermut-lich irritiert, als ihm Jünger in einem Brief vom 14. Oktober 1930 mitteilte, seineSchrift Der Begriff des Politischen verdiene höchstes Lob, sie sei selbstevident, so»dass jede Stellungnahme überflüssig wird (…) Die Abfuhr, die allem leeren Ge-schwätz, das Europa erfüllt, auf diesen dreißig Seiten erteilt wird«, sei »so irrepara-

12 Vgl. Carl Schmitt, »Der Begriff des Politischen« (1927) in: ders., Positionen undBegriffe, aaO. (FN 2), 67–74; hier S. 71. In der erweiterten Fassung von 1932 ist aus der»Fähigkeit« oder dem »Willen« die »Aufgabe« der Freund-Feind-Unterscheidunggeworden. Vgl. ders., Der Begriff des Politischen, Text von 1932 mit einem Vorwort unddrei Corollarien, Berlin 1963, 79–95; hier S. 37. Dazu Heinrich Meier, Die Lehre CarlSchmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philoso-phie, Stuttgart/Weimar 1994, S. 51.

13 Zur Differenz zwischen Jünger und Schmitt vgl. etwa Christian Graf von Krockow, DieEntscheidung (1958/1990); Arnhelm Neusüss, »Politik und Gewalt. Skizze zum Begriffdes Politischen mit besonderer Berücksichtigung Carl Schmitts« in: Konsequent. Son-derband 6, März 1984, 11–28; hier S. 21; Armin Steil, Die imaginäre Revolte. Untersu-chungen zur faschistischen Ideologie und ihrer theoretischen Vorbereitung bei GeorgesSorel, Carl Schmitt und Ernst Jünger, Marburg 1984, bes. S. 49 ff., 72 ff.

Roth.fm Seite 144 Dienstag, 17. Mai 2005 10:26 10

ZfP 52. Jg. 2/2005

Klaus Roth · Carl Schmitt – ein Verfassungsfreund? 145

bel, dass man zur Tagesordnung, also (…) zur Feststellung des konkreten Freund-Feind-Verhältnisses übergehen kann«.14

Wer in den Augen Schmitts der konkrete Feind war, blieb unausgesprochen. Manwird jedoch vermuten dürfen, dass es die westlichen Staaten, die Alliierten des I.Weltkriegs waren – also vor allem England, Frankreich und die USA – sowie natür-lich die Sowjetunion, die eine alternative Herrschaft praktizierte, die Schmitt un-heimlich erscheinen musste. »Wir in Mitteleuropa leben sous l’œil des Russes. Seit ei-nem Jahrhundert hat ihr psychologischer Blick unsere großen Worte und unsereInstitutionen durchschaut; ihre Vitalität ist stark genug, sich unserer Erkenntnisseund Technik als Waffe zu bemächtigen«, heißt es zu Beginn des Vortrags über DasZeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen vom Oktober 1929.15

Der eigentliche Feind war für Schmitt aber weniger der Kommunismus als derKapitalismus und Liberalismus, »die Welt aus Fabrik und Büro«.16 Dies wird deut-lich in seinen kulturkritischen Schriften, die von Anfang an eine zweite Schicht sei-nes Denkens – ober- oder unterhalb der juristischen – bilden.17 Schmitt teilte denHass vieler seiner Zeitgenossen auf den liberalen, kapitalistischen und pluralisti-schen »Betrieb«, dem der Sinn für das Politische abhanden gekommen war. Erfürchtete und ekelte sich vor einer Welt, die nur noch Büroräume und Fabrikhallenkennt, aus der das Politische verschwunden ist. Die Stichworte dafür hatte Max We-ber geliefert, der den abendländischen Rationalisierungsprozess analysiert hatte undzum Ergebnis gelangt war, die moderne Gesellschaft sei längst am Werke, jenesStahlgehäuse der Hörigkeit hervorzubringen, »in welche vielleicht dereinst dieMenschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen ge-zwungen sein werden, wenn ihnen eine rein technisch gute und das heißt: eine ratio-nale Beamtenverwaltung und -Versorgung der letzte und einzige Wert ist, der überdie Leitung ihrer Angelegenheiten entscheiden soll«.18

Schmitt übernahm Max Webers Diktum von der »Entzauberung der Welt«. Wieviele seiner Zeitgenossen – auf der Linken wie der Rechten – suchte er nach einemRettungsanker, d. h. nach sinnhaften Zusammenhängen, die der Verödung entge-genwirken und eine neue Orientierung für die Theorie und Praxis vermitteln konn-ten. Wie Georg Lukács, Ernst Bloch u. a. auf der einen, Martin Heidegger, ErnstJünger, Gottfried Benn u. a. auf der anderen Seite probte er – mit einem Ausdruck

14 Ernst Jünger an Carl Schmitt (14.10.30), in: Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930 –1983, Helmuth Kiesel (Hg.), Stuttgart 1999, S. 7.

15 Carl Schmitt, »Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen« (1929) in:ders., Der Begriff des Politischen, Berlin 1963, 79–95 (hier: S. 79).

16 Günter Maschke, Der Tod des Carl Schmitt. Apologie und Polemik, Wien 1987, S. 81,34; vgl. auch H. Meier, Die Lehre Carl Schmitts, aaO. (FN 12), S. 16 ff.

17 Vgl. Johannes Negelinus Mox Doctor (Carl Schmitt und Fritz Eisler), Schattenrisse,Berlin 1913; Carl Schmitt, Theodor Däublers ‘Nordlicht’. Drei Studien über die Ele-mente, den Geist und die Aktualität des Werkes, München 1916; ders., »Die Buribun-ken« in: Summa 1 (1918), 89–106.

18 Max Weber, »Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland« (Mai 1918) in:ders., Gesammelte Politische Schriften, Johannes Winckelmann (Hg.), Tübingen 1921,19885, 306–443; hier S. 332.

Roth.fm Seite 145 Dienstag, 17. Mai 2005 10:26 10

Klaus Roth · Carl Schmitt – ein Verfassungsfreund?146

von Norbert Bolz – den »Auszug aus der entzauberten Welt«.19 Während die linkenIntellektuellen ihre Hoffnung auf die proletarische Revolution setzten, sahen dierechten in ihr gerade die große Gefahr und die Fortsetzung der Katastrophe, die mitallen Mitteln abzuwenden war. Schmitt fand die Rettung bekanntlich in der Politi-schen Theologie, die er wiederbeleben wollte, um mit ihrer Hilfe Wege aus der Ma-laise zu bahnen.20

Es ging Schmitt um die Wiederherstellung der politischen Einheit als der maßgeb-lichen Instanz, die das gesellschaftliche Leben steuern und das Chaos der modernenMassengesellschaft bannen sollte.21 Die Grundlagen dafür fand er in der zweitenHälfte der 20er Jahre in der Weimarer Reichsverfassung. Sie hatte ja, wie er zeigenwollte, die nötigen Grundentscheidungen getroffen, um zu politischer Einheit zu-rückzufinden:22 Das deutsche Volk habe sich im Akt der Verfassunggebung zur Ein-heit entschieden und folglich seinen Willen zum Politischen dokumentiert, d. h.: eshatte die Fähigkeit zur Freund-Feind-Differenzierung demonstriert und sich zu ih-rer Verwirklichung als Staat konstituiert.23 Dessen Hauptaufgabe sei: die Selbstbe-hauptung des Volkes zu garantieren, d. h. den Frieden zu sichern oder aber – imErnstfall – den Krieg mit den Mitteln des Völkerrechts zu »hegen«. Werde dieseAufgabe vernachlässigt, wie im Denken der Liberalen, so müsse sich der Staat voninnen her auflösen.

Die entscheidende Weichenstellung für die Schmittsche Verfassungsinterpretati-on ist die Unterscheidung zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz: »Die Einheitdes deutschen Volkes beruht nicht auf jenen 181 Artikeln und ihrem Gelten«,schreibt er, »sondern auf der politischen Existenz des deutschen Volkes. Der Willedes deutschen Volkes (…) begründet (…) die politische und staatsrechtliche Einheit.Die Weimarer Verfassung gilt, weil das deutsche Volk ‘sich diese Verfassung gege-ben’ hat« (Verfassungslehre, S. 10). Voraussetzung für diesen Einheitswillen sei»Homogenität«, die »– nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Hete-rogenen« mit einschließe.24 Seinerzeit bestand dafür aber kein Anlass. Schmitt be-

19 Vgl. Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismuszwischen den Weltkriegen, München 1989; siehe auch Helmut Lethen, Verhaltenslehrender Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M 1994.

20 Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität(1922), Berlin 19854; ders., Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigungjeder Politischen Theologie, Berlin 19842.

21 Vgl. Carl Schmitt, »Der Begriff des Politischen« (1927) in: ders., aaO. (FN 2), S. 68:»Die politische Einheit ist eben ihrem Wesen nach die maßgebende Einheit, gleichgültigaus welchen Motiven sie ihre letzten psychischen Kräfte zieht«.

22 Zu seiner Verfassungs-Interpretation vgl. auch Martin Pilch, System des transzendenta-len Etatismus. Staat und Verfassung bei Carl Schmitt, Wien/Leipzig 1994. Zur Einord-nung Schmitts in den Kontext der Weimarer Verfassungsdiskussion vgl. Detlef Lehnert,»Die Weimarer Staatsrechtsdebatte zwischen Legendenbildung und Neubesinnung« in:Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B51/96, 3–14.

23 Vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), Berlin 19836, S. 247. 24 Vgl. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin

19856, S. 14 (Vorwort zur 2.Auflage 1925); ders., Verfassungslehre, aaO. (FN 23) S. 234.

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scheinigt dem deutschen Volk »demokratische Gleichartigkeit der Substanz« undein »politisches Bewusstsein«, d. h. die Fähigkeit, Freund und Feind zu unterschei-den (S. 247). Dieser Wille ist für ihn entscheidend. In ihm liege die Essenz der Wei-marer Verfassung. Ihre Einzelbestimmungen, also die verschiedenen Verfassungsge-setze, erscheinen ihm dagegen als sekundär. Andererseits wendet er sich gegen eineAuffassung, die alle 181 Artikel und damit die beiden Hauptteile der Verfassung alsgleichgewichtig nebeneinander stellt. Die Feststellung, Deutschland sei eine Repu-blik, habe einen anderen Stellenwert als ein Gesetz, das die Beamtenbesoldung re-gelt. In der Zeit der relativen Stabilisierung sei vor allem der zweite Hauptteil zumAnlass einer immer weiter wuchernden Ausdifferenzierung und Positivierung derGrundrechte und Grundpflichten der Deutschen geworden. Schmitt sieht darineine »Überspannung«.25 Die Hoffnung der linken Sozialdemokraten, die Republikwerde durch den permanenten Reformismus und den immer weiter gehenden Aus-bau des Sozialstaates ganz allmählich in den Sozialismus hinüber gleiten,26 wurdeihm zur Horrorvision, deren Verwirklichung er mit allen Mitteln verhindern wollte.

Die 181 Verfassungsgesetze lassen sich Schmitt zufolge zu vier Gruppen zusam-menfassen, die er zuerst als solche analysiert, um sodann ihre innere Dialektik undihr Spannungsverhältnis zu thematisieren. Demnach hat sich das deutsche Volk fürvier zentrale Verfassungsprinzipien entschieden: 1. für die Demokratie; 2. für denBundesstaat; 3. für die parlamentarisch-repräsentative Form der Gesetzgebung undRegierung und 4. für den bürgerlichen Rechtsstaat (S.24).27 Diese Grundprinzipienbilden auch noch die Substanz des Grundgesetzes der Bundesrepublik, das folglichals Realisation des ersten Schritts der Schmittschen Verfassungsinterpretation ge-deutet werden kann.28

Mit dieser Grundentscheidung waren andere Alternativen ausgeschlossen wor-den: Die Monarchie war abgeschafft und durch die konstitutionelle Demokratie er-setzt; mit der Beibehaltung der Länder hatte sich der Föderalismus gegen den Zen-tralismus behauptet; mit der Entscheidung für den Parlamentarismus war demRätesystem eine Abfuhr erteilt worden; mit der Entscheidung für den Rechtsstaatschließlich war der Sozialismus aus dem Feld geschlagen. Zwar sieht auch Schmitt,dass die Weimarer Reichsverfassung aus einem historischen Kompromiss zwischen

25 Vgl. auch Carl Schmitt, »Zehn Jahre Reichsverfassung« (1929) in: ders., Verfassungs-rechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre,Berlin 1958, 19732; 34–40.

26 Vgl. etwa Franz L. Neumann, »Die soziale Bedeutung der Grundrechte in der Weima-rer Verfassung« (1930) in: ders., Wirtschaft, Staat, Demokratie, Frankfurt/M 1978, 57–75.

27 Schmitt spricht vom bürgerlichen Rechtsstaat, um zu betonen, daß der Rechtsstaatgrundsätzlich antisozialistisch sei und der Ausgestaltung des Sozialstaates unüberwind-liche Schranken setze. Zum Topos vgl. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, »Entstehungund Wandel des Rechtsstaatsbegriffs« (1969) in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit,Frankfurt/M 1976, 65–92.

28 Vgl. dazu Ulrich K. Preuß, »Die Weimarer Republik – ein Laboratorium für neues ver-fassungsrechtliches Denken« in: Andreas Göbel / Dirk van Laak / Ingeborg Villinger(Hg.), Metamorphosen des Politischen, Berlin 1995, 177–187.

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Liberalismus und Sozialismus, d. h. zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegungentsprungen ist, doch sieht er in ihr eindeutig ein Übergewicht der liberalen gegenü-ber den sozialistischen Prinzipien. Deshalb hält er die sozialstaatlichen Bestimmun-gen, die v. a. im zweiten Hauptteil der Verfassung fixiert wurden, nicht nur für über-flüssig, sondern für schädlich.

Schmitt begreift die Demokratie im Sinne der Klassiker des politischen Denkens,allen voran Rousseaus, als »Identität von Herrscher und Beherrschten, Regierendenund Regierten, Befehlenden und Gehorchenden« (S. 234). Er weiß jedoch, ebenfallsmit Rousseau, dass diese Identität in Großflächenstaaten nicht zu erreichen ist, son-dern allenfalls in kleinen und überschaubaren Einheiten verwirklicht werden kann.Staaten wie die Weimarer Republik sind dagegen auf repräsentative Formen ange-wiesen.29 Es kommt demnach, wie später Ernst Fraenkel im Anschluss an Schmittbetonte,30 auf das jeweilige Mischungsverhältnis beider Komponenten – Identitätund Repräsentation – an. In der Weimarer Verfassung hatte die erstere in Gestaltvon Plebisziten eine stärkere Verankerung erhalten als später im Grundgesetz derBundesrepublik. Sie wurde in zwei Formen institutionalisiert: neben freien undgleichen Wahlen waren Volksbegehren und Volksbefragungen vorgesehen. Zur di-rekten Beteiligung der Bevölkerung äußert sich Schmitt skeptisch. Parteien undVerbände erscheinen ihm weniger als belebende Elemente denn als störende Fremd-körper, die der Einheit entgegenwirken. Sein Resümee lautet: »das Volk kann akkla-mieren; in geheimer Einzelabstimmung kann es nur ihm präsentierte Kandidatenwählen und auf eine ihm vorgelegte, genau formulierte Frage mit Ja oder Nein ant-worten« (S. 277). »Die Praxis der modernen Demokratie«, folgert er, »hat das de-mokratische Prinzip mit Hilfe des Prinzips der Gewaltenunterscheidung zu einemorganisatorischen Mittel der Gesetzgebung relativiert« (ebd.).

Der Föderalismus stellte seinerzeit für Schmitt noch kein gravierendes Problemdar, obgleich mit der Beibehaltung der Länder der Dualismus zwischen Reich undPreußen institutionalisiert war. Dazu wurde er erst in der Zeit der Präsidialkabinettenach 1930, als sich das sozialdemokratisch regierte Preußen gegen die konservativenReichsregierungen behauptete. Darauf reagierte Schmitt 1932 mit seiner Schrift Le-galität und Legitimität, die der vorgängigen Legitimation des Preußenschlags Pa-pens (20. Juli 1932) diente.31 In der Verfassungslehre erscheint der Föderalismus da-gegen noch als ein belebendes Moment, obgleich Schmitt auch dort für einen

29 »Die Grenze einer absoluten Durchführung des demokratischen Prinzips der Identitätergibt sich daraus, dass die einseitige und ausschließliche Durchführung eines der bei-den staatlichen Formprinzipien – Identität und Repräsentation – überhaupt unmöglichist und kein Staatswesen restlos ohne jede Repräsentation nach dem Prinzip der Identi-tät gestaltet werden kann« (Verfassungslehre, aaO. FN 23, S. 276).

30 Vgl. Ernst Fraenkel, »Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokra-tischen Verfassungsstaat« (1958) in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien(1964), Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz 19797, 113–151.

31 Mit Stolz vermerkt Schmitt, daß die Abhandlung bereits am 10. Juli 1932, also zehnTage vor dem Preußenschlag, abgeschlossen vorlag. Siehe den Klappentext in: CarlSchmitt, Legalität und Legitimität (1932), Berlin 19803.

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starken Staat und eine »wehrhafte Republik« votierte. Die rechtlichen und politi-schen Antinomien des Bundes (S. 370 ff.) finden ihm zufolge ihre Lösung »darin,dass jeder Bund auf einer wesentlichen Voraussetzung beruht, nämlich der Homo-genität aller Bundesmitglieder, d. h. auf einer substanziellen Gleichartigkeit«(S. 375 f.). Und diese sah er seinerzeit als gegeben.

Dass der Weimarer Parlamentarismus gegen die Prinzipien verstieß, die die Theo-retiker des Parlamentarismus (von Montesquieu bis Edmund Burke) einst formu-liert hatten, hat Schmitt seit 1923 immer wieder betont.32 In der Verfassungslehrewiederholte er nur, was er bereits in der Schrift über Die geistesgeschichtliche Lagedes heutigen Parlamentarismus ausgeführt hatte. Demnach sind Diskussion undÖffentlichkeit die beiden Kernprinzipien, mit denen der Parlamentarismus stehtund fällt.33 Mit ihnen wurde er auch ursprünglich legitimiert: im öffentlichen Streit,durch öffentlich-diskursive Willensbildung sollte das Gemeinwohl ermittelt wer-den. Dass diese Grundsätze vom real existierenden Parlamentarismus permanentverletzt werden, hat die Parlamentarismuskritik auch in der Folgezeit immer wiederunterstrichen – auch im Hinblick auf die Entwicklungen in der Bundesrepublik.Diesbezüglich konnten und können nicht nur die Kritiker des Parlamentarismusvon Schmitts Einsichten profitieren, sondern auch diejenigen, die an der Erhaltungliberaldemokratischer Systeme interessiert waren und sind.34 Auch heute noch stellt»die Auslagerung politischer Entscheidungen in den Vorraum der Verbände und dieHinterzimmer der Wirtschaft« ein gravierendes Problem für die parlamentarischeDemokratie dar.35

Andererseits hatte die Parlamentarismus-Theorie schon früh auf die von Schmittbetonten Prinzipien verzichtet. Da vor dem Hintergrund der von ihm aufgerichte-ten Ideale die Wirklichkeit des Parlamentarismus nur blass und grau aussehenkonnte, hatte sie die Idee der Repräsentation als »Fiktion« verworfen. Bereits im 19.Jahrhundert hatte Walter Bagehot im Mutterland des Parlamentarismus eine tragfä-hige Theorie begründet, derzufolge die Aufgabe des Parlamentes nicht die Reprä-sentation des Volkes ist, sondern die Wahl und Kontrolle der Regierung.36 AuchVertreter der Weimarer Staatslehre und die Verfechter der »realistischen« Demokra-tietheorie verwarfen den Repräsentationsgedanken und mit ihm die Idee der ratio-nalen Diskussion.37 Sie betonten die Zweckdienlichkeit des Parlamentarismus alsInstrument der Integration und der Interessenvertretung sowie als Medium der Eli-

32 Nach Niklas Luhmann (Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/M 2000, S. 333 f.) hatSchmitt dabei nur den ursprünglichen Sinn des Repräsentationsbegriffs geltend gemachtund so – »mit unübertroffenem Sinn für Überholtes« – die Obsoleszenz dieser Selbst-beschreibung des politischen Systems demonstriert.

33 Vgl. bes. Schmitts Auseinandersetzung mit Richard Thoma in: Carl Schmitt, Verfas-sungslehre, aaO. (FN 23), S. 218 ff., 313; ders., Die geistesgeschichtliche Lage des heuti-gen Parlamentarismus, Vorwort zur 2. Auflage 1925, aaO. (FN 24), S. 5 ff.

34 Vgl. dazu Ingeborg Maus, »Die Bekenntnisse der Unpolitischen. Zur gegenwärtigenCarl-Schmitt-Renaissance aus Anlaß einer Biographie« in: Frankfurter Rundschau, 2. 4.1994, S. ZB 2 (Besprechung der Biographie Paul Noacks).

35 Vgl. etwa Thomas Assheuer, »Defekte Demokratie« in: Die Zeit, 4. 4. 2002, S. 33.36 Vgl. Walter Bagehot, The English Constitution (1867), London 1963.

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tenrekrutierung. »Parlamentarismus«, schrieb Hans Kelsen, »ist: Bildung des maß-geblichen staatlichen Willens durch ein vom Volke auf Grund des allgemeinen undgleichen Wahlrechts, also demokratisch, gewähltes Kollegialorgan nach dem Mehr-heitsprinzipe«.38 Damit musste Schmitts Kritik ins Leere laufen und als Beschwö-rung längst verblasster Leitideen erscheinen.

Den Rechtsstaat benutzt Schmitt als Keule gegen den Sozialstaat. Er wendet sichgegen die Interpretation, die in der Weimarer Verfassung einen bewusst herbeige-führten Kompromiss zwischen den antagonistischen Interessen von Bürgertum undArbeiterklasse erblickt. Für ihn ist diese – im Gegensatz zur Auffassung seinesSchülers Otto Kirchheimer39 – keine »Verfassung ohne Entscheidung«, vielmehrhabe sie eine eindeutige Entscheidung getroffen: der Verfassungskonvent habe sichfür den Rechtsstaat und damit gegen den Sozialstaat entschieden. Die sozialstaatli-chen Bestimmungen der Reichsverfassung seien deshalb nicht nur überflüssig, son-dern verfehlt. Schmitt sieht darin dilatorische Formelkompromisse.40 Sie stehen –ihm zufolge – im Widerspruch zum Geist der Verfassung, der sein Fundament imPrinzip des Rechtsstaates hat. Wie später sein Schüler Ernst Forsthoff im Hinblickauf das Grundgesetz der Bundesrepublik,41 so will Schmitt hinsichtlich der Weima-rer Verfassung den Sozialstaat antisozialistisch entschärfen. Rechtsstaatlichkeit undSozialstaatlichkeit passen ihm zufolge nicht zusammen, sondern schließen sich ge-genseitig aus. Entweder Garantie der Freiheitsrechte und damit des Privateigentumsoder aber Staatsinterventionismus – beides zugleich lasse sich nicht realisieren.

Aber auch der Rechtsstaat ist ein fragiles Gebilde. Schmitt sah in ihm nie etwasanderes als ein sekundäres Regelwerk, das der Politik rechtliche Schranken setzt. ZuRecht betont er, dass Rechtsstaat und Demokratie nicht »gleichursprünglich« sind.42

Sie haben unterschiedliche Wurzeln und entstammen historischen Bewegungen, die

37 Vgl. Volker Hartmann, Repräsentation in der politischen Theorie und Staatslehre inDeutschland, Berlin 1979, S. 172 ff.; Wolfgang Jaeger, Öffentlichkeit und Parlamentaris-mus, Stuttgart 1973; H. Ottmann, »Carl Schmitt« aaO. (FN 7), S. 67 f.

38 Hans Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus (1926), Darmstadt 1968, S. 5 f. Vgl.auch ders., Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 19292, S. 25 ff.

39 Vgl. Otto Kirchheimer, »Weimar – und was dann? Analyse einer Verfassung« (1930) in:ders., Politik und Verfassung, Frankfurt/M 1964, 19812, 9–56; bes. S. 52 ff.

40 »In den Einzelheiten der verfassungsgesetzlichen Regelung (…) finden sich (…) mancheKompromisse und Unklarheiten, die keine Entscheidung enthalten, in denen vielmehrdie Koalitionsparteien gerade eine Entscheidung zu umgehen suchten« (S.28 f.).

41 Vgl. Ernst Forsthoff, »Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates« (1954) in ders.(Hg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1968, 165–200. DagegenWolfgang Abendroth, »Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates imGrundgesetz der Bundesrepublik Deutschland« (1954) in: ebd., 114–144

42 Vgl. dagegen Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie desRechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M 1992, bes. S. 161, 176: ders.,Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M 1996, S.293 ff; ders., »Die Schrecken der Autonomie. Carl Schmitt auf Englisch« (1986) in ders.,Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI, Frankfurt/M 1987, 101–114; hier: S. 113 f.; ders., Zeit der Übergänge. Kleine politische Schriften IX, Frankfurt/M 2001, S. 133 ff.

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zunächst gegeneinander kämpften. Der Rechtsstaat entstammt – wie der Parlamen-tarismus – der Welt des liberalen Bürgertums, das nur wenig Interesse an der Demo-kratie verspürte. Dass beide gleichwohl zusammengehen und sich verbinden kön-nen, hat Schmitt nie bestritten, nur vertrat er die Auffassung, die Zeit dieserVerknüpfung sei vorbei. Rechtsstaat und Parlamentarismus dienten ihm zufolge derpolitischen Integration des Bürgertums in den monarchischen Staat. Diese Aufgabesei im Lauf des 19.Jahrhunderts erfüllt worden. 1928 stellten sich aber andere Pro-bleme, nämlich die politische Integration des nicht-besitzenden und mittellosenProletariats. Diese sei mit Hilfe des bürgerlichen Rechtsstaates und des Parlamenta-rismus nicht zu bewältigen.43 Dafür seien andere Vorkehrungen nötig. Dass Schmittdabei nicht an sozialstaatliche Einrichtungen dachte, wurde schon gezeigt.

Was aber bleibt dann? – Dazu äußert sich die Verfassungslehre vorsichtig, aberdoch deutlich genug. Schmitt denkt vom »Ernstfall« her, vom Ausnahmezustand.Dies ist Folge seiner schon erwähnten Angst und Sorge: Was geschieht, wenn dasrechtsstaatlich-parlamentarische Institutionensystem nicht mehr funktioniert? Dieswar – wie gesagt – nicht Schmitts Wunsch, sondern seine Befürchtung. Er wolltealso Vorkehrungen für den Ernstfall treffen. Dabei konnte er auf seine früherenÜberlegungen rekurrieren. Die Verfassung selbst stellte dafür die Lösung bereit. Siehatte sich für einen starken Reichspräsidenten entschieden, dem durch Art. 48 dieBefugnis zur kommissarischen Diktatur eingeräumt war.44 Die Demokratie kanndemnach auch anders als parlamentarisch realisiert werden, nämlich als plebiszitärabgestützte Diktatur des Reichspräsidenten, der sich durch Volksbefragungen legiti-miert. Der Reichspräsident wendet sich unmittelbar, d. h. ohne Mitwirkung desParlaments, ans Volk und gewinnt per Akklamation die Legitimation für seine Ent-scheidungen. Deshalb bilden Demokratie und Diktatur für Schmitt keinen Gegen-satz. Letztere erscheint vielmehr als eine spezifische Form der Demokratie, die vorallem in Krisenzeiten effizienter zu sein scheint als der Parlamentarismus.45

Die Diktatur Hindenburgs ist allerdings nicht Schmitts Ideal. Sie war das, was dieWeimarer Verfassung hergab, um sich diesem Ideal anzunähern. Schmitts Ideal undOrientierungsmuster ist die – von ihm verklärte – religiös-politische Einheitsweltdes mittelalterlichen Europa, der orbis christianus oder der Römische Katholizismus

43 Carl Schmitt, »Der bürgerliche Rechtsstaat« in: Abendland 1928, 301–303 bzw. in: DieSchildgenossen. Zweimonatsschrift aus der katholischen Lebensbewegung 8.Jg., 2. H(April 1928), S. 128 f. [hier zitiert nach H. Meier: Die Lehre Carl Schmitts aaO. (FN 12),S. 214 ff.]. Ferner ders.: Verfassungslehre (1928) aaO. (FN 23), S. 313 f. Siehe auch G.Maschke: Der Tod des Carl Schmitt (1987), aaO. (FN 23), S. 63; H. Quaritsch, aaO.(FN 2), S. 68.

44 Zur Unterscheidung der kommissarischen von der souveränen Diktatur vgl. CarlSchmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens biszum proletarischen Klassenkampf (1921), Berlin 19282, 19784.

45 Schon in der Zeit der Römischen Republik erschien die Diktatur als legitimes, aber nurtemporär einsetzbares Instrument der Krisenbewältigung. Und noch Blanqui und Marxbegriffen sie – nunmehr als Diktatur des Proletariats – entsprechend als die adäquateForm der Massendemokratie, die den Akt der Transformation des Kapitalismus in denKommunismus politisch organisieren sollte.

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als politische Form. Das wurde schon in seinen früheren Arbeiten und wird dannnoch einmal in den späteren, nach seiner Entmachtung durch die Nationalsozialis-ten verfassten Schriften deutlich. In ihm war realisiert, was Schmitt in der Neuzeitund insbesondere in der Moderne vermisste: die Einheit von Moralität und Legali-tät, von Innerem und Äußerem, Glauben und Handeln. Kaiser und Papst, Imperi-um und Sacerdotium waren zuständig dafür, die vereinigten christlichen Stämmeund Königreiche zusammenzuhalten und in den Kampf gegen die nicht-christlichenVölker zu führen, um die Welt zu missionieren. Religion und Politik waren eins, daschristliche Reich war bis in die feinsten Verästelungen und Poren, bis ins Bewusst-sein, ins Denken und Fühlen der Individuen hinein, religiös durchformt. Jedenfallsin der Sicht Carl Schmitts.46 Schmitt ist somit selbst ein politischer Romantiker. Sei-ne frühere Kritik an Adam Müller und Friedrich Schlegel ist – wie Hugo Ball schon1924 zu Recht betonte – eine immanente. Sie will das Terrain für die Politische The-orie zurückerobern, das im Subjektivismus der politischen Romantiker verloren ge-gangen ist.47

Dieses Bild einer religiös und politisch integrierten Welt, an deren Spitze Kaiserund Papst gemeinsam die entscheidenden Angelegenheiten regeln, bildet die norma-tive Basis, den orientierenden Maßstab und das metatheoretische Fundament desSchmittschen Dezisionismus. Von ihm aus kritisiert er – ähnlich wie sein »Diskussi-onspartner« und Kritiker Leo Strauss48 – die Neuzeit und insbesondere die Moder-ne als Verfallsprozess, als einen Prozess, in dem er verschiedene Stufen der »Säkula-risierung«, der »Neutralisierung« und der »Entpolitisierung« unterscheidet. DieseEntwicklung – so erläutert Schmitt in einem Vortrag, den er am 12. Oktober 1929,zwölf Tage vor dem »Schwarzen Freitag«, auf der Tagung des Europäischen Kultur-bundes in Barcelona gehalten hat – führe vom Theologischen über das Metaphysi-sche zum Moralisch-Humanen und von dort zum Ökonomischen und schließlichzum Technischen als dem »Zentralgebiet«, von dem aus die gesellschaftlichen undpolitischen Probleme angegangen und gelöst werden.49 Den Endpunkt dieser Ver-fallsgeschichte50 bildet die Schreckensvision einer entzauberten und technisiertenWelt, aus der »das Politische« und mit ihm die Religion verschwunden ist, eine

46 Vgl. Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form (1923), Stuttgart 1984,S. 16 ff.; ders., Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehl-schlag eines politischen Symbols (1938), Köln-Lövenich 1982; ders. Der Nomos der Erdeim Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum (1950), Berlin 19883, S. 29 f.

47 Vgl. Hugo Ball, »Carl Schmitts Politische Theologie« (1924) in: Jacob Taubes (Hg.),Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen (Religionstheorie und PolitischeTheologie. Bd.1), München/Paderborn/Wien/Zürich 1983, 100–115. »Letzten Endes«,schreibt Ball, »war die ganze Untersuchung in ‘Politische Romantik’ unternommen, umdie großen politischen Theologen Burke, Bonald und de Maistre vor einer ferneren Ver-wechslung mit Talmipolitikern und Adapteuren wie Adam Müller und Fr. Schlegel zuschützen« (S.104).

48 Vgl. Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und der »Begriff des Politischen«. Zueinem Dialog unter Abwesenden, Stuttgart 1988.

49 Vgl. Carl Schmitt, »Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen« (1929)in: ders., Der Begriff des Politischen, Berlin 1963, 79–95.

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gänzlich entpolitisierte und säkularisierte Welt, die den von Max Weber konstatier-ten Rationalisierungsprozess vollendet hat, in der nur noch Sachzwänge und Lange-weile herrschen, – eine total »verwaltete Welt«, wie Adorno das später nannte.

Schmitt geht daher auf die Suche nach einem kat-echon, nach einem Aufhalter,der wenigstens eine Galgenfrist in dieser allgemeinen Verödung gewähren könnte.51

Gegen die »technisierte« und »entpolitisierte« Welt stellt er das Bild einer repoliti-sierten Welt, in der das Politische kein eigenes Sachgebiet, sondern den Intensitäts-grad von Freund-Feind-Unterscheidungen darstellt, von Assoziationen und Disso-ziationen, die sich an jedem x-beliebigen Moment, auch an der Technik, entzündenkönnen.52 Im Gegensatz zu seinen großen Vorbildern, den katholischen Gegenrevo-lutionären de Bonald, de Maistre und Donoso Cortés, glaubt Schmitt nicht mehr andie Möglichkeit einer Wiederherstellung der religiös-politischen Einheitswelt. Fürihn war die Entscheidung 1848 definitiv gefallen – und zwar zugunsten des Libera-lismus, des Ökonomismus und des Technizismus. Dies verleiht seiner Konzeptionihren sentimentalen und larmoyanten Charakter, der durch die kampfbetonte Spra-che allenfalls überdeckt, jedoch nicht unkenntlich gemacht wird. Die ersehnte Ein-heitswelt war seit dem Investiturstreit in Frage gestellt und hatte sich gänzlich auf-gelöst in den konfessionellen Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts, auf dieSchmitt später immer wieder rekurrierte, um den angeblich drohenden »Weltbür-gerkrieg« zu beschwören.53

Als Ersatzprodukt für die verlorene Einheitswelt entstand der moderne Staat, derdie konfessionellen Bürgerkriege still- und den Frieden wiederherstellte, indem erdie politische Entscheidungs- und die herrschaftliche Zwangsgewalt monopolisier-te, die Gesellschaft entpolitisierte und die Spannungen auf das Verhältnis zu den an-deren Staaten übertrug.54 Aber auch diese Form ist nach Schmitt bedroht, wenn ihreHauptfunktion in Vergessenheit gerät: die Beendigung des Bürgerkrieges und die

50 Schmitt bestreitet zwar (ebd., S. 81), dass es sich dabei um einen Verfall handele, dochwird diese Sicht durch seinen Antimodernismus und seinen Kulturpessimismus nahege-legt.

51 Vgl. dazu etwa Lutz Berthold, »Wer hält zur Zeit den Satan auf? Zur SelbstglossierungCarl Schmitts« in: Leviathan 21 (1993), 285–299; Felix Grossheutschi, Carl Schmitt unddie Lehre vom Katechon, Berlin 1996; Günter Meuter, Der Katechon. Zu Carl Schmittsfundamentalistischer Kritik der Zeit, Berlin 1994; Alfons Motschenbacher, Katechonoder Großinquisitor? Eine Studie zu Inhalt und Struktur der Politischen Theologie CarlSchmitts, Marburg 2000; Peter Slominski, Der illiberale Kat-echon, Wien 1997.

52 Vgl. Carl Schmitt, »Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen« (1929),aaO. (FN 49), S. 90 ff.

53 »Denn«, so Schmitt 1950 in seinen Konfessionen, »in mancher Hinsicht wiederholt sichheute, mit säkularen Parolen und in globalen Dimensionen, die Art von Bürgerkrieg,die in den konfessionellen Kriegen des 16. und 17. Jahrhunderts in Europa und aufkolonialem Boden ausgetragen wurde« (Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit1945/47, Köln 1950, S. 14).

54 Vgl. dazu auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, »Die Entstehung des Staates als Vorgangder Säkularisation« (1967) in: ders., aaO. (FN 27), 42–64; ders., Staat, Gesellschaft, Frei-heit, aaO., (FN 27), 42–64; Klaus Roth, Genealogie des Staates. Prämissen des neuzeitli-chen Politikdenkens, Berlin 2003.

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Herstellung und Sicherung der politischen Einheit des Volkes. Angesichts des eini-germaßen funktionierenden parlamentarischen Betriebs schien diese Aufgabe denpolitischen Kräften seinerzeit nicht mehr bewusst zu sein. Zwar erlebte die Weima-rer Republik in der zweiten Hälfte der 20er Jahre keine revolutionäre Verschärfung,doch blieb die Drohung des Bürgerkriegs stets latent vorhanden. Die Verfassungsollte deshalb gegen die mögliche Stasis, d. h. gegen den entfesselten Nihilismus derMassen und den »Aufstand des Acheron« gesichert, ihr Kernbestand vor Abände-rungen oder gar der revolutionären Abschaffung bewahrt werden.

Es war die Angst des Bildungsbürgers vor dem »gemeinen Volk«, die Schmittzum Verfassungsfreund, aber zugleich zum Verächter einzelner Verfassungsgesetzewerden ließ. Schon in der Stabilisierungsphase rekurrierte er auf die Novelle BenitoCereno von Herman Melville, um die Gefahren anzudeuten, die ihm zufolge der li-beralen, pluralistischen und massendemokratischen Gesellschaft drohten. Währendder Kapitän auf der Brücke noch glaubte, das Ruder fest in Händen zu halten, hattesich die Mannschaft im Bauch des Schiffes bereits gegen ihn verschworen und zurMeuterei entschlossen. Diese Allegorie diente Schmitt in der zweiten Nachkriegs-zeit immer wieder zur Charakterisierung seiner einstigen Lage im Nationalsozialis-mus, sie wurde aber schon 1929 in seinem Aufsatz Der unbekannte Donoso Cortésbemüht.55 Zwar interpretierte er seinerzeit Donoso Cortés, doch kann man in dieserDeutung unschwer seine eigene Auffassung wiederfinden: »Für ihn [Cortés] ist derMensch ein widerliches, lächerliches, von der Sünde völlig zerstörtes, dem Irrtumanheim gefallenes Wesen, das, wenn nicht Gott selbst es erlöst hätte, verächtlicherwäre als ein Reptil, das mein Fuß zertritt. Für ihn ist die Weltgeschichte nur das tau-melnde Dahintreiben eines Schiffes, mit einer Mannschaft betrunkener Matrosen,die gröhlen und tanzen, bis Gott das Schiff ins Meer stößt, damit wieder Schweigenherrscht«.56 Um diesen Ernstfall zu verhindern, wollte Schmitt den Reichspräsiden-ten mit den in der Verfassung vorgesehenen autoritären Machtmitteln ausstatten,damit er seine Rolle als »Hüter der Verfassung« rückhaltlos spielen konnte.

Damit können die Ergebnisse zusammengefasst und einige abschließende Über-legungen angestellt werden. Schmitts zentrales Anliegen in der Zeit der relativenStabilisierung war die Restitution des Politischen. Allerdings sollte sich »das Politi-sche« auf die Beziehung der Staaten zueinander, also auf die Außenpolitik beschrän-ken. Im Innern hingegen sollte es stillgestellt sein.57 Dies hat Hermann Heller schon1928 bemängelt, als er feststellte: »Gar nicht gesehen ist von Carl Schmitt die Sphäreder innerstaatlichen Einheitsbildung als Politik«.58 Schmitt hielt nur die zwischen-

55 Darauf verweist zu Recht Paul Noack, Carl Schmitt [s. Fn. 9], S. 75. Zum späteren RekursSchmitts auf Benito Cereno in: Ex Captivitate Salus, aaO. (FN 53) vgl. ebd., S. 296 ff.

56 Carl Schmitt, »Der unbekannte Donoso Cortés« (1929) in: ders., Positionen undBegriffe, aaO. (FN 2), 115–120; hier: S. 117.

57 Vgl. dazu Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M 1980, S. 30 ff.; ders., »Zu Carl Schmitts Begriffsbildung. Das Politische und derNomos« in: Helmut Quaritsch (Hg.), aaO. (FN 7), 537–556; bes. S. 545 ff.

58 Hermann Heller, »Politische Demokratie und soziale Homogenität« (1928) in: UlrichMatz (Hg.), Grundprobleme der Demokratie, Darmstadt 1973, 7–19; hier: S. 10.

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staatliche Freund-Feind-Unterscheidung für legitim. Innerhalb der homogenenStaaten sollten Herrschaft und Verwaltung an ihre Stelle treten.59 Schmitt suchte dasPolitische folglich nicht in öffentlich-diskursiven Willensbildungsprozessen, son-dern in der souveränen Macht des Staates, nicht im Demos, sondern im Ethnos.60

Nicht der geregelte Streit der gesellschaftlichen Gruppen und Faktionen, sonderndas Verhältnis zwischen geschlossenen, in sich homogenen politischen Einheiten istdemnach Gegenstand der Politik und muss deshalb nach Schmitt auch Ziel der Wei-marer Verfassung sein.

Es ging Schmitt in der Zeit der relativen Stabilisierung darum, die WeimarerReichsverfassung wasserdicht zu machen durch Auflösung ihrer Antinomien unddurch Beseitigung ihrer Aporien. Seine Verfassungsfreundschaft war aber – wie sichzeigte – eine prekäre. Sie fand ihr Agens in der Beschwörung des Einheitswillens desdeutschen Volkes. Solange das rechtsstaatlich-parlamentarische System einigerma-ßen funktionierte, gab es keinen Grund, es zu bekämpfen. In dem von Schmitt the-matisierten Ernstfall, in dem die demokratische und rechtsstaatliche Substanz derVerfassung in Frage gestellt ist, suspendiert die Diktatur des Reichspräsidenten denRechtsstaat und den Parlamentarismus – um so wenigstens die Kernbestände derVerfassung vor der Auflösung zu bewahren. Diese Darlegungen werden von denSchmitt-Kritikern als Indizien für seine Verfassungsfeindschaft und seine frühzeiti-ge Option für den Führerstaat angeführt. Man kann die Verfassungslehre indes ganzanders lesen: als frühe Warnung vor dem, was dann nach 1930 tatsächlich geschah.Andererseits war und blieb Schmitt ein vehementer Kritiker des Liberalismus, desPluralismus und Sozialismus, die er gerade mit Hilfe der autoritär interpretiertenVerfassung bannen und zügeln wollte.

Zusammenfassung

Carl Schmitt stand nach eigenen Angaben zwischen 1923 und 1939 im permanenten»Kampf mit Weimar – Genf – Versailles«. Durch diese Selbstcharakterisierung hater es seinen Kritikern leicht gemacht, die in ihm einen »Verfassungsfeind«, einenZerstörer der ersten deutschen Demokratie, den »Wegbereiter des Nationalsozialis-mus«, den »Kronjuristen des Dritten Reiches« usw. erblicken. Diese Kritiker stüt-zen sich gewöhnlich auf die Schriften aus den Krisenzeiten, der Geburts- und derEndkrise der Weimarer Republik, sowie auf die späteren Arbeiten Schmitts. Dabeiwird unterstellt, dass ein gerader Weg von der Parlamentarismusschrift von 1923zum Hüter der Verfassung (1931) und zu Legalität und Legitimität (1932) etc. füh-re. Betrachtet man die Schriften Schmitts aus der Zeit der relativen Stabilisierung

59 Schmitt selbst räumte in seinem Vorwort zur Neuausgabe des Begriffs des Politischenvon 1963 diese Tatsache ein, als er das Ende der Ära der Staatlichkeit beklagte und lapi-dar konstatierte: »Im Innern eines solchen Staates gab es tatsächlich nur Polizei undnicht mehr Politik« (Der Begriff des Politischen, aaO. FN 12, S. 10).

60 Vgl. U. K. Preuß, Die Weimarer Republik – ein Laboratorium für neues verfassungs-rechtliches Denken, aaO. (Fn. 28), S. 181.

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(Goldene Zwanziger Jahre) vorurteilsfrei, so erweist sich diese Sicht als verfehlt.Schmitt hat in dieser Zeit eingesehen, dass die Weimarer Reichsverfassung doch vi-taler und langlebiger sein würde als er zunächst angenommen hatte. Er sah in derrecht verstandenen Verfassung ein geeignetes Instrument, um der aufgewühltenMassengesellschaft Struktur und Ordnung zu vermitteln. Sie musste dafür aber an-ders interpretiert werden als von der herrschenden Lehre.

Summary

According to his own information Carl Schmitt stands between 1923 and 1939 in apermanent struggle against »Weimar – Genf – Versailles«. With this self-assessmenthe makes it easy for his critics which see him as an »enemy of the constitution«, adestroyer of the first German democracy, the »pioneer of the Nationalsozialis-mus«, the »Kronjurist of the Third Reich« etc. These critics usually refer to his wri-tings of the times of crises in the early and late Republic and to the later works ofSchmitt. They suppose that a straight way leads from Die geistesgeschichtliche Lagedes heutigen Parlamentarismus (1923) to Der Hüter der Verfassung (1931) and toLegalität und Legitimität (1932) etc. If one looks unprejudiced on Schmitts writingsof the time of relative stabilization (golden twenties) this sight proves to be wrong.In this time Schmitt realized that the Constitution of the Weimarian Republic willbe more vigorous and long-lived as he has supposed previously. In the rightly com-prehended constitution he saw a suitable instrument to give the uproarious mass so-ciety structure and order. Therefor it must be interpreted in a different way as itwould be done by the prevailing doctrine.

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Hermann Lübbe

Subsidiarität. Zur europarechtlichen Positivierung eines Begriffs

Seit Beginn der neunziger Jahre ist die Zahl der Veröffentlichungen zum ThemaSubsidiarität sprunghaft angestiegen – europaweit. Konferenzen zu juridischen undpolitischen, historischen und näherhin auch begriffsgeschichtlichen Aspekten derSache werden ausgerichtet. Der Begriffsname Subsidiarität ist inzwischen publizis-tisch verfügbar und in politischen Debatten gemeingebrauchsfähig geworden.

Der Grund dieser Neuzuwendung zu einem Prinzip der Gesellschaftsorganisati-on, das man früher vorzugsweise mit der Katholischen Soziallehre in Verbindungbrachte1, liegt auf der Hand. Der Begriff der Subsidiarität begegnet uns inzwischenüber seinen zuvor dominant gewesenen gesellschaftsphilosophischen2 und rechts-theoretischen3 Gebrauch hinaus rechtlich positiviert, und das überdies in Gesetzenvon grossem politischen Gewicht – national und supranational. Zwei besonderswichtige Fälle expliziter Inanspruchnahme des Subsidiaritätsprinzips durch die Ge-setzgeber seien auch hier erwähnt. Sie sind den Experten wohlvertraut. Nichtsdes-toweniger kann es als kleiner Beitrag zur Fälligkeit, gemeine Bürgerkenntnis rechts-verbindlich gewordener Subsidiaritätsdeklarationen zu verbessern, nützlich sein,zwei besonders wichtige Passagen aus supranationalem und nationalem Recht hiernoch einmal zu zitieren. Also: »Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen derihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. In den Be-reichen, die nicht in ihre ausschliessliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemein-schaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der inBetracht gezogenen Massnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichenderreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen bes-ser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können« – so heisst es in Artikel 5 (exArt. 3b) des EG-Vertrags4. Zur Bekräftigung der europapolitischen Relevanz diesesTextes und wegen der noch erläuterungsbedürftigen speziellen Rolle, die bei seinem

1 So zum Beispiel und naheliegenderweise in einem Konversationslexikon liberaler Tradi-tion, in der Brockhaus Enzyklopädie siebzehnter Auflage von 1973, wo unter Subsidia-rität auf Tendenzen verwiesen wird, die »auf die Primitialrechte des Hl. Stuhlesbegründete zentralist. Leitung der Gesamtkirche zugunsten grösserer Selbständigkeitder Bischöfe zurückzudrängen«, sowie unter Subsidiarismus auf eine »gegen staatlichenZentralismus und Kollektivismus gerichtete Gesellschaftsauffassung«, die in der katho-lischen Soziallehre »besondere Bedeutung« erlangt habe.

2 Exemplarisch vgl. dazu den Titel Franz Klüber, Grundlagen der katholischen Gesell-schaftslehre, Osnabrück 1960.

3 Fortdauernd bis heute viel zitiert Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungs-recht, Berlin 1968.

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Zustandekommen Grossbritannien gespielt hat, sei der fragliche Artikel auch nocheinmal in englischer Sprache zitiert: »The Community shall act within the limit ofthe powers conferred upon it by this Treaty and of the objectives assigned to it the-rein in areas which do not fall within its exclusive competence, the Communityshall take action, in accordance with the principle of subsidiarity, only if and insofaras the objectives of the proposed action cannot be sufficiently achieved by theMember States and can therefore, by reason of the scale or effects of the proposedaction, be better achieved by the Community«. – Es war bekanntlich der Vertragzur Gründung der Europäischen Union vom 07. Februar 1992, vom EuropäischenRat gebilligt bei der historischen Tagung in Maastricht vom 9.–11. Dezember 1991,bei der der zitierte Text als Teil eines neuen Artikels dem EG-Vertrag eingefügtwurde5.

Diese europarechtlich prominent positivierte Geltung des Subsidiaritätsprinzipsnimmt »im Vorfeld der Ratifikation des Unionsvertrags von Maastricht« mit dem38. Änderungsgesetz zum Grundgesetz vom 21. 12. 1992 der deutsche Verfassungs-gesetzgeber »als Spezialregelung für die europäische Integration« auf6. Im erstenSatz des ersten Absatzes dieses neuen Artikel 23 des deutschen Grundgesetzesheisst es: »Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die BundesrepublikDeutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokrati-schen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatzder Subsidiarität verpflichtet ist und einem diesen Grundgesetz im Wesentlichenvergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet«. Dieser Satz und die in ihm einge-schlossene Konstatierung, die Europäische Union sei »föderativen Grundsätzenund dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet«, sollte schon alsbald wichtigwerden. Gegen das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag über die EuropäischeUnion wurden Verfassungsbeschwerden erhoben, und zwar mit der quintessentiel-len Begründung, der Maastrichter Vertrag verletze mit seiner den Europäischen Ge-meinschaften übertragenen Gesetzgebungskompetenzen das Demokratieprinzip,wonach »alle Staatsgewalt« »vom Volke« ausgeht. Das deutsche Bundesverfassungs-gericht hielt diese Beschwerde bekanntlich für zulässig, wies sie aber zugleich alsunbegründet ab, und das unter anderem mit der Feststellung, nicht zuletzt »dasSubsidiaritätsprinzip« solle doch »die nationale Identität der Mitgliedstaaten« wah-ren und »ihre Befugnisse« erhalten, wobei es freilich »neben der an das Subsidiari-tätsprinzip gebundenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs« »massge-blich von der Praxis des Rates als dem eigentlichen Gesetzgebungsorgan der

4 Konsolidierte Fassung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft,zitiert gemäss: Vertrag von Amsterdam. Text und konsolidierte Fassungen des EU- undEG-Vertrags, mit einer Einführung von Angela Bardenhewer, Baden-Baden 1997, S.198–342, S. 205.

5 Zur frühen britischen Auseinandersetzung mit dem Maastrichter Vertrag vgl.: CharlesBidwell, Maastricht and the UK, London 1993.

6 Horst Dreier (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, Band II, Artikel 20–82, Tübingen 1998,S. 329. – Der Autor des Kommentars zum Artikel 23 des Grundgesetzes ist Ingolf Per-nice.

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Gemeinschaft« abhängen werde, ob der Sinn des Subsidiaritätsprinzips sich europa-rechtlich erfülle. Es bleibe eine mit Artikel 23 des Grundgesetzes auferlegte Verfas-sungspflicht der Bundesregierung, »ihren Einfluss zugunsten einer strikten Handha-bung« des Subsidiaritätsgrundsatzes im Europäischen Rat geltend zu machen7.

Es hat seine politische Evidenz, dass die neue Präsenz des Begriffs der Subsidiari-tät in nationalem Verfassungsrecht sowie im völkerrechtlich verbindlich geworde-nen supranationalen Recht der europäischen Gemeinschaften Aufmerksamkeit aufsich zog – in den Wissenschaften von der Jurisprudenz bis zur Politikwissenschaftund darüber hinaus publizistisch in der gemeinen Öffentlichkeit. Selbstverständlicherinnerte man sich dabei an die Erhebung des Subsidiaritätsbegriffs zu einemGrundprinzip »gerechter« Gemeinschaftsordnung in der Enzyklika Quadragesimoanno durch Pius XI8. Die zur Vergegenwärtigung der päpstlichen Lehrmeinung amhäufigsten zitierte Passage, die sich als Definition des Subsidiaritätsbegriffs lesenlässt, sei auch hier, in deutscher Sprache, wiedergegeben: »Jedwede Gesellschaftstä-tigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär. Sie soll die Glieder des Sozial-körpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen«, und ferner:»Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung, die nur zur Abhaltung vonwichtigeren Aufgaben führen müssten, soll die Staatsgewalt also den kleineren Ge-meinwesen überlassen. Sie selbst steht dadurch nur umso freier, stärker und schlag-fertiger da für diejenigen Aufgaben, die in ihre ausschliessliche Zuständigkeit fallen(…).« Die Wirksamkeit des mit dieser Charakteristik des Subsidiaritätsbegriffs sichverbindenden Anspruchs, es handele sich um ein »Strukturprinzip jeder gesell-schaftlichen Ordnung«9, blieb freilich politisch begrenzt. Das lässt sich historischerklären. Für Deutschland lautet die Erklärung entgegen repräsentativ vertretenerMeinung wohl nicht, in diesem Land herrsche nun einmal ein »tief verwurzeltes an-tipapistisches Ressentiment«, das »nicht erträgt, sich ultramontan belehren zu las-sen«10. Ungleich wirksamer dürften Veränderungen sozialer und ideologiepoliti-scher Lagen, ja weltpolitischer Mächtekonstellationen im zweiten und letztenDrittel des 20. Jahrhunderts sein. In der Zwischenkriegszeit noch hatte das kirchen-offiziell ausgerufene und zur Geltung gebrachte Subsidiaritätsprinzip erkennbarden doppelten Sinn einer Abwehr liberaler Tendenzen religiös desinteressierter In-

7 Ingo Winkelmann (Hg.), Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12.Oktober 1993. Dokumentation des Verfahrens mit Einführung, Berlin 1994, S. 607. –Zitiert wurde aus der Begründung des Verfassungsgerichtsurteils, S. 555–609.

8 Vgl. Oswald von Nell-Breuning, Die soziale Enzyklika. Erläuterungen zum Weltrund-schreiben Papst Pius' XI über die gesellschaftliche Ordnung, Köln 1932.

9 Nach Paul Mikat, »Kirche und Staat in nachkonziliarer Sicht« in: Helmut Quaritsch /Hermann Weber (Hg.), Staat und Kirchen in der Bundesrepublik. Staatskirchenrechtli-che Aufsätze 1950–1967, Bad Homburg v. d. H./Berlin/Zürich 1967, S. 427–443, S. 431.

10 So aber Josef Isensee, »Subsidiarität – das Prinzip und seine Prämissen. In: Subsidiaritätals rechtliches und politisches Ordnungsprinzip« in: Kirche, Staat und Gesellschaft.Genese, Geltungsgrundlagen und Perspektiven an der Schwelle des dritten Jahrtau-sends. Eine Tagung in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Peter Blickle / ThomasO. Hüglin / Dieter Wyduckel (Hg.), Vorwort von Dieter Wyduckel, Berlin 2002, S.129–177, S. 133.

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dividualisierung in Verbindung mit laizistischen Absichten der Privatisierung re-zenter religiöser Optionen einerseits und einer Abwehr der damals sich etablieren-den Totalitarismen von links und rechts andererseits11. Kein Zweifel: KirchlicheRückbindung fördert Totalitarismusresistenz. Für die römische Kirche gilt das, zu-mal in Deutschland, in auffälliger Weise, und der evident antitotalitäre Sinn des Sub-sidiaritätsprinzips passt dazu.

Indessen: Nach dem Untergang der Diktatur der Nationalsozialistischen Deut-schen Arbeiterpartei waren veränderte politische und orientierungspraktische Her-ausforderungen dominant. Der Internationalsozialismus hatte über den Nationalso-zialismus triumphiert. Aber der Triumph gehörte den grossen, liberal verfasstenDemokratien des Westens gleichfalls, und einzig sie boten zugleich Schutz vor demrezenten und überdies expansiven Totalitarismus kommunistischer Prägung. Damitwurde mehr als jemals zuvor auch für die katholische Kirche die USA ordnungspo-litisch präsent und weltpolitisch wichtig. Das erzwang zugleich neue Auseinander-setzungen mit einem aufklärungsgeprägten Gesellschaftssystem einschliesslich sei-ner radikal-liberalen Züge bis hin zur strikten Trennung von Staat und religiöserGemeinschaft sowie uneingeschränkt gewährleisteter Freiheit der Religion, die be-kanntlich sogar noch in den fünfziger Jahren Pius XII als im Prinzip kirchlich nichtakzeptabel gekennzeichnet hatte12. Unübersehbar war überdies, dass just in diesemliberalen Rechtsrahmen in unerwarteter Weise der Katholizismus in den USA sichzu entfalten vermocht hatte13. Das alles musste den ordnungspolitischen Anti-Libe-ralismus, ja Anti-Modernismus, der zur originären Anmutungsqualität des Subsidi-aritätsprinzips in der Frühgeschichte seiner kirchennah verbliebenen Geltung ge-hört hatte, schliesslich verblassen lassen14.

Genau diese Abschwächung des alten ideologiepolitisch scharfen Profils des En-zyklika-Begriffs der Subsidiarität hat dann seine spätere europarechtspolitischeKarriere begünstigt. Der kraft der Herkunft des Begriffsnamens Subsidiarität auseinem päpstlichen Lehrschreiben als spezifisch christlich und näherhin als katho-lisch geltende Orientierungsgehalt dieses Konzepts wirkte politisch naheliegender-weise vor allem dort nach, wo nach dem Ende des zweiten Weltkriegs im Ord-nungssystem liberaler Demokratien christlich geprägte Parteien einflussreich waren.In Deutschland brachte sich das vorzugsweise in der Sozialgesetzgebung zur Gel-tung – beim Jugendwohlfahrtsgesetz zum Beispiel15. Auf das Subsidiaritätsprinzipberief man sich in der Meinung, dieses Prinzip begründe einen Vorrang nicht-staat-licher und in diesem Sinne freier Träger, also nicht zuletzt, ja vorzugsweise kirchen-

11 Vgl. Albrecht Beckel, Christliche Staatslehre. Grundlagen und Zeitfragen, Osnabrück1960, S. 11 f.

12 So in seiner vielzitierten Ansprache vor römischen Juristen zu Weihnachten 1953. – Vgl.Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius' VII. ArthurFridolin Utz / Joseph Vulko Groner (Hg.), Freiburg in der Schweiz 19542, Nr. 3978,S. 2049.

13 Vgl. dazu Michael Zöller, Washington und Rom. Der Katholizismus in der amerikani-schen Kultur, Berlin 1995.

14 Vgl. dazu die Ausführungen von Paul Mikat, aaO. (FN 9) S. 434.

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naher Verbände in der Zuständigkeit für gesetzlich gebotene soziale Dienstleistun-gen. Das blieb selbstverständlich nicht unbestritten – vorzugsweise mit Berufungauf das Argument, für die Einräumung eines gesetzlichen Vorrangs der Trägerschaftsozialer Dienste zugunsten eines in Grossverbände eingebundenen kirchennahenVereinswesens könnten gewiss viele Interessen sprechen, aber doch ganz gewissnicht deren angeblich subsidiärer Primat vor der politischen Gebietskörperschaft ei-ner kleinen Gemeinde16. Entsprechend konnte man so in Berufung aufs Subsidiari-tätsprinzip zu diametral entgegen gesetzten organisatorischen Folgerungen gelan-gen. Im Resümee erzwang das die Feststellung: »So sehr für ein föderatives undplural strukturiertes Gemeinwesen eine grosse Zahl von Subsidiaritätsverhältnissentypisch sein mag, so wenig lassen sich alle Zuordnungs- und Abgrenzungsproblemevon einem festen Subsidiaritätsschema lösen«17.

Der insoweit in Erinnerung gebrachte Streit um Sinn und Tauglichkeit des Subsi-diaritätsprinzips im Kontext kirchenfreundlicher Sozialgesetzgebung unter der Par-lamentsmehrheit christlich-demokratischer Parteien repräsentiert innerhalb der Ge-schichte des Begriffs der Subsidiarität18 eher eine Episode – mit der Wirkung freilicheiner fortschreitenden ideologiepolitischen und parteiprogrammatischen Neutrali-sierung des Subsidiaritätskonzepts. Unbeschadet gelegentlicher späterer Versuche,das Subsidiaritätskonzept für Fälligkeiten der Reform des inflationierten Sozial-staats zu revitalisieren, lässt sich zur Markierung der rechtspolitischen Marginalität,zu der insoweit das fragliche Konzept schliesslich gelangt war, mit Roman Herzogfeststellen, »dass weder das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland nocheine andere der westeuropäischen Verfassungen das Subsidiaritätsprinzip als Ganzesübernommen hat«19. Überdies gilt, »zumindest noch«: »In den Sachverzeichnissenvölkerrechtlicher Lehrbücher und in völkerrechtlichen Lexika sucht man das Stich-wort Subsidiarität (…) vergebens«20.

15 Zum juridischen und sozialpolitischen Kontext dieses Gesetzes vgl. Hermann Riedel,Jugendwohlfahrtsrecht. Textausgabe mit Erläuterungen und Sachregister, 7., neubear-beitete Auflage, München 1971. – Zur Rolle des Subsidiaritätsprinzips in der deutschenSozialgesetzgebungspolitik um die Wende der fünfziger zu den sechziger Jahren vgl.Michael Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland. Ein Grundriss, Stuttgart2003, S. 219–223.

16 Vgl. hierzu, aus evangelischer Perspektive, Trutz Rendtorff, »Kritische Erwägungenzum Subsidiaritätsprinzip« in: Der Staat, Jahrband 4 (1962), S. 405–430.

17 Alfred Rinken, »Die karitative Betätigung der Kirchen und Religionsgemeinschaften.Staatskirchenrechtliche Grundfragen« in: Handbuch des Staatskirchenrechts der Bun-desrepublik Deutschland. Zweiter Band, Ernst Friesenhahn / Ulrich Scheuner (Hg.), inVerbindung mit Joseph Listl, Berlin 1975, S. 344–400, S. 369.

18 Eine Kurzgeschichte des Begriffs der Subsidiarität bietet Roman Herzog, »Subsidiari-tätsprinzip« in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, Joachim Ritter† /Karlfried Gründer (Hg.), Basel 1998, Sp. 482–486.

19 AaO. Sp. 484.20 Ulrich Fastenrath, »Subsidiarität im Völkerrecht« in: Subsidiarität als rechtliches und

politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft, aaO. (FN 10) S. 475–535,S. 475.

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Umso mehr verlangt man nach einer Erklärung, wieso das Subsidiaritätskonzeptinzwischen im Europarecht wie im deutschen Verfassungsrecht zu einer Verbind-lichkeit von weit strahlender symbolischer Leuchtkraft aufsteigen konnte und als-bald Politiker, Publizisten und Wissenschaftler zwang, sich erneut und in einemgrundlegend veränderten politischen Kontext mit ihm zu befassen. Ersichtlich wärees unsinnig zu vermuten, hier habe sich endlich die bezwingende Evidenz einerpäpstlichen Lehrmassgabe aus dem Jahre 1931 über mannigfache Widerstände undStreitigkeiten hinweg europaweit durchgesetzt und verbindlich gemacht. Begriffs-verwendungspolitisch gehören, noch einmal, die inzwischen dominant gewordeneideologiepolitische Neutralität, die rechtspolitische, nämlich regelungsschwacheMarginalität und überdies die orientierungspraktische Unschärfe des Subsidiaritäts-konzepts zu den Voraussetzungen seiner überraschenden jungen europarechtlichenKarriere.

Wie das? »Im Vorfeld des Vertrages von Maastricht« waren Absichten mehrererMitgliedsländer der europäischen Gemeinschaften wirksam, aus dem geeinten Eur-opa eine Fédération d'Etats-Nations oder auch eine Föderale Union zu machen.»Doch scheiterte die vertragliche Aufnahme« des Begriffs des Föderalismus oderverwandter Begriffsnamen »am Widerstand Grossbritanniens«21. Bei diesem Wider-stand handelt es sich nun in der Tat nicht um eine europapolitische Marginalie. Erstrecht nicht handelt es sich, wie man gelegentlich hören kann, um eine sprachlichesMissverständnis, das die Kontinentaleuropäer bei föderal an Selbstbestimmungs-rechte, gar gesetzgeberische Kompetenzen gliedstaatlicher Körperschaften denkenlässt, die Briten aber in Erinnerung an die Gründungsgeschichte der USA an dieweitreichende politische Absicht, über kooperierende Gliedstaaten endlich einezentral entscheidungsfähige Union mit uneingeschränkter Staatsqualität zu errich-ten – so gemäss den schliesslich massgebend gewordenen Vorstellungen der Auto-ren der berühmten Federalist Papers22.

Gewiss: Kein Geringerer als Winston Churchill hatte bereits 1946 für das aus derKatastrophe des Zweiten Weltkriegs sich erhebende Europa eine Vereinigung seinerStaaten zu einem Gebilde empfohlen, das er, »it may be, the United States of Euro-pe« nannte23. Churchill, der doch mit dieser Formel »United States of Europe« dasstaatsgründungspolitische Vorbild der USA beschwor, meinte aber eben damit eineeuropäische Föderation, der Grossbritannien selber gerade nicht angehören sollte.Daraus ergibt sich, dass, nachdem nun auch Grossbritannien, nach anfänglichem ei-genen Zögern und dann nach Widerständen Frankreichs, der EG beigetreten ist, fürvorerst unabsehbare Zeit die Europäische Union nicht sich zu einem echten Bun-

21 Roland Bieber, »Föderalismus in Europa« in: Werner Weidenfeld (Hg.), Europa-Hand-buch, Bonn 2002, S. 361–373, S… 361 f.

22 Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist Papers, übersetzt, ein-geleitet und mit Anmerkungen versehen von Barbara Zehnpfennig, Darmstadt 1993.

23 So Winston Churchill in seiner berühmten europapolitischen Rede in Zürich vom 19.September 1946. – Der Text der Ansprache Churchills ist, unter anderem, abgedrucktbei Max Sauter, Churchills Schweizer Besuch 1946 und die Zürcher Rede. Ein dokumen-tarischer Bericht, Herisau 1976, S. 77–79, S. 79.

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desstaat wird entwickeln können, solange auch Grossbritannien ihr weiterhin zuge-hört24. Eben mit dieser politischen Realität wäre die Aufnahme des Begriffs der Fö-deration in den Maastrichter Vertragstext unverträglich gewesen. An seine Stelletritt der Begriff der Subsidiarität, der in seinem Ordnungspotential sich indifferentzu der Alternative verhält, ob er sich auf eine föderal verfasste Körperschaft mit un-eingeschränktem Staatscharakter bezieht oder eben auf den Staatenverbund der Eu-ropäischen Union, die als dieser supranationale Verbund eben selber nicht ein Staatist.

Seiner politischen Bedeutung nach ist somit der europarechtlich positivierte Sub-sidiaritätsbegriff eine Alternative zum Begriff der Föderation. Der Sinn dieser Al-ternative ist, noch einmal, das vertragsverbindlich gemachte Dementi der Bundes-staatsqualität der sich entwickelnden körperschaftlichen Einheit Europas. Dassdieses Dementi in symbolischer Präsenz des Begriffsnamens Subsidiarität alsbaldAkzeptanz fand, beruht natürlich auf dem Umstand, dass bundesstaatliche Ambiti-onen in der Europapolitik auch ausserhalb Grossbritanniens und zumal in Frank-reich keine erhebliche Rolle spielen – mit der wichtigsten Ausnahme einiger inDeutschland wirksamer europapolitischer Visionen. Diesen Visionen gegenüberfand aber auch die deutsche Bundesregierung sich gehalten, in ihren Erklärungenvor dem Bundesverfassungsgericht bei dessen Verhandlung zur Verfassungsbe-schwerde gegen den Maastrichter Vertrag ausdrücklich festzuhalten, dass dieserVertrag »keinen europäischen Bundesstaat schafft und auch nicht bindend fest-schreibt«. »Die Endstufe der Entwicklung zu einem immer engeren Zusammen-schluss der europäischen Völker« könne »ein europäischer Bundesstaat sein, musses aber nicht sein«25.

Gewiss: »Sprache und Diskurs der britischen Vorschläge« zur Fortentwicklungder europäischen Politik unterscheiden sich »von der europäischen Rhetorik ande-rer Mitgliedsländer, besonders der Deutschlands«, erheblich. »Hinsichtlich der har-ten Vorschläge und Kernziele sind diese Differenzen mit Grossbritannien jedocheher Nuancen und Betonungsunterschiede als tiefergehende Meinungsverschieden-heiten«, nachdem nun einmal der Maastrichter Vertrag, statt der bundesstaatlich tö-nenden Föderation, die Subsidiarität als Organisationsprinzip der EU festgeschrie-ben hat26. Dieses Organisationsprinzip, gewiss, prägt auch Föderationen. Aber eslegt die Europäische Union nicht darauf fest, eine Föderation zu werden.

Es ist eine inzwischen politisch irrelevante historische Frage, wem die Idee zuverdanken ist, im Maastrichter Vertragsentwurf den Begriffsnamen der Föderationzu vermeiden und stattdessen die alternative Subsidiarität ins Spiel zu bringen. Manhat erzählen hören, der Einfall der vertragsrettenden Alternative sei Helmut Kohlzuzuschreiben. Vertreten wird aber auch die Meinung, die auf eine solche Alternati-

24 Vgl. dazu Lawrence Martin, »The United Kingdom« in: Werner Weidenfeld / Josef Jan-ning (Hg.), Europe in Global Change, Gütersloh 1993, S. 157–166.

25 So im Wortlaut dieser Stellungnahme bei Ingo Winkelmann, aaO. (FN 7), S. 184f.26 Helen Wallace »Grossbritannien« in: Werner Weidenfeld (Hg.), Europa-Handbuch,

Bonn 2002, S. 144–155, S. 154 f

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ve in erster Linie angewiesenen Briten selbst hätten das Subsidiaritätskonzept emp-fohlen. Aus den Verhandlungsprotokollen wird sich belegen lassen, wie es wirklichgewesen ist. So oder so hätten somit in Maastricht alte britische Vorbehalte gegendie EG »as a capitalist, Christian Democratic, Gaullist construction«27 keine Rollemehr gespielt, und auch das wäre ein zusätzlicher Beleg für die inzwischen dem Be-griffsnamen Subsidiarität eignende ideologiepolitisch-weltanschaulich neutralisierteAnmutungsqualität.

In den mannigfachen Entschliessungen, Vorschlägen und sonstigen Verlautba-rungen nationaler und supranationaler Instanzen, die dem definitiven MaastrichterVertragsentwurf vorausgingen, dominierte zunächst noch die Bekräftigung der »fö-derativen Ausrichtung der Union«28. Eine Entschliessung des Europäischen Parla-ments gute drei Wochen später, nämlich am 10. Juli 1991, erwähnte die Absicht, derUnion eine föderative Gestalt zu geben, schon nicht mehr, verwies aber stattdessenauf fällige Beachtung der Subsidiaritätsgrundsätze29. Unbeschadet der in solchenSchritten sich vorbereitenden vertragssprachlichen Ersetzung der Föderation oderverwandter Begriffsnamen durch die Alternative der Subsidiarität blieb freilich denMitgliedstaaten der Union und den Föderalstaaten unter ihnen zumal die Freiheitunbenommen, in ihren nationalen Rechtssystemen auch den föderativen Charakterder Europäischen Union herauszustellen – so der bereits zitierte Artikel 23 desdeutschen Grundgesetzes, welcher konstatiert, dass diese Union föderativenGrundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet sei.

Indem so das deutsche Grundgesetz sowohl auf die föderativen Grundsätze wieauf den Grundsatz der Subsidiarität verweist, dementiert es in naheliegender Weisezugleich, dass es sich hierbei um austauschbare verbale Äquivalente handele. Wasföderale Ordnungen einerseits und subsidiäre Organisationssysteme andererseitsunterscheidet, liegt auf der Hand, und schon die Erinnerung an die Charakteristikdes Subsidiaritätsbegriffs in der päpstlichen Enzyklika von 1931 genügt, um zu er-kennen, dass er sich in seiner normativen Bedeutung nicht allein auf Föderationenbezieht. Föderal – das ist ein Prädikator zur Kennzeichnung eines Verbunds politi-scher Gebietskörperschaften. Subsidiär hingegen ist ein in seinem Anwendungsbe-reich ungleich weiter sich erstreckender Prädikator zur Kennzeichnung eines Ver-bunds sozialer Organisationen unabhängig von ihrer politisch-gebietskörperschaflichen oder sonstigen körperschaftlichen Qualität, unabhängig

27 Lawrence Martin, aaO. (FN 24), S. 159.28 So zum Beispiel im Text des zweiten Vertragsentwurfs der luxemburgischen Präsident-

schaft vom 18. Juni 1991 – abgedruckt bei Werner Weidenfeld (Hg.), Maastricht in derAnalyse. Materialien zur Europäischen Union, Gütersloh 1994, S. 487.

29 AaO. S. 488. – Auf sporadische frühere Erwähnungen des Subsidiaritätsprinzips in Tex-ten aus dem europapolitischen Kontext von Absichten der Weiterentwicklung desEWG-Vertrages verweist Klaus Stern – zugleich freilich auf anekdotenhaft vielerzählteBekundungen der Irritation, mit der hochgestellte EG-Repräsentanten von BruceMcMillan bis Jacques Delors in Reaktion auf Wort und Begriff der Subsidiarität reagier-ten. Vgl. Klaus Stern, »Europäische Union und kommunale Selbstverwaltung« in:Michael Nierhaus (Hg.), Kommunale Selbstverwaltung. Europäische und NationaleAspekte, Berlin 1996, S. 21–44, S. 34.

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auch von ihrem öffentlichen oder privaten Charakter. Vereinfachend liesse sich imInteresse deutlicher Unterscheidung sagen, dass der Begriff subsidiärer Sozialorga-nisation den Fall föderativer Ordnung als Spezialfall eines Verbunds politischer Ge-bietskörperschaften unter sich subsumiert. Entsprechend unterscheiden sich auchdie politischen Tauglichkeiten der Grundsätze föderativer politischer Ordnungeneinerseits und des Grundsatzes der Subsidiarität andererseits für die Begründungpolitischer Forderungen. Zum Beispiel gäbe der Rekurs auf die normativen Gehalteföderaler Ordnung für die Begründung von wirtschaftspolitischen Privatisierungs-programmen wenig her. Das Subsidiaritätsprinzip hingegen wirkt unbeschadet sei-ner Herkunft aus liberalismuskritischen Orientierungen, wie sie im Katholizismusder europäischen Zwischenkriegszeit eine Rolle spielten, individualisierend, markt-freundlich, und es erhöht die Begründungslasten für die Konstituierung gesetzlichverbindlicher Solidargemeinschaften.

So oder so: Sowohl der Föderalismus wie auch der Subsidiarismus sind Begriffemit sehr breiten Spektren für die unter sie zu subsumierenden spezifischen Fälle.Österreich oder die Schweiz, die USA oder Russland – um Föderationen handelt essich in allen Fällen, und der Begriff der Föderation ist hinreichend distinkt, um diegenannten Länder als Föderationen von Ländern wie Frankreich, Tschechien oderGriechenland unterscheidbar zu machen. Ein normativer Gehalt, der aus dem Be-griff der Föderation ableitbar machte, welcher Föderalstaat seinem Begriff besseroder schlechter entspräche, eignet hingegen dem Begriff der Föderation nicht, undfür den Begriff subsidiärer Ordnungen gilt Analoges erst recht. Widerspräche denndie Existenz von Staatsbahnen dem Subsidiaritätsprinzip? Haben kleine Kommu-nen selbst dann noch einen fortdauernden Anspruch auf gemeindliche Selbstverwal-tung, wenn sie aus Gründen des Bevölkerungsschwunds nicht einmal mehr eineVolksschule zu unterhalten haben? Soll die Europäische Union in ihrer Zuständig-keit für subsidiäre Denkmalschutzförderung nur bei Objekten von der Grössenord-nung des flutenbedrohten Venedig leisten oder auch dann schon, wenn es sich umein agrartechnisches Kleindenkmal in Neuwaldgebieten handelt? Weder der Begriffeiner föderalen gebietskörperschaftlichen Ordnung noch das Subsidiaritätsprinzipgeben für die Beantwortung solcher Fragen irgendwelche Kriterien her. Entspre-chend handelt es sich, wo das Subsidiaritätsprinzip als rechtlich positiviertes Prinzipauftritt, um soft law30. Um einen Mangel handelt es sich dabei nichtsdestowenigernicht, vielmehr um die Selbsterhaltungsbedingung eines Verbunds von Staaten, diesich durch diesen Verbund in der extremen historischen Kontingenz ihrer rechtlich-organisatorischen Herkunftsprägungen kooperationsfähiger machen möchten. Dassman dabei überwiegend nicht bereit ist, dem Staatenverbund, als den das deutscheVerfassungsgericht die EG charakterisiert hat, mehr Zuständigkeiten zu konzedie-ren, als organisationstechnisch für die Erfüllung des Sinns der ganzen Unterneh-mung erforderlich sind, hat schliesslich den Charakter einer Trivialität. Es ist dieseTrivialität, die auch dem ausformulierten Subsidiaritätsgrundsatz eignet. Trivialität

30 So nach einer von Josef Isensee aufgenommenen Vermutung, vgl. Josef Isensee, aaO.(FN 10), S. 130.

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– diese fundamentale Eigenschaft des Subsidiaritätsgrundsatzes ist dabei kein Man-gel, vielmehr seine Stärke. Sie macht ihn unwidersprechlich. Sie lässt ihn überdies alsalterungsresistent und damit als klassisch erkennen, und eben darauf beruht es, dassman bei der Suche nach Belegen für die seiner Trivialität wegen zugleich universelleGeltung des Subsidiaritätsprinzips leicht fündig wird – bei Abraham Lincoln zumBeispiel31 oder auch schon, keineswegs überraschend, in der Bibel, nämlich zumBeispiel im Buch Exodus, wo Mose den Rat seines Schwiegervaters empfängt, nurdort, wo es sich um »eine grosse Sache« handelt, diese vor sich bringen zu lassen,über »alle geringen Sachen« hingegen von anderen »redlichen Leuten richten zu las-sen. »So wird dir's leichter werden, und sie werden mit dir tragen«32.

Der erläuterten Unschärfe des Subsidiaritätskonzepts entspricht es, dass die Ori-entierung an ihm in komplexen und dynamischen Systemen vorzugsweise in kon-kreten politisch-gesetzgeberischen Einzelentscheidungen und nicht in dauerhaftfestschreibungsfähigen Zuständigkeitsordnungen konkret wird. Dem Subsidiari-tätsbegriff wären solche Zuständigkeitsordnungen nicht zu entnehmen. Das ist,noch einmal, nicht deswegen so, weil der Begriff bislang leider zu unscharf gefasstgewesen wäre, so dass man sich herausgefordert finden sollte, ihn endlich zu präzi-sieren. Die normative Unbestimmtheit des Begriffs der Subsidiarität ergibt sich viel-mehr als Konsequenz aus seiner generischen Weite, in der eo ipso offen bleibenmusste, ob die subsidiär mit Zuständigkeitsvorrang vor der Staatsgewalt zu beden-kenden kleineren Gemeinwesen als kleiner nach Fläche oder nach Einwohnerzahloder nach Wirtschaftskraft oder auch nach einer Kombination dieser Eigenschaftenzu denken seien oder auch nach funktionalen Differenzen gegebener oder auchnicht gegebener Gesetzgebungskompetenzen, Steuerquellenerschliessungsrechteoder der Verfügung über bewaffnete Kräfte. Ungesagt bleibt in der generellen Defi-nition des Subsidiaritätsbegriffs nach der Natur solcher Definitionen überdies, obdie kleineren Gemeinwesen und der Staat, die ihre Verhältnisse zueinander subsidi-är ordnen sollten, verfassungsrechtlich oder nur vertraglich miteinander verbundensind, ob diese Bindungen förmlich oder faktisch auch lösbar wären, also ein Austrittder kleineren Gemeinwesen aus den grösseren offen stünde33. Auch ist nicht gesagt,

31 So in Aufnahme eines Funds, den schon Oswald von Nell-Breuning präsentiert hatte,Manfred Walther, »Subsidiarität und Flexibilität. Überlegungen zum Dezentralisie-rungspotential des Subsidiaritätsprinzips in der Europäischen Union« in: Subsidiaritätals rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft, aaO.(FN. 10), S. 117–125, S. 117.

32 2. Mose 18, 19–22.33 Auf die Frage, ob die Mitgliedsländer der EG subsidiaritätskonsequent auch über ein

Recht des Austritts aus der EG verfügen – »eine alte theoretische Frage« –, antwortetebei Gelegenheit der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht imVerfassungsbeschwerdeverfahren gegen die deutsche Mitwirkung an der Gründung derEuropäischen Union der Generaldirektor Dewost von der Kommissionsverwaltung:»Ein Mitgliedsstaat kann am Ende – nach Massgabe der allgemeinen Grundsätze desVölkerrechts, die auch im Gemeinschaftsrecht gelten – austreten, wenn ihm ein Verblei-ben unzumutbar ist« – gemäss Protokollauszug bei Ingo Winkelmann, aaO. (FN 7) S.533.

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ob bei kleineren Gemeinwesen jeweils an öffentliche Einrichtungen mit regional be-grenzter Beitrittspflicht für spezielle Personengruppen zu denken sei oder exklusivan Gebietskörperschaften oder auch an andere Körperschaften des öffentlichenRechts, oder ob man sich darunter auch Einrichtungen privaten Rechts, freikirch-lich organisierten Religionsgemeinschaften zum Beispiel, vorstellen solle, Vereineoder deren Verbände etc. usf. – Das bedeutet in der Zusammenfassung: Nach be-griffspraktisch doch vertrauter Art lässt der Subsidiaritätsbegriff wie jeder leis-tungsfähige Gattungsbegriff die Differenzen der Spezies, die unter ihn zu subsumie-ren sind, offen und damit in diesem auf die sozialen Ordnungen bezogenen Fallauch die politisch dispositiven normativen Beziehungen zwischen den fraglichenOrdnungseinheiten. Einzig die Offenheit des Subsidiaritätsbegriffs als eines Gat-tungsbegriffs ist es, die ihn als positivierten Grundsatz europarechtstauglich undeuropapolitisch akzeptabel gemacht hat. Man wird freilich nicht sagen können, dassder faktische Zustand des Rechts- und Verwaltungssystems der EG subsidiär wohl-organisiert sei34. Indessen: Sachzwänge der zivilisatorischen Evolution machen in al-len Bereichen der politischen Organisation Fälligkeiten der Dezentralisierung undder Demokratisierung unvermeidlich, und das erklärt zugleich die wachsende In-tensität der Debatten, die in der Öffentlichkeit, in Politik und Wissenschaft, heuteden an das Subsidiaritätsproblem sich anschliessenden Themen der Föderalisie-rung35, der Dezentralisierung sowie der Demokratisierung einschliesslich des Über-gangs zu Formen der direkten Demokratie gewidmet sind36.

Zusammenfassung

Die Enzyklika Quadragesimo anno hat den Begriff der Subsidiarität bekanntlichprominent gemacht. Gleichwohl blieb er verfassungsrechtspolitisch und völker-rechtspolitisch über Jahrzehnte hin marginal. Inzwischen ist er europarechtlich undverfassungsrechtlich in politisch wichtiger Funktion positiviert. Dieser Aufsatz istein Beitrag zur Geschichte, die das erklärt.

34 Vgl. dazu den Abschnitt »Konsequentere Subsidiaritätspolitik« bei Gertrude Lübbe-Wolff, »Europäisches und nationales Verfassungsrecht« in: Veröffentlichungen der Ver-einigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 60, Berlin/New York 2001, S. 246–289,S. 273–275.

35 Vgl. dazu exemplarisch Herbert von Arnim / Gisela Färber / Stefan Fisch (Hg.), Föde-ralismus – hält er noch, was er verspricht? Seine Vergangenheit, Gegenwart undZukunft, auch im Licht ausländischer Erfahrungen, Schriftenreihe der HochschuleSpeyer, Band 137, Berlin 2000; ferner: David McKay, Designing Europe. ComparativeLessons from the Federal Experience, Oxford 2001.

36 Vgl. dazu exemplarisch Peter Graf Kielmansegg, »Lässt sich die Europäische Uniondemokratisch verfassen? « in: Werner Weidenfeld (Hg.), Reform der EuropäischenUnion. Materialien zur Revision des Maastrichter Vertrages 1996, Gütersloh 1995, S.229–242, ferner: Hermann Lübbe, »Mehrheit statt Wahrheit. Über Demokratisierungs-zwänge« in: André Kaiser / Thomas Zittel (Hg.) Demokratietheorie und Demokratie-entwicklung. Festschrift für Peter Graf Kielmansegg, Wiesbaden 2004, S. 141–154.

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Summary

The concept of subsidiarity has been made prominent by the encyclical epistle Qua-dragesimo anno. However, during decades it rested marginal in politics of constitu-tional and international law. Meanwhile it is adopted by European and constitutio-nal law discourse and given a politically eminent function. This article tries to tellthe story.

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Volker Kronenberg

Integration in Zeiten des WandelsZuwanderung und demographische Krise

als gesellschaftspolitische Herausforderungen

Demographische Entwicklung und die Steuerung von Zuwanderung

Unbestreitbar lässt sich in Deutschland, ebenso wie in den meisten anderen hoch-entwickelten Industrienationen eine »demographische Krise«1, verursacht durch ei-nen kontinuierlichen Geburtenrückgang, beobachten. Die demographischen Statis-tiken und Prognosen der Vereinten Nationen machen deutlich2, dass sich fast jedesder rund 180 Länder der Welt in einem Zustand des demographischen Ungleichge-wichts befindet. In der weitaus größten Ländergruppe – in den Entwicklungslän-dern mit ihren rund fünf Milliarden Einwohnern – bewirkt die nach wie vor hoheGeburtenrate von etwa drei Kindern je Frau einen jährlichen Bevölkerungszuwachsvon 75 Millionen, während die Bevölkerung in der weitaus kleineren Gruppe derIndustrieländer mit ihren 1,2 Milliarden Menschen entweder, wie im Falle Deutsch-lands, schon seit Jahrzehnten schrumpft oder schrumpfen würde, wenn das Gebur-tendefizit nicht durch Zuwanderung kompensiert bzw. überkompensiert würde.Falls die Zahl der Lebendgeborenen pro Frau in Deutschland von 1,4 auch künftigunverändert bliebe und im Gegenzug die Lebenserwartung der Bürger weiter zu-nähme3,würde die Bevölkerungszahl – ohne Ausgleich durch Wanderungen – bis2050 von rund 82 Millionen auf 50, 7 Millionen und bis 2100 auf 22, 4 Millionen ab-nehmen. Insofern sich der Geburtenrückgang in Deutschland zu einem Jugend-schwund fortentwickelt, der nicht beliebig lang mit ökonomischer Produktivitäts-steigerung kompensiert werden kann, kommt der Frage nach Zuwanderungpolitisch wie wissenschaftlich ein hoher Stellenwert zu.4

Die für Fragen der Bevölkerungsentwicklung zuständige Abteilung der VereintenNationen hat in einer im Jahre 2000 vorgelegten Untersuchung über die Auswir-

1 Vgl. dazu ausführlich Tilman Mayer, Die demographische Krise. Eine integrative Theo-rie der Bevölkerungsentwicklung, Frankfurt/M. 1999.

2 Vgl. United Nations (Hg.): World Population Prospects. The 2002 Revision (Highlights),New York 2003; dazu näher: Herwig Birg, World Population Projects fort the 21st Cen-tury. Theoretical Interpretations and Quantitative Simulations, Frankfurt /M. 1995.

3 Beide Annahmen legt die 10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statisti-schen Bundesamtes, deren Ergebnisse im Juni 2003 veröffentlicht wurden, zugrunde.Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.), Bevölkerung Deutschlands bis 2050. 10. Koordi-nierte Bevölkerungsvorausberechnung, Wiesbaden 2003, S. 10; S. 19.

4 Vgl. Josef Schmid, Die demographische Entwicklung Deutschlands – Ursachen, Folgenund politische Optionen, München 2000.

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Volker Kronenberg · Integration in Zeiten des Wandels170

kungen der Migration auf die Bevölkerungszahl und die Altersstruktur in den In-dustrieländern veranschaulicht, dass bis zum Jahre 2050 fast 175 Millionen jüngereMenschen nach Deutschland zuwandern müssten, wenn dadurch der Altersquoti-ent konstant gehalten werden sollte.5 Während die vom Statistischen Bundesamtvorgelegte 10. koordinierte Bevölkerungsberechnung die Einschätzung des UNO-Berichtes bestätigt und zu dem Ergebnis kommt, dass sich »somit die derzeitige Al-tersstruktur in Deutschland durch Zuwanderung unter realistischen Rahmenbedin-gungen nicht erhalten« lasse6, suchten sowohl die Zuwanderungskonzepte der Par-teien7, der Bericht der Unabhängigen Regierungskommission Zuwanderung(Süssmuth-Kommission)8 wie auch der Anfang August 2001 bzw. erneut Anfang Fe-bruar 2003 von Seiten der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Zuwande-rungsgesetzes9 eine Antwort auf das virulente Problemgeflecht zu formulieren. Die-ses Problemgeflecht besteht aus den fortwirkenden Konsequenzen desGeburtendefizits, der fortschreitenden Alterung, aus einem Zuwanderungsdruck,der sich aus der demographischen und sozialen Weltlage ergibt und dem die gelten-de Gesetzeslage und bestehende Praxis nur unvollständig standhält sowie aus demZwang, ein leistungsfähiger Industriestaat zu bleiben, welcher den Anforderungeneines globalen Innovationswettbewerbs gerecht wird.10

Parteiübergreifend wird es seit langem als die zentrale gesellschaftspolitische Her-ausforderung begriffen, Zuwanderung zu »steuern« bzw. unkontrollierte Zuwande-rung zu »begrenzen«. Der Gesetzentwurf des Bundesinnenministeriums brachte die-se Herausforderung ungeachtet der politischen Kontroversen um den Entwurf zumAusdruck, wenn als Ziel formuliert wurde: »Durch ein modernes Zuwanderungs-recht Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit sichern, Arbeitsplätze schaffen und dieZuwanderung gestalten; zugleich Zuwanderung begrenzen, illegale Zuwanderung

5 Vgl. United Nations (Hg.), New Report on Replacement Migration – Is it a solution todeclining and aging Population? UN-Population Division, New York 2000, S. 39,Tabelle 4.13 www.un.org./esa/population/migration.htm; vgl. unter Zugrundelegungdieser Zahlen Rainer Münz, »Deutschland muss Einwanderungsland werden« in: Spie-gel-Online, 27. 4. 2001; vgl. auch Herwig Birg, »Dynamik der demographischen Alte-rung, Bevölkerungsschrumpfung und Zuwanderung in Deutschland« in: Aus Politikund Zeitgeschichte B 20/2003, S. 6–16., S. 6.

6 Vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Deutschlands bis 2050, aaO. (FN 4), S. 34.7 Vgl. exemplarisch: SPD-Bundestagsfraktion (Querschnittsgruppe Integration und

Zuwanderung), »Die neue Politik der Zuwanderung – Steuerung, Integration, innererFriede« Juli 2001 sowie dies., »Das Zuwanderungsgesetz ist gut, ausgewogen und es istnotwendig« in www.spdfraktion.de (v. 24. Juni 2003); vgl. analog das Gemeinsame Posi-tionspapier von CDU und CSU zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung vom10. Mai 2001 sowie den Beschluss »Zuwanderung steuern und begrenzen. Integrationfördern« des Bundesausschusses der CDU Deutschlands, 7. 6. 2001.

8 Vgl. Bundesministerium des Inneren, »Zuwanderung gestalten – Integration fördern«Bericht der Unabhängigen Kommission Zuwanderung, 4. 7. 2001.

9 Vgl. Deutscher Bundestag (Drucksache 15/420), »Entwurf eines Gesetzes zur Steue-rung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und derIntegration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz)«.

10 Vgl. Josef Schmid, »Bevölkerungsentwicklung und Migration in Deutschland« in: AusPolitik und Zeitgeschichte B 43/2001, S. 20–30, S. 21.

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bekämpfen und dem Missbrauch des Asylrechts entgegenwirken. «11 Diese Zielper-spektive, die sich nun auch in dem nach zähen Verhandlungen zwischen Regierungund Opposition verabschiedeten »Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zu-wanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbür-gern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) «12 vom 30. Juli 2004 wieder findet,trägt den Interessen einer signifikanten Mehrheit in der deutschen Bevölkerung inso-fern Rechnung, als 57 % der Befragten einer im Jahre 2001 durchgeführten repräsen-tativen Umfrage für das Inkrafttreten eines Zuwanderungsgesetzes – und einer damitverbundenen quotierten jährlichen Zuwanderung – plädierten (25 % dagegen) und60 % der Befragten als Hauptziel eines solchen Gesetzes die Verringerung der Zu-wanderung bezeichneten (23 % der Befragten sprachen sich dafür aus, die Zuwande-rung auf dem jetzigen Stand zu halten; 4 % der Befragten waren für eine Ausweitungder Zuwanderung).13 68 % waren der Auffassung, die Grenze der Zuwanderungnach Deutschland sei erreicht, 17 % der Befragten waren gegenteiliger Ansicht.14

Tatsache ist, dass die Bundesrepublik unter den großen Industrienationen derWelt seit Jahren das Land mit der höchsten Zuwanderung ist15 und im Vergleich zuden USA und westeuropäischer Nachbarstaaten – wie Frankreich16 – über Jahrehinweg mit großem Abstand die meisten Asylbewerber und Flüchtlinge aufgenom-men hat. Ende 1998 lebten insgesamt 7,32 Millionen Ausländer in Deutschland miteinem Gesamtbevölkerungsanteil von 8,9 %. Seit der Wiedervereinigung lässt sichein Netto-Zuzug von ca. zwei Millionen Ausländern mit einem Durchschnitt von200.000 pro Kalenderjahr in die Bundesrepublik verzeichnen. Im Rahmen einerstarken Schwankung des Wanderungssaldos und eines beobachtbaren Wechselszwischen positiven und negativen Wanderungssalden während der vergangenenJahrzehnten gab es 1997 und 1998, nicht zuletzt in Folge der Rückführung von Bür-gerkriegsflüchtlingen, bei der ausländischen Bevölkerung mehr Fort- als Zuzüge,

11 Deutscher Bundestag (Drucksache 15/420) aaO., (FN 9).12 Vgl. »Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des

Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungs-gesetz)« in: Bundesgesetzblatt Jahrgang 2004, Teil I Nr. 41 (Bonn, 5. 8. 2004).

13 Vgl. die Ergebnisse der repräsentativen Umfrage vom Dezember 2001 des Instituts fürDemoskopie Allensbach in: Elisabeth Noelle-Neumann / Renate Köcher (Hg.), Allens-bacher Jahrbuch der Demoskopie 1998–2002, S. 578.

14 Vgl. ebd. das Ergebnis einer Umfrage vom Juni 2001, S. 577.15 Vgl. in diesem Sinne und unter Verweis darauf, dass sich seit 1955, als die Bundesrepub-

lik mit Italien das erste Anwerbeabkommen für ausländische Arbeitskräfte abgeschlos-sen hat, zumindest vorübergehend 25 Millionen Zuwanderer in Deutschlandniedergelassen haben, Eberhard Seidel, »Migrationspolitische Eiszeit« in: Blätter fürdeutsche und internationale Politik 2 (2003), S. 198–202, S. 198.

16 Mit Blick auf Frankreich bzw. die USA vgl. Doris Dickel, Einwanderungs- und Asylpo-litik der Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreichs und der BundesrepublikDeutschland. Eine vergleichende Studie der 1980er und 1990er Jahre, Opladen 2002; dievergleichende Perspektive um Großbritannien erweiternd vgl. Christian Joppke, Immi-gration and the Nation-State. The United States, Germany and Great Britain, Oxford1999; vgl. darüber hinausgehend ders. (Hg.), Challenge to the Nation-State. Immigra-tion in Western Europe and the United States, Oxford 1998.

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was zu einem negativen Wanderungssaldo führte. Der Wanderungssaldo der gesam-ten Bevölkerung betrug im Jahr 1998 weniger als 50 000 und stieg 1999, bedingtdurch die erneut positive Bilanz bei der ausländischen Bevölkerung, auf etwa 200000. Der höchste Zuwanderungsüberschuss von 780 000 Personen lässt sich für dasJahr 1992 als Folge des starken Zustroms sowohl der deutschen als auch von auslän-dischen Personen nach Deutschland verzeichnen.

Doch eine zahlenfixierte Betrachtung der Zu- und Abwanderung in den verschie-denen Jahren allein ist wenig aussagekräftig. Denn welche Aussagekraft hat bei-spielsweise die Mitteilung, dass der positive Wanderunssaldo 1996 149.000 betrug?17

Diese Zahl besagt lediglich, dass 149.000 Ausländer nach Deutschland mehr ein- alsauswanderten, gibt jedoch keine Auskunft darüber, ob die Zuwanderer die Bereit-schaft und auch die Fähigkeit hatten, sich in der Bundesrepublik zu integrieren bzw.ob die arbeitsfähigen Zuwanderer über solche beruflichen Qualifikationen verfüg-ten, die es ihnen erlaubten, ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit zu finanzie-ren oder ob – umgekehrt – das Netz sozialer Sicherheiten für die Zuwanderungsent-scheidung ausschlaggebend war. Kurzum: Die Zahl an sich sagt nichts darüber aus,ob die Zuwanderung für die deutsche Gesellschaft eine Bereicherung oder eine Be-lastung war. Insofern keine Gesellschaft unbegrenzte Zuwanderung verkraftet, willsie nicht ihre innere Stabilität und Identität zur Disposition stellen18, ist eine balan-cierte Zuwanderungssteuerung unter Anerkennung der Tatsache, dass die Bundes-republik, deskriptiv betrachtet, ein Einwanderungsland ist – wenn auch »wider Wil-len«19 –, notwendig. »Eine Zuwanderungspolitik ist nur dann sozial verträglich,wenn sie dem Subsidiaritätsprinzip folgt und nur insoweit in Anspruch genommenwird, wie die eigenen Kräfte überfordert sind oder fehlen«20 – Stichwort Familien-politik: Die Entscheidung zur Elternschaft ist Privatangelegenheit, doch die Bedin-gungen, für ausreichend Nachwuchs zu sorgen und zeitadäquat zu erziehen, sindöffentliche Anliegen.21 »Einwanderung«, so lautete denn auch der Befund einerAnalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung des Jahres 2001, »ist kein Ersatz für Familien-politik. (..) Zuwanderung macht nur Sinn, wenn die Gesellschaft auf Dauer insge-

17 Vgl. Peter Müller / Wolfgang Bosbach / Dieter Oberndörfer, »Zuwanderung und Inte-gration« in: Zukunftsforum Politik Nr. 23, Sankt Augustin 2001, S. 36f.

18 Vgl. hierzu überaus kritisch Lutz Hoffmann, »Identitätsstiftende Ausgrenzung« in:Blätter für deutsche und internationale Politik 2 (2003), S. 202–206.

19 So die Einschätzung bei Dickel, Einwanderungs- und Asylpolitik, aaO. (FN 15), S. 277;vgl. in diesem Sinne auch die Einschätzung bei Hartmut Behr, Zuwanderung im Natio-nalstaat. Formen der Eigen- und Fremdbestimmung in den USA, der BundesrepublikDeutschland und Frankreich, Opladen 1998, S. 56. Deskriptiv betrachtet wird man jedesLand – und damit auch die Bundesrepublik – als Einwanderungsland bezeichnen, in dasAngehörige ausländischer Staaten einreisen, um sich dort auf Dauer niederzulassen.Normativ betrachtet wird man dieser Einschätzung widersprechen, wenn man als Ein-wanderungsland nur diejenigen Staaten bezeichnet, die sich gezielt und nachhaltig umEinwanderung bemühen. Dazu zählt die Bundesrepublik Deutschland heute nicht.

20 Schmid, Bevölkerungsentwicklung und Migration, aaO. (FN 10), S. 30.21 Vgl. dazu Max Wingen, Familienpolitik. Grundlagen und aktuelle Probleme, Stuttgart

1997.

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samt familienfreundlicher wird und die Arbeitslosigkeit deutlich zurückgeht. «22

Stellen familienpolitische wie auch zuwanderungspolitische Maßnahmen in Zeitender demographischen Krise folglich zwei Seiten einer Medaille dar, so geht es dar-um, Zuwanderung aus humanitären Gründen und Zuwanderung aus legitimen nati-onalen Interessen zur Sicherung der Sozialsysteme23 in ein angemessenes Verhältniszu bringen und damit ungeregelte Zuwanderung, die auch nach der Neufassung desentsprechenden Grundgesetzartikels im Jahre 1993, noch immer über den Miss-brauch des Asylgrundrechts (Art 16a GG) erfolgt, zu unterbinden.24

Vernünftige Zuwanderungspolitik – die damit zugleich Bevölkerungspolitik ist25

– muss aber nicht nur die richtige Relation der verschiedenen Zuwanderungsgründefinden und beachten, sondern ebenfalls – auf allen staatlichen Ebenen – für eine In-tegration der dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland lebenden Ausländer Sorgetragen.26 So werden die Kosten der nach dem neuen Zuwanderungsgesetz obligato-rischen Integrationskurse für Neuzuwanderer einschließlich Aussiedler auf ca. 188Mio. Euro jährlich veranschlagt.27

Zuwanderungspolitisch wies bereits der Bericht der »Süssmuth«-Kommission in-sofern in die richtige Richtung, als er erstens grundsätzlich feststellte, dass Deutsch-land Zuwanderung brauche, zweitens die Steuerung der Zuwanderung nachDeutschland und die Integration der Zugewanderten zu »den wichtigsten politi-schen Aufgaben der nächsten Jahrzehnte« zähle28 und – damit zusammenhängend –drittens für eine nach Vorzugspunkten quotierte Arbeitsimmigration plädierte, ein-schließlich der Anwerbung talentierter Jugendlicher, die in Deutschland und fürDeutschland eine höhere Ausbildung absolvieren. Die Vorzugspunkte, wie sie eben-falls Kanada und Australien kennen, sollten auch über die Zuwanderung der Familieentscheiden. Maßnahmen zur sozialen, kulturellen und damit auch sprachlichen In-

22 Ulrich Pfeiffer, Einwanderung: Integration, Arbeitsmarkt, Bildung, Berlin 2001 (zitiertnach www.library.fes.de )

23 Vgl. Herwig Birg, Perspektiven der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland und Eur-opa – Konsequenzen für die sozialen Sicherungssysteme (Materialen des Instituts fürBevölkerungsforschung und Sozialpolitik, Bd. 48), Bielefeld 2002; vgl. komprimiert Stef-fen Angenendt, Deutsche Migrationspolitik im neuen Europa, Opladen 1997, S. 66–71.

24 Vgl. Josef Schmid, aaO. (FN 10), S. 26f. Vgl. darüber hinaus die statistische Zusammen-stellung der Asylzuwanderung bzw. der Anzahl der Asylbewerber in der BundesrepublikDeutschland im Zeitraum von 1990 bis 2003 in: Migrationsbericht 2004. Bericht des Sach-verständigenrates für Zuwanderung und Integration im Auftrag der Bundesregierung,www.zuwanderung.de/downloads/Migrationsbericht_2004.pdf.

25 Zu den historischen Implikationen bzw. der missbräuchlichen Etikettierung rassisti-scher nationalsozialistischer Politik als »Bevölkerungspolitik« vgl. Rainer Mackensen(Hg.), Bevölkerungsfragen auf Abwegen der Wissenschaft. Zur Geschichte der Bevölke-rungswissenschaft in Deutschland im 20. Jahrhundert, Opladen 1998.

26 Vgl. Ulrich K. Preuß, »Multikulti ist nur eine Illusion. Deutschland wird zum Einwan-derungsland. Das Grundgesetz taugt nicht als Wegweiser« in: Die Zeit (23) 2001.

27 Vgl. www.bmi.bund.de/dokumente/Pressemitteilungen/ix 95251.htm.28 Vgl. Bundesministerium des Inneren, Zuwanderung gestalten – Integration fördern.

Bericht der Unabhängigen Kommission Zuwanderung vom 4. Juli 2001; »Deutsch-land«, so heißt es im ersten Satz des Berichts der Kommission, »braucht Zuwanderin-nen und Zuwanderer. « Obiges Zitat schließt sich ebd. an.

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tegration wurden in dem Bericht besonders akzentuiert. Die Kommission kalkulier-te mit 50 000 realen und künftigen Arbeitskräften – Familienangehörige waren hier-bei noch nicht einberechnet – und suchte damit der demographischen Implosion anzentraler Stelle mit dynamischen Arbeitsmigranten, die eine große Integrationsnei-gung zeigen, Rechnung zu tragen, ohne dabei auf gesellschaftspolitische (Ab-)Wegedes Multikulturalismus bzw. der kulturellen Assimilation zu geraten.

Multikulturalismus oder kultureller Pluralismus?

Doch was überhaupt meint Multikulturalismus? Multikulturalismus charakterisiertidealiter eine Gesellschaft ohne kulturelles Zentrum bzw. ohne hegemoniale kultu-relle Mehrheit.29 In dem Ausmaß, in dem die multikulturelle Gesellschaft eine plu-ralistische Palette von Lebensformen zulässt, die in ihrer Pluralität zugleich ihreAusschließlichkeit aufgeben bzw. zu neuen Lebensformen zusammenschließen,verlieren Herkunft und Brauch ihre normative Kraft und werden zu dem, was – ausder Perspektive der Multikulturalisten – Kultur stets auch sein sollte: zu einem Me-dium der Kultivierung, der Verfeinerung, der Mäßigung und Aufgeschlossenheit.Die Kultur einer wirklich multikulturellen Gesellschaft wird sich von einem Reser-voir der Abgrenzung und Identitätssicherung zu einem spielerischen Bereich derFlexibilisierung von Lebensformen verändern.30

Handelt es sich bei dem Konzept des Multikulturalismus also keineswegs nur umdie Zustandsbeschreibung einer Gesellschaft, die durch Einwanderung – in welchemUmfang auch immer – gekennzeichnet ist31, sondern vielmehr um die im Sinne einer»offenen Republik« angestrebte Umwandlung der nationalen Fundierung des Staa-tes in die Offenheit einer Weltbürgerrepublik32 ohne verbindlichen Wertekanon jen-seits universalistischer Grundnormen, so muß daran erinnert werden, dass Demo-kratie, Toleranz und individuelle Menschenrechte Werte einer politischen Kultursind, die sich unter Bedingungen der westlichen Zivilisation – Charles Taylor sprichtin diesem Zusammenhang von der nordatlantischen Zivilisation33 – herausgebildethaben und dass ihre Geltung nur gesichert werden kann, wenn sie ihrerseits als ver-bindlich akzeptiert werden.34 Genau dies aber, die Verpflichtung auf gemeinsameWerte zur Regulierung des Zusammenlebens, stellt die entscheidende Voraussetzung

29 Vgl. Claus Leggewie: Multi Kulti. Spielregeln für die Vielvölkerrepublik, 3. Aufl.,Nördlingen 1993.

30 Vgl. Micha Brumlik: »Bunte Republik Deutschland? Aspekte einer multikulturellenGesellschaft« in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1 (1990), S. 101–107, S.103.

31 Vgl. in diesem Sinne Daniel Cohn-Bendit / Thomas Schmid, Heimat Babylon. DasWagnis der multikulturellen Demokratie, Hamburg 1992, S. 14.

32 Vgl. exemplarisch Dieter Oberndörfer, Die offene Republik. Zur Zukunft Deutschlandsund Europas, Freiburg i. Br. 1991.

33 Vgl. Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a.M. 1997, S. 69.

34 Vgl. Richard Münch, Das Projekt Europa. Zwischen Nationalstaat, regionaler Autono-mie und Weltgesellschaft, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1995, S. 311–317, S. 311.

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dafür dar, dass eine aufgrund von Zuwanderung ethnische und kulturelle Unter-schiede aushaltende Bevölkerung überhaupt in Frieden leben kann.35 Das bedeutet:Wenn Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, Zivilisationen36 und Religionen ineinem durch eine verbindliche Werte-Orientierung gekennzeichneten Gemeinwesenzusammenleben, dann kann insofern nicht von einer multikulturellen Gesellschaftgesprochen werden, als dass Werte gerade in einem solchen Gemeinwesen weder be-liebig noch relativ, sondern verbindlich sind. Ausgehend von dieser Feststellungkommt Arthur Schlesinger Jr. mit Blick auf die Vereinigten Staaten zu dem Ergebnis,diese seien als Einwanderungsland gerade nicht durch eine multikulturelle Gesell-schaft charakterisiert. Schließlich habe die amerikanische, sich aus Migranten zu-sammensetzende Gesellschaft Menschen von unterschiedlicher ethnischer und kul-tureller Herkunft nicht nur eine Heimat, sondern auch eine gemeinsame, d. h. eineamerikanische Identität gewährt. Dadurch seien die USA eine kulturpluralistische,nicht jedoch multikulturelle Gesellschaft. Multikulturalismus wird nach Schlesingerals Bedrohung des amerikanischen Gemeinwesens empfunden, weil zu seinen Kon-sequenzen »the disuniting of America« gehöre.37 So, wenn neue Zuwanderer ihreethnische Herkunft als Abgrenzung pflegen und damit einhergehend Kollektividen-titäten konstruieren, die an die Stelle des American Citizen als Individuum treten.

Doch weder amerikanische Kritiker des Multikulturalismus wie Schlesinger nochKritiker in Deutschland – wie Bassam Tibi – wollen ihren Standpunkt als Plädoyerfür eine ethnisch homogene Gesellschaft verstanden wissen. Die Kritik am Multi-kulturalismus und das damit korrespondierende Eintreten für einen kulturellen Plu-ralismus geht mehrheitlich weder von einer prinzipiellen Ablehnung der Migrationaus, noch schließt sie das Modell des Zusammenlebens von Menschen unterschiedli-cher Kulturen und Zivilisationen aus. Die Kritik richtet sich primär gegen die Rela-tivierung von Werten und gegen die Aufgabe einer Leitkultur, wie Bassam Tibi sie –in deutlicher Abgrenzung einer polemisch geführten Parteienkontroverse um diesenBegriff38 – verstanden wissen will.39

35 Vgl. Wolfgang W. Mickel, »Kulturelle Aspekte und Probleme der europäischen Integra-tion« in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 10/1997, S. 14–24, S. 21.

36 Zum Verhältnis von Kultur und Zivilisation vgl. in diesem Kontext die Ausführungenbei Wolfgang Glatzer, »Zivilisation – das verbindende Element verschiedener Kultu-ren?« in: Eduard J. M. Kroker, (Hg.), Deutschland auf dem Weg zu einer multikulturel-len Gesellschaft?, Frankfurt/M. 1996, S. 33–48, S. 35.

37 Vgl. Arthur Jr. Schlesinger, The Disuniting of America. Reflections of a MulticulturalSociety, New York 1992; vgl. dazu das die amerikanische Multikulturalismus-Debattebis in die Gegenwart prägende Werk von Horace Kallen, Cultural Pluralism and theAmerican Idea. An Essay in Social Philosophy, Philadelphia 1956. Vgl. dazu das Kapitel»Die USA – Sind die USA eine multikulturelle Gesellschaft? «, bei Alf Mintzel, Multi-kulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika. Konzepte, Streitfragen, Analy-sen, Befunde, Passau 1997, S. 607–664.

38 Vgl. dazu wie auch im Gesamtkontext Volker Kronenberg: Patriotismus in Deutsch-land. Perspektiven für eine weltoffene Nation, Wiesbaden 2005.

39 Vgl. dazu Bassam Tibi: »Leitkultur als Wertekonsens. Bilanz einer missglücktenDebatte« in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 1-2/2001, S. 23–26.

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Leitkultur als europäische, nicht exklusiv deutsche Leitkultur meint die Geltungund Anerkennung des Primats der Vernunft vor religiöser Offenbarung, d. h. vorder Geltung absoluter Wahrheiten, der individuellen Menschenrechte, zu denen imbesonderen Maße die Glaubensfreiheit zu zählen ist, der säkularen, auf der Tren-nung von Religion und Politik basierenden Demokratie, des Pluralismus sowie dergegenseitigen Toleranz. Anders ausgedrückt: Die Annahme bzw. das Plädoyer füreine Leitkultur geht keinesfalls von einer national homogenen Bevölkerung aus undbeinhaltet keine Unter-/Überordnung in der Beziehung zu Fremden – sie akzentu-iert vielmehr jene in anderen Demokratien selbstverständliche Tatsache, dass einGemeinwesen einen Konsens über Werte und Normen als unerlässliche Klammerzwischen den in diesem Gemeinwesen lebenden Menschen, unabhängig von ihrerReligion, Ethnie oder Ursprungskultur, benötigt. Ein die europäische Leitkulturcharakterisierender kultureller Pluralismus opponiert dem Prinzip des anythinggoes, ja bezeichnet vielmehr ein Konzept, nach dem Menschen unterschiedlicherWeltanschauungen zusammenleben und das Recht auf Anderssein und Andersden-ken besitzen, sich gleichzeitig aber zu gemeinsamen Regeln – speziell der gegenseiti-gen Toleranz und des gegenseitigen Respekts – verpflichten. Ohne eine Leitkulturin diesem Sinne kann es kein Miteinander der Menschen, sondern allenfalls ein Ne-beneinander in weltanschaulich unversöhnlichen Ghettos, die als Parallelgesell-schaften nur Konfliktpotential bergen, geben.40 Parallelgesellschaften sind Aus-druck einer fragmentierten, nicht durch einen Wertkonsens, nicht durch eineLeitkultur miteinander verbundenen Gesellschaft.41

In Auseinandersetzung mit religiösem Fundamentalismus und dem Konzept desMultikulturalismus streitet Bassam Tibi mittels der Vorstellung einer Leitkultur, dieeben die europäische, westliche Kultur ist, wider einen Werte-Relativismus, derletztlich eine auf Geringschätzung und Gleichmacherei der Kulturen basierendeGesinnung darstellt, die übersieht, dass in einem Gemeinwesen eine dominierendeKultur konsensual die Voraussetzung für den inneren Frieden bildet.42 Der Vorbe-halt gegen den Multikulturalismus bezieht sich nicht auf die Vielfalt von Kulturen.Vielmehr kann eine Gesellschaft kulturell vielfältig sein und dennoch eine Werte-Orientierung haben: »Das aber ist kein Multikulturalismus. «43

Dass politische Integration und kulturelle Vielfalt bei Anerkennung einer Leit-kultur kompatible, einander geradezu notwendig bedingende Verhaltensweisen ei-ner friedlichen Koexistenz sind und den pluralen Interessenausgleich erst wirklich

40 Vgl. dazu Dieter Oberndörfer, »Leitkultur und Berliner Republik. Die Hausordnungder multikulturellen Gesellschaft Deutschlands ist das Grundgesetz« in: Aus Politik undZeitgeschichte B 1-2/2001, S. 27–30, S. 30.

41 Vgl. die Entfaltung des Konzepts einer europäischen Leitkultur bei Bassam Tibi, Eur-opa ohne Identität? Leitkultur oder Werte-Beliebigkeit, Berlin 2000.

42 Ders., »Multikultureller Werte-Relativismus und Werte-Verlust. Demokratie zwischenWerte-Beliebigkeit und pluralistischem Werte-Konsens« in: Aus Politik und Zeitge-schichte, B 52-53/1996, S. 27–36, S. 28.

43 Ders., »Weltfremde Träumerei von der multikulturellen Gesellschaft« in: FrankfurterAllgemeine Zeitung, 14. 07. 1996.

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ermöglichen, macht die Berufung auf die Menschenrechte deutlich. Menschenrech-te, so zeigt der Blick in die Charta der Vereinten Nationen, erheben ihrerseits einenuniversalen Geltungsanspruch, sind aber gerade nicht an die politische Demokratieim westlichen Sinne gebunden. Gerade an diesem zentralen Punkt gerät der ausmultikultureller Perspektive erfolgte Verweis auf die »normativen Ansprüche dermodernen universalistischen Moral und eines universalistischen Rechtsbewußt-seins«44 allzu unverbindlich – Menschenrechte, wie sie im Westen mit Demokratieverbunden sind, sind es im universalen Maßstab eben nicht.45 Die europäische unddamit auch deutsche Leitkultur, wie sie die historisch geprägte freiheitlich-demo-kratische Grundordnung des Grundgesetzes in Zusammenschau mit dem Grund-rechtskatalog des Europäischen Gerichtshofs formuliert und wesentlich die Auto-nomie des Individuums, die Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeitsowie die Teilhabe der Bürger am politischen Entscheidungsprozess umfasst46, be-grenzt den kulturellen Pluralismus in der Bundesrepublik – der als solcher aner-kannt wird! – nur insoweit, als dies für die Offenheit und Vitalität des kulturellenPluralismus notwendig ist. Mit anderen Worten, auf die freiheitlich-demokratischeGrundordnung bezogen: Die basale Homogenität des säkularen Rechtsstaates istdie Bedingung der Möglichkeit kultureller Pluralität bei Bewahrung individuellerFreiheit.47 Werte-Verbindlichkeit zu bejahen entspricht einer demokratischen Inte-gration, die nicht gleichzusetzen ist mit Assimilation. Demokratische Integrationund kulturelle Assimilation sind ebensowenig synonym wie kulturelle Vielfalt undMultikultur. Im Sinne eines kulturellen Pluralismus geht es um die Anerkennung ei-ner Leitkultur als Quelle eines verbindlichen Werte-Konsenses48, eines friedlichenMiteinanders und eines demokratischen, pluralistischen Interessenausgleichs.

Zusammenfassung

Die Bundesrepublik Deutschland steht an der Schwelle des 21. Jahrhunderts vormannigfachen gesellschaftspolitischen Herausforderungen. Ein fortschreitende Al-terung der Bevölkerung als Resultat eines chronischen Geburtendefizits, ein Zu-wanderungsdruck, der sich aus der disparaten demographischen und sozialen Welt-lage ergibt sowie der Zwang, ein leistungsfähiger Industriestaat zu bleiben, welcher

44 Micha Brumlik, »Bunte Republik Deutschland«, aaO. (FN 28), S. 105.45 Vgl. prägnant Ernst-Wolfgang Böckenförde, »Ist Demokratie eine notwendige Forde-

rung der Menschenrechte?« in: Ders., Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre,Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt/M. 1999, S. 246–255; vgl. im Kon-text auch Vittorio Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das21. Jahrhundert, München 1997, S. 963f.

46 Vgl. dazu Wolfgang W. Mickel, »Kulturelle Aspekte und Probleme der europäischenUnion«, aaO. (FN 33), S. 15ff.

47 Vgl. Rudolf Burger, »Multikulturalismus im säkularen Rechtsstaat. Eine zivilisations-theoretische Grenzbestimmung« in: Leviathan 2 (1997), S. 173–185, S. 179.

48 Vgl. wegweisend in diesem Zusammenhang die neopluralistische Konsenstheorie beiErnst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 7. Aufl., Stuttgart 1979.

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den Anforderungen eines globalen Innovationswettbewerbs gerecht wird, machteeinen – nun gefundenen – parteiübergreifenden Konsens in der Frage nach Umfangund Ziel von Zuwanderung nach Deutschland ebenso notwendig, wie die nach wievor ausstehende Beantwortung der Frage, welche Auswirkung der demographischeWandel auf die politische Kultur der Bundesrepublik haben soll. Jenseits parteipoli-tischer Polemik gilt es folglich, die Konzepte des Multikulturalismus sowie des kul-turellen Pluralismus gegeneinander abzuwägen und dabei zu bedenken, dass politi-sche Integration und kulturelle Vielfalt bei Anerkennung einer europäischenLeitkultur, wie sie die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetz-tes in Zusammenschau mit dem Grundrechtskatalog des Europäischen Gerichtshofsformuliert, einander geradezu notwendig bedingende Verhaltensweisen einer fried-lichen Koexistenz darstellen.

Summary

At the beginning of the 21st century, Germany’s social policy faces a variety of chal-lenges. An aging society as a result of the chronically low birth rate, pressures of mi-gration as a result of demographic and social disparities in the world, and the needto maintain the status of a leading industrial state required an all-party effort to de-fine the aim and the extent of immigration to Germany. In addition, a consensus onhow such a demographic change might alter the political culture of the Federal Re-public is desirable. Hence, the concepts of multiculturalism and cultural pluralismneed to be analyzed and weighed up – without the common partisan polemics. Indoing so, it is essential to keep in mind that political integration and cultural diversi-ty – while acknowledging a European cultural model as it is defined in the free anddemocratic basic order of the German Constitution and the fundamental rights ca-talogue of the European Court of Justice – are necessary and mutually dependentelements of a peaceful coexistence.

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Christian Heinze

Rechtspolitische Gedanken zur Altersversorgung

Irrwort »Generationenvertrag«

Der Vertrag ist die Urform des Rechts. Er ermöglicht den Ausgleich zwischen demFreiheitsideal und der Notwendigkeit von Bindungen durch Willensübereinstim-mung. Freiheit und Wirksamkeit des Vertragsschlusses zu erhalten, setzt ein be-stimmtes Verständnis des Vertragsbegriffs und bestimmte Realisationsbedingungenvoraus: Zum Vertrag gehören mindestens zwei Rechtssubjekte und die Erklärungihres übereinstimmenden Willens, dass bestimmte Bindungen zwischen ihnen gel-ten sollen. Realisation eines Vertragsrechts setzt Freiheit der Vertragswillensbildungund entweder Fortdauer des erklärten Willens oder Durchsetzung der Bindung vo-raus.

Bereits an diesen Merkmalen scheitert die Vorstellung eines Generationenvertra-ges über Versorgungsleistungen. Generationen sind keine Rechtssubjekte1, undkünftige Generationen können heute keine Willenserklärung abgeben. Auch ist mitfortdauernder Willensübereinstimmung über bestimmte Versorgungsleistungenebenso wenig zu rechnen wie mit ihrer Durchsetzbarkeit. Vielmehr soll der Genera-tionenvertrag freie Willensbildung durch einseitigen Zwang ersetzen: eine jüngereGeneration soll durch Gesetz verpflichtet werden, den Lebensunterhalt einer älte-ren Generation zu bestreiten. Eine Vereinbarung, dass ein Dritter etwas an die Ver-tragspartner leisten soll, wäre ein Vertrag zu Lasten Dritter. Der Dritte wäre nichtVertragspartner sondern Objekt einer fremden Forderung. Dass auch dieser Drittenach Art des Schneeballsystems Leistungen anderer Dritter soll beanspruchen dür-fen, ändert nichts an der Unvereinbarkeit seiner Verpflichtung mit dem Wesen einesVertrages. Übrigens könnte der Inhalt eines solchen Vertrages heute weder qualita-tiv noch quantitativ bestimmt werden, weil das Vermögen künftiger Generationenzu Unterhaltsleistungen, insbesondere im Verhältnis zum Bedarf, unbekannt ist.Was bleibt, ist ein frommer Wunsch.

Das Sprachgebilde »Generationenvertrag« wurde zur Zeit wachsenden Wohl-standes geschaffen, als diejenigen, die an Rezessionen dachten, kaum Gehör fanden.

1 Darauf und auf das dem Generationenvertrag fehlende Vertragsmerkmal der Reziprozi-tät weist Franz Xaver Kaufmann, »Gibt es einen Generationenvertrag ?« in: Jahres- undTagungsbericht der Görres-Gesellschaft, 2003, S. 63 ff., 85, 69 hin. Dieser Vortrag stelltS. 70 ff. auch die Herkunft des Ausdrucks (Wilfrid Schreiber, 1955) und seinen Eingangin die Politik dar, etwa an Hand des auf Bitten von Bundeskanzler Adenauer 1955erstatteten Gutachtens »Neuordnung der sozialen Leistungen« von Hans Achinger,Joseph Hoeffner, Hans Muthesius und Ludwig Neundörfer, das Solidarität zwischenden Generationen fordert.

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Christian Heinze · Rechtspolitische Gedanken zur Altersvorsorge180

Der Ausdruck beschwor Freiwilligkeit und ewige Realisierbarkeit und erschien da-durch geeignet, die gesetzliche Anordnung der Versorgung der älteren Generationdem Wähler schmackhaft zu machen. Dahinter steht das Interesse einer Entlastungdes Staatshaushalts. Unabhängig von der Frage, inwieweit der Staatshaushalt derVersorgung zu dienen hat, rechtfertigt dieses Interesse nicht eine Beschädigung derRechtsordnung durch Missbrauch des Vertragsbegriffs.

Die Idee der Verantwortlichkeit einer jüngeren Generation für eine ältere über-zeugt aber auch sozialpolitisch nicht, soweit sie über eine enge Lebensgemeinschafthinaus auf das ganze Volk ausgedehnt wird. Denn in einer freien Gesellschaft undWirtschaftsordnung ist es grundsätzlich Sache des Einzelnen, sich und seine Familieoder auch eine andere enge Gemeinschaft zu versorgen und das Maß dieser Versor-gung zu bestimmen. Diese Zusammengehörigkeit des Hilfsbedürftigen und desLeistenden erleichtert die Hilfeleistung, wenn sie eine Hilfspflicht nicht überhaupterst erträglich macht. Sie ist besser als jedes Reglement geeignet, altruistische Leis-tung zu optimieren und Ansprüche zu minimieren. Besonders innerhalb der Familiekönnen die für den Unterhalt verfügbaren Mittel und die Bedürfnisse der Einzelnenbesser beurteilt, die Erwerbsmöglichkeiten besser optimiert, die Verteilungsent-scheidungen gerechter getroffen und deren Akzeptanz leichter erreicht werden alsmit Hilfe einer öffentlichen Gesetzgebung und Verwaltung. Der Generationenver-trag verzichtet auf diese höchst leistungsfähigen Komponenten, soweit er die Ver-sorgung Aller zur Sache Aller macht. Zwar ist auch das Staatsvolk Solidargemein-schaft2, aber eine Vergemeinschaftung der Altersversorgung rührt an die Grundlageeiner freiheitlichen Verfassung3.

Ansprüche auf fortgesetzte Leistungen der Generationen werden auch mit denbereits unter dem geltenden System staatlicher Altersvorsorge geleisteten Renten-beiträgen begründet. Soweit jedoch solche Beiträge vom Staat tatsächlich nicht an-gespart sondern – etwa als Versorgungsrenten – ausgeschüttet wurden, kann daraufvielleicht ein Anspruch gegen den Staat, aber nicht gegen eine künftige erwerbstäti-ge Generationen gestützt werden. Denn diese Verwendung der Beiträge war im de-mokratisch verfassten Staat nur mit Zustimmung des die jeweilige Staatsbürger-schaft vertretenden Gesetzgebers möglich. Der Rechtsgedanke einesVertrauensschutzes führt zu keinem anderen Ergebnis, soweit künftige Generatio-nen für das Vertrauen der Beitragszahler in künftige Leistungen nicht verantwort-lich gemacht werden können.

Das sollte genügen, um die Idee, das System und den Ausdruck des »Generatio-nenvertrages« ein- für allemal aufzugeben. Sie haben auch nichts zu tun mit dem

2 Wegen Einschränkungen durch Europäisierung und Globalisierung vgl. Kaufmann,aaO. S. 89.

3 Damit ist nicht gesagt, dass entscheidende Maßgaben vom Bundesverfassungsgericht zuerwarten wären. Dessen Rechtsprechung lässt, wie der Bericht der Frankfurter Allge-meinen Zeitung vom 27. 4. 2004 über die Bitburger Gespräche und insbesondere derBeitrag von Bundesverfassungsrichter Udo Steiner bestätigt, dem Gesetzgeber eine wei-ten Spielraum. Die Verantwortung für Freiheitsschutz im Sozialstaat liegt weitestge-hend beim Gesetzgeber.

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Christian Heinze · Rechtspolitische Gedanken zur Altersvorsorge 181

humanitären Gebot, Bedürftigen Mitmenschen zu helfen. Dieses betrifft individu-ell-schicksalhafte Sondersituationen. Für ihre Bewältigung gelten andere Vorausset-zungen und Bedingungen als für die Deckung des allgemeinen Bedarfs der Alters-versorgung.

Es bedarf einer grundlegenden Reform

Mit der Idee eines Generationenvertrages entfällt die Grundlage für das geltendeSystem der Altersversorgung – und mancher sekundärer Interventionsbedarf. Aberauch jenseits der Idee einer Generationensolidarität sind grundlegende Mängel die-ses Systems zu beheben.

Sie bestehen erstens darin, dass Beiträge zur staatlichen Versicherung vom Staatnicht thesauriert, nämlich wertbeständig und verzinslich angelegt, sondern für an-dere Zwecke, sei es auch für laufende Rentenzahlungen an die jeweiligen Versor-gungsempfänger verwendet wurden.

Ein wichtiger Grund für die heute klaffende Deckungslücke besteht zweitens da-rin, dass der Wert von Versorgungsrücklagen jeglicher Art durch eine sich überJahrzehnte hinweg wiederholende Geldentwertung geschmälert worden ist undweiter geschmälert wird.

Drittens leidet das herkömmliche System an einer undurchdringlichen Vermen-gung von Eigenvorsorge, Arbeitsunfähigkeitsversicherung, von Ausgleichsvorkeh-rungen wegen Verteilungsfehlern und von sozialer Umverteilung4. Dabei werdendie erforderlichen Mittel zu ebenfalls unkenntlichen Anteilen aus Beiträgen der ver-sicherungspflichtigen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie über den Staatshaushaltvom Steuerzahler aufgebracht. Für Beitragsleister und Rentenempfänger ist dahernicht ersichtlich, welcher Rentenanteil den Gegenwert für seine Beitragsleistungdarstellt, welcher Anteil von anderen Beitragspflichtigen oder vom Steuerzahleraufgebracht wird oder welcher Teil geleisteter Beiträge zur Deckung des Bedarfs an-derer Rentenempfänger oder des Arbeitsunfähigkeitsrisikos des Beitragszahlersoder Dritter oder ganz anderen Zwecken gedient hat oder dient.

Damit entzieht sich das geltende »System« jeder konsistenten Würdigung unterGesichtspunkten der Zweckmäßigkeit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit und da-mit auch jedem Versuch grundlegender Reparatur. Es bedarf stattdessen einer um-fassend neuen Gründung »auf der grünen Wiese«, die die Fehler der Vergangenheitvermeidet. Vor allem sind Eigenversorgung, Versicherung des Risikos der Arbeits-unfähigkeit und eines langdauernden Alters-Versorgungsbedarfs, der Ausgleichstruktur- oder konjunkturbedingter Erwerbsbeeinträchtigungen und soziale Hilfe-leistungen künftig sorgfältig zu unterscheiden. Sie knüpfen an unterschiedliche Tat-bestände an, haben verschiedene Gründe und Zwecke und unterschiedliche wirt-schaftliche Bedeutung und unterliegen verschiedenen Bewertungen unter dem

4 Wie Kaufmann, aaO. (FN 1) S. 70 bemerkt, ist heute die Bevölkerung in Deutschlandim Wesentlichen durch staatlich geregelte Umverteilung gegen die so genannten Stan-dardrisiken insbesondere auch des Alters gesichert.

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Christian Heinze · Rechtspolitische Gedanken zur Altersvorsorge182

Gesichtspunkt der Gerechtigkeit. Sie sind daher auch auf unterschiedliche Weise zubewältigen. Sie sind sozialpolitisch, wirtschaftlich und rechtlich sowie theoretisch,verwaltungspraktisch und institutionell gegeneinander klar abzugrenzen und zu un-terscheiden5.

Familien- und Eigenverantwortung

In einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung ist es Sache des Einzelnen und der Fa-milie, für Bedarfsdeckung zu sorgen. Es gibt keinen Grund, weshalb für Altersvor-sorge etwas anderes gelten soll. Alters-Versorgungsbedarf ist normaler Individual-Bedarf mit der Besonderheit, dass er zu einer Lebenszeit anfällt, in dem der Gegen-wert des Beitrags des Bedarfsträgers zur Bedarfsdeckung das Existenzminimumnicht deckt, und dass seine Dauer unterschiedlich, aber sehr ungewiss ist. Eigenver-antwortung mit Bezug auf Altersversorgung wird durch individuelles Sparen, näm-lich durch Rücklage eines Teils des Erwerbs unter Verzicht auf Konsum und durchVerzinsung der Rücklage und Ausschüttung einer aus dem Ergebnis finanziertenRente vollkommen gerecht verwirklicht. Dabei wird das Risiko langdauerndenRentenbedarfs durch Bemessung der Rente unter Berücksichtigung der statistischenLebenserwartung abgedeckt. Eine höhere Ansparung sichert eine bessere Versor-gung. Grundsätzlich ist dem mündigen Einzelnen auch insofern zu überlassen, wieer seine Mittel verwenden und wie er seine Lebensenergie auf Erwerbstätigkeit oderandere Formen der Selbstverwirklichung verteilen will. Würde ein Solidaritätsprin-zip eingefordert, das zur Sozialisierung dieses Konsumverzichts führt, so könnte esebenso mit Bezug auf jeden Normalbedarf geltend gemacht werden. Einem im Zu-sammenhang einer freiheitlichen Verfassung stehenden Sozialstaatsprinzip kanneine solche Forderung nicht entnommen werden.

Die Optimierung des Verhältnisses von Beiträgen und Versorgungsrenten solltedem Wettbewerb privater Unternehmen oder der Geschicklichkeit und freien Ent-scheidung des Einzelnen überlassen sein. Öffentlichrechtliche Versorgungseinrich-tungen schließt das nicht aus. Angesichts der Bedeutung der Altersversorgung fürdas allgemeine Wohl müssen jedoch alle Versorgungseinrichtungen zu einer am Ka-pitalmarkt orientierten Mindestverzinsung und einer sicheren Anlage verpflichtetsein. Die Einhaltung der Verpflichtung ist staatlich zu beaufsichtigen. Darüber hin-aus bedarf es eines verfassungsrechtlichen Schutzes des Ansparkapitals gegen jegli-chen staatlichen Zugriff – vorbehaltlich einer allgemeinen Besteuerung von Zinsein-künften – und darüber hinaus gegen eine Geldwertschmälerung6.

Die Beiträge sind allein vom Versicherten zu leisten. Eine Belastung von Unter-nehmen, bei denen sie arbeiten, und damit der Abnehmer der Produkte oder Leis-tungen dieser Unternehmen, findet keinen rechtfertigenden Grund. Unternehmenhaben keine über wirtschaftliche Deckung des Bedarfs an ihren Produkten bei ange-

5 Dem trägt der Reformvorschlag von Friedrich Breyer / Wolfgang Franz / Stefan Hom-burg / Reinhold Schnabel / Eberhard Wille, Reform der sozialen Sicherung, Berlin 2004,nicht ausreichend Rechnung.

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Christian Heinze · Rechtspolitische Gedanken zur Altersvorsorge 183

messenen Erträgen für ihre Mitarbeiter und für die Kapitalerhaltung hinausgehendeVerantwortung für eine Versorgung Aller. Ebenso wenig ist es gerechtfertigt, dieArbeitnehmer zu belasten. Sie können nicht für einen allgemeinen Bedarf von Jeder-mann haftbar gemacht werden. Ihre Erwerbsmöglichkeit ist keine Pfründe, die einebesondere Belastung rechtfertigt, sondern das Arbeitsentgelt soll an der Gegenleis-tung orientiert sein. Schließlich beeinträchtigt eine Belastung gerade der Unterneh-men und/oder Arbeitnehmer das Wirtschaftsergebnis, indem sie die Wettbewerbs-bedingungen verfälscht, die Bedarfsdeckung verteuert, die Wohlstandsbildungreduziert und das Leistungsmotiv schwächt. Für Exportländer wie Deutschland be-einträchtigt sie insbesondere die außenwirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit unddamit wiederum das Sozialprodukt. Schließlich schmälert sie auch das Steuerauf-kommen.

Wird Freiheit ernst genommen, muss von Eigenverantwortung ausgegangen wer-den. Eine Versicherungspflicht sollte überflüssig sein. Sie ist in einer Zeit eingeführtworden, in der es den Arbeitnehmern viel schwerer fiel als heute, auch nur geringeRücklagen für eine Altersvorsorge zu bilden. Solange jedoch zu befürchten ist, dassfreiwillig keine genügenden Rücklagen gebildet werden, ist zur Vorbeugung gegenübermäßige Inanspruchnahme von Sozialhilfe eine Verpflichtung zu Mindestrück-lagen vertretbar, wenn sie unterschiedslos Jedermann im Erwerbsalter erfasst.

Versicherung wegen Arbeitsunfähigkeit

Im Gegensatz zum Versorgungsbedarf im Alter, der mit Gewißheit auf jedermanneinmal zukommt, ist derjenige wegen unverschuldeter Arbeitsunfähigkeit ein parti-kuläres, von niemandem beherrschbares Risiko. Es ist daher von der Altersversor-gung getrennt zu bewältigen. Es sollte nach Maßgabe der statistischen Erwartungdes Schadenseintritts und des Bedarfs für einen Mindestunterhalt nach dem Versi-cherungsprinzip gedeckt werden. Das Versicherungskapital ist wie bei der Altersver-sorgung zu schützen. Auch die Versicherung des Risikos der Arbeitsunfähigkeit ob-liegt grundsätzlich dem Risikoträger und seiner Familie. Zweifel an ausreichenderEigenverantwortung können im Gemeinwohlinteresse eine Pflichtversicherungrechtfertigen, und zwar eine Versicherungspflicht grundsätzlich für jedermann, weilauch jedermann unabhängig von der Art der von ihm gewählten aktuellen Bedarfs-deckung an dem zu deckenden Risiko teilhat.

6 Zwar ist Geldwertsicherung einerseits nicht nur Voraussetzung eines befriedigendenSystems der Altersvorsorge und andererseits erst in Anfängen (durch das Euro-Wäh-rungssystem und einen gewissen Verfassungsschutz des Geldeigentums) Gegenstandrechtlicher Normierung (vgl. etwa die Auseinandersetzung mit dem Nominalprinzip inden Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts vom 19. 12. 1978 – 1 BvR 335 u. a./76 –BVerfGE 50 S. 57, 104 ff. und vom 31. 3. 1998 – 2 BvR 1877/97 u. a. – BVerfGE 97, 350,370 ff. und die dort zitierte Literatur). Doch rechtfertigt und erfordert die sozialpoliti-sche Bedeutung der Alterssicherung einen Schritt zur Gewährleistung der Staatsverant-wortung für Geldwertstabilität.

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Christian Heinze · Rechtspolitische Gedanken zur Altersvorsorge184

Arbeitslosigkeit

Letzten Endes ist Arbeit die einzige jedermann (von Arbeitsunfähigkeit abgesehen)für die Deckung seines Versorgungsbedarfs zur Verfügung stehende Erwerbsquelle.Eine eigenverantwortliche Altersversorgung durch Ansparung von Beiträgen wirddurch Arbeitslosigkeit behindert oder ausgeschlossen. Diese behindert aber nichtnur die Ansparung der Altersversorgung, sondern die Deckung des Lebensbedarfsüberhaupt. Deshalb ist das Problem eines Ausfalls von Beiträgen zur Altersversor-gung im Rahmen und nach den Grundsätzen einer Deckung des allgemeinen Ver-sorgungsbedarfs des Arbeitslosen zu lösen. Die höchst verschiedenen Ursachen fürArbeitslosigkeit schließen allerdings eine einheitliche Bewältigung aus. Insbesonde-re ist danach zu unterscheiden, ob die Ursachen vom Betroffenen beherrscht wer-den können oder nicht.

Arbeitslosigkeit kann ihre Ursache in der Bevorzugung arbeitsloser oder wenigerarbeitsintensiver Erwerbsquellen haben, auch wenn sie nur zur Deckung eines rela-tiv bescheidenen Bedarfs ausreichen. Die Verfügung über eigene Versorgungsres-sourcen (z. B. Wohnungseigentum, Mittel zur Selbstversorgung, Kapitalerträge7,Gelegenheitserwerb, Unterhaltsleistungen der Familie oder Dritter), aber auch dieAussicht auf öffentliche Bedarfsdeckungsbeiträge erleichtern den Verzicht auf Ar-beit. Arbeitslosigkeit kann auch auf Immobilität des Arbeitslosen mit Bezug auf Artoder Ort der Arbeit zurückgehen. Häufige Ursache für Arbeitslosigkeit ist einMangel an den für den Erwerb einer dem Arbeitsplatzangebot entsprechenden Aus-bildung erforderlichen Anstrengungen des Einzelnen und/oder seiner Erzieher oderFamilie. Regelmäßig begründet eine auf diese Weise verursachte Arbeitslosigkeitkeinen Anlass für Hilfsvorkehrungen, weil sie vom Einzelnen zu verantworten ist.An Ausbildungsgelegenheiten fehlt es entgegen verbreiteten Beschwerden dannnicht, wenn die vorhandenen Einrichtungen intensiv genutzt und die (sei es auchmit Verzicht verbundenen) Möglichkeiten zum Selbstunterricht und zur familiärenHilfe ausgeschöpft werden.

Anders ist ein Wegfall des Arbeitsplatzes einzuordnen. Die einschneidenden Wir-kungen des auch nur vorübergehenden Erwerbsausfalls ähneln denjenigen einer dieDauer der Lohnfortzahlung überschreitenden Arbeitsunfähigkeit. Für Fälle, in de-nen der Anlass in der Sphäre der Unternehmen liegt, entspricht dem, auch wenn essich um konjunkturelle oder strukturelle Entwicklungen handelt, eine Verpflich-tung der Unternehmen zu einer Lohnfortzahlung (oder zur Vorsorge für eine sol-che). Da der Arbeitsmarkt adäquaten Ersatz in der Regel nicht ohne Verzögerungbereitstellen kann, gilt das für denjenigen Zeitraum, dessen es regelmäßig zur Auf-findung einer anderen Arbeitsstelle bedarf. Wiederum anders ist ein permanentesZurückbleiben des allgemeinen Arbeitsplatzangebots hinter der Nachfrage zu be-werten und zu bewältigen. Dieses die Wirtschafts- und Sozialpolitik in jüngerer Zeitmit Vorrang beschäftigende Phänomen bedarf einer gesonderten Betrachtung.

7 Zwischen 1985 und 2001 hat sich das private Wertpapiervermögen in der Bundesrepub-lik Deutschland um rund 90 % vermehrt; vgl. das Statistische Jahrbuch für die Bundes-republik Deutschland, Jahrgang 1990, S. 329 und Jahrgang 2003, S. 347.

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Christian Heinze · Rechtspolitische Gedanken zur Altersvorsorge 185

Insbesondere: Permanent-generelle Arbeitslosigkeit

Die unterschiedlichen Gründe für permanente Arbeitslosigkeit in hoch entwickel-ten Industriegesellschaften lassen sich bisher offenbar nicht eindeutig nachweisenoder unterscheiden und erst recht nicht mit bestimmten Maßnahmen beherrschen.Sicherlich spielen die allgemeine Nachfrage nach Gütern und Leistungen, der Graddes Wohlstandes und Besitzes und der Umverteilung mit ihren Auswirkungen aufdie Arbeitskosten, die allgemeine Leistungsbereitschaft und der allgemeine Ausbil-dungsstand, ferner das Verhalten des Kapitals innerhalb einer Volkswirtschaft eineRolle. Erkennbar ist auch ein erhebliches Ansteigen des Sozialprodukts bei gleich-zeitiger Zunahme der allgemeinen Arbeitslosigkeit8. Daraus dürfte zu schließensein, dass es zur Erstellung aller nachgefragten Güter und Leistungen nur eines Ar-beitseinsatzes bedarf, der hinter dem Arbeitsangebot zurückbleibt. Dabei handelt essich wohl um das Resultat einer Entwicklung der technischen Produktionsmittelund -Verfahren. Geht man davon aus, dass ein Wirtschaftssystem nicht nur dem op-timalen Ausgleich von Angebot und Nachfrage an und nach Gütern und Leistun-gen sondern auch der Bereitstellung eines ausreichenden Arbeitsplatzangebots die-nen soll, so ist die so bedingte Arbeitslosigkeit ein Mangel des Systems. DieForderung liegt nahe, diesen Mangel mit Hilfe der Erträge des Systems, mithin zuLasten aller, die seine Produkte in Anspruch nehmen, und das ist die Allgemeinheitschlechthin, zu bewältigen.

Soweit das auf die Heranziehung einer Art Mehrwert des Sozialprodukts hinaus-läuft, wäre es allerdings nicht gerechtfertigt, lediglich die Folgen der allgemeinenArbeitslosigkeit bei den einzelnen Betroffenen auszugleichen. Es wäre auch unmög-lich, das auf gerechte Weise zu bewerkstelligen, weil die einzelnen Betroffenen auchauf die systembedingte Arbeitslosigkeit unterschiedlich reagieren und ihrer beste-hen bleibenden Verantwortung für ihre Versorgung in unterschiedlichem Maße ge-nügen können. Ferner ist zu bedenken, dass das Risiko allgemeiner Arbeitslosigkeitsich auch bei den Inhabern von Arbeitsplätzen jederzeit realisieren kann und sichandererseits manchmal bei diesen wegen ihrer besonderen Anstrengungen nicht rea-lisiert.

Der erwähnte Mehrwert bleibt ein Verdienst der produktiv Tätigen, und ihnensteht ein entsprechender Anteil am Ergebnis ihrer Produktivität zu. Zugleich ist dasSozialprodukt das Ergebnis langfristiger, ja generationenübergreifender Kollektiv-leistung der Volkswirtschaft und der sie tragenden Gesellschaft und Kultur in derVergangenheit. Insofern können Ergebnisse nicht eindeutig Einzelnen sondernmüssen der Allgemeinheit zugeordnet werden. Hier gilt der Gedanke der Solidari-tät. Soll die Allgemeinheit für Mängel des Produktions- und Verteilungssystems

8 Während das Bruttosozialprodukt zu konstanten Preisen in der BundesrepublikDeutschland zwischen 1980 und 2002 von 1.186,9 auf 1.976,5 Mrd. Euro angewachsenist, stieg der Anteil der Arbeitslosen an der Zahl der Erwerbspersonen in Privathaushal-ten von 3,8 % im Jahre 1979 auf über 9 % in den Jahren 1983 und 1997 und auf 8,5 %im Jahre 2002; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, Jahrgang1990, S. 111 und Jahrgang 2003, S. 126 und 656 f.

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Christian Heinze · Rechtspolitische Gedanken zur Altersvorsorge186

haften, so stehen ihr auch seine Überschüsse zu. Als Ergebnis ist eine pro Kopf aus-zuschüttende, an keine Bedingungen geknüpfte Volksrente in Betracht zu ziehen9,die zu Lasten des gesamten Sozialprodukts womöglich am richtigsten über dieMehrwertsteuer zu finanzieren wäre. Sie erleichtert zugleich die Bewältigung derFolgen der allgemeinen Arbeitslosigkeit. Aus ihr ist auch der auf die Arbeitslosenentfallende Beitrag zur Ansparung der Altersversorgung zu bestreiten. Aus ähnli-chen Gründen wie im Fall der Altersversorgung kann an eine Pflicht zu dieser Ver-wendung eines Teils der Rente in einer Höhe gedacht werden, die zur Ansparung ei-ner Mindest-Altersversorgung nötig ist. Da der auf systemimmanente Gründezurückgehende, für Arbeitslosigkeit verantwortliche Anteil am Sozialprodukt nurgeschätzt werden kann, ist die Höhe der Volksrente vom Gesetzgeber periodischfestzulegen.

Es liegt nicht fern, eine solche Volksrente auch außerhalb des Problemkreises ei-ner Massenarbeitslosigkeit in Erwägungen einzubeziehen, die auf Zweifeln an aus-reichender freiwilliger Altersvorsorge beruhen. Dementsprechend könnte sie alsstaatlicher gleich hoher Pro-Kopf-Zuschuss zum Versorgungs-Ansparkapital aus-gebildet werden.

Sozialhilfe

Zweifellos sind nicht alle Altersversorgungs-Bedürftigkeiten mit Hilfe eigenverant-wortlicher Ansparung, Versicherung und Volksrente gedeckt. Es bleiben Fälle derUnterversorgung. Kann davon ausgegangen werden, dass die Folgen unverschulde-ter Erwerbslosigkeit und von Systemmängeln nach vorstehenden Vorschlägen aus-geglichen werden, so haben die verbleibenden Versorgungslücken ihre Ursache je-doch im mangelhaften Erwerbs- oder Sparverhalten der Betroffenen (das nichtunbedingt verschuldet sein muss). Es wäre schädlich und ungerecht zu vertuschen,dass es sich bei der Gewährleistung einer Mindestversorgung in solchen Fällen umnichts anderes handelt als um altruistische humanitäre Hilfe der Allgemeinheit derVersorgten und Besitzenden, und dass ein Anspruch auf solche Hilfe moralischerArt ist. Daher ist es auch gerechtfertigt, Sozialhilfe auf einen Mindestbedarf zu be-schränken, den die Allgemeinheit definiert.

Es wäre unzweckmäßig und ungerecht, diese Sozialhilfe den Unternehmen (unddamit den Verbrauchern ihrer Produkte) und/oder Arbeitnehmern aufzuerlegen.Denn nicht nur sie verfügen über Besitz und Einkünfte, die den Grund für Heran-ziehung zur Sozialhilfe bilden, und sie repräsentieren auch nicht die moralisch ge-forderte Allgemeinheit. Wenn das geltende System den Sozialhilfebedarf mit Hilfeeiner Rentenfinanzierung zu Lasten der Unternehmen und Arbeitnehmer reduziert,so liegt auch darin ein Grund für seine Kritik. Vielmehr ist die Sozialhilfe im Sinne

9 Sie ist unter der Bezeichnung Grundeinkommen, Bürgergeld, Sozialdividende seit lan-gem im Gespräch, vgl. unlängst Michael Opielka, »Der Arbeitsmarkt kann nicht mehralle Bürger tragen« und Robert Nef, »Wenn man die Privaten machen lässt, gibt esgenug Arbeit« Neue Züricher Zeitung, 20./21. 11. 2004.

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Christian Heinze · Rechtspolitische Gedanken zur Altersvorsorge 187

des gesamten Versorgungsbedarfs auch im Rentenalter, der nicht nach den hier vor-geschlagenen Maßgaben durch Eigenversorgung, Versicherungen oder Volksrenteabgedeckt ist, über allgemeine Steuern aufzubringen. Die Wahl der für Aufbringungund Verteilung der Sozialhilfe zuständigen Gemeinschaft (z. B. Bundesrepublik,Land, Gemeinde) ist dabei eine Frage, die innerhalb des Systemgedankens unter-schiedlich beantwortet werden kann.

Mindestbedarf und Solidarität

Soweit bei den vorstehenden Erwägungen der Mindestbedarf eine Rolle spielt, soll-te der Begriff ernst genommen werden. Der Mindestbedarf besteht darin, dass derMensch nicht auf Dauer ungesunden Hunger leidet und nicht frieren muss, einenWohnraum hat, normale Gesundheitsvorsorge und -Versorgung genießt sowie überdiejenigen Mittel verfügt, die für eine menschenwürdige Teilhabe am Gemein-schaftsleben nötig sind. Ein Anspruch darauf, dass dies an einem bestimmten Ortgeschieht, gehört jedenfalls in einer modernen Welt nicht zum Mindestbedarf.

Solidarität ist gegenüber Versorgungsalternativen des Bedürftigen, etwa in Ge-stalt von Vermögen oder anderweitigen Einkommensquellen, insbesondere vonUnterhaltsansprüchen, subsidiär. Wer eine Eigentumswohnung, ein Wertpapierde-pot, eine Lebensversicherung, einen leistungsfähigen Ehepartner oder leistungsfähi-ge Eltern oder Kinder hat, kann nicht dieselben Solidar- oder Sozialleistungen er-warten wie der Rentner, der seinen Unterhalt voll mit seiner Rente bestreiten muss.

Kein »Sozialabbau« sondern Verteilungsklarheit, unabhängig von der demographischen Entwicklung.

Die hier vertretenen Vorschläge einer eigenverantwortlichen Basislösung für die Al-tersversorgung, einer Versicherungslösung für Arbeitslosigkeit und individuelleFälle eines Wegfalls von Arbeitsplätzen sowie einer Volksrente werden unweigerlichden Vorwurf des Sozialabbaus auf sich ziehen. Diesem Vorwurf ist jedoch entgegen-zuhalten, dass die Vorschläge die Höhe der Solidar- und Sozialleistungen ebenso un-berührt lassen wie Abstufungen bei ihrer Aufbringung durch Steuern nach dem un-terschiedlichen Vermögen der Steuerzahler. Die Entscheidungen hierüber bleibender Allgemeinheit vorbehalten. Worauf aber bestanden werden muss, ist die Her-stellung und Erhaltung der Klarheit der Herkunft und des Empfängers von Geld-mitteln sowie des Grundes und des Maßes für ihre Aufbringung und Verwendung.

Erst die vorgeschlagenen Unterscheidungen ermöglichen eine rationale und all-gemeinverständliche Erwägung und Bildung der Entscheidung, wie Altersvorsorgeund Sozialhilfe gestaltet und finanziert werden sollen. Sie sind unerlässlich, um Ge-rechtigkeit und Wirtschaftlichkeit eines Versorgungssystems zu beurteilen undohne Täuschung und Selbsttäuschung für seine Akzeptanz zu werben. Die Ent-scheidung kann nur im Rahmen der Überlegung gefällt werden, welche Steuer- oderUmverteilungslast überhaupt insgesamt zumutbar und sinnvoll ist und welcher An-

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Christian Heinze · Rechtspolitische Gedanken zur Altersvorsorge188

teil am Sozialprodukt oder Steueraufkommen für Vorsorge und Sozialhilfe verwen-det werden soll. Erst diese Überlegungen kommen als Gegenstand einer auf publi-zistische Vorbereitung angewiesenen demokratischen Entscheidung – im Rahmender geltenden Verfassung und insbesondere der Freiheitsgrundrechte – in Betracht,weil erst sie begreiflich machen, worum es eigentlich geht, nämlich um konkret be-stimmte Alternativen der Verwendung öffentlicher oder vergemeinschafteter Mittelzur Finanzierung von Regierung, Verwaltung, Rechtspflege, Verteidigung, Gesund-heitsvorsorge, Verkehrswege, Ver- und Entsorgungseinrichtungen, Bildungseinrich-tungen, Kulturwerke und sonstige staatliche Daseinsvorsorge. Diese Alternativenmüssen allgemeinverständlich sowie bedarfs- und kostenrichtig dargestellt werden.Nur auf dieser Grundlage kann der Bürger mit Bezug auf die RentenfinanzierungErwägungen anstellen, die denjenigen ähneln, die er bei der Entscheidung über dieAusbildung und den Einsatz seiner persönlichen Arbeitskraft und über die Verwen-dung des Ertrages seiner Leistung und seines sonstigen Vermögens, kurz: über sei-nen persönlichen und seiner Familie Haushalt anstellen muss.

Die hier unterbreiteten Vorschläge sind von der in der Regel mit dem Problemder Altersversorgung in enge Verbindung gebrachten demographischen Entwick-lung (Verhältnis der Zahl der Erwerbstätigen zur Zahl der zu unterhaltenden Al-ten)10 unabhängig. Das gilt ersichtlich für die Vorsorge durch den Einzelnen. Soweitdie Familie als Versorgungsträger in Betracht kommt, trägt ein System der Eigen-vorsorge zur gerechten Zuweisung der Verantwortlichkeit und zum Abbau einesGeburtendefizits bei. Was die Sozialhilfe der Gemeinschaft betrifft, so ist in einerSituation relativ großen Bedarfs und beschränkter Mittel Transparenz mit Bezug aufden Umfang der Hilfe und ihre Verteilung erst recht unerlässlich, um demokratischeund angemessene Gestaltung der Umverteilung zu gewährleisten.

Übergangsregelungen

Da das geltende System der Altersversorgung weit von diesen Vorschlägen entferntist, bedarf es einer Übergangslösung. Der einzige vorgegebene Anspruch, der hier-bei zu berücksichtigen ist, ist aus den nach Maßgabe des zurzeit geltenden Rechtsbereits erfolgten Beitragsleistungen abzuleiten. Der Wert dieser Leistungen ein-schließlich einer angemessenen Verzinsung ist in Form einer nach der statistischenLebenserwartung bemessenen Rente weiterhin zu gewährleisten. Dabei handelt essich um einen Anspruch aus dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes, der sichaber nicht an künftige Generationen sondern an den gegenwärtigen Staat der gegen-wärtigen Generationen richtet, weil er durch sein System Vertrauensverpflichtun-gen eingegangen ist. Alle darüber hinausgehenden Leistungen sind Gegenstandeiner den Grundgedanken der Reform entsprechenden Entscheidung des Gesetzge-bers.

10 Hierzu etwa Kaufmann, aaO. (FN 1), passim.

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Die nach geltendem Recht obligatorischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbei-träge können nicht von heut auf morgen in steuerpflichtige aber frei verfügbareLohnbestandteile umgewandelt werden. Das sollte schrittweise geschehen, währenddie laufend zu reduzierenden Beiträge in einer Übergangszeit teils zur Finanzierungder Volksrenten und Sozialhilfe verwendet und teils dem individuellen Beitragsgut-haben zugeführt werden sollten.

Zusammenfassung

Der Artikel setzt sich für grundsätzliche Rückkehr zur Eigenvorsorge für das Alterdurch individuelles Sparen ein. Er verlangt vom Staat Sicherung des dafür angespar-ten Kapitals. Kann der Einzelne einen minimalen Lebensbedarf ohne sein Verschul-den nicht decken, so soll die Gemeinschaft eintreten. Die Solidarleistungen sind vonder Eigenvorsorge streng zu trennen, es muss transparent werden und bleiben, wel-chen Versorgungsanteil der Einzelne selbst und was die Gemeinschaft finanziert. Sokann der Solidarbeitrag demokratisch und angemessen bestimmt und gerecht zuge-teilt werden. Typische Risiken wie (nicht systembedingte) Arbeitslosigkeit oder Ar-beitsunfähigkeit (beim Alter gehört nur seine Dauer zu solchen Risiken) sind dage-gen nach dem Versicherungsprinzip zu bewältigen. Zur Versorgung könnte eineVolksrente beitragen, die aus einem die Summe der Einzelleistungen übersteigendenAnteil des Sozialprodukts zu finanzieren wäre.

Summary

The article pleads for restoration of old age self-support by individual saving. It de-mands absolute protection by the state of the capital accumulated for the purpose.Where an individual is unable, for reasons outside of his responsibility, to maintaina minimal living standard, society should step in. Social aid should be strictly distin-guished from self-support. The shares to which the individual and the society cont-ribute in financing needs must remain transparent. This enables democratic and ade-quate determination of the contribution of the society and its just distribution.Typical risks such as unemployment (if not caused by general system deficiencies)or disability (age does not belong to this kind of risks) should be dealt with on thebasis of the insurance principle. Old age support could be augmented by distribu-ting to everyone, in the form of a national annuity, that part of the national incomewhich does not derive from individual services but from the productivity inherentto a national economy as a whole.

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Raimund Ottow

Politischer Patriarchalismus in England im 16./17. Jahrhundert

I.

Das 17. Jahrhundert gilt uns – nicht ohne Grund – als Zeitalter des Rationalismus,des Naturrechts, der Anfänge von Liberalismus und seit einiger Zeit auch als wich-tige Etappe in der Vermittlung republikanischen Denkens an die Neuzeit. Die Kon-zentration auf diese Strömungen und ihre Hauptrepräsentanten läuft aber Gefahr,durch selektive Rezeption nur dessen, was aus heutiger Sicht besonders relevant er-scheint, diese Theorien zu dekontextualisieren, wodurch sie ihren vollen histori-schen Sinn einbüßen. Die Gegendiskurse gehören in das volle Bild hinein. Dazuzählt in England der politische Patriarchalismus, der in unseren westlichen Gesell-schaften vielleicht nur mehr eine rhetorische Restexistenz führt, etwa in Gestalt derRede vom Landesvater, der aber in anderen Teilen der Welt durchaus noch eine Rol-le spielen dürfte.

Dass die abendländisch-europäische Geschichte starke partiarchale Traditionenaufweist, wird wohl nicht bestritten. Hier ist zunächst zu denken an den griechi-schen Oikos-despotes, der über politisch unfreie Hausgenossen die Herrschaft aus-übt – nicht nur über die Familie im engen Sinne: Frau und Kinder, sondern auchüber Knechte und Sklaven, Haussklaven und Arbeitssklaven, denn der Oikos istnicht nur – modern – als Privathaushalt zu verstehen, sondern auch als gesellschaft-liche Produktionseinheit. Vor der Trennung von Wohn- und Arbeitsstätten als all-gemeines Faktum als Ergebnis der industriellen Revolution war dies eine vorherr-schende gesellschaftliche Organisationsform.1 Analoges gilt dann auch für denrömischen Pater familias, mit seiner Patria potestas, die ein durchaus weitgehendesStraf- und Züchtigungsrecht einschloss.2 Schließlich ist hier auf die Bibel hinzuwei-

1 Siehe Otto Brunner, »Das ‘ganze Haus’ und die alteuropäische ‘Ökonomik’« in: ders.,Neue Wege der Sozialgeschichte. Vorträge und Aufsätze, Göttingen 1956, S. 33–61;Johannes Burckhardt, »Das Haus, der Staat und die Ökonomie. Das Verhältnis vonÖkonomie und Politik in der neuzeitlichen Institutionengeschicht« in Gerhard Göhleret al. (Hg.), Die Rationalität politischer Institutionen. Interdisziplinäre Perspektiven,Baden-Baden 1990.

2 Siehe Philippe Ariès, Georges Duby (Hg.), Geschichte des privaten Lebens, 5 Bde.,(Paris 1985) Augsburg 1999: Bd. 1, Vom Römischen Imperium zum ByzantinischenReich, Paul Veyne (Hg.). Siehe für die Folgezeit Bd. 2: Vom Feudalzeitalter zur Renais-sance, Georges Duby (Hg.). Von bes. Interesse für die Zeit der Renaissance ist: Leon B.Alberti, Vom Hauswesen (Della Famiglia, ca. 1440), München 1986; siehe für England:Peter Laslett, The world we have lost, 2. Aufl., London 1973.

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sen, insbesondere auf die Patriarchen des Alten Testaments. Diese Traditionen ha-ben die europäische Geschichte und Geistesgeschichte geprägt.

Der Protestantismus hat wohl, nach dem Vorgang von Humanisten, Ehe und Fa-milie aufgewertet: durch die Herauslösung aus einem gentilistischen Referenzrah-men, durch die Abwertung ständischer Differenzierung, konkret durch die Zurück-nahme starker Statusansprüche des Adels, und durch die Eliminierung des Klerusals eines außerweltlichen, zölibatären Standes. Nicht ganz so sicher ist, ob dies miteiner Aufwertung der Stellung des Mannes in der Familie verbunden war, also mitfamilialem Patriarchalismus; dies erscheint aber wahrscheinlich.3 Jedenfalls könnenwir für das 16. und 17. Jahrhundert von einem tief verwurzelten familialen und ge-sellschaftlichen Patriarchalismus ausgehen.4 Unter Politischem Patriarchalismus willich nun verstehen eine Ideologie, die politische Obrigkeit unter der Figur, unterdem Bild, der Metapher, der Analogie mit dem Vater vorstellt: Ich werde aber auf-zeigen, dass diese Ideologie in England auch zur These der Gleichartigkeit und zurThese der Ableitung politischer Herrschaft aus der väterlichen zugespitzt wurde.

II.

Im Prinzip ist die Rede vom Magistrat als Vater alt: der römische Senat war die Ver-sammlung der Patres, ein Aristokrat, der sich durch besondere Taten für die Repub-lik auszeichnete, wurde als Pater patriae geehrt, und diese Bezeichnung heftete sichan Augustus und spätere Kaiser, und wurde von hier aus – das scheint mir jedenfallsdie wesentliche Quelle zu sein – auf die europäischen Könige übertragen. In Eng-land begegnet uns die Rede vom König als pater patriae zum Beispiel in einem Ge-richtsverfahren von 1495, und William Baldwin schreibt um die Mitte des 16. Jahr-hunderts in seinem wiederholt gedruckten und viel gelesenen Treatise of MorallPhilosophy: »Next unto God, who is so great a father, as he who is the father of awhole country? that is, father of them that be fathers, their Children, and whole fa-milies? how much then ought the care of him to exceed the cares of all others? thewisedome of him, the prudence of all others? «, und unter Berufung auf den Philo-sophen Zeno: »A good Prince differeth nothing from a good Father. «5

Das Problem war dann, dass mit Mary Tudor eine Königin auf den Thron kam,und es gab in der englischen Geschichte (zumindest seit der normannischen Erobe-

3 Siehe differenziert Patrick Collinson, The Birthpangs of Protestant England. Religiousand Cultural Change in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Basingstoke/NY1988, Kap. 3; Margo Todd, Christian Humanism and the Puritan Social Order, Cam-bridge 1987, Kap. 4.

4 Das Standardwerk zum politischen Patriarchalismus im 17. Jahrhundert stammt vonGordon J.Schochet, The Authoritarian Family and Political Attitudes in Seventeenth-Century England. Patriarchalism in Political Thought, zuerst 1975, republiziert mitneuer Einleitung New Brunswick/London 1988, siehe dort S. 57f.; Johann Sommervilleschreibt in Politics and Ideology in England, 1603–1640 (London/NY 1986, S. 27):»Early modern English society was patriarchal. The basic social unit was the family, andthe head of that unit was the father.«

Ottow.fm Seite 191 Montag, 16. Mai 2005 1:28 13

Raimund Ottow · Politischer Patriarchalismus in England192

rung) kein Vorbild für eine regierende Königin. Nach ihrer Thronbesteigung gab eseinen Aufstand, der sich gegen Mary Tudor als Katholikin richtete, aber auch gegenihre geplante Heirat mit Philip von Spanien, denn es bestand die keineswegs abwegi-ge Gefahr, dass Philip als Ehemann die Regierung in England beanspruchen würde –das konnte gewissermaßen als die Norm gelten und es gab viele historische Vorbil-der. Nach der Niederschlagung der Rebellion nun erklärte die Königin in einer Pro-klamation, sie habe »hitherto always preferred the benefit of the commonwealth be-fore any of her own causes, and being first married to her realm doth not mean byany second marriage any way to hinder or prejudice the state of her said realm orthe commonwealth of her good subjects...«6 Sie stilisiert sich also als Gemahlin desReiches, und die Gefahr einer Übernahme der Regierung durch Philip wurde durcheinen detaillierten Heiratsvertrag ausgeschlossen, der Philip nur als Prinzgemahl,nicht als König gelten ließ, ihm keine Patronage in England gestattete, usw.

Marys Status war aber problematisch, wie an Schriften von Marian Exiles abgele-sen werden kann – den englischen Protestanten, die als Religionsflüchtlinge in ver-schiedenen kontinentalen Städten Kolonien bildeten. Christopher Goodman schriebin einem Traktat von 1558, dass die weibliche Thronfolge gegen die Bibel verstößt,und dass Mary als Königin ein »monster in nature« sei, »and disorder amongst men,which is the Empire and government of a woman, [God] sayinge expreslie: From themyddle of thy brethren shalt thou chose thee a kinge, and not amongst thy sisters.For God... at the begynninge appoynted the woman to be in subiection to her hous-bande, and the man to be head of the woman (as saithe the Apostle) who wil notpermitte so muche to the woman, as to speake in the Assemblie of men, muche lesseto be Ruler of a Realme or nation.«7 Die gleichgelagerte Intention des Schotten JohnKnox wird bereits am Titel seiner Schrift deutlich: The First Blast of the Trumpetagainst the Monstrous Regiment of Women.8 Diese radikale Position gegen Frauenauf dem Thron ist wohl weder repräsentativ für den Protestantismus im ganzen,noch auch nur für die Marian Exiles; aber sie hat Aufsehen erregt. Ursprünglich ge-gen Mary Tudor gerichtet, bzw. gegen die Regentschaft von Mary de Guise inSchottland für ihre Tochter Mary Stuart, musste auch Elizabeth I, die einige Monatespäter den englischen Thron bestieg, sich und ihre Herrschaft delegitimiert fühlen.

Wie hat sich Elizabeth stilisiert? Nicht als Gemahlin, sondern als Mutter des Rei-ches: Sie wird von den politischen Eliten des Landes von Anfang an zur Heirat ge-

5 Reports of Cases by John Caryll, hg. v. John H. Baker, Selden Society, Bd. 1, London1999, Fall Nr. 196: Rollesley v. Toft, 1495, S. 285f.; William Baldwin, A Treatise ofMorall Philosophy (zuerst 1547), enlarged by Thomas Palfreyman, Reprint der Ausgabe1620, Gainesville (Fa.) 1967, S. 132, 134.

6 Paul L.Hughes / James F.Larkin (Hg.), Tudor Royal Proclamations, 3 Bde., Bd. 2, NewHaven/London 1969, Nr. 401, S. 28.

7 Christopher Goodman, How Superior Powers ought to be Obeyed, Genf 1558, Reprint,Amsterdam 1972, S. 52; relevantes Material bei Herbert Grabes, »England oder dieKönigin? Öffentlicher Meinungsstreit und nationale Identität unter Mary Tudor« in:Bernhard Giesen (Hg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklungdes kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt/M 1991, S. 121–68.

8 In John Knox, On Rebellion, Roger A.Mason (Hg.), Cambridge 1994.

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drängt, um die Thronfolge zu sichern: Denn der Körper der Königin gehört nichtnur ihr, sondern in gewisser Weise auch dem Reich. 1563 erkrankt Elizabeth, unddie Gefahr einer Thronfolge von Mary Stuart als Katholikin in England wird akut.Im folgenden Parlament verfasst das Unterhaus eine Petition, die die Königin aufeine rasche Heirat verpflichten soll, und anlässlich der Überreichung der Petitionspricht der Sprecher des Unterhauses u.a. von Elizabeths »most gratious and mo-therly care for them [die Commons] and their posterity.« Und die Königin antwor-tet: »I assure you all, that though after my death you may have many stepdames, yetshall you never have any a more naturall mother then I meane to be unto you all.«9

1571 hält der Kleriker John Bridges eine Predigt, in der er, vermutlich unter Rekursauf Jesaja (49/23), die Bilder vom König als Vater und der Königin als Mutter desReiches egalisiert, indem er sagt: »A Prince ought to be a father and mother to theirpeople, and to make reckning of so many children as they have subiectes. The sub-iect again ought to be as a chylde unto his Prince, and to make reckenyng of his so-veraign, as of his own father and mother, yea to make a greater accompt of him orher«, nicht nur weil der Staat die größere, die größte diesseitige Ordnungseinheit ist,»but also for the greater commoditie, that both he, his parents, his kin, and all hiscountrey, receive by the peacable and vertuous governement of the Prince...«10 1572geht es im Parlament um die Behandlung von Mary Stuart, die mittlerweile in Eng-land in Gefangenschaft ist. Ein Abgeordneter, der für ihre Hinrichtung plädiert, sagtin der Debatte u.a.: »I have hearde shee [Elizabeth] delighteth to bee called our mo-ther. Let us desire her to be pitifull over us her childrene«, und als es im Parlament1601 Unmut gibt über die Lizenzen der Krone für Handelsmonopole, versichertder Speaker, dass die Königin sich der Beschwerden des Unterhauses annehmenwird, und daher »let us not doubt but as she hath bene, soe she still wilbe our mostegratious sovereigne and naturall nursinge mother unto us...«11 Im Ergebnis wirdman sagen können, dass die Übertragung des Bildes vom König als Vater auf dieKönigin als Mutter des Reiches zur Zeit Elizabeths funktioniert hat.

9 Trevor E.Hartley (Hg.), Proceedings in the Parliaments of Elizabeth I., 3 Bde., Bd. 1,Leicester 1981, S. 90, 95.

10 John Bridges, A Sermon preached at Paules Crosse, London 1571, S. 113. Im Entwurfeiner Predigt von Erzbischof John Whitgift von 1583 findet sich der Satz: »Kings arecalled nursing-fathers, and queens nursing-mothers«, in: The Works of John Whitgift,John Ayre (Hg.), The Parker Society, 3 Bde., Bd. 3, Cambridge 1853, S. 592. Bei dem ausden Niederlanden stammenden englischen Kleriker Adrianus Saravia lesen wir in einemText von 1593: »Princeps optimus ille censetur, qui ita gubernat, ut pater suorum subdi-torum verius quam dominus dici mereatur. Principes (inquit Philo) sunt publici paren-tes civitatum ac gentium«, zit.n. Willem Nijenhuis, Adrianus Saravia. Dutch Calvinist,first Reformed defender of the English episcopal Church order on the basis of the iusdivinum, (ca. 1532–1613), Leiden 1980, S. 249. Eine differenzierte Darlegung findetsich bei dem englischen Aristoteliker John Case, Sphaera Civitatis, hoc est, Reipublicaerecte ac pii secundum Leges administrandae Ratio (zuerst 1588), Frankfurt/M 1604,Buch 1, Kap. 8, Buch 2, Kap. 4.

11 Hartley (Hg.) aaO. (FN 9), Bd. 1, S. 376, Bd. 3, S. 406.

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Das hebt aber die generelle Präferenz für den König, das patriarchale Motiv inder Relation der Geschlechter nicht auf. Nach dem Tode von Elizabeth schreibtzum Beispiel Walter Raleigh: »The rule of the husband over the wife, and of parentsover their children, is natural, and appointed by God himself; so that it is always,and simply, allowable and good. The former of these is as the dominion of reasonover appetite; the latter is the whole authority, which one free man can have overanother«, um fortzufahren: »The rule of a king is no more, nor none other, than of acommon father over his whole country.«12 Wenn der Mann die Vernunft, und dieFrau den Affekt repräsentiert, kann nur der König wahrhaft ein guter Herrschersein.

III.

Wenden wir uns James VI und I von Schottland und England zu. Er gilt als Haupt-repräsentant der Ideologie des Divine Right of Monarchy, aber es finden sich beiihm auch starke Bezüge auf eine patriarchale Auslegung des Königtums. 1598schreibt er: »By the Law of Nature the King becomes a naturall Father to all his Lie-ges at his Coronation: And as the Father of his fatherly duty is bound to care for thenourishing, education, and vertuous government of his children; even so is the kingbound to care for all his subiects.« Natürlich ist der König nicht der natürliche Va-ter der Untertanen; es geht um einen Vergleich, eine Analogie, aber auch um dieThese eines analogen Verhältnisses, das James dann auch mit der Metapher des Bodypolitic verwebt: »The King towards his people is rightly compared to a father ofchildren, and to a head of a body composed of divers members... And for all... wellruled Common-wealths, the stile of pater patriae was ever, and is commonly used toKings. And the proper office of a King towards his Subiects, agrees very wel withthe office of the head towards the body, and all members thereof.« In einer Rede imParlament 1610 kombiniert er alle drei Stilisierungen: die Legitimierung durch Gott,die Legitimierung als Vater des Reiches, und die Körpermetapher: »The State ofMonarchie is the supremest thing upon earth: For Kings are not only Gods Lieute-nants upon earth, and sit upon Gods throne, but even by God himself they arecalled Gods. ... Kings are also compared to Fathers of families: for a King is trewlyParens patriae, the politique father of his people. And lastly, Kings are compared tothe head of this Microcosme of the body of man.« Dabei dienen alle drei Modelleder Begründung einer nicht-limitierten Autorität: So wie ein Vater »may dispose ofhis Inheritance to his children, at his pleasure: yea even disinherite the eldest uponjust occasions, and preferre the youngest, according to his liking: make them be-ggars, or rich at his pleasure; restraine, or banish out of his presence, as he findesthem give cause of offence, or restore them in favour againe with the penitent sin-ner: So may the King deale with his Subiects.«13 In der Diskurspraxis also berühren

12 The History of the World, Buch 5, Kap. 2, The Works of Sir Walter Raleigh, 8 Bde.,Oxford 1829, Bd. 6, S. 144f.; s.a. ders., A Discourse of the Original and FudamentalCause of Natural, Arbitrary, Necessary, and Unnatural War, Works, Bd. 8, S. 282.

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sich die Divine Right-These und der politische Patriarchalismus, die Kerndiskursedes royalistischen Lagers im 17. Jahrhundert.14

Die Anknüpfung an eingeführte patriarchale Vorstellungen wird greifbar in einerSchrift des Klerikers (und späteren Bischofs von Chichester), George Carleton, der1610 ausführt, dass sich niemand eine andere Familienordnung vernünftiger Weisevorstellen könne als »by one whom God and nature made Patrem familiae, the fa-ther of the familie«, um dann die Analogie zwischen dem Vater und dem Königdurch die Umkehrungsfigur zu plausibilisieren: »And what is a King by nature, butthe father of a great family? and what is the father of a family by nature, but a littleKing?«15 Das Verbindungselement ist eine autoritäre Bibelauslegung, die als ver-nünftig deklariert wird.

1615 gab James die Anordnung, eine Schrift mit dem Titel: God and the King /Deus et Rex, die Richard Mocket, einem Kleriker aus Oxford zugeschrieben wird,massenhaft zu drucken und an alle Haushalte zu verteilen: als Pendant zur Bibel undals quasi-offizielle Selbstdarstellung des Königs und seines Herrschaftsanspruches;sie wurde nach der Restauration, 1663, auf Anordnung seines Enkels, Charles II, re-publiziert. Darin wird sowohl die These des göttlichen Rechts der Könige, als auchdas patriarchale Argument formuliert, in der starken Form der Erhebung der Gehor-samspflicht gegenüber dem König über jene dem Vater gegenüber. »...the Evidenceof Reason teacheth«, heißt es darin, »that there is a stronger and higher bond of Dutybetween Children and the Father of their Countrey, than the Fathers of private Fa-milies. These [latter] procure the good only of a few, and not without the assistanceand protection of the other, who are the common Foster-fathers of thousands of Fa-milies, of whole Nations and Kingdoms«, und »as we are required to honor the Fa-thers of private Families, so much more the Father of our Countrey and the wholeKingdom.«16 Der vollständige Titel dieser Schrift lautet: God and the King, or, a dia-logue shewing that our soveraigne lord King James, being immediate under Godwithin his dominions, doth rightfully claime whatsoever is required by the oath of al-legeance. Darin ist angezeigt, dass es sich hier nicht nur um eine facon de parler han-delt, um bloß symbolische Rhetorik, sondern um Politik, denn die Finanznöte derKrone wurden immer dramatischer, und also sollte den Untertanen eingeimpft wer-den, dass sie ihrem König als Vater des Reiches nichts verweigern können.

13 King James VI and I, Political Writings, Johann P.Sommerville (Hg.), Cambridge 1994,S. 65, 76, 181 f.; siehe Kevin Sharpe, »Private Conscience and Public Duty in the Wri-tings of James VI and I« in: John Morrill et al. (Hg.), Public Duty and Private Consci-ence in Seventeenth-Century England. FS Gerald E.Aylmer, Oxford 1993, S. 77–100.

14 Siehe Johann P.Sommerville, Politics and Ideology in England, 1603–1640, London/NY1986, S. 27: »In fact, patriarchalist ideas were common in early Stuart England, and,along with designation theory, formed the basis of absolutist thinking...«; RichardSaage, Herrschaft-Toleranz-Widerstand. Studien zur politischen Theorie der niederlän-dischen und der englischen Revolution, Frankfurt/M 1981, S. 151–4.

15 Carleton, »Jurisdiction Regall, Episcopall, Papall...«, zit.nach: Margaret Atwood Jud-son: The Crisis of the Constitution. An essay in constitutional and political thought inEngland, 1603–1645 (zuerst 1949), New Brunswick/London, 1988, S. 189f.

16 Zit.nach Schochet, aaO. (FN 4), S. 89f.

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Dieses Motiv ist bereits greifbar in der Krönungspredigt 1603 von Thomas Bil-son, Bischof von Winchester, der ausführt, dass Gott die Könige als Väter bezeich-net, »because they should be as vigilant for the good of those that are under theircharge, as parents are for their children; and receive the same honour and service fortheir paines, which are due to parents from their naturall children, if not greater.«Drei Ansprüche kann der König an seine Untertanen stellen: »Subiection, Honor,and Tribute«, und unter letzterem ist eine umfassende potentielle Verfügung desFürsten über den Besitz der Untertanen zu verstehen – als Gegenleistung für denSchutz, den der König ihnen und auch ihrem Eigentum gibt.17 1609 konfrontiertRobert Cecil-Lord Salisbury als Schatzmeister in einem Memorandum den Königmit seiner Finanzmisere und rekurriert dabei ideologisch auf Patriarchalismus,wenn er schreibt, dass »princes which are the parents of the commonwealth andhave the same in tutelage, have power in case of politique necessity, to help themsel-ves in their body politique, by their subjects’ fortunes, a power so material and in-herent in the person of the king as is not now to receive his creation nor can be con-tradicted, but by those who would make a king and his people of one and the samecondition.«18 Das ist im vorliegenden Fall politische Salvierung, denn eigentlichwarnt Salisbury den König vor einer Überdehnung der Finanzierungssquellen derKrone, zumal in Friedenszeiten, in denen also keine evidente politique necessity be-steht. Stattdessen schlägt er vor, mit dem Parlament zu einem Ausgleich zu kom-men, das der Krone eine fixe Steuerrevenue bewilligen soll im Austausch für dieAufgabe einiger post-feudaler Einnahmequellen, die immer stärker in die Kritik ge-rieten: der sogenannte Great Contract – eine Initiative, die letztlich scheitert, weilbeide Seiten zu hoch pokern und weil diese Politik aus dem Kronrat selbst heraussabotiert wird.19

In einer Predigt von 1618 von John Buckeridge, Bischof von Rochester, zeichnetsich dann eine Radikalisierung des patriarchalen Diskurses ab, insofern die Analogiezwischen dem König und dem Vater in eine Gleichsetzung überführt wird. Bucke-ridge sagt, die Familie sei »another little kingdom, and hath all the societies of manand wife, father and son, master and servant in it: as the kingdom is the great family,consisting of many families, and the power of the king is no other but Patria Potes-tas, that fatherly power that was placed by God immediately in Adam over all the

17 Thomas Bilson, A Sermon preached before the King and Queenes Majesties at theirCoronation, London 1603, B6ff.

18 A Collection of Several Speeches and Treatises of the Late Lord Treasurer Cecil, and ofSeveral Observations of the Lords of the Council given to King James concerning hisEstate and Revenue in the Years 1608, 1609 and 1610, hrsg. v. Pauline Croft, CamdenMiscellany, Bd. 29, London 1987, S. 245–317, hier S. 288.

19 Memorials of Affairs of State in the Reigns of Q. Elizabeth and K. James I, collected(chiefly) from the original Papers of the Right Honourable Sir Ralph Winwood, Kt.,sometime one of the Principal Secretaries of State, 3 Bde., London 1725, Bd. 3, Nrn.97,154, 197; Alan G.R.Smith, »Crown, Parliament and finance: The Great Contract of1610« in: P. Clark et al. (Hg.), The English Commonwealth. 1547–1640. FS Joel Hurst-field, Leicester 1979, Text 6; Roger Lockyer, The Early Stuarts. Political History of Eng-land, 1603–1642, 2. Aufl. Harlow 1999, S. 117ff.

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families that issued from him.«20 Diese Überführung der rhetorischen Figur derAnalogie in die Gleichsetzung bezeichnet den eigentlichen Patriarchalismus als po-litischen Diskurs.21

IV.

Der Hauptvertreter dieses Diskurses ist Sir Robert Filmer, ein obskurer Landedel-mann aus Kent, der von 1588–1653 lebte. Das Hauptwerk: Patriarcha. Untertitel:The Naturall Power of Kinges Defended against the Unnatural Liberty of the Peo-ple, stammt von etwa 1630, wird aber erst 1680 publiziert. Zu seinen Lebzeiten, ab1648, also zur Zeit des Bürgerkrieges und dann im Interregnum, hat Filmer einigekleinere Schriften publiziert, in denen er sich u.a. mit Aristoteles, Jean Bodin, HugoGrotius, Thomas Hobbes und John Milton auseinandersetzt. Sein Argument lautet,dass sich die väterliche Autorität, die nicht nur Analogie, sondern Substanz allerAutorität ist, beginnend mit dem Urvater Adam, über die Generationen und dieVerzweigung und Vermehrung der Menschheit hinweg gleichsam nur ausgedehnthabe.22 Solange der Vater lebt, sind ihm die Söhne weiterhin unterworfen, auchwenn sie mittlerweile selbst eine Familie und Kinder haben. Eo ipso sind auch ihreFamilien ihm unterworfen. Wenn dieser ursprüngliche Vater stirbt, tritt an seineStelle als Oberhaupt der Sippe sein ältester Sohn, oder sonst der nächstfolgendemännliche Erbberechtigte. Auch bei der Ausdehnung, Verzweigung und Vermeh-rung der Sippschaft gibt es theoretisch so jederzeit ein bestimmbares männlichesOberhaupt, das in diesem Prozess in die Königsrolle hineinwächst, dessen Legitimi-tät, auch wenn er schon lange nicht mehr der natürliche Vater der Sippe ist, von dermännlichen Erbfolge abgeleitet sein soll. Diese Argumentation knüpft zwar an dieBibel an, unterscheidet sich aber strukturell von der Divine Right of Monarchy-These, die die unmittelbare Investitur des Königs durch Gott betont hatte. Der Ak-zent liegt hier vielmehr auf der analog zum Erbrecht gedachten Deszenz, und es istoffensichtlich, dass sie damit an der Obsession der landbesitzenden Schichten mitdem Erbrecht und ihrer Intention anschließt, Familienbesitz durch eine eindeutige,primogenitale Erbfolge zu sichern und intakt zu halten.

Eine Schwierigkeit von Filmers Argumentation lässt sich in die Frage kleiden:Wenn die Menschheit von Adam abstammt, und wenn es zu jeder Zeit einen und

20 Auszug aus Buckeridge, »A Sermon Preached before His Majesty at Whitehall... Tou-ching Prostration and Kneeling« (1618) in: David Cressy / Lori Anne Ferrell (Hg.):Religion and Society in Early Modern England: a Sourcebook, London/NY 1996, S.141.

21 Schochet, aaO. (FN 4), S. 146. 22 Ich lege zugrunde Robert Filmer, Patriarcha and Other Writings, Johann P. Sommer-

ville (Hg.), Cambridge 1991; siehe Schochet, aaO. (FN 4), Kap. 7, 8; Ulrike Krautheim,Die Souveränitätskonzeption in den englischen Verfassungskonflikten des 17. Jahrhun-derts. Eine Studie zur Rezeption der Lehre Bodins in England von der RegierungszeitElisabeths I. bis zur Restauration der Stuartherrschaft unter Karl II., Frankfurt/M 1977,Kap. 9, Abschn. 1.

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nur einen legitimen Obervater gibt, wie lässt sich dann erklären, dass alleine in Eur-opa eine Vielzahl unabhängiger Königreiche und Herrschaften existieren? Müsstenicht einer unter ihnen der legitime Oberherr sein, und alle übrigen illegitim? Undwie ließe sich das feststellen und entscheiden? Diese Frage verweist auf die weitereSchwierigkeit: Ist die Herkunft des Erbrechts von Adam bis auf den gegenwärtigenHerrscher, zur Zeit Filmers also Charles I. über alle Eroberungen, Usurpationenund Brüche in der dynastischen Thronfolge hinweg, ernsthaft historisch argumen-tierbar und darstellbar? Oder liegt die realhistorische Rekonstruktion der Deszenzaußerhalb des Ehrgeizes und der Reichweite dieses Diskurses, der einfach ein be-stimmtes biblisches Motiv und die Praxis männlicher Primogenitur zu einem Ur-bild, zur idea im platonschen Sinne, gesellschaftlich-politischer Ordnung schlecht-hin normativ überhöht – als Antwort auf die Legitimationskrise in England?

Filmer antwortet: »...I am not to question or quarrel at the rights or liberties ofthis or any other nation. My task is chiefly to enquire from whom these first ca-me...«. Es geht ihm also zunächst um die Grundsatzfrage der Legitimationsgründevon Herrschaft überhaupt, und er sagt: »I see not... how the children of Adam, or ofany man else, can be free from the subjection to their parents. And this subjection ofchildren is the only fountain of all regal authority, by the ordination of God himself.It follows that civil power not only in general is by divine institution, but even theassignment of it specifically to the eldest parent...« In der Erklärung der Aufspal-tung von Herrschaft knüpft er wieder an die Bibel an, indem zuerst Noah die Weltunter seinen drei Söhnen aufteilte, und eine spätere Aufspaltung findet dann durchdie babylonische Verwirrung statt, die ja von Gott selbst ins Werk gesetzt wurde. Indieser Spaltung der Menschheit in Sprachgemeinschaften, vielleicht also Ethnien,»we must certainly find the establishment of regal power throughout the kingdomsof the world.« In der Bibel ist von 72 Nationen die Rede, die Filmer ursprünglich als»distinct families« versteht, »which had fathers for rulers over them«, nicht in demSinne, dass die Könige die natürlichen Väter ihrer Untertanen waren, sondern als»the next heirs to those progenitors who were at first the natural parents of thewhole people, and in their right succeed to the exercise of supreme jurisdiction. Andsuch heirs are not only lords of their own children, but also of their brethren, and allothers that were subject to their fathers.«23 An die Zahl von 72 Herrschaften ist Fil-mer nicht gebunden, weil er zwei Vorgänge anerkennt, die diese Zahl verändern, dieaber beide in Richtung der Verminderung der Zahl der Herrschaften weisen: Erobe-rungen und freiwillige Unterwerfungen. Beide Vorgänge rekonstruiert Filmer alsÜbertragungen der väterlichen Gewalt, die also am patriarchalen Charakter derHerrschaft nichts ändern sollen.

Was macht Filmer nach dem endgültigen Sieg des Parlaments und der Hinrich-tung des Königs? In den frühen 1650er Jahren sollten alle erwachsenen Männer ei-nen Loyalitätseid leisten und daraus entwickelte sich eine Kontroverse, in der auchGegner des Regimes sich bereit erklärten, die republikanische De facto-Herrschaftanzuerkennen. Die Forschung spricht hier von den Defactoists, denen auch Hobbes

23 Filmer: Patriarcha, aaO. (FN 22), S .4, 7 f., 10.

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zugerechnet werden kann.24 Filmer nun kann die Legitimität der Revolution nichtanerkennen, akzeptiert aber die Notwendigkeit, sich mit dem Regime vorläufig ab-zufinden, und unterscheidet in seiner kleinen Schrift: Directions for Obedience toGovernours in dangerous and doubtfull times, zwischen dem unbedingten Gehor-sam gegenüber dem rechtmäßigen Herrscher – nunmehr also Charles II. als Erbeseines hingerichteten Vaters – und der begrenzten Gehorsampflicht gegenüber einerusurpierten Macht.25

Ein weiteres Problem von Filmers Doktrin ist die Öffnung des Modells auch fürandere als die monarchische Regimeform, d. h. für die Republik, deren es ja einigezu der Zeit gab: Dazu schreibt er: »...whether some few [also: Aristokratie] or amultitude [also: Demokratie] govern the commonwealth, yet still the authority thatis in any one, or in many, or in all of these, is the only right and natural authority ofa supreme father.«26 Demnach ist der Beweiszweck seiner Theorie nicht die Monar-chie, sondern es geht um den Charakter, um die Qualität von politischer Herrschaft,die mit patriarchaler Herrschaft gleichartig, mit ihr gleichzusetzen sein soll. Einepolitische Gesellschaft ist somit stets als ein grosser Oikos zu begreifen, die einenoder viele Väter hat. Diese Theorie ist strukturanalog mit der Jean Bodins, dergleichfalls die Geltung seiner These absoluter Souveränität auch für Republiken be-hauptet hatte. Filmers Text über The Necessity of the Absolute Power of all Kings:And in particular, Of the King of England, von 1648, ist virtuell nicht mehr als eineZitatensammlung aus Bodins Hauptwerk, was nicht bedeutet, dass es keine Diffe-renzen gäbe: während Bodin die einzelnen Haushaltsvorstände in ihren Eigentums-rechten gegen einen Zugriff des Souveräns sichert und diesen an seine Versprechenbindet, kann es derartige Sicherungen gegenüber einer väterlichen Gewalt im stren-gen Sinne nicht geben.27 Von hier aus stellt Filmers Theorie eine spezifische Radika-lisierung der Souveränitätsthese dar. Es ergibt sich im Falle der Republik aber auchnoch das Folgeproblem, wie die vielen Väter oder Oikos-despotes das Ordnungs-problem untereinander regulieren. Darauf findet sich bei Filmer, soweit ich sehe,keine Antwort, der im übrigen nur die Monarchie aus der Bibel als Gebot Gottesfür die Regierung der Menschen für herleitbar hält, während die anderen FormenDegenerationen sein sollen.28

Ob das zutrifft, war umstritten: Eine nahe liegende immanente Kritik einer patri-archalistischen Genealogie aufgrund der Bibel bestand in einer gegenläufigen Inter-pretation der Heiligen Schrift. Eine Reihe von Autoren gingen diesen Weg, indem

24 Glenn Burgess: »Usurpation, Obligation and Obedience in the Thought of the Engage-ment Controversy« in: The Historical Journal, Vol. 29, 1986, S. 515–36; Victoria Kahn:Machiavellian Rhetoric. From the Counter-Reformation to Milton, Princeton 1994,S. 156 ff.

25 Siehe Schochet, aaO. (FN 4), Kap. 8, Abschn. 6.26 Filmer: Patriarcha, aaO. (FN 22), S. 11. 27 Jean Bodin: Les Six Livres de la République, Gérard Mairet (Hg.), Paris 1993; siehe Wal-

ter Euchner, »Eigentum und Herrschaft bei Bodin« in: ders., Egoismus und Gemein-wohl. Studien zur Geschichte der bürgerlichen Philosophie, Frankfurt/M 1973;Krautheim, aaO. (FN 22), S. 99.

28 Schochet, aaO. (FN 4), S. 145f.

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sie die Figur Nimrods aus der Genesis, der durch gewaltsame Niederwerfung erst-mals eine Monarchie etabliert habe, gleichsam als politischen Sündenfall verstandenund somit die Herleitung der Monarchie aus Adam delegitimierend unterbrachen.Diese Argumentation wurde zu einer Art Gemeinplatz in radikalen Kreisen, wäh-rend andere zwar anerkannten, dass Nimrod ein Gewaltherrscher war, der abertrotzdem als legitim gelten sollte.29 Für Filmer existiert hier kaum ein Problem, weilihm Eroberung am fundamental patriarchalen Charakter von Herrschaft nichts än-dert.30 Auch die Stelle im Alten Testament, an der Gott den Juden, die nach einemKönig verlangen, wie ihn andere Völker haben, nachgibt, wurde verschieden inter-pretiert: als Handlung eines Gottes im Zorn, oder tatsächlich als positive göttlichePräferenz für die Monarchie.31

V.

Von theoretischem Interesse ist die Berührung des Patriarchalismus mit Hobbes,der bereits im ersten Entwurf seiner politischen Theorie, im zweiten Teil der Ele-ments of Law das Konzept eines patrimonialen Königtums einführt.32 Es handeltsich hier um eine von drei möglichen Erwerbsarten souveräner Herrschaft, die inHobbes-Diskussionen meist zu kurz kommt: Während wir uns generell auf dieHerrschaftsbegründung durch vertragsförmige Unterwerfung konzentrieren, kenntHobbes daneben die Eroberung, die Filmer als Erwerbsart patriarchaler Herrschaftakzeptiert, und drittens die patrimoniale Herrschaft, die als Ausdehnung familialerHerrschaft zu denken ist. Eroberung und patrimoniale Expansion faßt Hobbes un-ter dem Titel »Commonwealth by acquisition« zusammen, die – das macht der Le-viathan klar – auf Gewalt beruht.33

Die Herrschaft über Kinder fällt nach Hobbes an sich und zunächst der Frau zu,die ein Kind tatsächlich zur Welt bringt und unmittelbar am Leben erhält. Sowohl

29 Siehe Robert Parsons (alias R. Doleman), A Conference About the Next Succession tothe Crowne of Ingland (1594), Amsterdam/NY 1972, S. 83; Walter Raleigh: History ofthe World, aaO. (FN 12), Buch 1, Kap. 10, Abschn. 1: »That Nimrod was the first afterthe flood that reigned like sovereign lord; and that his beginning seemeth to have beenof just authority«, The Works, Bd. 2; John Milton, Areopagitica, and other PoliticalWritings, Indianapolis 1999, S. 251; ders., »Paradise Lost« Buch 12, Zeilen 24ff., in: Mil-ton’s Poems, B.A.Wright (Hg.), London/NY 1966; James Tyrrell, A Brief Disquisition ofthe Law of Nature, 2. Aufl. London 1701, S. 325; Christopher Hill, Intellectual Originsof the English Revolution, Oxford 1965, S. 151f.; Schochet, aaO. (FN 4), S. 108; DavidNorbrook, Writing the English Republic. Poetry, Rhetoric and Politics, 1627–1660,Cambridge 2000, S. 463, 467, 474; Sarah Barber, A Revolutionary Rogue. Henry Martenand the English Republic, Stroud 2000, S. 42, 61, 78; Laura Blair McKnight, »Crucifi-xion or apocalypse? Refiguring the Eikon Basilike« in: Donna B.Hamilton / RichardStrier (Hg.), Religion, Literature, and Politics in Post-Reformation England, 1540–1688,Cambridge 1996, S. 138–60, hier S. 144 f.

30 Siehe Schochet, aaO. (FN 4), S. 141 f.31 Annette Weber-Möckl, ‘Das Recht des Königs, der über euch herrschen soll’. Studien zu

1 Sam 8, 11 ff. in der Literatur der frühen Neuzeit, Berlin, 1986.

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Kinder unterworfener Frauen, die eventuell die Frauen unterworfener Männer sind,als auch generell eheliche Kinder, fallen jedoch mit der Geburt unter die Herrschaftdes Mannes als Oikos-Vorstand, denn die Ehe versteht Hobbes als Unterwerfungs-vertrag der Frau unter den Mann. Für den Fall einer regierenden Königin machtHobbes eine Ausnahme; in diesem Fall wäre das Unterwerfungsverhältnis neutrali-siert oder sogar umgekehrt; das müßte vertraglich fixiert werden. Diese Ausnahmeist naheliegend, aber es ist nicht recht klar, warum nicht auch in anderen Fällen ver-traglich anderes festgelegt werden könnte. Jedenfalls besteht Hobbes darauf, dass ineiner Ehe einer von beiden die Herrschaft innehaben muss. Die Verbindlichkeitzum Gehorsam der Kinder folgt dann aus dem naturrechtlichen Gebot der Dank-barkeit für Schutz und Erhaltung, nicht etwa aus der biologischen Erzeugerschaft,ist also eine soziale und politische Relation, keine naturalistische. Die Gehorsams-pflicht beruht auf einem impliziten oder expliziten Unterwerfungsversprechen.34

Dann sagt Hobbes: »Und das Ganze, welches aus dem Vater oder der Mutter, oderaus beiden, und den Kindern und Dienenden besteht, heißt eine Familie; in dieser istder Vater oder der Herr der Familie der Herrscher, und die anderen (Kinder undDienende gleichmäßig) sind die Untertanen. Wenn nun diese Familie durch die Ver-mehrung der Kinder (erzeugter oder adoptierter) oder die Vermehrung der Leibei-genen (entweder durch Fortpflanzung, Eroberung oder freiwillige Unterwerfung)wächst und so groß und zahlreich wird, dass sie, aller Wahrscheinlichkeit nach, im-stande ist, sich selbst zu schützen, so nennt man diese Familie ein patrimoniales Kö-

32 Thomas Hobbes, Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen, Neu-druck, Darmstadt 1990, Teil 2, Kap. 4. Aus unerfindlichen Gründen hat Ferdinand Tön-nies Hobbes’ Konzept eines patrimonialen Königreiches in der Kapitelüberschrift seinerAusgabe als patriarchalisches Königreich übersetzt, vgl. die englische Ausgabe: ThomasHobbes, The Elements of Law, Natural and Politic, J.C.A. Gaskin (Hg.), Oxford 1999.Soweit zu sehen ist, werden die Begriffe patriarchal und patrimonial bei Filmer nichtinhaltlich bedeutsam differenziert. Max Weber diskutiert patriarchale und patrimonialeHerrschaft in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie,5. Aufl. Tübingen 1985, Zweiter Halbband, Kap. 9: »Soziologie der Herrschaft«3.Abschn. Patriarchale Herrschaft ist demnach eine historisch bedeutsame Form desidealen Legitimationstypus traditionaler Herrschaft, während Patrimonialismus wie-derum eine Unterform patriarchaler Herrschaft ist, die Weber definiert als »mittelsAusgabe von Land und eventuell Inventar an Haussöhne oder andere abhängige Haus-hörige dezentralisierte Hausgewalt«, S. 584. Im Prinzip der Dezentralisation, die aberdurch eine Oberherrschaft über Abhängige zusammengehalten wird, liegt einerseits dieMöglichkeit der Ausdehnung, andererseits sieht Weber daran gekoppelt die Wahr-scheinlichkeit der Entwicklung einer (asymetrischen, hierarchischen) Zweiseitigkeit dersittlichen, traditionalen Bindung: Gehorsam gegen Schutz und Fürsorge. Dieses letztereMotiv spielt in royalistischen Theorien generell eine wichtige Rolle.

33 Thomas Hobbes, Leviathan, oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürger-lichen Staates (1651), Iring Fetscher (Hg.), Frankfurt/M 1984, Kap. 20, erster Absatz;s.a. Schochet, aaO. (FN 4), S. 227, überhaupt Kap. 12.

34 Hobbes, Leviathan, aaO. (FN 33), S. 156: »Dieses [das elterliche; Verf.] Recht wirdnicht so von der Zeugung abgeleitet, als besitze ein Elternteil deshalb die Herrschaftüber sein Kind, weil er es gezeugt hat, sondern es beruht auf Zustimmung des Kindes,die entweder ausdrücklich oder durch andere, ausreichende Erklärungen erfolgte.«

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nigreich oder eine Monarchie durch Erwerb.«35 Die Familienform transformiertsich somit durch bloße Ausdehnung in eine politische Form, ohne damit ihre Quali-tät wesentlich zu ändern. Auf dieser Ebene gibt es keine Differenz zu Filmer: Diearistotelische Unterscheidung zwischen der Herrschaft über Unfreie – im oikos –und der spezifisch politischen Herrschaft von Freien über Freie – in der polis – ist inbeiden Fällen negiert, und das ist für beide Autoren wesentlicher Beweiszweck.Eine Differenz liegt darin, dass, während Filmer die väterliche Gewalt als vererbba-ren Traditionszusammenhang konstruiert, Hobbes in die Relation der Generatio-nenfolge ein rationalistisches, vertragsförmiges Moment einführt.

Dies: das government by institution, kritisiert Filmer in seiner Auseinanderset-zung mit Hobbes von 1652. Hobbes habe zwar, sagt Filmer, die »rights of sove-reignty... amply and judiciously handled«, die aber besser begründet seien durch ex-klusive Abstützung auf die »principles of regnum patrimoniale«, denn Hobbesselbst sage ja, dass »a great family, as to the rights of sovereignty is a little monarchy.If, according to the order of nature, he had handled paternal government before thatby institution, there would have been little liberty left in the subjects of the familyto consent to institution of government.«36 Der Ton dieser Auseinandersetzung istfreundlich, weil sich Filmer im Ergebnis, der Begründung nicht-limitierter Herr-schaft, mit Hobbes einig sieht. Das Hauptproblem sieht Filmer in der Vereinbarungväterlicher Herrschaft, die immer schon existiert, mit der Idee eines Naturzustan-des, in dem freie Einzelne Herrschaft vereinbaren. Er versteht nicht, wie Hobbes indie für ihn ursprüngliche, nicht hintergehbare väterliche Autorität rationalistischeMotive hineintragen kann: in Form der Unterwerfung der Frau, und in Form desexpliziten oder impliziten Gehorsamsversprechens der Kinder. Tatsächlich ist be-sonders das letztere eine waghalsige Konstruktion ex negativo: Das Kind wird, sagtHobbes, im Laufe seiner Entwicklung Kräfte erlangen, durch die es Anspruch aufGleichheit mit dem Familienvorstand erheben könnte, der jedoch »als unzulässiggelten [soll], sowohl weil die Kräfte eine Gabe dessen sind, gegen den es Ansprücheerhebt, als auch weil vorausgesetzt werden muss, dass der, welcher einem anderenUnterhalt und Stärke gibt, von diesem dafür das Versprechen des Gehorsams emp-fangen habe. Denn sonst«, so Hobbes sehr drastisch, »würde es weise sein, dass dieMenschen ihre Kinder umkommen ließen, während sie ganz klein sind, um nichtdurch sie gefährdet oder unterjocht zu werden, wenn sie erwachsen sind«37: Alsobevor Zeus und Ödipus ihre Väter töten, sollten die Väter sie töten. Eine Relation,die gemeinhin mit Begriffen von Emotionalität und Affektivität beschrieben wird,wird hier brutal machtrationalistisch rekonstruiert. Dabei wird unklar, welches Mo-tiv hier noch vorliegen soll, überhaupt Kinder zu haben, die mit dem Aufwachseneine immer größere Gefahr darstellen. Eigentlich bleibt nur das Motiv, sich Unterta-nen, Knechte heranzuziehen. Jenseits ihrer Übereinstimmung hinsichtlich patrimo-

35 Hobbes, Leviathan, aaO. (FN 33), S. 157.36 Filmer, »Observations concerning the Original of Government, upon Mr Hobbes

‘Leviathan’, Mr Milton against Salmasius, H. Grotius ‘De Jure Belli’« (1652), in: ders.:Patriarcha, aaO. (FN 22), S. 185.

37 Hobbes, Naturrecht, aaO. (FN 32), S. 155.

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nialer Herrschaft, bleibt die Differenz zwischen Hobbes und Filmer, ob diese Herr-schaft unter dem Urbild väterlicher Gewalt aus der Bibel hergeleitet wird, oder obsie auf juridischen Vertragsfiktionen ruht, die schon den Säugling zum implizitenKontraktualisten machen. Folge man Hobbes, kommentiert Filmer ironisch, dannsei es »necessary to ask of every infant so soon as it is born its consent to govern-ment...«38

VI.

Kritik des politischen Patriarchalismus entwickelt sich parallel zum Bürgerkrieg.Charles Herle, ein führender Parlamentspublizist in der frühen Phase der Revoluti-on, wendet sich 1643 gegen Unklarheiten der Analogie zwischen Vater und Königund gegen ihre Überdehnung: »Allegoryes are no good arguments«, schreibt er.»Because a King may in some respects be call’d the Father, the Head, the Husbandof his Kingdome... doth it therefore follow that because he should governe with theprovidence of a Father, he may therefore governe with the Arbitrarinesse of a Fatherwithout the Consent of his people...; or because he should governe... with the loveof a husband, therefore an absolute power of disposall of whatever the Subject hath,as the husband hath towards the wife?«39 Dass Herle den politischen Patriarchalis-mus nicht einfach verwirft, verweist wohl auf die Ambivalenz jener, die zwar politi-schen Patriarchalismus ablehnen, ansonsten aber klare Anhänger patriarchalischerVorstellungen für Familie und Gesellschaft sind. Gordon Schochet, der das Stan-dardwerk über politischen Patriarchalismus geschrieben hat, stellt fest, dass »thepresumption of the authoritarian patriarchal family can be found... just beneath thesurface of almost all political discourse until late in the [17.] century.«40 Daraus be-zieht auch der politische Patriarchalismus in erheblichem Maße seine Plausibilitätund Stärke.41 Das lässt sich besonders deutlich an Erziehungsliteratur der Zeit able-sen. So werden in einer katechetischen Schrift der Mitte des 17. Jahrhunderts vomModell der familialen Autorität ausgehend drei Gruppen von Autoritätspersonendefiniert: »1. Our naturall Parentes, Fathers and Mothers in the flesh. 2. Our CivilParents, Magistrates, Governours, and all in Authority. 3. Our spiritual Parents,Pastors, Ministers, and Teachers«, und ähnlich lehrt eine Schrift von 1689: »Thesewords, Father and Mother [im Gebot, Vater und Mutter zu ehren], include all supe-riours, as well as a Civil Parent (the King and His Magistrates, a Master, a Mistress,or an Husband) and an Ecclesiastical Parent (the Bishop and Ministers) as the natu-

38 Zit.n. Schochet, aaO. (FN 4), S. 125. 39 Herle: An Answer to Doctor Fernes Reply, zit.n. Schochet, aaO. (FN 4), S. 108f.40 Schochet, aaO. (FN 4), hier S. XVIII, dann S. 14: »Even the critics of political patriar-

chalism were usually willing to admit that the right of fathers to control their childrenwas an inherent and natural attribute of paternity. What they disputed was the assump-tion that the rights of monarchs could be inferred from this power.«

41 Schochet, aaO. (FN 4), S. 70: »It was partially because familial authority was the exclu-sive source of regulation and discipline that the family so readily became a model ofpolitical authority.«

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ral Parent that begat and bore thee: to all these I owe Reverence and Obedience, Ser-vice and Maintenance, Love and Honour.«42

Wenn wir Vertragstheorien der Zeit betrachten, werden wir oft finden, dass nichtIndividuen die Kontraktparteien sind, sondern Haushaltsvorstände, die ihre Famili-en patriarchalisch regieren. So stellt der moderate Whig William Temple 1672 in sei-ner Untersuchung über The Original and Nature of Government fest: »... we mustimagine the first numbers of them who in any place agree upon any civil constituti-ons, to assemble not as so many single heads, but as so many heads of families,whom they represent, in the framing any compact or common accord; and conse-quently as persons, who have already an authority over such numbers as their fami-lies are composed of.«43 1651 hatte der Republikaner John Milton geschrieben, dass»[of course] a father... deserves to exercise dominion over his household, all ofwhich he either begot or supports«, aber »nothing of the sort with a King« im Ver-hältnis zum Reich. Wenn Frauen, so Milton an anderer Stelle, »grow to that inso-lence as to appeare active in State affaires«, sei dies ein sicheres Zeichen für die De-generation des Staates.44 Dies ist in gewisser Weise auch politischerPatriarchalismus; um aber Verwechselungen mit dem Diskurs auszuschließen, derpolitische Herrschaft aus der Gewalt des Vaters ableitet, den Milton klar ablehnt,wäre wohl genauer von politischem Maskulinismus zu sprechen: die Gender-Relati-on ist hier wichtiger als die Generationenfolge.

VII.

Die wichtigste Periode des Einflusses von Filmer fällt in die Jahre ab 1680, als Roy-alisten erst die Patriarcha und dann weitere Schriften von ihm druckten. Den Kon-text bildet die sogenannte Exclusion Crisis, d. h. der Versuch der Parlamentsopposi-tion, den Herzog von York, Bruder und Thronfolger Charles II. als Katholiken vonder Thronfolge auszuschließen. In diesen Jahren kommt es zu einer scharfen ideolo-gischen Auseinandersetzung zwischen den etwa seit dieser Zeit so genannten politi-schen Lagern der Whigs und Tories. Und aus der Tatsache, dass sich sowohl Locke,im ersten der Two Treatises of Government, der 1680 oder 81 entstanden sein dürfte,sein irischer Freund James Tyrrell, in Patriarcha non Monarcha, publiziert 1681, alsauch Algernon Sidney, in seinen Discourses concerning Government von 1682 oder

42 Robert Ram, The Countrymens Catechisme: or, A Helpe for Householders (1655), zit.nach Schochet, aaO. (FN 4), S. 80; Humphrey Brailsford (anon.), The Poor Man’s Help(1689), zit. ebd., S. 80f.

43 Temple, An Essay upon the Original and Nature of Government, Ausgabe von 1680,Reprint, ORT?, 1964, S. 63; Schochet, aaO. (FN 4), S. 190f.; Carole Pateman, »The Fra-ternal Social Contract« in: John Keane (ed.), Civil Society and the State. New EuropeanPerspectives, London/NY 1993, S. 101–28.

44 Milton, »Defence of the People of England« in: ders., Areopagitica, aaO. (FN 29), S.206; ders.: Eikonoklastes, in: Complete Prose Works of John Milton, Douglas Bush etal. (Hg.), New Haven/London, Bd. 3, Merritt Y. Hughes (Hg.), 1962, S. 370; s.a. Nor-brook, Writing the English Republic, aaO. (FN 29), S. 114–8.

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83, intensiv mit Filmer auseinandersetzen, ist es möglich, e contrario auf den im-mensen Einfluss Filmers zu schließen.45 Schochet behauptet, dass »patriarchalism...was the main theoretical opposition encountered by populist writers during the lat-ter part of the Stuart period«, und mit Hinweis auf die Neuausgabe der Patriarchavon 1685, die immerhin von dem seinerzeitigen Erzbischof von Canterbury, Wil-liam Sancroft, arrangiert wurde, sagt er: »The Filmerian position very nearly beca-me the official state ideology.«46 Wir haben es hier also mit einer temporär außeror-dentlich wirkungsmächtigen politischen Ideologie zu tun, die wohl in starkemMaße durch die Furcht vor einer Wiederholung der Wirren der Great Rebellion be-stimmt und geradezu süchtig nach klaren Ordnungsstrukturen und gesellschaftli-cher Harmonie ist. Edmund Bohun etwa schreibt in seiner Defence of Sir RobertFilmer against the Mistakes and Misrepresentations of Algernon Sidney von 1684,dass idealiter »Marital as well as all other Power, might be founded in Paternal Juris-diction. That... Princes might look upon... their Subjects as their Children: and allSubjects upon their Prince as their common Father: ... that Mankind might not onlybe united in one common Nature, but also be of one Blood, of one Family... Werethis well considered, as there would be no Tyrants, so neither would there be anyTraytors and Rebels...«47

Im heute wenig gelesenen First Treatise of Government konzentriert sich Lockeauf die von Aristoteles aufgeworfene Frage ontologischer Abgrenzung privater, fa-milialer Autorität von politischer Herrschaft.48 Er bekämpft die Verwischung dieserGrenze durch den politischen Patriarchalismus, während der moderne Feminismusdiese Grenze niederreißt, um den familialen Patriarchalismus zu bekämpfen. Dabeivertreten Locke und Tyrrell für die Familie relativ liberale Positionen: die Familieist kein oikos, in dem der oikos-despotes mehr oder weniger umumschränktherrscht, sondern sie verstehen die Autorität über die Kinder, die inhaltlich limitiertwird, als eine gemeinschaftliche von Mann und Frau, auch wenn der Mann den Pri-mat hat. Das entscheidende Argument gegen Filmer ist aber ein entwicklungstheo-retisches, in dessen Zentrum eine Idee von persönlicher Freiheit und Autonomiesteht. Locke geht nämlich im Gegensatz zur abstrakten Vertragsfiktion von Hobbesdavon aus, dass Kinder ab einem bestimmten, wenngleich theoretisch nicht exaktbestimmbaren Alter und Reifegrad eine natürliche Autonomie als Personen erwer-ben und damit eo ipso der Autorität der Eltern entwachsen und zu freien Trägernsubjektiver Rechte werden, darunter der Freiheit politischer Selbstbestimmung.49

45 John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung (1689), Walter Euchner (Hg.),Frankfurt/M 1977; James Tyrrell (pseud.: Philalethes), Patriarcha non Monarcha. ThePatriarch unmonarch’d, being Observations on a late Treatise and divers other Miscella-nies, published under the Name of Sir Robert Filmer, London 1681; Algernon Sidney,Discourses concerning Government (1698), T.G.West (Hg.), Indianapolis 1990.

46 Schochet, aaO. (FN 4), S. 120, 193.47 Zit. nach John M. Wallace, »John Dryden’s Plays and the Conception of a Heroic Soci-

ety« in: Perez Zagorin (Hg.), Culture and Politics. From Puritanism to the Enlighten-ment, Berkeley 1980, S. 117f.

48 Siehe Schochet, aaO. (FN 4), Kap. 13.

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Hobbes hatte das implizite Gehorsamsversprechen des Kindes als zeitlich nicht li-mitiert und als nicht einseitig aufkündbar konstruiert, so dass eventuell noch der 60-Jährige dem 80-jährigen Vater unbedingt gehorchen muss. Filmer seinerseits hattegeschrieben: »... in nature there is no nonage; if a man be not born free, she doth notassign him any other time when he shall attain his freedom.«50 Die Frage also, obMenschen einfach im Prozess ihrer Entwicklung und Reifung den normativen Sta-tus einer freien, autonomen Person erwerben, ist hier der Streitpunkt.

Das Hobbessche Argument des Unterwerfungsverlangens als Gegenleistung fürAufzucht, Erziehung und Schutz bleibt dabei unbeantwortet: der emanzipierte jun-ge Mensch kann seinen Eltern einfach den Rücken zuwenden, deren Leistungenalso eventuell nur unzureichend kompensiert werden. Deshalb fügt Tyrrell dem Lo-ckeschen Argument noch die Maßgabe hinzu, dass der Sohn eventuell erst dann zuemanzipieren ist, wenn er dem Vater die »charge and trouble in bringing him up«zurückgezahlt hat. Das könnte eine komplizierte Rechnung werden, wenn hierAufzuchtsleistungen und Gegenleistungen der Kinder monetarisiert werden sollen.Aber Tyrrell spricht hier über Naturrecht, und würde wohl nicht bestreiten, dassder Staat positivrechtlich einfach ein bestimmtes Emanzipationsalter festlegen kann,das er selbst mit spätestens 25 Jahren ansetzt.51

Tyrrell weist auch auf das Problem hin, dass, entgegen der Unterstellung von Fil-mer, die Erbfolge keineswegs so eindeutig ist, dass stets klar wäre, wer nach demTode eines Königs sein rechtmäßiger Nachfolger ist. Diese Eindeutigkeit kann nurdurch Thronfolgeregelungen hergestellt werden, die als Fundamentalgesetze auchgegen den Willen des jeweiligen Königs gelten müssen und daher, auf diese oderjene Weise, als fundiert in einem popularen Konsensverfahren gedacht sein müssen,das daher rechtslogisch der väterlichen Gewalt des Königs bereits zugrundeliegt.52

Hobbes hatte die Thronfolge der testamentarischen Verfügung des Souveräns an-heimgegeben, aber damit kann er dem Problem nicht entkommen, das entsteht,wenn kein Testament vorliegt, oder wenn es nicht greift, weil die vorgesehenen Er-ben alle schon gestorben sind.

Nach der Glorious Revolution ändern sich die ideologischen Koordinaten undder politische Patriarchalismus verliert rasch seine Bedeutung. Gershom Carmicha-el, Professor in Glasgow, formuliert Ende des 17. Jahrhunderts in einem Orientie-rungstext für Studenten kurz und bündig: »Legitimate civil power is especiallybased neither on the power of the father nor on victory but on the consent of thesubjects...«53

49 Siehe für ideengeschichtliche Hintergründe Hugo Grotius, Drei Bücher vom Recht desKrieges und des Friedens (1625), Tübingen 1950, Buch 2, Kap. 5, Abschn. 2–6; CharlesTaylor, Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge 1989, zuLocke: Teil 2, Kap. 9.

50 Zit. nach Schochet, aaO. (FN 4), S. 198.51 Tyrrell, Patriarcha non Monarcha, aaO. (FN 45), S. 32; Schochet, aaO. (FN 4), S. 199.52 Tyrrell: Patriarcha non Monarcha, aaO. (FN 45), S. 50–60.

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Zusammenfassung

Politischer Patriarchalismus, der politische Herrschaft aus der traditionalen Herr-schaft des Vaters in der Familie ableitet, war ein wichtiger Gegendiskurs zu freiheit-lichen Strömungen im englischen politischen Denken des 16. und 17. Jahrhunderts.Gezeigt wird seine Übertragung auf die Königin als Ehefrau und Mutter des Rei-ches zur Zeit Mary Tudors und Elizabeths I. Zur Zeit James I., der diesen Diskurs inseine Herrschaftslegitimation aus göttlichem Recht einbaut, wird politischer Patri-archalismus benutzt, um die absolutistische Verfügung des Königs über das Eigen-tum der Untertanen zu begründen. Schließlich wird der Diskurs, in Gestalt derTheorien seines Hauptvertreters, Sir Robert Filmer, in Relation gesetzt zum Hob-besschen Rationalismus und mit Kritiken seit den 1640er Jahren konfrontiert, pro-minent im späteren 17. Jahrhundert jene von John Locke und James Tyrrell, die einenaturrechtliche These über die natürliche Emanzipation der Kinder aus väterlicherAutorität entwickelten.

Summary

Political patriarchalism, which derives political rule from the traditional rule of thefather over his family, was an important counter-discourse against republican andearly-liberal movements in England in the sixteenth- and seventeenth centuries. Itwas transformed into the image of the queen as spouse and mother of the realm inthe times of Mary Tudor and Elizabeth. While James I used this rhetoric to bolsterhis divine right of monarchy-theory, it served also to legitimize a right of the king todispose of the property of his subjects. Its most important representative was SirRobert Filmer, whose theories are confronted with the rationalism of Thomas Hob-bes and critiques since the 1640s, the most prominent being those of John Lockeand James Tyrrell from about 1680, who developed a natural-rights-thesis about anatural emancipation of children from the authority of their fathers.

53 Carmichael, »Philosophical Theses« 1699, in: ders. , Natural Rights on the Threshold ofthe Scottish Enlightenment. The Writings of Gershom Carmichael, James Moore /Michael Silverthorne (Hg.), Indianapolis 2002, These 5, S. 351.

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B U C H B E S P R E C H U N G E N

Schmitt, Carl: Frieden oder Pazifismus?Arbeiten zum Völkerrecht und zur interna-tionalen Politik 1924-1978. (Kurt Peter Merk) ..................................... 209

Blindow, Felix: Carl Schmitts Reichsord-nung. Strategie für einen europäischenGroßraum (Hans-Christof Kraus).............................. 211

Schall, James V.: Roman Catholic PoliticalPhilosophy (Till Kinzel) ............................................... 212

Riklin, Alois (Hg.): Wahrhaftigkeit in Po-litik, Recht, Wirtschaft und Medien (Patrick Schwan) ....................................... 213

Roth, Klaus: Genealogie des Staates. Prä-missen des neuzeitlichen Politikdenkens (Till Kinzel) ............................................... 215

Dahrendorf, Ralf: Auf der Suche nach ei-ner neuen Ordnung. Vorlesungen zur Politikder Freiheit im 21. Jahrhundert (Arnd Küppers).......................................... 216

Sartre, Jean-Paul: Entwürfe für eine Mo-ralphilosophie (Peter Kampits) ......................................... 218

Paprotny, Thorsen: Das Wagnis der Phi-losophie. Denkwege und Diskurse bei KarlJaspers (Rainer Miehe) .......................................... 220

Mehring, Reinhard: Das »Problem derHumanität«. Thomas Manns politische Phi-losophie (Thomas Goll) ........................................... 222

Merk, Kurt-Peter: Die Dritte Generation.Generationenvertrag und Demokratie –Mythos und Begriff (Manfred Schwarzmeier) ......................... 223

Simon-Holtorf, Anne Marlene: Geschich-te des Familienwahlrechts in Frankreich(1871 bis 1945) (Konrad Löw)............................................ 225

Schefczyk, Michael: Umverteilung als Le-gitimationsproblem (Elmar Nass).............................................. 225

Kohout, Franz: Vom Wert der Partizipati-on. Eine Analyse partizipativ angelegterEntscheidungsfindung in der Umweltpolitik(Politik und Partizipation Bd. 1) (Otmar Jung)............................................. 227

Wimmer, Hannes: Die Modernisierungpolitischer Systeme. Staat – Partei – Öffent-lichkeit (Paul Georg Geiß) .................................... 229

Schiller, Dietmar: Brennpunkt Plenum.Die Präsentation von Parlamenten im Fern-sehen. Britisches Hause of Commons undDeutscher Bundestag im Vergleich (Stefan Köppl)............................................ 231

Goldschmidt, Nils / Wohlgemuth, Mi-chael (Hg.): Die Zukunft der SozialenMarktwirtschaft. Sozialethische und ord-nungsökonomische Grundlagen (Arnd Küppers).......................................... 233

Habisch, André: Corporate Citizenship.Gesellschaftliches Engagement von Unter-nehmen in Deutschland (Elmar Nass).............................................. 234

Streek, Wolfgang / Höpner, Martin (Hg.):Alle Macht dem Markt? Fallstudien zur Ab-wicklung der Deutschland AG(Elmar Nass).............................................. 236

Höpner, Martin: Wer beherrscht die Un-ternehmen? Shareholder value, Manager-herrschaft und Mitbestimmung in Deutsch-land (Elmar Nass).............................................. 237

Risse, Sefan: Manager außer Kontrolle.Wie Gier und Größenwahn unsere Wirt-schaft ruinieren (Bernd M. Malunat) ................................. 238

Maull, Hanns / Harnisch, Sebastian /Grund, Constantin (Hg.): Deutschland imAbseits? Rot-grüne Außenpolitik 1998-2003 (Carlo Masala) ...........................................239

Birke, Adolf M.: Deutschland und Groß-britannien. Historische Beziehungen undVergleiche (Hans-Christof Kraus).............................. 242

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Kritik 209

Dülffer, Jost: Europa im Ost-West-Konf-likt 1945-1991 (Peter Hoeres) ............................................243

Köppl, Stefan: Italien: Transition ohneReform? Gescheiterte Anläufe zur Verfas-sungsreform 1983-1998 im Vergleich (Reimut Zohlnhöfer) .................................245

Kagan, Robert: Macht und Ohnmacht.Amerika und Europa in der neuen Weltord-nung (Carlo Masala) ...........................................246

Barber, Benjamin: Imperium der Angst.Die USA und die Neuordnung der Welt (Daniel Hildebrand) .................................247

Braml, Josef: Amerika, Gott und die Welt– George W. Bushs Außenpolitik auf christ-lich-rechter Basis (Anil K. Jain) ..............................................248

Junker, Detlef: Power and Mission. WasAmerika antreibt (Carlos Masala)..........................................249

Müller, Harald: Amerika schlägt zurück.Die Weltordnung nach dem 11. September (Carlo Masala) ...........................................251

Rupp, Rainer / Brenties, Burchard / Gün-ther, Siegwart-Horst: Vor dem drittenGolfkrieg. Geschichte der Region und ihrerKonflikte. Ursachen und Folgen der Ausein-andersetzung am Golf (Alexander Siedschlag) ..............................252

Münkler, Herfried: Die neuen Kriege (Alexander Siedschlag) ..............................253

Hauswedell, Corinna / Weller, Christoph/ Ratsch, Ulrich / Mutz, Reinhard / Schoch,Bruno (Hg.): Friedensgutachten 2003 (Alexander Siedschlag) ..............................255

Wallerstein, Immanuel: Utopistik. Histo-rische Alternativen des 21. Jahrhunderts (Bernd M. Malunat) ..................................256

Loh, Werner / Wippermann, Wolfgang(Hg.): »Faschismus« – kontrovers(Eckhard Jesse)...........................................257

Carl SCHMITT: Frieden oder Pazifismus?Arbeiten zum Völkerrecht und zur interna-tionalen Politik 1924-1978. Hg., Vorwort u.Anmerkungen v. Günter Maschke. Dun-cker & Humblot Verlag, Berlin 2005. 1010Seiten, gebunden, 98 EUR

Carl Schmitt ist und bleibt umstritten, auchzwanzig Jahre nach seinem Tod - wegen sei-ner bekannten Rolle als »Kronjurist« desRegimes und seiner Nähe zur Ideologie desIII. Reichs. Hieraus ergibt sich eine kritischePerspektive auf sein Werk, die immer einePrüfung auf Nationalsozialismen oder Anti-semitismen fordert, die Auseinanderset-zung mit seinen Ideen deshalb aber nichtprinzipiell verhindert. Carl Schmitt hattemit Ernst-Wolfgang Böckenförde, PeterSchneider, Ernst Forsthoff und WolfgangIsensee, um nur die wichtigsten zu nennen,auch Schüler, die zu hervorragenden, dieherrschende juristische Meinung mitprägen-den Staatsrechtslehrern der BundesrepublikDeutschland wurden. Die hier von GünterMaschke ausgewählte Sammlung von TextenZum Völkerrecht und zur internationalenPolitik, die einen tiefen Einblick in das juris-tische und politische Denken Carl Schmittsgibt, darf deshalb nicht unbeachtet bleiben.

Carl Schmitt zeigt sich hier nicht als Völ-kerrechtslehrer im Sinne eines distanziertenRechtswissenschaftlers, er nimmt vielmehrdie Position des Advokaten ein, er vertrittInteressen in einem Konflikt und wendetsich aggressiv gegen den »Gegner«.

Die historische Situation, die sein Enga-gement herausgefordert hat, war das vomVersailler Vertrag geschaffene politischeSystem, ergänzt um den Völkerbund. DenVersailler Vertrag erkannte Carl Schmittnicht als (völkerrechtlichen) Vertrag an, son-dern er bezeichnet ihn in seinen Textendurchgängig als (politisches) Diktat. DerVölkerbund war für ihn »immer nur jenesGenfer Gebilde« (Seite 333), das nach seinerAuffassung ausschließlich dem Zweck dien-te, »das Versailler System mit der Würde ei-ner echten Rechtsinstitution zu umkleiden«(Seite 400), ihm einen »Schein von Recht zuverleihen« (Seite 378) und »nur den statusquo, der durch den Versailler Vertrag ge-schaffen worden ist, legitimiert« (Seite 344).

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Buchbesprechungen210

Gegen diese Situation richtete er – ausge-stattet mit einer venia legendi für Völker-recht, Allgemeines Verwaltungsrecht undStaatstheorie – seine juristischen Waffen.Sein Mandant war dabei das Deutsche Volk,für das er Gerechtigkeit und Gleichberechti-gung einfordert. Die Argumentation wirdgetragen von seinen spezifischen Begriffen,insbesondere des Feindes und des Ausnah-mezustands. Die zentralen Texte für dasVerständnis des Argumentationszusammen-hangs sind Der Begriff des Politischen (Seite194 ff) und der Strukturwandel des Interna-tionalen Rechts aus dem Jahre 1943, in demder Nomos der Erde bereits thematisiertwird (Seite 652 ff).

Damit ist nicht das ganze Werk CarlSchmitts beschrieben, aber jedenfalls imKern der Teil, den Günter Maschke heraus-gegeben hat unter dem auf den ersten Blicküberraschenden Titel Frieden oder Pazifis-mus? Überraschend deshalb, weil hier nachdem heutigen Verständnis von Pazifismus,»Birnen mit Äpfeln« verglichen werden, wiebei dem altbekannten WahlkampfsloganFreiheit oder Sozialismus.

Der Begriff des Pazifismus ist bei CarlSchmitt aber ein anderer, wie sich aus einem– auch abgedruckten – Text aus dem Jahre1933 gleichen Titels ergibt. Danach hatte derVölkerbund nur formal die Aufgabe, denFrieden in Europa und der ganzen Welt zusichern. »Statt dessen hat er ein juristischesSystem unwirklicher Begriffe und eine gan-ze Welt künstlicher Fiktionen geschaffen,die der Wahrheit des politischen Lebensfortwährend ins Gesicht schlagen« (Seite378). (Für Politologen ist dies, angesichtsder realen Machtverhältnisse nach dem I.Weltkrieg, nicht verwunderlich, sondernnur ein weiteres Beispiel für die Richtigkeitdes allgemeinen Satzes: iustitia fundamen-tum regnorum.)

Der Pazifismus des Völkerbundes ist fürCarl Schmitt »das giftige Surrogat des Frie-dens«, das »im Dienst imperialistischerMachtpolitik« steht (Seite 380), indem es re-ale Kriegshandlungen nicht als solche aner-kennt, sondern diese – in einem durchausOrwell’schen Sinne – umgedeutet werden in»eine friedliche Besetzung« (Seite 363), auchwenn diese »von Bombardements, ja sogarvon Schlachten größeren und kleineren Um-

fangs begleitet war« (Seite 363). Daraus er-hält der Titelgegensatz der Edition vonGünter Maschke seinen qualifizierten Sinn.

Hier wird auch das Anliegen erkennbar,das den Herausgeber bei der Auswahl derTexte Carl Schmitts geleitet hat. Hinter demangegriffenen Völkerbund sieht CarlSchmitt die USA als imperialistisch agieren-de Macht. Er zeichnet ein Bild der amerika-nischen Außenpolitik, beginnend mit derMonroedoktrin, der sich, mit der historischwachsenden Macht der Vereinigten Staaten,alle anderen Staaten stillschweigend unter-worfen haben. Den USA schreibt er bis inseine Zeit die Macht zu, international diewesentlichen Begriffsinhalte zu bestimmen(Caesar dominus et supra grammaticam)(Seite 365).

Auf diese Analyse der imperialen Domi-nanz der USA bezieht sich nun der Heraus-geber in seinem Vorwort, in dem er die zeit-genössischen Kriege der USA thematisiert.Es wird so eine Kontinuität der Grundten-denz amerikanischer Politik seit Beginn des20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart ange-deutet, die weiterer politik- und geschichts-wissenschaftlicher Untersuchungen wert er-scheint.

Aus dieser Perspektive erscheint ergän-zend ein weiterer Aspekt wichtig. CarlSchmitt wendet sich gegen die Diskriminie-rung des Kriegsbegriffs »zur Straf- und Süh-neaktion, die Gegner als Kriminellen diskri-miniert« (Seite 664 und 228). Hier drängensich Assoziationen auf, wie die Rechtskons-truktion der »illegitimen Kämpfer«, dierechtliche Situation der Gefangenen im La-ger der Guantanamo Bay und der Begriffdes »Krieges gegen den Terror«.

Carl Schmitt bietet für diese Phänomeneder Außenpolitik der USA seit Ende desKalten Kriegs Erklärungsmuster, die seineheutige Aktualität begründen. Er durftenach Ende des II. Weltkriegs nicht mehr anprominenter Stelle agieren und er hat dieweiteren Entwicklungen der internationalenPolitik seit 1990 und insbesondere nach dem11.September 2001 nicht mehr erlebt, aberer hätte sich wohl in seiner Sicht der globa-len Rolle der USA bestätigt gesehen.

Günter Maschke, der quantitativ einen er-heblichen Teil des Buches zu verantwortenhat, ist es mit seinen umfangreichen und

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kenntnisreichen Anmerkungen und Anhän-gen in hervorragender Weise gelungen, dieeditierten Texte Carl Schmitts in ihren his-torischen Kontext zu stellen und ihre Aktu-alität anzudeuten.

München Kurt-Peter Merk

Felix BLINDOW: Carl Schmitts Reichsord-nung. Strategie für einen europäischenGroßraum. Berlin 1999. Akademie Verlag.209 S., gebunden, 49,80 EUR

Bedenkt man den Umfang, den die Literaturüber Carl Schmitt und sein Werk inzwi-schen angenommen hat, dann konnte es inder Tat verwundern, dass sein spezifischer,sehr komplexer Reichsbegriff bisher nochnicht eingehender untersucht worden ist.Andreas Koenen hatte zwar in seiner monu-mentalen Studie »Der Fall Carl Schmitt«(1995) einige Hinweise gegeben, doch seinVersuch, Schmitt in einen sehr engen Zu-sammenhang mit der katholischen »Reichs-theologie« der 1920er Jahre zu bringen, ver-mochte, wie einschlägige Rezensionengezeigt haben, nicht in jeder Hinsicht zuüberzeugen. Blindow hat in seiner Studie(einer von W. Schmidt-Biggemann betreutenBerliner philosophischen Dissertation) dieseLücke geschlossen. Sein Interesse gilt dabeinicht nur den politisch-theologischen As-pekten des Themas, sondern vor allem auchder Anwendung des Reichsbegriffs auf dasVölkerrecht, die Schmitt während des Zwei-ten Weltkriegs vorgenommen hat. Erfreuli-cherweise hat sich der Autor nicht nur aufgedruckte Texte, nicht nur auf die Publikati-onen Schmitts und seiner Zeitgenossen be-schränkt, sondern in breitem Umfang auchMaterialien aus dem bekanntlich sehr um-fangreichen Nachlass herangezogen.

Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Dererste, kürzeste Teil, referiert überwiegendBekanntes: Schmitts relativ kurze Wegstre-cke als NS-»Kronjurist« wird knapp nach-gezeichnet; seine bekannten Konzepte des»konkreten Ordnungsdenkens« und des»totalen Staates« werden erneut, aber gutzusammenfassend umrissen. Das eigentli-che Kernstück bildet dagegen der zweite,bei weitem umfangreichste Teil des Buches,

in dem das »Reich« als juristische Konzepti-on, als Versuch einer völkerrechtlichenNeudefinition politisch-militärisch-wirt-schaftlicher Großräume, untersucht wird.Die Schmittsche Reichskonzeption wirdhier aber nicht ausschließlich im Horizontdes Völkerrechts gesehen, also nicht nur»gewissermaßen als Transformation des ›to-talen Staates‹ ins Völkerrecht« (S. 108) ge-deutet, sondern ebenfalls als Ausdruck derWeiterentwicklung spezifischer Grundan-nahmen und Zentraltopoi eines politischenDenkens, das immer wieder dem Primat desrein Ökonomischen und Materiellen entge-gengetreten ist. Wenn im Zeichen des über-nationalen »Großraumes« der traditionelleNationalstaat schwindet, dann bewahrt dasReich, um es mit den Worten des Autors zusagen, »als dialektische Aufhebung des Staa-tes … einen etatistischen Glutkern« (S. 109),der eine Vorherrschaft des Ökonomischenüber das Politische verhindern kann.

Im dritten Teil untersucht der Autor, wie-derum auf dem Hintergrund genauerKenntnis der Voraussetzungen und derHauptmotive des Schmittschen Denkens,dessen »Politische Theologie des Reiches«.Auch in diesem Zusammenhang steht dieIdee des »Reichs«, so die These Blindows,»im Dienst des Kampfes gegen den Primatdes Ökonomischen und für einen neuenNomos der Erde« (S. 133); die Reichsidee istalso einbezogen in die Versuche, nach demvon Schmitt konstatierten modernen Endeder Staatlichkeit in ihrem klassischem Sinnezu einer neuen Ordnungskonzeption zu ge-langen. Freilich muten Schmitts Überlegun-gen, so faszinierend sie in mancher Hinsichtauch sein mögen (und man wird nicht sagenkönnen, dass es Blindow gelungen ist, sichdieser Faszination vollständig zu entziehen),im ganzen doch mehr anachronistisch an, alsdass sie Aktualität für sich beanspruchenkönnten. Aufschlussreich und interessantaber bleibt die Reichskonzeption als Ver-such, zu einem bestimmten Zeitpunkt derGeschichte das Völkerrecht neu zu begrün-den, d. h. hier: angesichts des konkretenÜbergangs vom Nationalstaat zum »Groß-raum« insgesamt zu einer neuen Ordnungs-konzeption zu gelangen, die weder »Über-staat« noch »Weltstaat« noch gar eine (wieauch immer im einzelnen zu definierende)

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ausschließlich ökonomisch zu bestimmendeGröße ist. Tatsächlich hat sich heute, wieder Autor durchaus treffend anmerkt, »dieLegitimitätskrise im Völkerrecht … keines-wegs entschärft« (S. 112).

Zu den unbestreitbaren Vorzügen derStudie Blindows zählt schließlich, dass er –im Gegensatz zu vielen anderen Autoren,die über das Denken des großen Plettenber-gers geschrieben haben –, keine textimma-nent angelegte »Schmittologie« betreibt,sondern die zeitgenössischen Kontexte undgeistigen Verbindungslinien zu thematischverwandten Konzeptionen ausführlich mitin den Blick nimmt. Unbedingt erhellendsind daher Blindows Ausführungen zuFriedrich Naumanns »Mitteleuropa«-Ideen,zu Giselher Wirsings »Zwischeneuropa«-und »Zentraleuropa«-Konzepten, schließ-lich auch zu Alexandre Kojèves Wiederbele-bung der Schmittschen Reichskonzeptionfür den Mittelmeerraum zu nennen, auf diehier nur summarisch verwiesen werdenkann. Insgesamt gesehen, hat der interdiszi-plinäre, zwischen Fragestellungen der Phi-losophie, Jurisprudenz, Geschichte, Wirt-schaft und Politik oszillierende Ansatz derStudie beachtliche Früchte getragen.

Stuttgart Hans-Christof Kraus

James V. SCHALL: Roman Catholic PoliticalPhilosophy. Lanham: Lexington 2004. 209S., Gebunden, $ 50.

Der Jesuit James Schall, der seit 1978 an derGeorgetown Universität Politikwissen-schaft (Government) unterrichtet, gehört zuden am meisten anregenden und auch hu-morvollsten Autoren des Faches, der sich inzahlreichen Büchern und Artikeln den Fra-gen der politischen Philosophie und ihremVerhältnis zur Religion gewidmet hat. Indem vorliegenden Band unternimmt er nunden Versuch, auf unpolemische Weise zu ei-nem angemessenen Verständnis dessen zugelangen, was politische Philosophie an sichselbst ist und wie ihr Verhältnis zur Offen-barung aussieht. Schall beschränkt sich da-bei weise auf die katholische Interpretationder Offenbarung. Es handelt sich bei demvorliegenden Buch nicht um eine Darstel-

lung z. B. der katholischen Soziallehre, son-dern es geht um philosophische Grundla-genreflexion, weshalb auch für Schall dieBerufung auf Denker wie Chesterton undJosef Pieper wichtig ist. Das zentrale Anlie-gen Schalls kommt darin zum Ausdruck,dass er entgegen der These des von ihm an-sonsten sehr geschätzten Leo Strauss dieAuffassung vertritt, es gebe in letzter In-stanz keinen Widerspruch zwischen demKatholizismus und der politischen Philoso-phie, die er als Spezialfälle von Offenbarungund Vernunft betrachtet. Die politische Phi-losophie, so Schalls These weiter, stelle dierichtigen Fragen, sei aber aus sich selbst her-aus nicht in der Lage, diese Fragen in befrie-digender Weise zu beantworten. Das Ver-ständnis der Philosophie als einerunbeendbaren Suche, die eben nicht an dasZiel eines umfassenden Wissens gelangt, im-pliziert somit die Möglichkeit einer Ant-wort aus einem anderen Bereich, eben derOffenbarung. Die politische Philosophie istalso auf radikale Weise defizient, zugleichaber impliziert Schalls These auch, dass derChrist vom Studium der Philosophie profi-tieren kann, ja sollte: eo magis Christianus,quo magis philosophus. Schall zufolge istder Christ der bessere Philosoph, womit erimplizit eine Antwort auf die von Heideggernachdrücklich auf die Tagesordnung gesetz-te Frage gibt, ob nicht eine „christliche Phi-losophie« ein »hölzernes Eisen« sei (vgl. z.B. Martin Heidegger, Einführung in die Me-taphysik, S. 6); eine Frage, die Schall mitPapst Johannes Paul II. entschieden vernei-nen muß (S. 165-166).

Schall schließt sich ontologisch an die vonEtienne Gilson formulierte realistische Ein-sicht an, dass es Dinge gebe und dass man sieerkenne. Ebenso müsse die politische Philo-sophie von bestimmten Axiomen ausgehen:Philosophie bedeute ein Offensein für allesdas, was ist. Eine Philosophie, die zum Fa-natismus führt, schließe sich dagegen von je-ner Offenheit aus. Eine Politik, die den Phi-losophen töte, wie im paradigmatischen Falldes Sokrates, ermangele jener Mäßigung undTugend, die der Politik die notwendigenGrenzen setzten. Schall verweist deshalb aufPlaton und vor allem die zentrale Passage imGorgias, in der der intelligente und glattePolitiker Kallikles, dessen Gott der Demos

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ist, aufhört, Sokrates’ Fragen zu beantwor-ten (S. 22; vgl. 505c). Diese Stelle verweiseauf die Tatsache, dass politische Philosophienicht nur die philosophische Betrachtungder politischen Dinge sei, sondern auch derVersuch, die Politiker davon zu überzeugen,dass der Philosoph im Gemeinwesen seinerAufgabe nachgehen kann. Die Aufgabe desPhilosophen wiederum bestehe darin, denPolitikern ein Bewußtsein dessen zu ver-schaffen, das über die Politik selbst hinaus-geht. Die politische Philosophie habe Schallzufolge daher ihren Existenzgrund darin zuerklären, dass es Dinge gibt, die den Men-schen übersteigen, dass die höchsten Dingees wert sind, sich ihnen zu widmen (S 21).Die politische Philosophie weist so auf Me-taphysik und Offenbarung, die von der Po-litik als Fragen aufgeworfen, aber nicht be-antwortet werden können. Schallübernimmt die Formulierung von CatherinePickstock, die von der »liturgical consum-mation of philosophy« spricht, indem er dieliturgischen Erfüllung der Philosophiedurch den Gottesdienst betont. Die Philoso-phie müsse sich mit der Offenbarung undihrem Vernunftcharakter auseinanderset-zen, wolle sie tatsächlich in vollem Umfangerational sein. Für Schall ergibt sich bei ob-jektiver Betrachtung, dass die Offenbarungsich der Vernunft weitaus bewusster sei alseinem Großteil der Philosophie die Offen-barung. Unklar bleibt jedoch bei seinerAnalyse der erkenntnistheoretische Statusder für die Offenbarung behaupteten Er-kenntnis, der schon bei dem von ihm zitier-ten Voegelin problematisch ist; denn es ge-nügt nicht, emphatisch die Offenheit für»das, was ist« zu behaupten, wenn geradestrittig ist, ob den Behauptungen, es gebeOffenbarung, auch eine solche Wirklichkeitentspricht. Das bloße Faktum des Martyri-ums in der Geschichte beweist nicht schondas Faktum der Offenbarung, sondern zeigtzunächst nur, dass es Menschen gegeben hat,die für das von ihnen für Offenbarung ge-haltene das Opfer ihres Lebens auf sich ge-nommen haben.

Schall bezieht sich in seinen Reflexionenin grundsätzlicher Verbundenheit auf dieEnzyklika Fides et ratio von 1999, die zwarselbst keine politische Philosophie biete,aber das Verhältnis von Theologie und Phi-

losophie zur Welt abzustecken bemüht seiund dabei auch die Autonomie oder Eigen-recht der Philosophie begründe. Politisch istdiese Bezugnahme auf Fides et ratio inso-fern, als Schall die Kritik des Papstes an einerDemokratie übernimmt, die nicht mehr anunwandelbaren Werten orientiert sei, son-dern sich rein pragmatisch versteht, alsoauch über an sich unverfügbare Güter Mehr-heitsabstimmungen für richtig hält, etwa imFall der Abtreibung (S. 168). Im gleichenZusammenhang mit bedenklichen modernenDenkvoraussetzungen steht Schall zufolgedie Meinung, man könne Toleranz regelrechtals erstes Prinzip der politischen Philosophiebetrachten, statt, wie es richtig wäre, in ihrlediglich ein praktisches Prinzip für das Aus-tragen von Konflikten zu sehen (S. 164).

Schall versucht wenigstens in groben Zü-gen - es finden sich hier keine ausführlichenTextauslegungen - dafür zu plädieren, Tho-mas von Aquin im Rahmen der politischenPhilosophie in grundlegender Weise zu dis-kutieren. Thomas’ Denken führe in beson-derer Weise über die Philosophie hinaus,seine Behandlung der politischen Dinge, desGesetzes und der Regierungsform sei dererste Schritt auf dem Weg zur Sicherung derFreiheit, mit den göttlichen Dingen kon-frontiert zu werden, weshalb sich bei Tho-mas der die Reichweite der politischen Phi-losophie einschränkende Satz finde, dass dashöchste Glück des Menschen nicht in derweltlichen Macht liege. Eine römisch-ka-tholische Politikphilosophie im SchallschenSinne lässt sich so als ein Denken verstehen,welches gegenüber den weltlichen Ansprü-chen an den Menschen die aus der Sicht derOffenbarung im Letzten einzig entscheiden-de Tiefendimension – die Beziehung desMenschen zu Gott und das Seelenheil desEinzelnen – eindringlich in Erinnerung ruft.

Berlin Till Kinzel

Alois RIKLIN (Hg.): Wahrhaftigkeit in Poli-tik, Recht, Wirtschaft und Medien. Reihe:Kleine politische Schriften. Bern 2004.Stämpfli Verlag. 203 S., gebunden, 24 EUR.

Dieses Buch aus der verdienstvollen Reihekleiner politischer Schriften des Stämpfli

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Verlages widmet sich, wie Albert Schweitzersagen würde, dem »Fundament des geistigenLebens«, nämlich der Wahrhaftigkeit. Invier Essays wird dieser Begriff mit all’ sei-nen Interpretationen aus jeweils verschiede-nen Positionen beleuchtet; dabei werdenschnell die vielen Facetten der Wahrhaftig-keit deutlich. Vier zentrale gesellschaftlicheSubsysteme bzw. Berufsfelder geben denRahmen vor, innerhalb dessen die Wahrhaf-tigkeit und die an sie angrenzenden (Un-)Tugenden erörtert werden: In Politik,Recht, Wirtschaft und Medien spielenWahrhaftigkeit, Wahrheit und auch Lüge ei-ne, wenn auch manchmal unscheinbare, je-doch stets unabdingbare Rolle.

Die Betrachtungen und Analysen sind insich abgeschlossen, was dem Buch eine klareStruktur verleiht und den angenehmen Ne-beneffekt hat, dass man bei der Lektürenicht an die vorgegebene Reihenfolge ge-bunden ist. Jeder der vier Autoren widmetsich der Wahrhaftigkeit auf einem dieserThemengebiete. Es zeigt sich bald, dass dieBereiche Politik, Recht, Wirtschaft und Me-dien keineswegs zufällig ausgewählt wur-den; vielmehr sind ihre vielen Querverbin-dungen zueinander Ausdruck derKomplexität des Wahrhaftigkeitsbegriffs –und somit des Unterfangens insgesamt. Da-bei verstehen es die Autoren, Klarheit in dasDickicht der Verflechtungen zu bringen, indem sie sich auf die Kernproblematik vonWahrhaftigkeit konzentrieren und diese an-schaulich darstellen. So gelingt es ihnen, dieVernetzungen zu lichten und die Komplexi-tät der Thematik aber auch die Besonderhei-ten in den verschiedenen Kontexten kurzund prägnant auf den Punkt zu bringen.

Wie sieht es in der Realität mit der Um-setzung der Wahrhaftigkeit aus? Was istüberhaupt Wahrhaftigkeit? Und was ihreKehrseite(n)? Diese Fragen werfen alle vierAutoren auf; und sie kommen alle zu ver-schiedenen, aber interessanten Antworten.Überdacht werden die Ausführungen vondem einleitenden Essay von Alois Riklinüber Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit in derPolitik, das mit Ausflügen in moralphiloso-phische Positionen die Zeitlosigkeit undAllgegenwärtigkeit des Dreiklangs vonWahrheit, Lüge und Wahrhaftigkeit auf-zeigt. Bevor Riklin eine Typologie zu prak-

tischen Fällen legitimer und illegitimerUnwahrhaftigkeit entwirft, klärt er die Fra-ge nach der Erlaubtheit der Lüge aus philo-sophischer Sicht: Während es beispielsweisefür Augustinus und Immanuel Kant niemalseine Rechtfertigung zum Lügen gibt, erken-nen Platon und Machiavelli in bestimmtenSituationen ein Recht bzw. sogar die Pflichtzur Unwahrheit. Vertreter einer Zwischen-position haben die Auffassung, dass das Lü-gen unter konkreten Umständen gestattetwerden kann, z.B. wenn die inneren Beweg-gründe wie auch die Folgen moralisch nichtverwerflich sind und kein Schaden angerich-tet wird. Illustre Beispiele von politischenLügen veranschaulichen die darauf aufbau-ende Typologisierung in legitime und illegi-time Unwahrhaftigkeiten. Weitergeführtwird die Problematik über die Wahrhaftig-keit aus (rechts)philosophischer Sicht imBeitrag von Jörg Paul Müller, der schließlichderen Bedeutung in die staatsrechtliche Di-mension hineinträgt. Müller stellt die Argu-mentation Immanuel Kants dar, nach derWahrhaftigkeit das Konstitutivum einerRechtsordnung und somit letztlich auch ei-ner republikanischen (Kant) respektive imheutigen Sinne: demokratischen Staatsord-nung sei. Demokratie schließlich, wie auchimmer sie begründet wird, ist auf Vertrauenangewiesen: »Man kann vom contrat social(Rousseau), vom Vertragsprinzip (Kant)oder vom Grundkonsens der Diskurstheo-rie ausgehen, als Ergebnis bleibt: Nur imVertrauen auf eine gewisse reziproke Inte-grität sind demokratische Formen funkti-onsfähig, während herrschaftliche,obrigkeitsstaatliche Ordnungen stärker aufdie Vorstellung eines potentiell allgegenwär-tigen Zwangs gründen, der letztlich die Bür-ger zum Gehorsam motiviert.« Aber auch inden Aufsätzen von Peter Ulrich (Wirtschaft)und Peter Studer (Medien) wird die Fragenach Wahrhaftigkeit in den Zusammenhangvon Recht und Moral gestellt. Allerdings er-hält Wahrhaftigkeit im Essay von Ulrichnochmals eine spezielle Note, als er norma-tive Werte eines bestimmten Unternehmere-thos anspricht: »Wie lassen sich Ethik undwirtschaftliche Erfolgslogik zusammenden-ken«, lautet hierbei eine zentrale Frage, diedas Dilemma der Normen-, Wert- und Inte-ressenkonflikte aufwirft. Als Antwort skiz-

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ziert Ulrich eine moderne, wahrhaftigeUnternehmensethik, die das »reale Span-nungsfeld von Markt und Moral« zu entzer-ren sucht. Wo hört die Wahrheit auf und wofängt die Lüge an – dieses nur schwer auf-lösbare Spannungsgeflecht umkreist der Es-say über Wahrhaftigkeit in den Medien undwird anschaulich anhand von Beispielen unddem Schweizer Presserecht ausgeführt.

Das Buch erweist sich als eine kurzweili-ge, abwechslungsreiche und spannende Lek-türe. Besonderes Lob haben sich dieAutoren dafür verdient, dass sie es verstan-den haben, den Kern der Problematik frei-zulegen, ohne sich in mühsame Details zuverlieren. Wahrhaftigkeit – ein originär ethi-sches, philosophisches Thema, das jedochdank des flüssigen Schreibstils, der kompri-mierten Form und nicht zuletzt des nahenBezugs aufgrund persönlicher Erfah-rung(swerte) eine weite Leserschaft findensollte.

München Patrick Schwan

Klaus ROTH: Genealogie des Staates. Prä-missen des neuzeitlichen Politikdenkens Ber-lin 2003. Duncker & Humblot. 940 S., ge-bunden, 126,- EUR.

Die äußerst schwergewichtige Habilitati-onsschrift Klaus Roths behandelt ein ebensogewichtiges Thema – die Entstehung derIdee des Staates. Die Begriffsgeschichte al-lein vermag indes dem Thema nicht bei-zukommen, wie wir den umfangreichenmethodologischen Erörterungen dazu ent-nehmen. Daher muss, so der Autor, die Be-griffsgeschichte zur Ideen- und Theo-rie(n)geschichte erweitert werden. DasAuftauchen und der Bedeutungswandel desStaatsbegriffs müssen im Einzelnen verfolgtwerden. Roth geht dabei richtig vor, wenner sich dagegen verwahrt, in der üblichenpolitologischen Manier präsentistisch an dieSache heranzugehen, d. h. die Geschichteder politischen Ideen nach »Lebendigemund Totem« zu durchforsten und für belie-bige (wenn auch sicher oft honorige) aktuel-le Zwecke zu instrumentalisieren. Die An-eignung der Tradition soll ihm stattdessendazu dienen, unser eigenes Weltbild auf die

Probe zu stellen. Methodisch grenzt Rothsein Vorhaben in Auseinandersetzung mitverschiedenen anderen Ansätzen ein, wobeier jedoch streng genommen nicht, wie derTitel verspricht, die Genealogie des Staates,sondern eben des Staatsbegriffs verfolgt.

Roth präsentiert in seiner gelehrten Studieeine überbordende Fülle an Material, auf dieim vorliegenden Rahmen lediglich allzukursorisch hingewiesen, die aber nicht dis-kutiert werden kann. Er setzt bei seiner Ge-nealogie früh an und referiert sehr ausführ-lich (man ist geneigt zu sagen: zuausführlich) die Entwicklung der antikenPolis zur Demokratie, weil sich das politi-sche Ordnungsdenken des späten Mittelal-ters, in dem die Grundlagen für den moder-nen Staatsbegriff zu suchen sind, aus denbeiden Quellen: griechisch-römische Antikeund jüdisch-christliche Tradition gespeisthätten. Wichtiger als die Entdeckung desPolitischen bei den Griechen sei indes dierömische Staatstradition mit dem römischenRecht, mittels dessen die folgenschwereTrennung von Politik und Religion ermög-licht worden sei. Auch das System derchecks and balances im modernen Staat ver-danke den Römern viel. In einem weiterenSchritt wird das politische Denken im AltenTestament und im Urchristentum bis hinzur christlichen Reichsidee des Mittelaltersnachgezeichnet, und im Anschluss daran,nach gut der Hälfte des Textes, der »Drangzum Staat«, der sich im Kampf um dasReich und die Krise des christlichen Reichesim Hoch- und Spätmittelalter manifestierte.Die Krise, die mit den unerfüllten Hoffnun-gen auf Frieden und Gerechtigkeit durchdas Reich einherging, ließ die Menschenschließlich auf alternative Ordnungsformenhoffen, die sodann in der Formierung deseuropäischen Staatensystems Gestalt annah-men.

Eine Auseinandersetzung über den Be-griff, aber auch die Sache des Staates tutheute dringend Not, findet sich doch häufigdie Behauptung, in der globalisierten undvon transnationalen Organisationen gepräg-ten Welt habe sich geschichtlich der traditio-nelle Staat und damit auch die Idee oder ju-ristische Konstruktion der Staatlichkeitsowie der mit ihr eng verbundenen Souverä-nität überholt, was vor allem gegen den Na-

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tionalstaat als politisches Ordnungssystemins Feld geführt wird. Auch Roth, der sichin diesem Punkt wie insgesamt eher eigenerwertender Einschätzungen enthält, scheintdas Ende des Staates als Gegebenheit anzu-sehen, begründet er doch seine Arbeit über-haupt mit der Hegelschen Eule der Minerva,die sich (erst jetzt?) in der späten Dämme-rung des Staates nun einen Begriff von die-sem machen könne. Im Kontext der Diskus-sion um eine so genannte EuropäischeVerfassung scheint Roths eigene negativeEinschätzung des Staates knapp auf, wenner das Erbe der Staatlichkeit als Hindernisfür die europäische Einigung apostrophiertund letztlich dafür zu plädieren scheint,»diese Hindernisse aus dem Weg zu räu-men« (S. 818). Die apodiktische Erklärung,der Staatsbegriff könne nicht mehr den Fo-kus der künftigen Orientierung darstellen,erscheint indes fragwürdig, zumal Roth eineluftige, d. h. gerade politisch wenig realisti-sche Perspektive andeutet, wenn er meint,die Erkundung neuer Ordnungsformen, diean die Stelle des alten Staatensystems tretensollten, müsse »im Kontext der demokrati-schen Selbstverständigung und der öffent-lich-diskursiven Willensbildung erfolgen«(S. 819). Die im Zusammenhang mit derEmanzipation vom Staat, dessen Errungen-schaften jedoch irgendwie aufrechterhaltenbleiben sollen, erzielten Freiheitsgewinne,von denen Roth sehr unkonkret spricht, sol-len angeblich die zunehmende Unsicherheitfür die Bürger ausgleichen, die eben auchdas Resultat der wie stets ambivalentenEmanzipation sei.

Auch wenn sich nicht bezweifeln lässt,dass der Staat heute in neuen Konstellatio-nen einen Formwandel durchzumachenscheint, wird man gleichwohl die Zukunfts-aussichten des Staates als nationaler politi-scher Ordnungsform nicht so pessimistischeinschätzen dürfen, wie es vielfach und ebenauch implizit bei Roth geschieht. Denn esbleibt die Einsicht, dass nur der National-staat (im Unterschied etwa zu einem Reich)essentielle Funktionen der Staatlichkeit aufeine Weise erfüllen kann, die zugleich demo-kratisch legitimiert sein kann, und in Bezugauf die internationale Politik ist auf abseh-bare Zeit erst recht nicht davon auszugehen,dass eine irgend plausible Alternative zum

Staat am Horizont erscheint (so etwa John J.Mearsheimer, The Tragedy of Great PowerPolitics, New York 2001, S. 365).

Abschließend darf konzediert werden,dass Roths Studie ein beeindruckendesKompendium des politischen Denkens Eu-ropas, soweit es sich auf den Staat bezieht,liefert, indes nicht immer der Gefahr ent-geht, angesichts der angehäuften Unmengean Fakten die leitende theoretische Frage-stellung aus dem Blick zu verlieren, derenErtrag daher, hat man sich vielfach belehrtdurch das Buch hindurchgelesen, eher be-scheiden ausfällt.

Berlin Till Kinzel

Ralf DAHRENDORF: Auf der Suche nach ei-ner neuen Ordnung. Vorlesungen zur Politikder Freiheit im 21. Jahrhundert. München2003. C.H. Beck. 157 S., gebunden, 14,90EUR.

Die Welt der Globalisierung ist »eine haltlo-se Welt«, sie ist eine »entfesselte Welt«. Dieerste Aussage stammt nicht etwa aus einemHirtenwort der deutschen Bischöfe, genau-so wenig wie die zweite das Zitat eines Ge-werkschaftsführers ist. Das geistige Eigen-tum an dieser Kennzeichnung unserermomentanen Situation kommt Ralf Dahren-dorf zu, einem der unbestrittenen Vorden-ker des zeitgenössischen Liberalismus, undist dem Vorwort des hier zu besprechendenBandes entnommen. Die sechs Vorlesungen,die dieser zusammenfasst, hat DahrendorfEnde 2001 und Anfang 2002 im Rahmen derKrupp-Vorlesungen zu Politik und Ge-schichte am Kulturwissenschaftlichen Insti-tut in Essen gehalten. Die Attentate vom 11.September waren erst einige Wochen zuvorverübt worden. Diese Anschläge und dieTatsache, dass zeitgleich eine lang anhalten-de Phase wirtschaftlichen Aufschwungs zuEnde ging, hat den Blick der Menschen aufihre Welt verändert. »Nach einer Periodefast überschwänglichen Optimismus griffvielerorts Angst um sich.«

Zeiten der Angst haben sich in der Ge-schichte bisweilen als gefährliche Zeiten fürdie Freiheit erwiesen, und die aktuellen Ge-fährdungen der Freiheit sind es, die Dahren-

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dorf um- und antreiben. Aber, so betont erimmer wieder, es bestehe kein Anlass zuphlegmatischer Schicksalsergebenheit, denn:»Nichts geschieht von selbst.« Insofernmacht er sich auf die »Suche nach einer neu-en Ordnung«, einer liberalen Ordnung un-ter veränderten Bedingungen, ohne den An-spruch zu erheben, alle oder auch nur einigeFragen der Zeit erschöpfend beantwortenzu können. Vielmehr sei seine kleine Schriftder Versuch, »ein paar Schneisen des Ver-ständnisses durch das Wirrnis der Welt amBeginn des 21. Jahrhunderts zu legen«.

Als zum Kernbestand einer liberalenOrdnung gehörende Elemente nennt Dah-rendorf: die Verfassung der Freiheit, dieHerrschaft des Rechts und die Bürgergesell-schaft. Die Verfassung der Freiheit erschöpftsich dabei für ihn nicht in einem möglichstgroßen, vor staatlichen Eingriffen geschütz-ten Raum der Privatheit, sondern impliziertdie Schaffung von Umständen, die denMenschen ein Maximum an Lebenschanceneröffnen. Zwar betont er, dass Ungleichheitein Element der Freiheit sei, aber dies recht-fertige nicht das Phänomen der Exklusion,des Ausschlusses einzelner in den entwi-ckelten Gesellschaften und global gesehenganzer Völker von realistischen Chancenauf ein Leben in Würde. Eine der Hauptge-fahren für die Verfassung der Freiheit siehter in der zunehmenden Auflösung der tradi-tionellen Arbeitswelt und der Verselbständi-gung des Kapitals.

Doch die Verfassung der Freiheit allein istfür Dahrendorf ein stumpfes Schwert in derVerteidigung der liberalen Ordnung. Dasbeste Rechtssystem nutze nichts, wenn eskein Vertrauen in seine Ordnungskraft gebe.Ein Blick in viele Länder Osteuropas zeige,dass man nicht einfach die Demokratie oderauch das System der Marktwirtschaft in Ge-sellschaften »exportieren« könne, die men-talitätsmäßig nicht reif für die mit den Um-wandlungsprozessen einhergehendenHerausforderungen sind. Das Tal der Trä-nen dauere länger als eine parlamentarischeWahlperiode und lasse die Menschen an denInstitutionen zweifeln, wenn es kein sie tra-gendes Ethos gebe. Dahrendorf spricht vonLigaturen, die er als tiefe Bindungen ver-steht. Diese »kann man auch als die subjek-tive Innenseite der Normen beschreiben, die

soziale Strukturen garantieren.« Die Ligatu-ren erst sind es nach seiner Überzeugung,die den durch die Verfassung der Freiheit in-stitutionell garantierten Lebenschancen einehabituelle Realisierungsperspektive eröff-nen. Den auf Dolf Sternberger zurückge-henden Begriff des Verfassungspatriotismussieht er als eine »allzu dünne, anämischeForm gemeinsamer Wertüberzeugungen«.

Als weitere wichtige Stütze der liberalenOrdnung nennt er die Bürgergesellschaft.Auch eine Bürgergesellschaft lasse sich nichteinfach schaffen, schon gar nicht durchstaatliche Maßnahmen. »Bürgergesellschaft,das ist das schöpferische Chaos von Assozi-ationen, zu denen wir aus freien Stücken ge-hören.« Die Beteiligung an diesen Assoziati-onen bestätige und stärke Ligaturen, unddadurch wiederum »entsteht ein Netz,durch das Menschen nicht fallen können,damit eine Infrastruktur der Freiheit«.

Besonderes Augenmerk richtet Dahren-dorf auf die Frage einer liberalen Weltord-nung. Nach dem Konflikt zwischen denUSA und Teilen Europas im Zusammen-hang mit dem Irak-Krieg mahnt er zu Rea-lismus und Besonnenheit: »Wenn man nichtutopischen Träumen der Harmonie durchherrschaftsfreien Diskurs anhängt, stellt dieSupermacht USA die entscheidenden Fra-gen der Weltordnung in der absehbaren Zu-kunft.« Europa dürfe sich angesichts dieserTatsache nicht von Amerika distanzierenoder versuchen, eine Art Gegenmacht auf-zubauen. Für Dahrendorf bleiben der Nati-onalstaat und die parlamentarische Demo-kratie klassischen Zuschnitts Rückgrat derVerfassung der Freiheit. Den europäischenStaaten empfiehlt er, sich auf die USA »alsrückhaltlos Verbündeter einzulassen« –nicht aus taktischen Erwägungen, sondernin Anerkennung der gemeinsamen Werte.Nur auf der Grundlage dieser Werte könnees gelingen, auf eine liberale Weltverfassungzuzugehen. Einstweilen müsse man sichwohl aber darauf beschränken, diesen Wegdurch das eigene Handeln nicht zu erschwe-ren oder gar zu versperren.

Ralf Dahrendorf, der in den späten sech-ziger und frühen siebziger Jahren kurz fürdie FDP im Bundestag saß und maßgeblichan deren damaliger programmatischer Neu-gestaltung beteiligt war, bekannte vor eini-

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ger Zeit gegenüber der Frankfurter Allge-meinen Zeitung, er stehe seiner ehemaligenPartei heute ferner als anderen. LiberalesDenken in seinem Sinne könne es aberdurchaus in verschiedenen Parteien geben.Schlecht wäre es wohl nicht, wenn so man-cher Politiker sich die Zeit nähme, das vonseinem Umfang her schmale, von seinemGehalt her aber breite und tiefe Bändcheneinmal zur Hand zu nehmen und sich mitdem dahrendorfschen Liberalismus ausein-anderzusetzen. Wem sich die Frage nach denBedingungen der Möglichkeit einer »Politikder Freiheit im 21. Jahrhundert« stellt, derwird in diesem Buch reichlich Anregungenzum Weiterdenken finden.

Freiburg Arnd Küppers

Jean-Paul SARTRE: Entwürfe für eine Mo-ralphilosophie. Übers. v. Hans Schönebergund Vincent von Wroblewsky. Hamburg2005. Rowohlt. 1056 S., gebunden, 29,90EUR.

Bereits 1936 – in seiner ersten größeren phi-losophischen Arbeit Die Transzendenz desEgo – hatte Jean-Paul Sartre angekündigt, ei-ne, wie er es nannte, »absolut positive Moralund Politik philosophisch zu begründen«(Reinbek 1982, 92), die ihre Basis in der Rea-lität, abseits aller Pseudowerte finden könn-te: Diese Absicht wurde in Das Sein und dasNichts erneut bekräftigt. Im letzten Kapiteldieses Buches hatte Sartre Fragen der Ethikals Thema des nächsten Werkes angekündigt,da – so Sartre – die Ontologie keine morali-schen Vorschriften erlassen könne. Ihr Ge-genstand sei ausschließlich das Sein, aus demsich bekanntlich kein Sollen ableiten lasse.

Fragmente zu diesem, nie zu seinem Leb-zeiten erschienenem Werk sind nun 22 Jahrenach der französischen Edition durch Arlet-te Elkaim-Sartre, die Sartres Aufzeichnun-gen aus den Jahren 1947 und 1948 unter demTitel „Cahiers pour une morale« vorlegte,von Vincent von Wroblewsky übersetzt undeingeleitet unter dem Titel Entwürfe für eineMoralphilosophie erschienen. Sie stellennach Meinung einiger Kommentatoren einwichtiges Bindeglied zwischen der phäno-menologischen Ontologie Sartres und der

marxistisch inspirierten Kritik der dialekti-schen Vernunft dar.

Die Frage nach der Moral hat bekanntlichSartre nie losgelassen. Sie zieht sich wie einroter Faden durch sein Gesamtwerk, wieschon allein zahllose Tagebuchnotizen undInterviews bezeugen, die zwischen den drei-ßiger Jahren des vergangenen Jahrhundertsbis zu Äußerungen kurz vor seinem Todreichen.

Freilich – Sartres Überlegungen bewegensich von Anfang an zwischen zwei Polen:der Unmöglichkeit aus seinem phänomeno-logisch-ontologischen Ansatz eine Moralabzuleiten oder zu begründen und der Un-vermeidlichkeit einer solchen; oder wie erselbst in seinem Buch über Genet Saint Ge-net, Komödiant und Märtyrer 1952 formu-lierte: »Das moralische Problem entstehtdaraus, dass die Moral für uns gleichzeitigunvermeidbar und unmöglich ist. Das Han-deln muß sich in diesem Klima unüber-schreitbarer Unmöglichkeit seine ethischenNormen geben.« (Reinbek 1982, S. 294)

Gegen Ende seines Lebens äußert sichSartre allerdings etwas anders: In dem –nicht unumstrittenen –, mit seinem letztenSekretär und Mitarbeiter Benny Levi 1980gestalteten Interview Hoffnung jetzt, ver-weist Sartre unumwunden auf die Dimensi-on der Verpflichtung, auf das Wir, auf dieAnerkennung der Freiheit des Anderen, jasogar auf Brüderlichkeit und Liebe.

Diese überraschende Wandlung eines Phi-losophen, der den Gedanken der Freiheitdes Individuums wie kein anderer im 20.Jahrhundert auf seine Fahnen geschriebenhatte, der die Beziehung zum Anderen, zumMitmenschen kompromisslos als den unlös-baren Konflikt zweier sich gegenüberste-hender Freiheiten dargestellt hatte, bahntsich – und dies zeigen die Entwürfe für eineMoralphilosophie – schon wesentlich früheran. Sowohl der Weg zu einer gegenseitigenAnerkennung der Freiheiten, wie auch derzu einer revolutionären Moral, in der Sartrebis zu gelegentlichen Apotheosen der Ge-walt gelangt, ist in diesen Entwürfen vorge-zeichnet, deren Weitläufigkeit und Stringenzgelegentlich an Wittgensteins Philosophi-sche Untersuchungen erinnern.

Der Übersetzer und Herausgeber Vincentvon Wroblewsky verweist zurecht auf den

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fragmentarischen Charakter dieser Auf-zeichnungen, deren Umfang und Fülle denso genannten Hauptwerken um nichts nach-steht. Es ist nahezu unmöglich, so etwas wieeinen durchgehenden Gedankenstrang her-auszulösen. Überlegungen zur Freiheit – an-knüpfend aber in Modifikation der Thesender Ontologie – reihen sich an (vor allem anHegel angelehnten) Überlegungen zur Ge-schichte, Probleme der Werte und Normenprallen mit denen zur Gottesfrage zusam-men, Kunst und Moral, Konversion, Ent-wurf und Schöpfung werden mit der Fragenach einer konkreten gegenüber einer abs-trakten Moral konfrontiert. Mit Rechtspricht Wroblewsky von Fragmenten, die»frühere Überlegungen aufgreifen, fortfüh-ren, ausführen, vertiefen, korrigieren, negie-ren und kommende vorwegnehmen oder zuihnen hinführen«. (9) Sartre hat seine An-sichten zur gleichzeitigen Absurdität undNotwendigkeit einer Moral immerhin vor-gestellt (vgl. 34ff). Ausgangsposition ist dieIn-Frage-Stellung der Sittlichkeit als einesmetaphysischen Seinsmodus, unabdingbarmit dem Gottesproblem verbunden, demSartre anlässlich seiner Überlegungen zurens causa sui breiten Raum widmet: »Gottist nichts anderes als der Mensch.« (914)

Überblickt man die weitere Entwicklungdes Denkens Sartres so scheinen mehrereThemenkomplexe besonders interessant:zunächst das Insistieren auf einer »konkre-ten Moral«, wobei sich Sartre ständig mitder in der Existentialismusschrift auftau-chenden Schwierigkeit einer Universalisier-barkeit der Moral, vor allem in Hinblick aufdas Problem des Reiches der Zwecke unddes damit verbundenen Ansatzes Kants aus-einandersetzt. Des weiteren die Frage desÜberganges von seiner Freiheitsauffassungzum Problem der Entfremdung und Unter-drückung, sowie die äußerst differenziertenAusführungen zur mauvaise foi und derFrage nach der Authentizität, einer Moral-kategorie, die von ihm selbst, vor allem abervon Simone de Beauvoir in ihrem Buch Füreine Moral der Doppelsinnigkeit entwickeltworden war und vielleicht am wesentlichs-ten: die Überlegungen zu Verpflichtung,Forderung, Appell, Ablehnung und Verwei-gerung.

Alle diese Reflexionen stehen unter einer– freilich nicht immer durchgehaltenen Be-stimmung von Moral, die Sartre in diesemZusammenhang gibt, und die sich eng anseine ontologische Bestimmung des Men-schen anschließt: »Sie ist die Gesamtheit derHandlungen, durch die der Mensch für sichund für anderswen (autrui) in und durch dieGeschichte über das Wesen des Menschenentscheidet. Sie verleiht der Tradition einenSinn, indem sie sie im Sinne der Zukunftwieder aufnimmt. Doch opfert sie nicht dieGegenwart (Glück) der Zukunft, die vonNatur aus hypothetisch ist, weil sie zuschaffen ist. Es gäbe keine Moral, wenn esdem Menschen in seinem Sein nicht um seinSein ginge, wenn die Existenz nicht der Es-senz vorausginge.« (73)

Freilich – Sartre schwankt in seinen wei-teren Überlegungen immer zwischen Frei-heit und einer Vorstellung von Geschichte,die er zumindest hier gegenüber den eher-nen dialektischen Gesetzmäßigkeiten vonHegel und Marx abzuheben versucht.

Ähnlich ambivalent bleibt das Verhältniszum Anderen und die Auseinandersetzungzwischen den Freiheiten. Wenn er auch weitdavon entfernt bleibt, die Anerkennung derFreiheit des Anderen ausdrücklich als Zielzu formulieren, wie dies in seinen spätenÄußerungen anklingt, so lassen sich doch ei-nige Ansätze erkennen, die die Anerken-nung der Freiheit des Anderen als eines derZiele der (notwendigen wie auch zugleichunmöglichen) Moral formulieren.

Dies wird besonders deutlich in den viel-leicht interessantesten Ausführungen überAppell, Bitte, Forderung, Drohung und denAntworten des Anderen, die zwischen Wei-gerung, Ablehnung und Zustimmungschwanken können. (vor allem 379 ff.)

Sartre analysiert zunächst äußerst diffe-renziert Bitte, Appell und Forderung undspannt dies im Umfeld der Auseinanderset-zung zwischen den Freiheiten ab. Schließ-lich erweist sich der Appell als entschei-dend: er ist Anerkennung der Zwecke derAnderen und zugleich »Anerkennung einerpersönlichen Freiheit in Situation durch einepersönliche Freiheit in Situation.« (481)Wichtig bleibt für Sartre, dass damit ein Ap-pell an ein gemeinsames Handeln erfolgt,das nicht ein zu voraussetzendes Reich der

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Zwecke impliziert, sondern umgekehrt: DieGemeinsamkeit stellt den Zweck erst her.Damit wird die Bedeutung der schöpferi-schen Freiheit, in der so etwas wie Zweck,Norm, Gut zu erreichen wäre vor jeder vor-aus liegenden Idee eines Zweckes, einerNorm oder eines Gutes unmissverständlichaffirmiert und der Freiheitsraum sowohlmeiner eigenen Entwürfe, wie auch der desAnderen bewahrt. Verquickt mit dem –zweifellos aus dem Bereich der Kunst ent-lehnten – Begriff des Werkes deutet Sartredamit eine Möglichkeit an, über das imHandeln angezielte Werk eine Gemeinsam-keit zu eröffnen, die zugleich auch eine Ab-sage an den Konflikt der Freiheiten bedeu-tet: Denn »wenn ich das Werk des anderen[...] als absolute Forderung erfasse, erfasseich ihn als Freiheit.« (870)

Sartres Begriff der littérature engagéesteht hier Pate: Schöpfung und Freiheit, Ap-pell an die Freiheit des Lesers – und der Ver-such, die Freiheit des Anderen aus einerPosition der Bewahrung der eigenen anzu-erkennen, werden sichtbar. Nicht von unge-fähr fühlt man sich an Emmanuel Lévinasund dessen Konzeption des Appells erin-nert, der eine Verantwortung impliziert, dieSartres Verantwortungsbegriff nicht errei-chen kann. Denn Sartre wird, und auch diesdeutet sich in den Entwürfen bereits an,nicht die Beziehung zum Anderen vor undauch jenseits der Gemeinschaft suchen, son-dern – wie sein weiterer Denkweg zeigt – ineiner Form des Wir, die sich nur im revoluti-onären Geschehen verwirklichen kann.

Die verstreuten und dennoch äußerstscharfsinnigen Analysen, die Sartre in denEntwürfen niedergelegt hatte sind beides:Kennzeichen eines Scheiterns, aus der exis-tentialistischen Position zu einer Begrün-dung von Moral zu gelangen und zugleichErweis, dass diese für Sartres Denken einenie verstummende Herausforderung dar-stellte. Die Moral des Wir, die Sartre nochkurz vor seinem Tod beschworen hat, bliebebenso eine uneingelöste Forderung, wie derVersuch, ein »Ideal der Beziehung zum An-deren als Du« herzustellen, wie dies Sartrein vielen Interviews angekündigt hatte. DerPhilosoph der Freiheit ist wie in vielen ande-ren seiner Versuche gescheitert. Aber geradedieses Scheitern macht eine Beschäftigung

mit Sartre auch heute noch sinnvoll, wo derExistentialismus längst ins Museum desGeistes des 20. Jahrhunderts eingetreten ist.

Immerhin – die Versuche dieses Denkers,Freiheit mit Moral zu vereinen, bleibenebenso des Nachdenkens wert wie die Ab-lehnung eines durch Gott abgesichertenWertekatalogs. Und die Edition der Ent-würfe für eine Moralphilosophie geht weitüber die schon zur Gewohnheit erstarrtePflichtübung hinaus, im Nachlass einesDenkers herumzustöbern.

Wien Peter Kampits

Thorsten PAPROTNY, Das Wagnis der Philo-sophie. Denkwege und Diskurse bei KarlJaspers. Freiburg/München 2003. VerlagKarl Alber. 204 S., kart., 18,- EUR.

Karl Jaspers’ Denken stand einerseits langeim Schatten von Martin Heidegger und warandererseits im Zusammenhang damit seitAdornos Schrift Jargon der Eigentlichkeit inweiten Kreisen der der kritischen Theorieverpflichteten Geistes- und Sozialwissen-schaftler kein Thema mehr. Zu wirksam warAdornos Verächtlichmachung von Jaspers.So langsam aber wandelt sich diese Einstel-lung, und Jaspers tritt wieder zurück in denRang, der ihm gebührt. Dazu trägt die aus-gezeichnete Studie von Thorsten Paprotnyganz wesentlich bei. In 5 Kapiteln stellt erdas große Werk von Jaspers vor, von derAllgemeinen Psychopathologie (1913) biszur Schrift Wohin treibt die Bundesrepub-lik? (1966), wobei Paprotny zunächst dieGrundzüge seiner Philosophie referiert, so-dann wichtige Einzelheiten herausgreift unddiese genauer beleuchtet. Am Schluss findetsich ein Ausblick auf die Aktualität des Jas-persschen Denkens.

Philosophieren bedeutet für Jaspers ganzin der Tradition der Alten das Staunen überdas Dasein des Menschen und der Welt so-wie das Streben nach Erkenntnis. Mit Er-kenntnis ist aber nicht nur die analytisch be-triebene Sachkunde von den Erscheinungenin der Welt gemeint, sondern auch der Be-zug auf den Sinnhorizont des Lebens. Hierist der Denkende immer auf dem Wege.Niemals vermag er eine letztgültige Ant-

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wort auf das Rätsel der Existenz zu finden.Philosophieren heißt, Fragen stellen und ausdem »Wissen des Nichtwissens« heraus eszu wagen, »dass das Gute sei« (37). Lebenist ein Wagnis, es erschöpft sich nicht in en-zyklopädischer Vielwisserei und kann auchnicht zum Abschluss im Sinne einer absolu-ten Wahrheit gebracht werden. Wie Kant,der den Anspruch der Vernunft, einen baby-lonischen Turm zu bauen, zurückweist undder Vernunft lediglich (aber wesentlich) dieFähigkeit zum Bau eines Wohnhauses zuge-steht, sieht auch Jaspers das Verlangen desMenschen nach Erfüllung seines Lebens,nach Halt und Gewißheit, als unabweisbaran. Paprotny fasst dies pointiert zusammen:»Eine Rundung, die alle bestehenden Fragenbeantwortet und neue Fragen verbietet,würde dem Streben zum Verhängnis. Deneinzigen Halt kann der Mensch auf dieseWeise im Unendlichen finden. Den Schwe-bezustand zwischen Wissen und Nichtwis-sen darf er nicht aufgeben. Er muss sich miteinem labilen Zustand, der sich auf das Un-bedingte richtet, aber dieses nicht als Be-grenztes und als Besitz zu erwerben trach-tet, einrichten. Der endgültige Besitz diesesAbsoluten wird ihm verweigert, da die ob-jektive Fassbarkeit des Absoluten nur einevermeintliche wäre und zu unerwünschtenBindungen und Mechanisierungen führte:Das Ganze ist nicht zu wissen.« (41) Einsolches Allwissen aber versprechen dieWeltanschauungssysteme, welche JaspersGehäuse nennt, deren bisher wirksamste Va-rianten, der Nationalsozialismus und derKommunismus, zur totalen Herrschaftführten und den Menschen nur noch als ver-fügbares Material ansahen (71). Ideologieund Terror, jene wichtigen Bestandsstücke,die Hannah Arendt in ihrer Studie Elementeund Ursprünge totaler Herrschaft (1951) aufbeide Varianten der totalen Herrschaft an-wandte, resultierten auch aus dem ständigenDialog mit Jaspers, der schon 1931 »auf dieParallelität der totalitären Ideologien vonBolschewismus und Faszismus« hingewie-sen hatte (73). Die hiergegen sich wendendeKritik, die die humane Grundidee des Kom-munismus hervorhob, beeindruckte Jaspersüberhaupt nicht. In Von der Wahrheit(1947) sagt er: »Die Wucht des marxisti-schen Denkens liegt nun offenbar gerade in

der Urfalschheit, Glauben als vermeintlicheWissenschaft zu vertreten. Vom Glaubenkommt der Fanatismus der Gewißheit, derName der Wissenschaft gibt die Verschleie-rung. Der eigene Glaube wird Wissenschaftgenannt. Er nennt sich selber niemals Glau-be, verhält sich aber wie jeder dogmatischeGlaube blind gegen alles, was gegen ihn ist,aggressiv, unfähig zur Kommunikation.«(75)

Nicht nur die Jasperssche Kritik am Tota-litarismus ist von Bedeutung, sondern auchdie in den sechziger Jahren vorgetrageneKritik an den oligarchischen Strukturen inden politischen Parteien, die noch heute vonBelang sein dürfte. Gewissermaßen auf denSpuren von Robert Michels eruiert Jaspersdas bundesrepublikanische Parteiengeflechtund stellt zu Recht die mangelhafte Beteili-gung der Bürger an den politischen Ent-scheidungen fest. Die Bundesrepublik treibtfür Jaspers in einen Parteienstaat mit totali-tären Tendenzen. Es fehlt an sittlich hochstehenden Politikern, die durch ihre Ideenführen und nicht nur auf Machterhalt aussind.

Paprotny stellt präzise die Einwendungengegen Jaspers’ Kritik dar (Kurt Sontheimer,Karl J. Newman), die durchaus berechtigtdie nicht zu leugnenden Fortschritte derparlamentarischen Republik betonen. Hin-zufügen kann man hier, dass Jaspers seine li-beral-großbürgerliche Gesinnung keines-wegs von den wahrscheinlich in diesemPunkt realistischeren Vorschlägen Arendts,(die den Parteienstaat gleichfalls angriff,aber den politischen Moralismus stark an-zweifelte) abhängig machte. Arendt zufolgeist das Politische eben nicht vom Sittlichenher zu verstehen. Jaspers akzeptiert im Ge-gensatz dazu viel eher die Kantische Vorstel-lung vom »moralischen Politiker«.

Kant war für Jaspers ein politischer Den-ker ersten Ranges (170), dessen Schriftensich stets gegen Schwärmerei und Fanatis-mus richteten, ein Gedanke, den Paprotnyam Schluss seiner sowohl fachlich sowiesprachlich überzeugenden Arbeit noch ein-mal aufgreift. Die Aktualität von Jaspers er-gibt sich zu einem Großteil aus seiner Kant-Rezeption, in der er das Wagnis der Freiheitbeschwört, die »glänzenden Effekte« (199)der Postmoderne bzw. die weitgehende Sub-

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stanzlosigkeit in der Politik uns vor Augenstellt und uns immer wieder mahnt, die nichtbeweisbare Würde des Menschen zu achten.

Jaspers war davon überzeugt, dass dasPhilosophieren jeden Menschen bessern undbereichern kann: »Der Sinn des Philoso-phierens ist Gegenwärtigkeit. Wir haben nureine Wirklichkeit, hier und jetzt. Was wirdurch unser Ausweichen versäumen, kehrtnie wieder, aber wenn wir uns vergeuden,auch dann verlieren wir das Sein. Jeder Tagist kostbar: ein Augenblick kann alles sein.«(199)

Hannover Rainer Miehe

Reinhard MEHRING: Das »Problem derHumanität«. Thomas Manns politische Phi-losophie. Paderborn 2003. Mentis Verlag.141 S., kart./brosch., 19,80 EUR.

Schon in seiner Habilitationsschrift ThomasMann. Künstler und Philosoph (München2001) vertritt Reinhard Mehring die Auffas-sung, Thomas Mann sei ein ebenso hellsich-tiger wie originärer politischer Denker ge-wesen, dessen Leistung neben demEintreten für die Weimarer Republik undgegen den Nationalsozialismus in der Her-ausarbeitung einer moralphilosophische Le-gitimierung guter Politik bestehe. Kaum einanderer politischer Denker des 20. Jahrhun-derts habe so sehr die Beziehung von Moralund Politik durchdacht und daraus vertret-bare politische Positionen entwickelt.

Nun liegen von Reinhard Mehring in Ge-stalt des 141 Seiten schmalen Bändchens Das»Problem der Humanität«. Thomas Mannspolitische Philosophie zehn ergänzende undvertiefende Studien vor, darunter vier Erst-veröffentlichungen. Mehring deutet darinThomas Manns Werk als politische Philoso-phie im Sinne einer »politisch involviertenund engagierten Philosophie« (S. 7). Erwirbt dafür, dass man »Manns humanisti-schen Geltungsanspruch erneut erst nimmtund den philosophischen Impetus des Wer-kes betont« (S. 8).

Dazu rechtfertigt er zunächst in zwei Bei-trägen seinen Ansatz, Thomas Mann philo-sophisch zu interpretieren. Obwohl Mannakademisch-institutionell kein Philosoph

gewesen sei, sich auch nicht als solcher gese-hen und auf eine Ausführung seiner philo-sophischen Überlegungen verzichte habe,mache ihn seine begründete Forderung nachder Begrenzung des Politischen auf »ein ver-nünftiges Maß« zum politischen Philoso-phen (S. 16). Aber auch in philosophisch-systematischer Perspektive sei sein Werk»ein Exempel des Anspruchprofils einermodernen, von der individuellen Freiheitausgehenden politischen Philosophie: eineumfassende Selbstrechtfertigung und Selbst-begründung der eigenen Lebensführung« (S.18). Georg Lukács habe diesen »humanisti-schen Geltungsanspruch« (S. 30) philoso-phisch begriffen.

Die drei folgenden Beiträge behandelnskizzenhaft Thomas Manns Konzept, Philo-sophie und Politik. Aus der Analyse zentra-ler Passagen von Thomas Manns Romanenfolgert Mehring zunächst, die Wissenschafthabe das Werk Manns in der umspannendenMetapher als »Traumgedicht vom Men-schen« konzeptionell ernst zu nehmen (S.40). Er räumt jedoch ein, dass Manns politi-sche Philosophie aufgrund seiner Ästhetikdes Nichtfestlegens verkannt werden könne.Er sieht in dieser Ästhetik aber eine »Meta-physik in praktischer Absicht«, die letztlich»normative Geltungsansprüche auf das In-dividuum als Grund und Zweck aller Le-bens- und Weltanschauung zurück bezieht«(S. 54). An Thomas Manns Verhältnis zurDemokratie wird schließlich dessen Politik-verständnis erläutert. Mann vertrete im Kai-serreich einen Begriff des Politischen, dersich gegen die Gleichsetzung von Politikund Demokratie wehre und »auf die Souve-ränität zur Selbstbestimmung als Grenzfallvon Macht und Recht« abhebe (S. 56). Erhalte Staaten nicht aufgrund von verfas-sungsrechtlichen oder herrschaftssoziologi-schen Kriterien für legitim, »sondern wennund weil sie kulturellen Standards entspre-chen«. Deshalb optiere er zunächst für dieMonarchie, dann für die Weimarer Republikund dezidiert gegen den Nationalsozialis-mus. Demokratie und Diktatur seien für ihnnicht staatsrechtliche Begriffe, sondern»moralische Urteile über die Qualität vonHerrschaft« (S. 58). Er finde deshalb zurDemokratie, weil sie es gut meine und aufdie Würde des Menschen achte (S. 59). Er

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vertrete Platons Philosophenkönigtum inder »Variante der Politikberatung und Fürs-tenerziehung« und begründe aus dem »Pri-mat der Handlungsfähigkeit und Regierbar-keit« in der Krise der Zwischenkriegszeitunter dem Vorbehalt kultureller Standards»die aufgeklärte Diktatur« (S. 60), ohne je-doch die Demokratie damit infrage zu stel-len. Wenn man Thomas Mann aus heutigerSicht die Grenzen seines Demokratiebegrif-fes zum Vorwurf mache, müsse man berück-sichtigen, dass die Weimarer Staatsrechtsleh-re insgesamt darin versagt habe, dieDemokratie aus dem Pluralismus zu be-gründen. Mann sei dagegen »zu systema-tisch tragenden Einsichten in den Zusam-menhang von Moral, Politik, Recht undStaat« gelangt (S. 62).

Die restlichen fünf Beiträge erörternManns Humanismus im ideenpolitischenKontext. Sie befassen sich mit »Martin Hei-degger und Thomas Mann als ideenpoliti-sche Antipoden«, mit der philosophischenThomas-Mann-Interpretation im Exil unddem Briefwechsel zwischen Thomas Mannund Theodor W. Adorno als ein »Stück ver-wirklichter Utopie«. Anlässlich der Huma-nitätskontroverse im Doktor Faustus bietetMehring eine »kleine Kartographie der Hu-manitätskontroverse«. Schließlich kommtmit Carl Schmitt ein weiterer Antipode zuWort, der in einer privaten Geburtstagsmap-pe für Thomas Mann – gefunden in SchmittsNachlass – den Gross-Verwerter extrem an-tisemitisch deutet. In der Zusammenschauwerden so einige Konstellationen deutlich,in denen sich Thomas Manns Humanismusentwickelt hat.

Für Reinhard Mehring besteht die Ver-wandtschaft von Kunst und Philosophie da-rin, dass sie als Orientierungsformen glei-chermaßen der individuellen Freiheitdienen. Dies exemplarisch nachzuweisen,unternimmt er an »Manns Versuch, sein Le-ben künstlerisch zu führen und gründlich zuverantworten« (S. 8). Er verbindet damit diesonst in der Interpretation Manns häufig ge-trennten Pole Kunst und Moral, Ästhetikund Politik. Dass Thomas Mann politischeUrteile an Moral und Kultur festmachte,führte ihn im Kampf gegen den Nationalso-zialismus auf die Seite der Demokratien, inder Nachkriegszeit aber nicht auf dieselbe

Distanz zum Kommunismus, sah er ihndoch durch das Streben nach Gerechtigkeitgleichsam geadelt. Hier folgte er der ästheti-schen Idee des Ausgleichs und beschworwiederum das Recht auf die Politikfreiheitder Kultur bei seinem gleichzeitigen Besuchin Frankfurt und Weimar zum Goethejahr1949. Ob Thomas Mann damit bewies, einpolitischer Mensch oder in der Welt der Po-litik fremd zu sein, kann hier nicht beant-wortet werden. Aber es lohnt sich, darübernachzudenken. Reinhard Mehring bietetdazu Denkanstöße. Denkanstöße, ThomasMann anders zu lesen als die gegenwärtigeDeutungsmehrheit, die den Dichter mit Ver-weis auf seine Ironie politisch nicht ernstnimmt bzw. in ihm einen naiven, da »unwis-senden Magier« (Joachim Fest) sieht. In sei-ner Deutung kann sich Mehring nicht nurauf Kurt Sontheimer berufen, dessen SchriftThomas Mann und die Deutschen (Mün-chen 2002) unlängst neu aufgelegt wurde,sondern auch auf die zeitgenössische Rezep-tion des Dichters, die der Verfasser in DieDeutschen und Thomas Mann. Die Rezepti-on des Dichters in Abhängigkeit von derPolitischen Kultur Deutschlands 1998-1955.(Baden-Baden 2000) kürzlich breit doku-mentiert hat. Nicht zuletzt in seinem gegenden Strom Schwimmen liegt eine Rechtferti-gung des intelligenten, wenngleich nicht im-mer leicht zu lesenden Bändchens.

Würzburg Thomas Goll

Kurt-Peter MERK: Die Dritte Generation.Generationenvertrag und Demokratie –Mythos und Begriff. Aachen 2002. ShakerVerlag, 190 S.,brosch., 24,80 EUR

Ulrich K. Preuß’ Verdikt in Frageform »DieZukunft: Müllhalde der Gegenwart? «bringt es auf den Punkt: Soziales Handelnallgemein und politisches Agieren im Beson-deren richtet sich regelmäßig nicht am Maß-stab der Nachhaltigkeit aus. Es verliert demgemäß nur allzu oft die Auswirkungen poli-tischer Entscheidungen der Gegenwart fürzukünftige Generationen aus den Augen.

Der dafür verantwortliche Generationse-goismus resultiert nicht primär aus der mo-ralischen Deformierung des politischen

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Personals, so das Hauptargument Kurt-Pe-ter Merks, er ist vielmehr strukturell verur-sacht. Die »gesellschaftliche BasisstrukturGenerationenvertrag« und die »politischeBasisstruktur real existierende Demokratie«sind die beiden Elemente eines Teufelskrei-ses, der nach Ansicht des Autors erst durch-brochen werden wird, wenn das soziale undpolitische System kollabiert sein werden.Dahinter steckt die Erkenntnis, dass diestrukturelle Ursache des Generationsegois-mus »in den sozialpolitischen Verteilungs-entscheidungen zu Lasten dernachfolgenden Generation(en) ein Reprä-sentationsdefizit im bestehenden demokra-tischen Herrschaftssystem ist, das daraufberuht, dass die dritte zeitgenössische Gene-ration weder funktional wahrgenommenwird, noch Teil des Entscheidungssystemsist«. Die politische Dominanz der Erwach-senen- und Senioreninteressen korrespon-diert also mit der Machtlosigkeit derKindergeneration. Die Ansprüche der Seni-oren gründen sich dabei auf den Generatio-nenvertrag. Dieser suggeriert das Trugbild,dass es sich dabei um ein sehr stabiles undrechtlich verbindliches, »ausgewogenes Ver-hältnis von Leistung und Gegenleistung«handele. Die Tatsache, dass dabei die jeweilsaktuelle Kindergeneration völlig übergan-gen werde, erachtet Merk als einen Struk-turdefekt ersten Ranges. Der Gruppe derSenioren, die zahlenmäßig etwa 25 Prozentder Staatsangehörigen ausmacht, aber 31Prozent des Stimmpotenzials der Wahlbe-rechtigten repräsentiert, steht die Gruppeder Minderjährigen gegenüber – immerhin20 Prozent der Staatsangehörigen, aber 0Prozent politisches Stimmenpotenzial. Da-bei wären die Kinder die einzige sozialeKonkurrenzgruppe der Senioren. Soweit dieschonungslose Problemanalyse.

Als einzigen Lösungsweg sieht der Autordie »vollständige politische Repräsentanz«aller drei Generationen – oder mit anderenWorten: Wahlrecht für Minderjährige. ImDetail sähe dies so aus: a) Senkung der Al-tersgrenze für das aktive Wahlrecht auf denZeitpunkt der Vollendung des 14. Lebens-jahres, b) treuhänderische Ausübung desWahlgrundrechts für die 0- bis 13-jährigenStaatsangehörigen durch die Eltern. Demo-kratietheoretisch wäre damit auch ein »Le-

gitimationsdefizit der demokratischen Re-präsentation« behoben. Mit der damitvollzogenen Gleichheit des Menschen – ei-ner Forderung der Aufklärung – würde sich»die Moderne vollenden«.

Die Eröffnung der Wahlmöglichkeit fürMinderjährige würde einen Diskurs über dieReduzierung des politischen Generationse-goismus, also über »nachhaltige Entwick-lung« bzw. »Zukunftsfähigkeit der Gesell-schaft« anstoßen. Dadurch – so dieSchlussfolgerung des Autors – weiteten sichdie »Verantwortungshorizonte der politi-schen Repräsentanten in die Zukunft«. Dieshätte wiederum positive Rückwirkung aufdie Politikverdrossenheit Jugendlicher zurFolge und würde deren Partizipationsbe-reitschaft fördern.

Merk geht es nicht darum, direkt-demo-kratischen Elementen das Wort zu reden,vielmehr zielt er darauf, die bestehende re-präsentative Demokratie von ihrem »Reprä-sentationsdefizit zu befreien, um ihrepolitische Steuerungsfähigkeit und ihr Re-formpotenzial zu stärken.« Damit wirft derAutor nichts weniger als die Existenzfrageunserer Demokratie auf. Denn wird dasThema Kinderwahlrecht nicht endlichernsthaft diskutiert, so besteht die Gefahr,dass sich eine »andere Einsicht Bahn bre-chen wird, nämlich die, dass eine Genera-tion, die keine Vor-Sicht walten ließ, späterauch keine Rück-Sicht erwarten darf.«

Kein Zweifel: Der Privatdozent amMünchner Geschwister-Scholl-Institut hatmit seiner gekürzten Habilitationsschriftden Befürwortern einer Verfassungsände-rung Wahlalter Null einen wohl bestücktenund gut sortierten Waffenschrank an Argu-menten an die Hand gegeben. Sowohl seinepolitikwissenschaftliche wie auch seine ver-fassungsrechtliche Argumentationsführungsind so logisch und systematisch, so klarund präzise formuliert, dass die Suche nacheiner geschlossenen Gegenargumentationnicht leicht fällt.

Das Vergnügen des Lesens trübt einzigdie Vielzahl an Druckfehlern und anderendrucktechnischen Mängeln. Diese tun aller-dings der herausragenden inhaltlichen Klas-se des Buches keinen Abbruch.

Tutzing Manfred Schwarzmeier

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Anne Marlene SIMON-HOLTORF: Geschich-te des Familienwahlrechts in Frankreich(1871 bis 1945). Frankfurt am Main 2004.Peter Lang. 288 S. brosch., 51,50 EUR.

Am 1. April 2004 befasste sich der DeutscheBundestag in Erster Lesung mit dem Inter-fraktionellen Antrag »Mehr Demokratie wa-gen durch ein Wahlrecht von Geburt an«. Erlautete: Der Deutsche Bundestag möge dieBundesregierung auffordern, einen Geset-zesentwurf zur Einführung eines Wahlrech-tes ab Geburt durch Änderung des Artikels38 Grundgesetz und erforderlicher weiterergesetzlicher Änderungen vorzulegen.

2005 ist mit der Zweiten und Dritten Le-sung zu rechnen. Die aus allen politischenLagern kommenden Befürworter werdenwohl in der Minderheit bleiben, zumal dieletztlich notwendige Verfassungsänderungeine Zweidrittelmehrheit zur Voraussetzunghätte. Doch der angestoßene Stein ist insRollen gekommen.

Da trifft es sich gut, dass gerade 2004 eineMonographie erschienen ist, die den Inter-essierten zu Bewusstsein bringt, dass diemeisten der Argumente, die heute pro undcontra vorgebracht werden, bereits die Drit-te Republik in Frankreich beschäftigt haben.

Freilich, es gab einen fundamentalen Un-terschied: Damals plädierten die Befürwor-ter entweder mit der besonderen Verant-wortung des Familienvaters – die Frauenwaren noch nicht wahlberechtigt - oder mitder Institution Familie, die eine Sonderbe-handlung erfahren müsste. Heute geht esum die prinzipielle Gleichberechtigung allerStaatsangehörigen. Jede Benachteiligung be-dürfe einer stichhaltigen Begründung, die eszu Lasten der Minderjährigen, was dasWahlrecht anlangt, nicht gebe, sondern nurwas die Rechtsausübung betrifft. Hier fürdas Kind zu handeln, sei in allen Bereichendes Lebens Recht und Pflicht der Eltern.Dass dieses Recht noch nicht das Wahlrechteinschließt, sei nur historisch bedingt undnicht länger hinnehmbar.

Es erstaunt, dass bei der Bedeutung, wel-che das Familienwahlrecht in Frankreichzwischen 1871 und 1945 hatte, bisher keinewissenschaftlichen Ansprüchen genügendeUntersuchung vorliegt, auch nicht in fran-zösischer Sprache. Simon-Holtorf, die mit

ihrer Kieler Dissertation diese Lückeschließt, lässt auf die Darstellung des Wahl-rechts in der 3. Republik einen Abschnittfolgen, der Begriff und Zweck des Familien-wahlrechts verdeutlicht.

Der erste größere Abschnitt befasst sichmit den Anfängen der Befürwortung einesFamilienwahlrechts, fast zeitgleich mit derEinführung des allgemeinen Männerwahl-rechts 1848/50. Als Damm gegen die mit die-sem Wahlrecht verbundenen Gefahren schlugLamartine 1850 die Einführung eines Famili-enwahlrechts vor, nach welchem dem Famili-envater ein erhöhtes (doppeltes) Stimmrechtzustehen sollte. Es überrascht nicht, dassnach dem deutsch-französischen Krieg unddem Pariser Kommuneaufstand die Einfüh-rung eines Familienwahlrechts erstmals imParlament gefordert wurde, und zwar vonkonservativ-katholischer Seite. Gegner wa-ren die Sozialisten und die Kommunisten.

In den weiteren Teilen untersucht die Au-torin die Initiativen zur Einführung des Fa-milienwahlrechts zwischen 1900 und 1938sowie die parallelen Stellungnahmen in derLiteratur. Sie waren verbunden mit der For-derung nach dem Frauenwahlrecht. 1934/35befürworteten die für die Behandlung derWahlrechtsanträge zuständigen Ausschüssedie Einführung des Familienwahlrechts. DerSieg der Volksfront bei den Wahlen 1936ließ die Chancen für das Familienwahlrechterheblich sinken. Mit der Einführung desFrauenstimmrechts 1944/45 verlor das Fa-milienwahlrecht an Attraktion. Es wirdheute von einer Gruppe von Abgeordnetenum Frau Bouton und von der Front Natio-nal vertreten.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass dieBefürworter des Familienwahlrechts ihremZiel im Mai 1919 am nächsten kamen. Einigeweitere Ja-Stimmen hätten genügt, und derDurchbruch wäre in Frankreich geglückt.

Baierbrunn Konrad Löw

Michael SCHEFCZYK: Umverteilung als Legi-timationsproblem. Freiburg/München 2003.Verlag Karl Alber. 331 S., kart., 32,- EUR

In der aktuellen politischen Diskussion umdie Gestaltung des Sozialstaates werden wie

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selbstverständlich die Kriterien der Gerech-tigkeit oder wirtschaftlicher Effizienz in denRaum gestellt, so als wäre allen klar, was da-mit gemeint ist. Tatsächlich aber lässt sichPolitik nicht mit Worthülsen begründen.Vielmehr hängt die Transparenz von vorge-schlagenen Reformen an der Offenlegungder Ziele sowie an der Überprüfbarkeit ihrerUmsetzung. Legitimation und Implemen-tierung von Sozialpolitik stehen in einemengen Bezug, den M. Schefczyk seiner von J.Nida-Rümelin inspirierten und von B. Prid-dat begleiteten Dissertation für die Ein-schätzung maßgeblicher Sozialstaatskon-zepte zugrunde legt und zu einemalternativen Ansatz weiterführt. Der thema-tische Fokus auf die höchst aktuelle Frageder Umverteilung ist treffend im Titel be-nannt.

Abgesehen von der eigenwilligen Gliede-rungssystematik zeichnet sich die Studiedurch einen in sich konsistenten Aufbauaus. Einer einführenden Problemanalyse zurLegitimation des Wohlfahrtsstaates (passen-der wäre der Terminus »Sozialstaat«) folgtein trefflicher Schnelldurchlauf durch die imFolgenden behandelten Gedankengänge: diekritische Auseinandersetzung mit verschie-denen Legitimationsstrategien sowie zuersteine Methodologie, dann die Implementie-rungsstrategie für einen alternativen Ansatz,der das im Titel aufgeworfene Problem zulösen beansprucht.

Die Krise des Wohlfahrtsstaates wird em-pirisch am Scheitern des keynesianischenModells distributiver Pazifizierung aufge-zeigt. Schefczyk postuliert dennoch eineZukunft des Wohlfahrtsstaates, wenn fürseine Legitimation ein Paradigmenwechselvorgenommen wird, der auf einer induktiverschlossenen Symbiose von Handlungsthe-orie, Metaethik und Normativität aufbaut.Ein Konstitutiv der Legitimität ist danachdie Realitätsnähe der Theorie und derendaraus abgeleitete Implementierbarkeit. Mitder Vorstellung der vorgeschlagenen Lösungdes Autonomie-Paradigmas liberaler Sozial-philosophie wird das Ziel der Arbeit frühvorweggenommen, ohne dass dem Leser dieBegrifflichkeit hier schon einleuchten mag.Dies ändert sich aber bei der weiteren inten-siven Lektüre. Die Auswahl der im Folgen-den vorgestellten Legitimationsmodelle

leistet einen schulbuchmäßigen Durchlaufder für den aktuellen Sozialstaatsdiskurswesentlichen Denkschulen. Abgesehen voneinigen inhaltlichen Redundanzen und bis-weilen salopp bzw. marxistisch anmutendenFormulierungen werden Stärken undSchwächen der libertären Schule, vonBuchanan, Rawls und Van Parijs für die Be-gründung von Minimal- bis Wohlfahrts-staat kenntnisreich und übersichtlichvorgestellt. Es überrascht dabei, dass sichunter der Überschrift des Egalitarismus dieAuseinandersetzung mit Rawls, nicht abermit Van Parijs findet. W. Kerstings Kritik ander Instabilität Rawls’scher Ordnung wirdverworfen, obwohl sie doch genau auf dervon Schefczyk betonten Heterogenität vonex-ante- und ex-post-Zustimmung fußt, diedie Ursache für eine mögliche Instabilitätausmacht. Die Sympathie mit Rawls geht biszur Anerkenntnis der dort geforderten »na-türlichen Pflicht« (S. 158) zur Schaffung ge-rechter Institutionen. Diese naturrechtlicheAnwandlung überrascht hier noch, wirdaber im weiteren Verlauf der Studie weitergestärkt. Insgesamt gelingt eine verständli-che Vermittlung komplexer Zusammenhän-ge, die für einen hohen Grad analytischerSchärfe spricht. Der Mangel der Ansätzewird dabei vor allem in ihrer fehlenden Rea-litätsnähe und einem verfehlten Verständnismenschlicher Präferenzen ausgemacht. Eswird der Versuch unterlassen, an diese Kri-tik anschließend die Komplexität individu-eller Rationalität zu thematisieren. Diegelingende Implementierung einer Begrün-dungsstrategie wird aber trotzdem anthro-pologisch begründet.

Dieser Winkelzug setzt in Anlehnung anHabermas mit der Annahme eines kollekti-ven Interesses an, das der Rational-Choice-Theorie zuwider läuft. Unmerklich fließenhier auch Elemente des normativen Indivi-dualismus ein, wie sie J. Buchanan im Rah-men seiner konstitutionellen Ökonomik un-terstellt. Denn Schefczyk will aus derfaktischen Rationalität konkreter Individu-en die Legitimität einer sozialen Ordnungund ihrer Umverteilungen legitimieren. An-log zu G. Beckers ökonomischem Imperia-lismus wird hier auf einen politischen Impe-rialismus vertraut, der die Legitimität vonUmverteilungen den Regeln des Marktes

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entziehen will und sie der Gewalt autono-mer Bürger unterstellt. Die Herleitung deskollektiven Interesses bleibt postuliert.Auch die Zuordnung der Individuen unterein heuristisches Ideal politisch-institutio-neller Steuerung mag den kritischen Demo-kraten nicht überzeugen. Die Effizienzleis-tungen des Marktes und das von A. Smithdafür nutzbar gemachte Selbstinteresse derIndividuen werden verkannt. Dies schwächtdie These einer überzeugenden Implemen-tierbarkeit ebenso wie den Anspruch, dieTheorie beim Verstehen der Realitätmenschlicher Motivationen anzusetzen.

Der induktive Zugang will sich von de-duktiv erschlossenen Vorgaben verabschie-den (z. B. vom Gesellschaftsvertrag). Einesolche Methodologie ebnet auf originelleWeise den Weg zu einer neuen Verhältnisbe-stimmung von theoretischem Anspruch undImplementierbarkeit für die Frage der Legi-timität. Eine Theorie der Umverteilung istnur dann legitim, wenn sie auch in der Rea-lität zu gerechten Ergebnissen führt. Theo-retische Legitimität ist an die Motivations-struktur des Menschen zurückzubinden,Implementierbarkeit an die Umsetzung un-ter realen Menschen. So wagt Schefczyk diefür einen Schüler Nida-Rümelins gewagteThese: »Die adäquate Begründung sozialerTransfers stützt sich ... auf die normativeAuslegung eines anthropologischen Fak-tums: dass Menschen sowohl abhängige undverwundbare als auch auf Autonomie hinausgelegte Wesen sind« (S. 264). Autonomiewiederum wird als ein absoluter Begriff ver-standen, der dem Individuum ein Anrechtauf ein normales Leben garantiert. Mit derEinführung dieser Absolutheit gelingt eineProfilierung gegenüber dem capability-ap-proach von A. Sen, bei dem die angestrebtenFreiheitsrechte der Individuen postuliertbleiben. Schefczyk folgt damit aber einernaturrechtlichen Logik. Dies offenbart er inseiner Begründung des Anrechts auf Auto-nomie, die – wie das thomasische Natur-recht – zwischen absolutem Anspruch unddynamischer Auslegung des Absoluten un-terscheidet.

Die Studie leistet eine ausgezeichnete Be-standsaufnahme des weltanschaulich plura-len Diskurses um die Legitimierung des So-zialstaats. Ihr origineller Lösungsvorschlag

fordert Philosophie und Sozialwissenschaftheraus, dem Anspruch nachzugehen, Legiti-mität an Implementierbarkeit und diese wie-derum an ein Verstehen der menschlichenRationalität zurückzubinden – jenseits heu-ristischer Fiktionen. Dann tut sich ein Wegzu einer humangerechten Legitimierung desSozialstaates auf, die bei Schefczyk verbor-gen mitschwingt.

Bochum Elmar Nass

Franz KOHOUT: Vom Wert der Partizipati-on. Eine Analyse partizipativ angelegterEntscheidungsfindung in der Umweltpolitik(Politik und Partizipation Bd. 1). Münster/Hamburg 2002. LIT Verlag. 344 S., brosch.,30,90 EUR.

Der erste Teil (S. 23-123) dieser Münchnerpolitikwissenschaftlichen Habilitations-schrift eines Schülers von P. C. Mayer-Taschgilt der theoretischen Fundierung partizipa-tiver Umweltpolitik mit dem Erkenntnisin-teresse, zu klären, ob eine verstärkte politi-sche Partizipation zu einer verbessertenEntscheidungsgrundlage der Umweltpoli-tik beitragen könne. Damit hat sich Kohoutein ebenso schwieriges wie spannendes Poli-tikfeld ausgesucht, das durch ein speziellesInformationsproblem, eine besondere Zeit-dimension, die Irreversibilität vieler Ent-scheidungen, die allgemeine Kollektivgüter-problematik, die Technik- undRisikodimension sowie das Problem derVertretung nicht anthropozentrischer Inter-essen gekennzeichnet ist. Dazu entwickeltKohout ein funktionales Konzept (umwelt-politischer) Partizipation – die keinesfallseinfach mit Demokratisierung gleichzuset-zen ist –, das er anschließend in den verfas-sungsstaatlichen Rahmen einpasst. Herauskommt das Konzept des prozeduralen undökologischen Verfassungsstaats, der wenigerhierarchisch handelt, denn vielmehr als»Präzeptor, Moderator und Supervisor«fungiert (S. 115) und durch ein faires Verfah-ren – der einzige für alle akzeptable, formaleMaßstab – »Einsicht, Verständnis und Über-schaubarkeit fördert« (S. 113), also letztlichdie Rationalität, auf der er selbst beruht. Er-gebnis: Partizipation ist »nicht nur ein

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ernstzunehmender Standpunkt innerhalbder Demokratietheorie; vielmehr wird sie inAnbetracht der spezifischen Steuerungsbe-dingungen und -probleme des modernenVerfassungsstaates zu einem probaten undsystemkonformen Medium der Optimie-rung gesamtgesellschaftlicher Rationalitätim allgemeinen sowie zu einem unverzicht-baren Bestandteil moderner Umweltpolitikim besonderen« (S. 122). So kommt Kohoutzu einem Stufenkonzept politischer Partizi-pation, das nach der verfassungsstaatlichen,der individuellen und der kollektiven Funk-tion von Partizipation differenziert (z. B.Anerkennung aller relevanten Akteure so-wie Ausgleich und Gewichtung von Interes-sen – Schutz – Warnung, Integration undWettbewerb; Transformation von Einzel-sicht in Kollektivsicht – Information – Ler-nen und Optimieren).

In diesem Herzstück seiner Untersu-chung, die eine ganze Reihe von Theoriedis-kussionen zusammenfasst, zeigt sich Ko-hout theoretisch beschlagen, bewandertauch in der angelsächsischen Literatur, unddabei ist diese Ableitung, obwohl dicht ge-schrieben, durchaus gut lesbar.

Im zweiten Teil (S. 125-279) wird das er-arbeitete theoretische Konzept partizipati-ver Umweltpolitik fruchtbar gemacht, umdie bunte Palette alter und neuer Formenumweltpolitischer Entscheidungsfindung zusystematisieren, zu analysieren und zu be-werten. Ein Schwerpunkt betrifft – auf-grund der Abwanderung eines Großteils derpolitischen Entscheidungsfindung zurZweiten Gewalt folgerichtig – die Verfahrender Partizipation im Bereich der Exekutive,besonders der Verwaltung. Kohout stellthier konventionelle (Betroffenen-, Öffent-lichkeits- und Verbandsbeteiligung sowiePartizipation durch Normierungsgremien)und alternative Beteiligungsverfahren vor,bei letzteren sowohl aus eigener Anschau-ung bekannte Verfahren der Betroffenen-partizipation in der US-amerikanischenAdministration (Aushandlung untergesetz-licher Normen, Mediation), deren Über-tragbarkeit er sorgfältig diskutiert, als auchin Deutschland schon erprobte Instrumente,wie insbesondere das Schöffenmodell (Pla-nungszelle), das optimale Diskurse ermögli-chen will und zu dem neuentwickelten

Modell des »mehrstufigen dialogischen Ver-fahrens« ausgebaut werden kann (S. 193-196, 198).

Ein weiterer Schwerpunkt gilt der Legis-lative, wo Kohout angesichts der – überzeu-gend herausgearbeiteten – eklatantenStruktur- und Funktionsdefizite des parla-mentarisch-pluralistischen Systems, das we-sentlich von den Rationalitätskriterien derpolitischen Parteien geprägt ist, Formen derdirekten Demokratie und insbesondere dieVolksgesetzgebung – mit der Perspektive ei-ner Kompensation – auf den Prüfstandstellt. Im Ergebnis differenziert Kohoutstark: Volksgesetzgebung auf Bundesebenelehnt er ab; die Bedenken wegen zu befürch-tender Nachteile überwögen: Da Umwelt-beeinträchtigungen »zum Teil hoheräumliche Differenzierungen« aufwiesen,würden – wie die schweizerischen Erfah-rungen zeigten – gesamtstaatliche Abstim-mungen »tendenziell die Direktbetroffenenbenachteiligen« (S. 241 f.). Diese Problema-tik hätte Kohout mit dem deutschen Fall desVolksbegehrens Keine Startbahn West von1981 illustrieren können: Über eine Erwei-terung des Frankfurter Großflughafens bzw.die Zumutbarkeit der damit verbundenenLärmbelastung für die Anwohner solltedurch eine hessische Volksabstimmung –also durch die Bürger von Kassel bis Darm-stadt – entschieden werden. Da die Sachenach Ansicht der Gerichte zur Bundeskom-petenz gehörte, hätten, wenn die rechtlichenVoraussetzungen für einen Bundes-Volks-entscheid gegeben gewesen wären, sogar dieBürger von Flensburg bis Berchtesgadenüber jene lokale bzw. allenfalls regionale Be-lastung abstimmen müssen. Auch auf Lan-desebene beurteilt Kohout direkteDemokratie zurückhaltend, da die gleichenVerzerrungsmöglichkeiten bestünden. Di-rekte Demokratie auf Kommunalebene(Bürgerbegehren und Bürgerentscheid) da-gegen, wo zwischen Entscheidungsbefug-ten und Entscheidungsbetroffenen amehesten Übereinstimmung bestehe, er-scheint ihm als probates Mittel umweltpoli-tischer Partizipation, für dessenWeiterentwicklung er auch Vorschlägemacht; hier hat wohl der bayerische An-schauungsunterricht seit dem Volksent-scheid von 1995 gewirkt. Dieses Plädoyer

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für einen verfassungsrechtlichen Status quominus ist um so bedenkenswerter, als Ko-hout überzeugende Argumente für eine di-rektdemokratische Ergänzung derrepräsentativen Demokratie vorträgt unddie üblichen Einwände überlegen zurück-weist (freilich mit einem Widerspruch: DenEinwand der unterkomplex binären Ja-/Nein-Entscheidung, den er auf S. 235, 240ausräumt, erhebt er auf S. 284 selbst). Ko-hout will eben nicht einfach (mehr) direkteDemokratie wagen, sondern sucht eine Ant-wort auf seine qualitative Leitfrage, welcheArt von und welches Ausmaß an Partizipa-tion zu »vernünftigen Entscheidungen« füh-re (S. 38).

Im Bereich der Judikative befürwortetKohout die generelle Einführung der Ver-bandsklage sowie eine Bürgerklage nachUS-amerikanischem Vorbild. Die umweltö-konomische Entscheidungsfindung endlichfavorisiert er, obwohl ihm die Problematikdes Marktversagens bewusst ist: »Markt-wirtschaftliche Partizipationsmöglichkeitenerfüllen fast alle verfassungsstaatlichenFunktionen von Partizipation. (. .) Wie beikaum einer anderen Partizipationsformkann über marktwirtschaftliche Mittel dieumweltschützerische Individualsicht in ei-nen Kollektivmechanismus verwandelt wer-den. « (S. 278 f.)

So belehrend und nützlich diese umfas-sende Einschätzung der vorhandenen In-strumente nach einheitlichem Maßstab ist,gilt es doch immer im Auge zu behalten,dass Kohout von der Methode her idealtypi-sierend vorgeht; es geht ihm, wie er für diedirekte Demokratie exemplarisch formu-liert, nicht in erster Linie um »eine empiri-sche Analyse« von Entscheidungsformen,sondern um »eine Normenanalyse unter denPrämissen verfassungsstaatlicher Rationali-tät« und damit auch um »die theoretischeEinordnung« der geprüften Verfahren imKontext partizipativer Umweltpolitik (S.226). Fälle und empirische Studien werdendabei durchaus erwähnt, aber eher illustrati-onshalber angetippt. Vermutlich erklärt die-ser methodische Ansatz auch die z. T. auf-fallend ungleichmäßige Behandlung derInstrumente: Wer über die – in gewissemSinne exotischen – US-amerikanischen En-vironmental Citizen Suits elf Seiten schreibt,

aber für Volksbegehren und Volksentscheidin den deutschen Bundesländern nur eineSeite erübrigt, muss sich zur Rechtfertigungenergisch auf sein politiktheoretisches Inter-esse berufen und kann jedenfalls nicht denMaßstab praktischer politischer Relevanzdafür anführen.

Insgesamt hat Kohout eine beeindrucken-de theoretische Ausarbeitung zu dem Para-digma Partizipation vorgelegt und eine in-formative, manchmal geradezu aufklärendeMusterung der Praxis vorgenommen – beidevoller kluger Einschätzungen und anregen-der Gedanken. Auch der Leser, der von die-sem oder jenem Einzelergebnis nicht ganzüberzeugt ist, wird Kohouts Gesamtleistungvolle Anerkennung zollen.

Berlin Otmar Jung

Hannes WIMMER: Die Modernisierung poli-tischer Systeme. Staat – Partei – Öffentlich-keit. Wien/Köln/Weimar 2000. Böhlau Ver-lag. 728 S., brosch., 78,20 EUR

Mit der Studie Die Modernisierung der poli-tischen Systeme setzt der Wiener Privatdo-zent Hannes Wimmer sein umfassend ange-legtes Forschungsprogramm zur Entstehungmoderner Demokratien fort. Bereits Mitteder neunziger Jahre untersuchte Wimmer inder Arbeit Evolution der Politik. Von derStammesgesellschaft zur modernen Demo-kratie (1996) in einem historisch und empi-risch breit gefächerten Rahmen die Trans-formation von politischen Strukturen ingegenwärtigen und historischen segmentä-ren Gesellschaften, in hierarchisch-stratifi-zierten Gesellschaften und in funktional dif-ferenzierten modernen Gesellschaften undlegte eine theorieangeleitete und empirischfundierte Klassifikation von politischenOrdnungen mit deren evolutionären und in-stitutionellen Voraussetzungen vor. Das derneuen Studie zugrunde liegende Erkenntnis-interesse ist – was Zeithorizont und Gesell-schaftstypen anbelangt – bescheidener, abernicht weniger anspruchsvoll: Wimmermöchte historisch vergleichend erklären,warum einige Entwicklungsländer an dasOECD-Niveau anschließen konnten, wäh-rend die meisten EL bei der Transformation

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ihrer politischen und gesellschaftlichenStrukturen wenig erfolgreich waren. Mit derErklärung dieser Differenz befindet sichWimmer in einem prominenten und mittler-weile nicht mehr überschaubaren For-schungsgebiet der Vergleichenden Politik-wissenschaft, Entwicklungssoziologie undpolitischen Ökonomie, deren Bemühungenum eine allgemeine Entwicklungstheorie inden neunziger Jahren in eine vielfach be-schriebene Krise führte. Diesem ohnehinbereits in Einzelfallstudien und Regionalex-pertise zerfallenden Forschungsbereich derComparative Politics versucht Wimmer miteiner Theorie der Modernisierung von poli-tischen Systemen entgegenzutreten, indemer die geballte Kritik an den reduktionisti-schen und empirisch-historisch desinteres-sierten Spielarten der Modernisierungs- undDependencia-Theorien ernst nimmt undversucht, diese auf eine solide gesellschafts-theoretische Grundlage zu stellen. Einesolche ist unumgänglich, wenn man dieFehlschlüsse und unangemessenen Beschrei-bungen der empirischen Vielfalt durch dieÜbertragung von eurozentrischen Analyse-kategorien und von reduktionistischen, nuran der Ökonomie oder Politik orientiertenErklärungsschemata für den sozialen Wan-del in außereuropäischen Gesellschaftenvermeiden möchte. Diese Grundlage glaubtWimmer in Luhmanns Theorie der funktio-nal differenzierten Gesellschaft, dem »amweitesten vorangetriebenen Projekt auf die-sem Gebiet« (S. 115), gefunden zu haben.

Eine in der Studie verfolgte Grundtheseist, dass Demokratisierung in den EL mo-derne Staatlichkeit voraussetzt und nichteinfach durch den Einbau einiger demokra-tischer Prozeduren oder Institutionen wieetwa Wahlen, Parteien oder freie Medien be-wirkt oder eingeleitet werden könne. DasHauptproblem der EL ist ein politischesund hängt mit dem zusammen, was bei denAfrikanisten seit dem Ende der achtzigerJahre unter »soft state« oder »weak state«diskutiert wird. Andererseits verweist diemoderne Staatlichkeit auf einen Komplexvon anspruchsvollen Systemvoraussetzun-gen und funktionalen Differenzierungen,die erst die Herausbildung moderner De-mokratien ermöglichten. Ganz nach Luh-mann wird der Studie mit dem Staat als

»Komplex von Apparaten, für den der Staatdas Attribut ›staatlich‹ reserviert« (S. 76), einselbstreferenzieller Staatsbegriff zugrundegelegt, der auf der Unterscheidung von Sys-tem und Umwelt und entsprechenden Sub-systembildungen (= Staatsapparate) beruht.Diese erfüllen die Kriterien der modernenStaatlichkeit, wenn sie entsprechende Mus-ter der Binnendifferenzierung aufweisenund in der Lage sind, die an sie gestelltenAnforderungen und Aufgaben in einerkomplexer werdenden Umwelt effektiv zuerfüllen. Diese Binnendifferenzierung fo-kussiert auch das Analyseprisma der Studie.In Teil I (S. 109-234) wird die unzureichen-de funktionale Differenzierung der Staats-strukturen in EL thematisiert. Anhand derEntstehungsbedingungen der Institutionendes Militärs und der Polizei, des Steuer- undFinanzwesens, des Verwaltungsapparats undder Staatsleitung wird in Teil II (S. 235-456)am Beispiel Frankreichs, Englands/USA,Deutschlands und (Alt-)Österreichs diefunktionale Binnendifferenzierung des eu-ropäischen Verfassungsstaates historischvergleichend rekonstruiert. Teil III (S. 457-722) behandelt diese Binnendifferenzierun-gen anhand der Subsysteme der modernenDemokratien: der politischen Öffentlich-keit, der Parteien und der Parlamente.

In Auseinandersetzung mit Max WebersHerrschaftssoziologie und dem Diskussi-onsstand der politikwissenschaftlichen Afri-ka-, Asien- und Lateinamerikaforschungentwickelt Wimmer eine Theorie neopatri-monialer politischer Systeme, die er demTypus des autoritären Systems gegenüber-stellt. Aus der entworfenen entwicklungs-theoretischen Sicht erscheinen autoritäreSysteme als ein »Projekt zur Überwindungdes Neopatrimonialismus samt seinen Leis-tungsbeschränkungen und Entwicklungs-blockaden« (S. 208) aufgrund der Dominanzstratifikatorischer Differenzierungsmuster.In dieser entwicklungstheoretischen Pers-pektive lassen sich nicht nur die Problemeder Entwicklung von autoritären Staats-strukturen im Europa des 17. bis 19. Jhs. mitjenen von Entwicklungsstaaten des 20. Jh.vergleichen, sondern es lässt sich auch eineEbene der Theoriebildung bestimmen, dieanspruchsvoller ist als die am Einzelfall ori-entierten Typologiebildungen der miteinan-

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der kaum vernetzten Regionalwissenschaf-ten, ohne dabei theorielastig zu werden.Zwar zeigt Wimmer immer wieder, dassman bestimmte Sachverhalte auch abstraktermit Luhmannschen Termini formulierenkann, jedoch versucht er nicht mehr die his-torische Entwicklung – wie dies noch in derEvolution der Politik der Fall war – mit ky-bernetischen Kreislauf- und Rückkoppe-lungsmodellen jenseits der Intensionalitätvon sozialen Akteuren zu erklären.

Wimmer liefert vielmehr eine gut lesbareund kenntnisreiche vergleichende Analyseder Entstehung der modernen Staatsinstitu-tionen und verknüpft manche ansonst nurdisziplinär geführte Forschungsdiskussio-nen, wenn er etwa die von Historikern fest-gestellte zunehmende physische Überforde-rung von absolutistischen Herrschern des18. Jh. mit der Staatsleitung in sich funktio-nal differenzierender Gesellschaften mit denEntwicklungsbeschränkungen vergleicht,die in außereuropäischen Staaten mit For-men des »personal rule« auftreten können.

Dennoch bietet diese historisch fundierteund solide ausgearbeitete Studie keine The-orie der Entstehung von moderner Staat-lichkeit. Zwar referiert Wimmer eine Füllevon Theorien und unterschiedliche Begriffs-bildungen in den thematisch nachgeordne-ten Forschungsfeldern und skizziert ideo-graphisch die wichtigsten Eckpunkte undKausalfaktoren, die zur Herausbildung mo-derner Staatlichkeit führten und die dadurchentscheidende Voraussetzungen für die vielspäter einsetzende Demokratisierung schu-fen. Über die vielfach zitierte funktionaleDifferenzierung und Neigung von politi-schen Systemen zur Subsystembildungzwecks Effizienzsteigerung hinaus erfährtman erstaunlich wenig, wie nun die histo-risch singulären Kausalfaktoren theoretischzu systematisieren sind. Die von Wimmerfavorisierte Luhmannsche Gesellschaftsthe-orie, welche die Differenz zwischen Subjektund Objekt auflöst und Gesellschaft jenseitsdes subjektiven Sinns der sozialen Akteureverortet, lässt sich auch weniger plausibelmit einer von sozialen Akteuren getragenenStaatsgeschichte verknüpfen, als dies etwamit einer nicht auf Rational-choice-Theore-me verkürzten voluntaristischen Hand-lungstheorie geleistet werden kann.

Da die Entstehung moderner Staatlichkeitmit einer konvergierenden Entwicklung eu-ropäischer Verfassungsstaaten identifiziertwird, ist Wimmers Studie trotz ihrer Offen-heit für die außereuropäischen Area-studiesnoch zu einseitig europäisch ausgerichtet.Die Einbeziehung Japans als funktional dif-ferenzierteste außereuropäische Gesellschaftmit anders verwurzelten Staats- und Rechts-institutionen hätte als Korrektiv dienenkönnen. Spätestens hier wäre die Notwen-digkeit nicht mehr zu übersehen gewesen,bei der Theoretisierung des politischenWandels auch verstärkt gesellschaftliche Ge-meinschaftsstrukturen und kulturelle Ori-entierungen einzubeziehen. Diese wirkendem festgestellten Trend der Konvergenz»moderner« Staatsinstitutionen entgegen,weil durch diese unterschiedliche Interpene-trationszonen mit dem politischen Systementstehen. Zwar bleibt auch nach der Lektü-re das Verhältnis der europäischen »moder-nen« Staatlichkeit zur außereuropäischenWelt ungeklärt, dennoch bietet WimmersStudie auch aufgrund der Fülle an Literatur-verweisen eine empirisch-historisch fun-dierte und umfassende Einführung in einansonsten sehr kontrovers bearbeitetes For-schungsfeld und vermittelt ein gutes Grund-verständnis für die Voraussetzungen und dieFunktionsweise unterschiedlicher politi-scher Systeme.

Hamburg Paul Georg Geiß

Dietmar SCHILLER: Brennpunkt Plenum.Die Präsentation von Parlamenten im Fern-sehen. Britisches House of Commons undDeutscher Bundestag im Vergleich. Wiesba-den 2002. 482 S., kart./brosch., 36,90 EUR

In der modernen Demokratie sind die Mas-senmedien als wesentlicher Faktor des poli-tischen Prozesses nicht mehr wegzudenken.Bei der Politikdarstellung und -vermittlungsind sie der zentrale Kommunikationskanalzwischen Politik und Bürger und dadurchletzthin unentbehrlich für die Legitimationpolitischer Prozesse und Entscheidungen.Es ist jedoch festzustellen, dass die Medienzunehmend selbst zur politischen Arena ge-worden sind und beispielsweise Talkshows

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im Fernsehen dem Parlament als zentralerInstitution demokratischer Willensbildungden Rang abzulaufen drohen. Die Fragenach der Möglichkeit und den Rahmenbe-dingungen parlamentarischer Öffentlich-keit, v. a. im Fernsehen, ist somit von großerRelevanz. Die Studie von Dietmar Schillerbefasst sich also mit einem wichtigen, inter-essanten und aktuellen Thema, das – wie ertreffend feststellt – bislang nur unbefriedi-gend bearbeitet wurde.

Ausgangspunkt der Untersuchung ist fol-gende Hypothese: Die unterschiedlichenpolitischen Kulturen Deutschlands undGroßbritanniens bedingen eine jeweils spe-zifische öffentliche Konstitution des Politi-schen, ablesbar an der unterschiedlichenFernsehpräsentation der beiden Parlamente(S. 22). Präzisiert wird diese Ausgangshypo-these dahingehend, dass auch Demokratie-,Parlaments- und Fernsehsystemtyp in einenVergleich mit einzubeziehen, letztlich aberdie jeweiligen politischen Kulturmustergrundlegend sind.

Der theoretische 2. Teil spannt auf über120 Seiten solide und vollständig den Kon-text parlamentarischer Präsentation auf:Parlaments- und Demokratietypen werdenebenso behandelt wie das Feld parlamentari-scher Öffentlichkeit unter den Bedingungender massenmedialen Umwelt und schließ-lich das Verhältnis zwischen Parlamentenund politischer Kultur; dass sich Schillerhier sogar den Parlamentsbauten widmet, istparadigmatisch für die Detailverliebtheit derStudie.

Im empirischen 3. Teil nähert sich der Au-tor der Fernsehpräsentation der beiden Par-lamente auf vier Ebenen (S. 36-40): Geneseund Entwicklung der Präsentation, Organi-sationsstruktur des Präsentationsprozesses,Präsentationsformate und Abbildung derparlamentarischen Agenda und Dramaturgieparlamentarischer Inszenierungen. Die Un-tersuchung dieser vier Ebenen stellt auch dasKernstück der Studie dar, wobei der Schwer-punkt klar auf den Präsentationsformatenund noch mehr auf der Dramaturgie liegt. Inden diese letzten beiden Ebenen betreffen-den Abschnitten zeigt sich eine beachtlicheAkribie bei der empirischen Datensammlungund -auswertung. So wird die Abbildung derjeweiligen parlamentarischen Agenda im

Fernsehen über Einschaltquoten, Sendezei-ten, thematische Anteile und Auswertungbereits vorliegender Studien dokumentiertund analysiert. Die televisuelle Dramaturgieparlamentarischer Inszenierungen wird an-hand eines detaillierten semiologischen Un-tersuchungsrasters beleuchtet, in das u. a.auch Kameraeinstellungen, -bewegungen, -perspektiven und -positionen eingehen. Re-sultat sind genaueste Rekonstruktionen undAnalysen einzelner Berichte bis hin zur ge-nauen Erfassung der Dauer einzelner Ab-schnitte in Sekunden. Schließlich werdennochmals auf ca. 100 Seiten Fallstudien zurPräsentation der Parlamente in Magazinsen-dungen und zur Live-Präsentation wichtigerSitzungen durchgeführt, die das untersuchteGesamtspektrum nochmals vertiefen.

Im 4. Teil werden schließlich die Ergeb-nisse der Studie zusammengefasst (S. 434-450). So wird die Etablierung der parlamen-tarischen Fernsehpräsenz zu unterschiedli-chen Zeitpunkten treffend auf gesteigertenLegitimations- (und damit Transparenz-)be-darf zurückgeführt. Bei der Organisations-struktur des Präsentationsprozesses sindbeträchtliche Unterschiede zwischen Groß-britannien und Deutschland festzustellen:Während im ersten Fall die Struktur als par-lamentsdeterminiert beschrieben werdenkann, verfügt der Bundestag über deutlichgeringere Einflussmöglichkeiten auf seineTV-Präsenz in einem fernsehdeterminiertenPräsentationsprozess – zurückzuführen aufdie jeweils unterschiedliche Entwicklungdes Parlamentarismus. Hier wird das Span-nungsverhältnis zwischen Präsentations-wünschen der Politik und Erfordernissenmassenmedialer Arbeitsweise deutlich.Auch die Fernsehabbildung des parlamenta-rischen Prozesses weist beträchtliche Diffe-renzen auf, wobei die Agenda inGroßbritannien durch die regelmäßige wö-chentliche Berichterstattung bedeutend we-niger verzerrt wird als in Deutschland. Sosind die Chancen britischer backbenchersauf Fernsehauftritte größer als die ihrerdeutschen Kollegen. Bei der televisuellenDramaturgie parlamentarischer Debattenschlagen sich klar die unterschiedlichen po-litischen Kulturen diesseits und jenseits desKanals nieder, nicht zuletzt im unterschied-lichen journalistischen Selbstverständnis.

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Die Aufwendigkeit der Studie ist bemer-kenswert. Es stellt sich allerdings auch dieFrage, inwieweit solch akribisches quantita-tives Datensammeln in einer vernünftigenRelation zum erwartbaren Ertrag steht.Auch weckt der ausführliche Theorieteil Er-wartungen, die nicht immer ganz erfülltwerden. Positiv hervorzuheben sind die ge-wissenhafte und systematische Vorgehens-weise der Studie sowie ihre übersichtlicheDarstellung, die sich in der Klarheit derGliederung niederschlägt. Methode undTheorie werden luzide, ausführlich undschlüssig entwickelt. Der Brückenschlagvon der Politikwissenschaft zur Kommuni-kationswissenschaft ist hierbei ein besonde-res Verdienst. Insgesamt also ein wertvollerBeitrag zur Erforschung politischer Kom-munikation im Fernsehzeitalter.

Passau Stefan Köppl

Nils GOLDSCHMIDT / Michael WOHLGE-MUTH (Hg.): Die Zukunft der SozialenMarktwirtschaft. Sozialethische und ord-nungsökonomische Grundlagen. Tübingen2004. Mohr Siebeck. 281 S., kart./brosch.,44,00 EUR.

Der vorliegende Band geht zurück auf dasErste Freiburger Symposium zur Ord-nungsökonomik, das im September 2003vom dortigen Walter Eucken Institut ausge-richtet wurde, und vereinigt die im Rahmendieser Tagung gehaltenen Referate. DerenZiel war es vor allem, so die Herausgeber inihrem Vorwort, »grundlegende Einsichtenüber normative und institutionelle Eigen-schaften einer Wirtschafts- und Sozialord-nung zu gewinnen, die für eine dauerhaftwettbewerbsfähige und gesellschaftlich ak-zeptierte Neuorientierung der SozialenMarktwirtschaft als Leitideen wirken kön-nen«. Den besonderen Reiz des Bandesmacht hierbei sein interdisziplinärer Cha-rakter aus: Es kommen nicht nur die Öko-nomen Jörg Althammer, Thomas Apolte,Detlef Aufderheide, Nils Goldschmidt, Ge-bhard Kirchgässner, Guy Kirsch, WernerMussler, Ingo Pies, Alfred Schüller, JoachimStarbatty, Viktor Vanberg und MichaelWohlgemuth zu Wort, sondern auch die Ju-

risten Stefan Huster und Wernhard Mö-schel, die Politikwissenschaftler WalterReese-Schäfer und Reinhard Zintl, die Phi-losophen Wolfgang Kersting und PeterKoslowski sowie die Theologen UrsulaNothelle-Wildfeuer, Norbert Glatzel,Friedhelm Hengsbach und WolfgangOckenfels. Mit dieser Vielfalt der Autorenwollen die Herausgeber der »im Sozialenund auf dem Markt stets wirksamen Inter-dependenz von Wirtschaftsordnung,Rechtsordnung und kultureller Ordnung«Rechnung tragen sowie die unterschiedli-chen Analyse- und Bewertungsmethodender beteiligten Disziplinen in einen Dialogbringen.

Den dialogischen Charakter des Bandesfördert zudem dessen Anlage, die dadurchbedingt ist, dass die zugrunde liegenden Ta-gungsreferate in Form jeweils eines Haupt-vortrages und zweier auf diesen bezogenerKorreferate gehalten wurden. In dem erstenHauptbeitrag beispielsweise setzt sich Kers-ting mit Modellen philosophischer Sozial-staatsbegründung auseinander und sieht hiereine klare Dominanz von auf egalitaristischeGerechtigkeitstheorien rekurrierenden Mo-dellen, die das Gleichheitsprinzip zum»bethlehemitischen Leitstern« der Sozial-staatsphilosophie erkoren haben. DieserEgalitarismus, wie er von John Rawlsgrundgelegt und etwa von Ronald Dworkinentfaltet worden ist, überschreite die legiti-men Grenzen des Politischen, indem er dieUnterschiede der Menschen in ihren natur-gegebenen und durch Sozialisation erwor-benen Begabungen als moralisch willkürli-che Ungerechtigkeiten geißelt, die durchstaatliche Umverteilungspolitik auszuglei-chen seien, so Kersting. Ein solcher auf ega-litären Kompensationismus zielender Sozi-alstaat sei nicht nur in seiner praktischenUmsetzung schwer vorstellbar, sondern zie-le letztlich auf eine »Schöpfungskorrektur«,eine »Art Zweitschöpfung«, in der die mo-ralischen Versäumnisse der Erstschöpfungbeseitigt würden. Die Hybris einer solchenSozialstaatskonzeption sei Ausdruck einergefährlichen politischen Theologie, die denStatus des Bürgers in der liberalen Demo-kratie unterminiere, letztlich eliminiere.Demgegenüber bemüht sich Kersting umeine liberale Begründung des Sozialstaats

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und vertritt die Auffassung, dieser sei keinGerechtigkeitsinstrument, sondern eine»Veranstaltung politischer Solidarität«, dieder Einsicht Rechnung trage, dass die Wahr-nehmung der liberalen Bürgerrechte einenhinreichenden Grundgüterbesitz vorausset-ze. Der liberale, dem Subsidiaritätsprinzipverpflichtete Sozialstaat übernehme die ba-sale Versorgung dort und nur dort, wo je-mand nicht in der Lage ist, sich und die vonihm einschlägig Abhängigen mit diesenGrundgütern auszustatten. »Der Sozialstaatübernimmt gleichsam in solchen Fällen diefreiheitsrechtliche Ausfallbürgschaft.«

Walter Reese-Schäfer folgt in seinem Kor-referat zwar Kersting in seiner Kritik desEgalitarismus, fragt aber, inwieweit desseneigene »liberale Sozialstaatsbegründung«nicht kommunitarischer Hintergrundan-nahmen bedürfe. Den Sozialstaat als Mög-lichkeitsbedingung der Freiheit für jedenBürger zu verstehen, sei als rein formale De-finition nicht tragend. Das Kriterium hinrei-chenden Ressourcenbesitzes als Vorausset-zung von Freiheit müsse material gefülltwerden. Es habe insofern eine Verständi-gung darüber stattzufinden, »was hinrei-chend ist, und wie die Grenze zwischen demMindesten und dem Mehr gezogen werdenkönnte.« Dies aber sei ein Thema der kom-munitarischen Diskussion und etwa aus-führlich von Martha Nussbaum erörtertworden. Außerdem finde ja auch im Sozial-staat Kerstings eine Umverteilung statt.»Und wenn verteilt wird, dann ist die Frageder Verteilungsgerechtigkeit natürlich auchunausweichlich.« Es müsse eine Entschei-dung darüber getroffen werden, welche Gü-ter der Staat im Notfall bereitstellen solleund nach welchen Prinzipien diese verteiltwerden. »Solche Abwägungen lassen sichnicht cartesianisch deduzieren, sondern nurdurch eine kommunitarische Hermeneutikplausibel machen.« Der Bedarf einer solchenkommunitarischen Ergänzung des liberalenParadigmas deute sich bei Kersting selberan, wenn er den Sozialstaat als »Veranstal-tung politischer Solidarität« charakterisiere.

Der Jurist Stefan Huster schließlich teiltin seinem Korreferat ebenfalls KerstingsKritik des Egalitarismus und meint aus derSicht seines Faches, dass sich die philosophi-schen Theorien der sozialen Gerechtigkeit

»erstaunlich weit von der Realität des Sozi-alstaats entfernt haben.« Die traditionellenLeistungssysteme des deutschen Sozialstaatsseien nicht auf eine allgemeine Umvertei-lung, sondern auf die Gewährleistung einergewissen sozialen Sicherheit ausgerichtet. Esgelte, gesellschaftliche Exklusion zu vermei-den, also jedem Bürger eine demütigungs-freie, grundsätzlich gleichberechtigte Exis-tenz zu gewährleisten. Insofern seiKerstings freiheitsfunktionaler Begründungdes Sozialstaats zuzustimmen. Auch dieRechtsprechung und die staatsrechtliche Li-teratur hätten das Sozialstaatsprinzip desGrundgesetzes immer in dieser Weise inter-pretiert.

Diese wenigen inhaltlichen Hinweisekönnen nur einen kleinen Einblick in denFacettenreichtum des vorliegenden Bandesbieten, der die aktuellen Fragen der Reformder deutschen Wirtschafts- und Sozialord-nung in äußerst gelungener Form themati-siert.

Freiburg Arnd Küppers

André HABISCH: Corporate Citizenship.Gesellschaftliches Engagement von Unter-nehmen in Deutschland. Berlin u. a. 2003.Springer. 247 S., gebunden, m. 38 Abb.,59,95 EUR

Die inzwischen etwas abgeebbte Diskussionum die Bürgergesellschaft soll offenbar mitdem vorliegenden Titel wieder belebt wer-den. Der Autor gibt in seinem ansonstensehr selbstbewussten Vorwort zu, dass ersich die Fertigstellung schon zu einem frü-heren Zeitpunkt gewünscht hätte. Mit demFokus auf das unternehmerische Engage-ment in Deutschland kommt aber trotzdemein durchaus neuer Aspekt in den Blick. Dasangestrebte Ziel, eine Stärkung von Sozial-kapital und ordnungspolitischer Mitverant-wortung der Bürger, erscheint angesichts ei-ner zunehmend anonymisierten undpolitverdrossenen Gesellschaft hochbrisant.

Der Aufbau ist schlüssig. Nach einfüh-renden Worten wird der Inhalt des Begriffsder Bürgergesellschaft zunächst historisch,dann systematisch hergeleitet und entfaltet.Einer breiten Palette von praktischen Bei-

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spielen folgen die Fragen nach den Rahmen-bedingungen und globalen Herausforderun-gen für die gelingende Bürgergesellschaft. Ineinem Anhang sind noch einige weitere An-wendungsfelder und praktische Beispielebenannt. Beim ersten Blick fällt bereits dieFülle der Anglizismen, Abkürzungen undGrafiken in den Blick, die nicht immer denZugang erleichtern. Offenbar liegen demWerk zahlreiche Konzepte für verschiedeneFachpräsentationen zugrunde.

Der einleitende Dank an zahlreiche rang-hohe Politiker aus Wirtschaft und Politikverleiht dem Werk eine Aura der Relevanz.Dagegen wirkt die angebotene Lesehilfe mitihren gut gemeinten, aber doch zuweilen pa-ternalistisch anmutenden Ratschlägen nichtunbedingt einladend. Der nicht-wissen-schaftliche Leser solle die Fußnoten ignorie-ren. Dabei finden sich in den Fußnotennicht einmal Seitenangaben zur vertiefendenLektüre, so dass man sich diesen Apparatauch fast hätte sparen können, wäre da nichtdie ausgezeichnete Literaturzusammenstel-lung am Ende.

Die grundlegende Problemanalyse startetmit der These vom Ende der widerstreiten-den Ordnungssysteme. Doch nach dem Falldes Eisernen Vorhangs ziehen mit denjüngsten Herausforderungen durch funda-mentalistischen Terrorismus offenbar neueäußere Gefahren für die freiheitlich orien-tierten Marktwirtschaften auf. Sei es drum,Habisch geht vom Status quo der Markt-wirtschaft als mehr oder minder konkur-renzlosem Prinzip aus. Seine historischenHinweise belegen überzeugend, dass Ar-beitsteilung und bürgerschaftliches Engage-ment keine Erfindung der Gegenwart sind.Sie erfüllen, so die These, ihrem Wesen nachkeinen Selbstzweck, sondern dienen der Zü-gelung des Hobbes'schen Leviathan. Huma-nität und Menschenwürde werden dazu alsdie entscheidenden Ziele ins Gespräch ge-bracht. Da aber ein Menschenbild nicht for-muliert ist, scheinen die ethisch klingendenZiele - ähnlich wie bei K. Homann - aus ei-nem luftleeren Raum kommend für diepraktische Politik daherpostuliert. Was istalso letztlich mit dem Sozialen Kapital ge-meint? Dem individualistischen Paradigmableibt Habisch verhaftet. Die sozialen Zielefolgen danach der Logik des Egoismus. A.

Smith würde sich über diese Deutung vongebändigtem Leviathan und gesteuertemEgoismus zum Wohlstand freuen, hätte ernicht mit seiner »Theorie der ethischen Ge-fühle« ein Menschenbild vorgestellt, daseben den Selbstzweck menschlicher Hand-lungen an eine natürliche Sozialnatur desMenschen bindet. Diese Legitimationsebenesucht man hier aber vergebens. Dennochmacht sich Habisch zur Aufgabe, diese Ziele- wenn sie schon nicht z. B. im Sinne von A.Smith oder A. Müller-Armack in einemganzheitlichen Personbegriff fundiert sind -in den Wirtschaftskontext zu implementie-ren, und zwar nicht im alleinigen Vertrauenauf die unsichtbaren Marktkräfte. Damit ge-winnen die ethisch-humanen Imperative zu-mindest pragmatisch Gestaltungsrelevanzfür die praktische Politik.

Die Bändigung des Leviathan durch un-ternehmerische Initiativen des »CorporateCitizenship« in den USA wird als nachah-menswertes Vorbild präsentiert. InDeutschland bestehe hier noch erheblicherNachholbedarf. Angesichts der zuweilenundurchsichtigen Begriffsverschleierungenstellt die klar herausgearbeitete Definitiondes »Corporate Citizenship« ein Verdienstdar. Die (ökonomischen) Vorzüge für dieUnternehmen werden ausführlich und über-sichtlich entfaltet. Nochmals wird die Ziel-bindung herausgehoben, nach der Gemein-wohl und Eigennutzen in eine Symbiosegeführt werden sollen. Der Weg zu diesemsozialethisch wie -ökonomisch optimalenAnreizgefüge setzt aber wiederum nicht beider menschlichen Person, sondern bei deninstitutionellen Steuerungsmechanismen an.Für den personalwirtschaftlichen Bereichwird die soziale Komponente herausgestellt,doch ist auch hier die Vorstellung vom»Mitbürger« oder »Mitarbeiter« mehr in ei-ner Pflicht denn in einer Naturanlage be-gründet. In der Personalethik wird eine sol-che Mittelfunktion des Sozialen Kapitalsinzwischen kritisiert (vgl. Personal 5/2003).Zudem bleibt die Frage unbeantwortet, obes einem von ökonomischer Rationalität be-herrschten unternehmerischen Denken ge-lingen kann, die postulierten humanen Zieleeffektiver und nachhaltiger umzusetzen alsdemokratisch-politischen Entscheidungs-prozessen.

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Die Beispiele praktizierten Bürgerengage-ments in Unternehmen sollen wohl zurNachahmung ermutigen. Leider sucht derLeser aber Mutmachendes aus dem Bereichdes Mittelstandes vergeblich, obwohl sichdoch gerade hierzu angesichts ausgeprägte-rer Face-to-face-Beziehungen eine Mengesagen ließe. Bürgerengagement steckt an.Diese These der Selbstperpetuierung bautauf dem Vorbildgedanken auf, der wohlnicht zu unterschätzen ist. Der Arbeitsplatzsolle als Lernort sozialen Verhaltens wieder-entdeckt werden. Leitlinien dafür will Ha-bisch mit den Ergebnissen der Enquete-Kommission »Zukunft des Bürgerschaftli-chen Engagements« ins Gespräch bringen.Das überrascht. Hier nun tauchen plötzlichdie Gewerkschaften als entscheidender Mo-tor auf. Ob diese aber für Bildung, SozialeOrdnung, Kultur und Gesundheit die rich-tigen Antworten einbringen, das darf ge-trost bezweifelt werden. Seinen Faden fin-det das Buch wieder in der (recht knappen)Auseinandersetzung mit kritischen Stim-men. Wer nach ethischen Unternehmens-richtlinien im Sinne des bürgerschaftlichenEngagements sucht, der findet hier über-sichtliche Prinzipien und Argumente (z. B.UN).

Zwar meint Habisch, in eine post-traditi-onelle Gesellschaft hinein ethische Postulateüber das bürgerschaftliche Engagement nurim Rekurs auf pragmatische Marktgesetzeimplementieren zu können. Dabei rekur-riert er aber selbst auf traditionelle Werteund wird damit hoffentlich auch manchenhartgesottenen Nutzenmaximierer zu hu-manen Projekten verführen können.

Bochum Elmar Nass

Wolfgang STREEK / Martin HÖPNER (Hg.):Alle Macht dem Markt? Fallstudien zur Ab-wicklung der Deutschland AG. Frankfurt/New York 2003. Campus Verlag. 289 S.,kart., 29,90 EUR

Während sich Kanzler G. Schröder zurDurchsetzung deutscher Wirtschaftsinteres-sen bekennt, bastelt die Union immer nochan der »neuen« Sozialen Marktwirtschaft.Solche Töne wirken in der sich sonst betont

nach allen Richtungen hin weltoffen geben-den Republik fremd. Doch welches spezi-fisch deutsche Profil soll hier gegen welchebedrohlichen Einflüsse von außen eigentlichbewahrt werden? Inkohärenzen und ver-schwimmende Inhalte verweisen offenbardarauf, dass die Betonung des deutschenWeges nicht frei ist von parteipolitischenPartikularinteressen. Studien, die jenseitsder Alltagspropaganda die aktuellenwirtschaftspolitischen Entwicklungen nachdem Wesen des deutschen Weges befragenund bewerten, sind daher von höchstemwissenschaflichen und politischen Interesse.

Die Diskussion um das, was sie war, dieso genannte »Deutschland AG«, wie es der-zeit um sie bestellt ist und was aus ihr in Zu-kunft werden wird, ist das Thema des vonder Hans-Böckler-Stiftung geförderten undim Rahmen eines Forschungsprojektes amKölner Max-Planck-Institut für Gesell-schaftsforschung (MPIfG) entstandenenAufsatzbandes. Insgesamt 13 (z. T. Nach-wuchs-)Wissenschaftler kommen zu Wort.

Die Untersuchung der »Auswirkungender Internationalisierung von Märkten undpolitischen Entscheidungsprozessen auf dieinstitutionellen Ordnungen des nach demZweiten Weltkrieg entstandenen National-staats« (S. 8) wird bereits in einer Vorbemer-kung als das Programm des MPIfG vor-gestellt. In der Einführung geben dieHerausgeber den folgenden neun Fallstudi-en als theoretische Ausgangsbasis die Thesevon einer Spannung zwischen dem organi-sierten Kapitalismus in Deutschland unddem angelsächsischen liberalen Kapitalis-mus paradigmatisch vor: auf der einen Seitedie bewährte Deutschland AG mit starkenPersonal- und Kapitalverflechtungen, aus-gerichtet an öffentlichen und weniger anKapitalmarktinteressen, mit starken Ban-ken als Schlichtern zwischen staatlichen undunternehmerischen Aktivitäten sowie miteiner ausgeprägten betrieblichen Mitbestim-mung – diese institutionelle Verflechtunggarantierte Stabilität und langfristigesWachstum, verhinderte feindliche Übernah-men von Unternehmen und einen freienManager-Markt; auf der anderen Seite dermarktrationale Geist der Neoklassik, derauf Rational-Choice und individuelle Pro-fitmaximierung setzt und eine Liberalisie-

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rung bis hin zu einem eigenen Markt derUnternehmenskontrolle zulässt. Deutsch-land befindet sich nach dieser Auffassunggerade in der Phase einer Desorganisationdes organisierten Kapitalismus. Dies zeigesich z. B. an abnehmenden Verflechtungenzwischen deutschen Großunternehmen, ander Neuorientierung der Großbanken hinzum Investmentgeschäft, an der verstärktenRentabilitätsorientierung, an der wachsen-den Gefahr feindlicher Übernahmen und ei-ner amerikanisierten Managerideologie.

Der Verweis auf die beschränkte wissen-schaftliche Aussagekraft von Fallstudienstuft diese als Bestätigungen der Ausgangs-these ein, so dass nur den an empirischenEinzelbefunden interessierten Leser nachder Lektüre der Einführung noch etwasNeues erwartet. Wesentliche Thesen lautenhier: Die AEG wurde ein Opfer der Labili-tät im nationalen System politischer Öko-nomie. Der Niedergang der Gemeinwirt-schaft ist nicht die Folge ihrer Ineffizienz,sondern verloren gegangener Glaubwürdig-keit seines Managements. Die engen Ver-flechtungen von Banken und Versicherun-gen führen zu einer Weiterentwicklung undInternationalisierung des »koordiniertenKapitalismus«, nicht aber zu seinem Unter-gang. Der Fall Mannesmann bestätigt einezunehmende Anfälligkeit deutscher Unter-nehmen für feindliche Übernahmen, dieeine Folge des Strategiewechsels der Bankenund zunehmenden Streubesitzes ist. Dieverschiedenen Strategien der großen Phar-makonzerne widerlegen die Konver-genzthese und unterstützen die Prognosewachsender Ausdifferenzierung trotz ver-gleichbarer Herausforderungen. Eine zu-nehmende Kapitalmarktorientierung dientder Rechtfertigung von Rationalisierungen,ist aber keineswegs vom Markt erzwungen.Die betriebliche Mitbestimmung wird auchunter veränderten Bedingungen die Traditi-on des deutschen Weges fortführen. Kurz:Die Deutschland AG hat ausgedient. Sie be-finde sich in einem Wandlungsprozess, vondem am Ende vor allem die Mitbestimmungder Garant der komparativen Vorteile desdeutschen Weges sein werde.

Der Band assoziiert allzusehr das Erhal-tenswerte der deutschen Wirtschaftstraditi-on mit gewerkschaftlichem Profil. Die kom-

parativen Vorteile, die aus der christlichenFundierung der Sozialen Marktwirtschaftherrühren, bleiben verschwiegen (etwa: Treuund Glauben, Subsidiarität), auch die kom-parativen Nachteile, die in den siebzigerJahren durch überzogene Lohnforderungendie »Deutschland AG« von ihrem Weg derSolidität abgebracht haben. So ist die Bot-schaft sicher tendenziös. Doch die Abkehrvom Klassenkampf zur Einsicht gesell-schaftlicher Evolution steht für eine aktuali-sierte Positionierung, die den Diskurs umdie Begründung eines ökonomisch wieethisch zukunftsfähigen Wirtschaftsden-kens voran bringt.

Bochum Elmar Nass

Martin HÖPNER: Wer beherrscht die Unter-nehmen? Shareholder value, Managerherr-schaft und Mitbestimmung in Deutschland.Frankfurt/New York 2003. Campus Verlag.265 S., kart., 29,90 EUR

Weitgehend still geworden ist es in Deutsch-land um die kritische Auseinandersetzungmit dem Shareholder-Value-Prinzip. Ist dasdie Folge einer schleichenden Akzeptanzzunehmender Aktionärsorientierung derUnternehmen oder vielmehr ein Beleg dafür,dass sich das deutsche Modell des organi-sierten Kapitalismus in den vergangenenJahren als immun gegenüber solchen Neuo-rientierungen v. a. aus dem angelsächsischenRaum erwiesen hat? Eine Analyse der Ent-wicklung betriebswirtschaftlichen Denkensgerade zum Ende der neunziger Jahre mussdie empirische Grundlage für eine Antwortsein, die zugleich die aktuellen Wandlungendes deutschen Ordnungsmodells politikwis-senschaftlich interpretiert.

In seiner im Jahr 2002 von der FernUni-versität Hagen angenommenen Dissertationkann M. Höpner auf die Daten eines DFG-Projektes am Kölner Max-Planck-Institutfür Gesellschaftsforschung zurückgreifen.Es gelingt eine stringente Einbettung empi-rischer Befunde in die Diskussion um dieTheorie der Modelle des Kapitalismus. Demvon M. Weber vertretenen Wissenschafts-prinzip folgend bekennt sich Höpner in sei-ner theoretischen Grundlagenreflexion

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einleitend zum »Varieties-of-Capitalim«-Ansatz von P. Hall und D. Soskice. Er habesich gegenüber den ambivalenten Ergebnis-sen der Neokorporatismusforschung als re-alitätsnäher erwiesen.

Es werden zunächst die aktuellen politik-wissenschaftlichen Forschungslinien präsen-tiert. Die angloamerikanische Variante desliberalen Kapitalismus verbindet danachpluralistische Interessenvermittlung mit derIdee einer Mehrheitsdemokratie. Der konti-nentaleuropäische, organisierte Kapitalismussetze dagegen auf die Konsensdemokratiemit starken Verbänden. Diese Gegen-überstellung wird nun analog für die Ebeneder Unternehmenspolitik diskutiert. For-schungsgegenstand ist die Koordinationzwischen Unternehmen. Die Resultate einerAnalyse von Interessen und Koordinations-fähigkeit (Mikroebene) der Unternehmenwerden mit einer Skala nationaler Produkti-onsregime abgeglichen (Makroebene). AlsKriterien für diese Skala werden vier Sphä-ren unterstellt: Corporate Governance, dasAusbildungswesen, industrielle Beziehun-gen und Unternehmenskooperation (Stan-dardisierung u. a.). Potenzielle Effizienz er-fordere eine enge Abstimmung dieserSphären aufeinander. Die Skala weist somitverschiedene Cluster aus, die je für sich opti-mierte Ressourcenallokationen induzierenkönnen. Ein Nebeneinander statt eine Hier-archie der Cluster wird so ausgewiesen. Eszeige sich eine zunehmende Shareholder-Va-lue-Ausrichtung deutscher Unternehmen,obwohl dies dem deutschen Modell koordi-nierter Ökonomie zu widersprechen scheint.

Anhand von differenzierten Indikatoren(die sicher diskutiert werden könnten) weistHöpner den vierzig größten deutschen bör-sennotierten Nichtfinanzunternehmen Indi-zes zur Intensität ihrer kapitalmarktorien-tierten Politik. Vor allem für die globalagierenden Unternehmen sind hohe Werteausgewiesen. Der internationale Wettbewerbhat den Druck des Kapitalmarktes auf zu-nehmende Renditeorientierung verstärkt. Eshat sich zudem bei den Top-Managern einneuer Geist eingestellt, der Leistung an Ren-dite bemisst. Unternehmensinterne Kon-trolle des Managements (Aufsichtsräte) istzunehmend der Kontrolle durch den Marktgewichen. Diese Konstellation komme allen

Beteiligten zugute. Die betriebliche Mitbe-stimmung sei durch diesen Evolutionspro-zess nicht gefährdet, sofern es ihr gelingt,sich verstärkt einzelwirtschaftlich zu orien-tieren. Die Shareholder-Value-Ausrichtungunterstützt die These einer gegenwärtigenModellkonvergenz, die aber zyklisch durcheine Phase der Diversifizierung wieder abge-löst wird. So glaubt Höpner an die Zu-kunftsfähigkeit eines erfolgreichen Paradig-mas kontinentaleuropäischer Ökonomie.

Die stringent auf eine originelle Thesehinauslaufende Studie besticht durch diegelungene Nutzbarmachung empirischerAnalysen für die politikwissenschaftlicheModelltheorie. Man hätte sich aber für einVerstehen des deutschen Modells sowie füreine historische Fundierung der Zukunfts-prognosen eine ausführlichere Vorstellungder Grundlagen des korporativen Denkensgewünscht. Weder die Väter der SozialenMarktwirtschaft noch die Vordenker deskorporativen Gedankens kommen zu Wort(z. B. O. v. Nell-Breuning). Die These aktu-eller Konvergenztendenzen ist mit der Ska-lierung zunehmender Shareholder-Value-Ausrichtung deutscher Großunternehmenhinreichend belegt. Die durchweg positiveBewertung der Konvergenz ist allerdingskritisch zu hinterfragen (extensiv gestiegeneManagergehälter, zunehmender Leistungs-druck, utilitaristische Bewertung von Mitar-beitern). Ob ein zyklischer Automatismusdiese Tendenz ablösen wird, das bleibt hy-pothetisch. Diese überaus spannende Frageregt zur kontroversen Diskussion an. Diehistorischen Fakten belegen das Kommenund Gehen ganzer Kulturräume durch im-perialistische Übergriffe. Der Geist des öko-nomischen Imperialismus, der dem angloa-merikanischen Denken folgt, ist in diesemSinne nicht zu unterschätzen.

Bochum Elmar Nass

Stefan RISSE: Manager außer Kontrolle. WieGier und Größenwahn unsere Wirtschaftruinieren. Berlin 2004, Ullstein Verlag. 268S., TB, 8,95 EUR

Wäre unser Langzeit-Gedächtnis besser ent-wickelt, auf die Schrift von Stefan Riße ließe

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sich verzichten. Weil wir aber von Nach-richten überflutet werden, fällt leicht derVergessenheit anheim, was sich die Elite derWirtschaft alles geleistet hat, den Wirt-schaftsstandort Deutschland zu ruinieren.

Aus seinen Erfahrungen als Wirtschafts-journalist trägt der Autor die gravierendstenVerfehlungen zusammen, deren sich das –vorwiegend deutsche – Management in denvergangenen Jahren schuldig gemacht hat.Über dieses Metier, über Geld und Gier,Machthunger und Größenwahn gibt esreichlich zu berichten: vom Erfindungs-reichtum der Manager bei ihrer schamlosenBereicherung, von unglaublichen »goldenenHandschlägen«, über die Gründe für denAufstieg von Versagern in Führungspositio-nen, über größenwahnsinnige Übernahmenund Fusionen oder auch über Manager alsMedien-Stars wie als Bilanz-Betrüger.

Ganz ähnliche Hybris gilt für die Auf-sichtsräte. Ihre Aufgabe sollte eigentlichsein, die Aktionäre als Besitzer der Unter-nehmen durch wirksame Kontrollen vorden verwerflichen Machenschaften des ope-rativen Managements zu schützen, nicht nurzu kassieren. Für Riße wird der Bock zumGärtner, wenn – wie häufig praktiziert – derVorsitzende des Vorstandes dann auch nochzum Vorsitzenden des Aufsichtsrates wird,um in dieser Position seine früheren Fehl-entscheidungen abzunicken.

Der Autor beschäftigt sich auch mit dem– weniger beachteten, aber äußerst schwer-wiegenden – kriminellen Verhalten derWirtschaftsprüfer, mit den Unternehmens-beratungen, die zu Höchstpreisen Funktio-nen übernehmen, die zu den genuinen Auf-gaben des Managements zählen, sowie mitden horrenden Fehlern von Analysten beider Bewertung von Aktien, im eigenen undim Interesse der (Investment-)Banken. Eineinteressante Marginalie ist, dass den journa-listischen Predigern des Neoliberalismus diepropagandistische Funktion bei dieser Artvon Arbeitsteilung zufällt. In einer »Hitlistedes Versagens« resümiert Riße einige derspektakulärsten Fälle von Gier und Größen-wahn, wobei den deutschen Großbanken,vor allem aber der Deutschen Telekom un-ter Ron Sommer die Paraderolle zufällt.

Dieser who is who der Übeltäter im wei-ßen Kragen ist wichtig, nicht nur weil das

Langzeit-Gedächtnis die bekannten Streichespielt, er ist wichtig deshalb, weil das oft-mals kriminelle Verhalten der Manager inder einst so gepriesenen new economy nichtnur viel Geld der Anleger vernichtet, Ar-beitsplätze massenhaft zerstört, private undgesellschaftliche Armut verursacht und da-durch die gesamt Wirtschafts-Gesellschafttiefgreifend und nachhaltig gestört hat.Doch statt die Staatsanwälte einzuschalten,begnügt man sich, dieses üble Treiben alseine Art von Kavaliersdelikt abzutun, dasdann unter einem euphemistisch als Wirt-schaftsethik bezeichneten Diskurs »aufgear-beitet« wird.

Es ist ein Verdienst dieser Schrift, dieSchuld für die wirtschaftliche und sozialpo-litische Misere Deutschlands einmal nichtbei den Gewerkschaften, den Arbeitern undArbeitslosen auszumachen, vielmehr dezi-diert aufzuzeigen, wo und warum die»Deutschland AG« aufgrund eklatanterFehlleistungen von Unternehmensführun-gen versagt. Ein Mangel des Buches liegt al-lerdings darin, nur einzelne Tatbestände auf-zulisten, ohne also darzutun, dass diesesVerhalten systemisch im Kontext der neoli-beralen Globalisierung steht, in der ebennicht mehr zu gelten scheint, was einst dieKultur des »ehrbaren Kaufmannes« aus-machte.

München Bernd M. Malunat

Hanns MAULL / Sebastian HARNISCH /Constantin GRUND (Hg.): Deutschland imAbseits? Rot-grüne Außenpolitik 1998–2003. Baden-Baden 2003. Nomos. 193 S.,brosch., 29,- EUR

Gregor SCHÖLLGEN: Der Auftritt. Deutsch-lands Rückkehr auf die Weltbühne. Mün-chen 2003. Propyläen. 176 S., Hardcover,18,- EUR

Es gab in der Geschichte der Bundesrepub-lik Deutschland immer wieder Episoden,die von Zeitzeugen, aber auch retrospektivvon Zeitgeschichtlern und Politikwissen-schaftlern als Wegmarken deutscher Außen-politik charakterisiert werden. Zu solchenWegmarken zählten, um nur einige zu nen-

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nen, die Wiederbewaffnung, die Ostverträgesowie die Nachrüstung.

Ob die deutsche Haltung zur militäri-schen Invasion der USA in den Irak imFrühjahr 2003 zu solch einer Wegmarke,oder gar zu einer Wendemarke zählt, ist un-ter Wissenschaftlern und politischen Beob-achtern gegenwärtig heftig umstritten. Wiekaum ein anderes außenpolitisches Themain der über 50-jährigen Geschichte der Bun-desrepublik Deutschland ruft die Haltungder rot-grünen Regierung fast einhelligenWiderspruch in der sich mit Außen-, Sicher-heits- und Verteidigungspolitik befassendenakademischen community in der Bundesre-publik hervor. Es drängt sich der Eindruckauf, als gebe es nur noch eingefleischte At-lantiker.

Fernab der politisch motivierten und nor-mativ beeinflussten Äußerungen diverserKollegen erscheinen die ersten Studien, diesich der Frage nach Kontinuität und Dis-kontinuität deutscher Außenpolitik unterder rot-grünen Regierung (insbesondere mitBlick auf die deutsche Haltung im Vorfeldund während des Irak-Krieges) annähern.

Zwei dieser Studien gilt es hier vorzustel-len. Zum einen das mit viel medialem Auf-wand begleitete Essay des Erlanger Histori-kers Gregor Schöllgen und zum anderen dervon Hans Maull und seinen Trierer Mitar-beitern herausgegebene Sammelband»Deutschland im Abseits?«.

Auf 167 Seiten skizziert Schöllgen in gro-ßen Strichen die Entwicklung der Außenpo-litik der Bundesrepublik Deutschland seitder Wiedervereinigung bis zu den jüngstenEreignissen. Im Zentrum seiner Argumenta-tion steht dabei die Emanzipation der Bun-desrepublik von den Strukturen, die seit derGründung des Staates die konditionieren-den Bedingungen deutscher Außenpolitikdarstellten. War die Akzeptanz der amerika-nischen Hegemonie im politischen Bonn einGebot der Stunde, so schwand diese Akzep-tanz seit der Wiedervereinigung sukzessive.Ausschlaggebend hierfür war laut Schöllgendie verbesserte Sicherheitslage der Bundes-republik. Zum einen befindet sich Deutsch-land, spätestens seit der MitgliedschaftPolens in der NATO, in derselben geopoli-tischen Position, in der sich Frankreich be-fand, als es 1966 beschloss, seine Mitglied-

schaft in der militärischen Integration derNATO zu beenden (S. 93). Durch die ge-wonnene strategische Tiefe (ca. 1.000 km) istdie Bundesrepublik vor einem direkten An-griff auf ihr Territorium sicher. Die Verteidi-gung Deutschlands würde heutzutage an derpolnisch-weißrussischen Grenze beginnen,so wie die Verteidigung von Paris einst amRhein erfolgt wäre.

Zum anderen gibt es seit der Implosiondes Sowjetreiches keine existenzielle Bedro-hung (wie sie einst die UdSSR und ihre Sa-tellitenstaaten darstellten) für die deutscheSicherheit.

Beide Faktoren zusammengenommen ha-ben, so zeigt Schöllgen deutlich, bereitswährend der Amtszeit Helmut Kohls zu ei-ner graduellen Veränderung deutscher Prio-ritäten im Bereich der Sicherheits- und Ver-teidigungspolitik geführt. Weg von denUSA hin zu Europa. Verkleidet wurde die-ser langsam eingeleitete Wandel mit derwohlklingenden Formulierung des »sowohlals auch«. Für Schöllgen ist diese Tendenznunmehr handlungsbestimmend gewordenund fand ihren sichtbarsten Ausdruck darin,dass Deutschland zunächst »die Führungs-rolle als Gegenmacht der USA« übernahm(S. 130), um sie zu einem späteren Zeitpunktan Frankreich abzutreten.

Deutsche Politik wird in Berlin und nichtin Washington gemacht ist für Schöllgen einSchlüsselsatz dieser ganzen Entwicklung,hinter dessen realpolitische Substanz keinezukünftige Bundesregierung mehr zurück-gehen könne, »ganz gleich, wer sie führt undauf welche Parteikonstellationen sie sichstützt« (S. 162). Hier vertraut Schöllgenmöglicherweise allzu stark der sozialisieren-den Wirkung von strukturellen Konstellati-onen, lässt sich doch bereits daran zweifeln,ob die deutsch-französische Gegenmacht-bildung gegenüber den USA nicht nur (sei-tens Schröders) ein taktisches Momentumgewesen ist und ihr möglicherweise wenigerstrategische Substanz zu Grunde gelegenhat, als Schöllgen sich dies wünscht. Obdem jedoch so ist, bleibt abzuwarten.

Ob Schröder im Herbst 2002 und imFrühjahr 2003 in der Tat unumstößliche Tat-sachen geschaffen hat oder nicht, liegt nichtim zentralen Fokus des Sammelbandes, dender Trierer Politikwissenschaftler Hanns

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Maull zusammen mit seinen Mitarbeiternherausgegeben hat. Anders als es der etwasreißerische Titel des Bandes vermuten lässt,geht es hier weniger um die Frage, obDeutschland sich mit seiner Entscheidung,gegen eine militärische Invasion im Irak zuvotieren, in der Tat ins Abseits begeben hat,sondern darum, die Außenpolitik der rot-grünen Regierung einer grundsätzlichenAnalyse zu unterziehen. In insgesamt drei-zehn Beiträgen gehen die Autoren dieserFrage anhand diverser Politikfelder deut-scher Außenpolitik nach. Die Spannbreitereicht dabei von den klassischen Themen(Politik gegenüber den Vereinigten Staaten,Europapolitik, deutsch-französische Bezie-hungen, ESVP-Politik) über regionaleSchwerpunkte (Südosteuropapolitik, Osta-sien und Nah- und Mittelost) bis hin zu sek-toralen Politikbereichen (Menschenrechts-,Außenwirtschafts- und Entwicklungspoli-tik). Die Beiträge einzeln zu würdigen istein Unterfangen, das die Grenzen einer Re-zension bei weitem überschreiten würde.Deshalb sei nur angemerkt, dass es sich beiallen Beiträgen um empirisch fundierte De-tailstudien handelt, die eine Fülle von Infor-mationen enthalten, dabei aber die analyti-sche Perspektive nie aus den Augenverlieren. Wenn man ein einheitliches Fazitziehen möchte, so drängt sich einem derEindruck auf, dass eine Mehrzahl der Auto-ren (darunter auch Hanns Maull) mit Sorgeauf die Zukunft deutscher Außenpolitik bli-cken. Zwar geht Hanns Maull in seinem ein-leitenden Beitrag zu diesem Sammelbandnicht so weit wie in dem September-Heftder Zeitschrift »Internationale Politik«(2003), wo er der außenpolitischen Elite derBundesrepublik eine bewusste Vernachlässi-gung der Außenpolitik (und dies parteiüber-greifend) vorwirft, er beklagt jedoch, dass»mehrere der traditionellen Fundamente derdeutschen Außenpolitik nach 1949 brüchiggeworden« (S. 12) sind. Diese Einschätzungwird durch das Studium der einzelnen Bei-träge durchaus verstärkt. So zeigt NikolasBusse, wie sich die »Entfremdung« zwi-schen den USA und der Bundesrepublik seit1998, mit dem Höhepunkt Irak-Krieg, voll-zogen hat, und Marco Overhaus zeigt deut-lich, dass die Bundesregierung zwar im Rah-men der ESVP die Rolle eines Motors

übernimmt, zugleich jedoch durch die Un-terfinanzierung der Bundeswehr einen Bei-trag dazu leistet, dass das Ziel einer autono-men ESVP in weite Ferne rückt. In vielenanderen Bereichen, so wird deutlich heraus-gearbeitet, fehlt es der rot-grünen Außenpo-litik an kohärenten Konzepten, so dass sienur bedingt in der Lage ist, eigene Akzentezu setzen und eigene Interessen zu verfolgen(vgl. z. B. den Beitrag von Jörn-CarstenGottwald zur Ostasienpolitik). Auch in denBereichen, die für die Koalitionsparteien(und hier insbesondere für Bündnis 90/DieGrünen) im Wahlkampf eine besondereRolle eingenommen haben (Entwicklungs-politik und Menschenrechte), zeigen dieBeiträge von Peter Molt und Florian Pfeilsehr drastisch, dass das konkrete Handelnder Regierung den verbalen Bekundungennicht folgt, ja sie sogar oftmals konterka-riert. Man muss der generellen Aussage desSammelbandes nicht zustimmen. So kannman sich durchaus fragen, ob die zu beob-achtende Erosion der transatlantischen Be-ziehungen nicht durchaus im deutschen In-teresse liegt, wenn sie die Voraussetzung fürihre Neustrukturierung ist. So wie man sichauch die Frage stellen kann, ob die beobach-tete Erosion bewusst betrieben wird odereine unausweichliche Folge der neuen struk-turellen Rahmenbedingungen ist, unter de-nen deutsche Außenpolitik seit dem Endedes Ost-West-Konflikts agiert. Aber manmuss anerkennen, dass die Autoren von»Deutschland im Abseits?« ein neues Argu-ment in die Debatte einbringen, das es wertwäre, in Zukunft intensiver diskutiert zuwerden. Und die empirische Unterfütterungdieses Argumentes wird es für die Kritikerdieser These schwer machen, sie zu widerle-gen.

Es wäre zu wünschen, dass dieser Sam-melband das auslöst, was überall eingeklagt,aber nur selten eingelöst wird: eine grund-sätzliche Debatte über die Zukunft deut-scher Außenpolitik.

Köln Carlo Masala

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Adolf M. BIRKE: Deutschland und Großbri-tannien. Historische Beziehungen und Ver-gleiche (Prinz-Albert-Forschungen, Bd. 1).München 1999. K. G. Saur Verlag. 298 S.,gebunden, 110,- EUR

Der ansprechende und gehaltvolle Sammel-band vereint die wichtigsten Aufsätze desehemaligen Direktors des Deutschen Histo-rischen Instituts London, zuletzt Ordinari-us für Neuere und Neueste Geschichte ander Universität München und zudem lang-jähriger Präsident der Prinz-Albert-Gesell-schaft/Coburg, in der sich deutsche und bri-tische Historiker zur gemeinsamenErforschung der deutschen und der engli-schen Geschichte sowie der wechselseitigenBeziehungen zwischen beiden Völkern zu-sammengefunden haben. Dem entsprechendie Schwerpunkte dieses aus deutschen wieauch aus englischsprachigen Texten zusam-mengestellten Bandes.

Nach einem reichhaltigen und pointierturteilenden Überblick über die gemeinsamedeutsch-englische Geschichte (»Britain andGermany – A Historical Relationship«)widmet sich die erste Sektion des Bandes derenglischen Verfassungs- und Parlamentsge-schichte des 19. Jahrhunderts. Gegenständesind u. a. die britische Parlamentssouveräni-tät, die Revolution von 1848, PrinzgemahlAlbert und die »Wahlrechtsreform undWählerbewegung in England«, eine beson-ders wichtige Studie, weil Birke hier mit im-mer noch gängigen Vorurteilen gründlichaufräumt (eine Eigenschaft, die auch andereseiner Aufsätze auszeichnet!). Die alte Leh-re, dass mit der großen Wahlrechtsreformvon 1832 »das Bürgertum« über »die Aris-tokratie« gesiegt habe, wie sie in Deutsch-land vor allem in den einflussreichenArbeiten des Juristen Karl Loewensteinpropagiert wurde, korrigiert Birke nachhal-tig, indem er darauf hinweist, dass die»schrittweise Demokratisierung des Wahl-rechts in der viktorianischen Epoche …nicht zu einer gleichzeitigen Verdrängungder traditionellen Führungselite zugunstender Repräsentanten bürgerlicher und arbei-tender Klassen geführt« hat (S. 43). Dennbeide der großen Parteien vertraten die Inte-ressen der amalgamierten bürgerlich-adligenOberschicht; sie trennte nur verschiedene

Ansichten über den richtigen politischenWeg des Landes in die politische Moderne.Insofern hat – jedenfalls im 19. Jahrhundert– »der Parlamentarismus … eben nichtzwangsläufig die Demokratisierung be-wirkt« (S. 43).

Spannend zu lesen ist auch Birkes Studieüber die immer wieder diskutierte und um-strittene Frage, warum es 1848 in Englandkeine Revolution wie in Kontinentaleuropagegeben habe. Seine Antwort ist ebenso ein-fach wie überzeugend: Gerade die Industri-elle Revolution, die für die Verarmung brei-ter Schichten verantwortlich war, hatgleichzeitig doch die Lebensbedingungenfür einen nicht geringen Teil der arbeitendenKlassen entscheidend verbessert. Diese Tat-sache, aber auch das Faktum der wesentli-chen Wahlrechtserweiterung von 1832 so-wie die Durchsetzung des Freihandels 1845/46, der wiederum die Kornpreise sinken ließund damit das Hauptnahrungsmittel verbil-ligte, verminderte den sozialen Druck imLande derart, dass es 1848 zwar kurzzeitigzu bedrohlichen Szenarien, nicht jedochzum politischen Umsturz kam.

Der englischen Gewerkschaftsgeschichteist der zweite Abschnitt gewidmet; der Au-tor ist seit seiner stark beachteten Habilitati-onsschrift über die Entstehung der »Plura-lismustheorie« in England (Pluralismus undGewerkschaftsautonomie in England, 1978)ein Spezialist für dieses Thema; seine hierneu abgedruckten Studien etwa über die»Voluntary Associations« oder über »Sozia-le Selbsthilfe und amtliche Sozialpolitik imviktorianischen England« zählen mittler-weile zur Standardliteratur über diese Ge-genstände. – Der britischen Kriegszielpla-nung 1939-1945 und schließlich dendeutsch-britischen Beziehungen der Nach-kriegszeit sind die letzten beiden Schwer-punkte gewidmet. Was das erste Thema an-betrifft, so ist hier besonders hinzuweisenauf die Studie »Warum Deutschlands De-mokratie versagte – Geschichtsanalyse imbritischen Außenministerium 1943/45«.Denn anders als viele angelsächsische Histo-riker, die sich um und nach 1945 der Fragenach den historischen Ursprüngen des deut-schen Nationalsozialismus widmeten, ka-men die Historiker des »Foreign Office Re-search Department« zu dem Schluss, man

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könne trotz aller zeitweiligen Erfolge Hit-lers nicht von einem negativen »deutschenSonderweg« und einer hierin gründendengenuinen Demokratieunfähigkeit der Deut-schen sprechen. Im Gegenteil: Sie wiesennicht nur darauf hin, dass sich »der Weg derersten deutschen Demokratie … unter ex-trem schwierigen Bedingungen vollzogen«habe: »Der Zusammenbruch der WeimarerDemokratie sei aber dennoch nicht determi-niert gewesen. Vielmehr sei er auf eine un-günstige Verquickung politischer, ökonomi-scher, sozialer und kultureller Faktorenzurückzuführen. Es gebe Anzeichen, dassdie Deutschen nach den Lebenserfahrungenunter einem diktatorischen Regime ihreEinstellung zum demokratischen System,das sie 1933 so leichtfertig preisgaben,grundlegend zu ändern bereit seien«(S. 139).

Im letzten Abschnitt findet sich wieder-um ein verfassungsgeschichtlich Aufschluss-reicher Beitrag, der dem britischen Einflussauf die Entstehung und Ausgestaltung desBonner Grundgesetzes von 1949 gewidmetist; es folgen quellenmäßig reichhaltig fun-dierte Einzelstudien zum britischen Weg inden Kalten Krieg und zur englischen »De-mokratisierungspolitik in Westdeutschlandbis 1949«. Der letzte Beitrag schließlichwidmet sich den (damals wie heute zuweilenbefremdlichen) englischen Kommentarenzur deutschen Wiedervereinigung des Jahres1990. Doch aus gegenwärtiger Sicht beson-ders aktuell und lesenswert erscheint Birkesgrundlegender Aufsatz über »Die englischeKrankheit«, erstmals erschienen 1982, amBeginn der Ära Thatcher. Seine nüchternen,unbestechlich sachlichen Bemerkungen le-sen sich heute fast als Kommentar zur ge-genwärtigen Lage in Deutschland; es heißtdort: »Zu großes Vertrauen in die Möglich-keiten rechtlicher und institutioneller Rege-lungen könnte leicht zu einer Überschät-zung der Leistungsfähigkeit desRechtsstaates führen. Hie liegt die eigentli-che Gefahr des ›deutschen Weges‹. Die invielen Bereichen spürbare Erwartungshal-tung an den Staat, die auch und gerade beiseinen Kritikern erkennbar ist, nährt latentdas Gefühl der Enttäuschung über sein Tunund macht ihn zum Sündenbock auch dort,wo seine Möglichkeiten an Grenzen stoßen.

Sollte sich in der Situation einer großen Kri-se dieses Gefühl bis zur entschiedenen Ab-lehnung steigern, dann wäre auch der bisherökonomisch so sanft gefederte bundesdeut-sche Sozial- und Wohlfahrtsstaat nicht da-vor gefeit, durch das Gespenst von Weimareingeholt zu werden. Das ›muddling th-rough‹ der Engländer lässt ähnliche Erwar-tungen und Enttäuschungen erst gar nichtzu. So gesehen könnte sich das Durchwurs-teln als das kleinere Übel erweisen« (S. 119).

Stuttgart Hans-Christof Kraus

Jost DÜLFFER: Europa im Ost-West-Konflikt1945-1991 (= Oldenbourg Grundriß derGeschichte Bd. 18). München 2004. R. Ol-denbourg. 304 S., 2 Karten, Paperback, 24,80EUR.

Während den 15 Jahren der Weimarer Repu-blik ein eigener Band in der renommiertenReihe Oldenbourg Grundriß der Geschich-te gewidmet ist, muss der Kölner HistorikerJost Dülffer 45 Jahre internationale Bezie-hungen, den Ost-West-Konflikt, auf ähnli-chem Raum unterbringen. Dülffers LehrerAndreas Hillgruber war 1979 in klassischerAbgrenzung der Zeitgeschichte von der Ge-genwart nur bis zum Jahr 1963 gelangt.Dülffer hatte dieses Buch später überarbei-tet, nun aber ein völlig neues konzipiert.

Dülffer beginnt seine Darstellung mit ei-nem Kurzessay über den Charakter derEpoche. Der Begriff Ost-West-Konfliktscheint ihm für diese angemessen: zum ei-nen bezeichnet er die drei Kalten Kriege –von der Berlin-Blockade zum Koreakrieg,vom Berlin-Ultimatum bis zur Kubakrisesowie die Zeit des neuen Kalten Krieges mitNATO-Doppelbeschluß und der Präsident-schaft Reagans. Zum anderen vermag eraber auch die Phasen der Entspannung ein-zufangen, deren erste schon 1954 begann.Im zweiten Kapitel befaßt sich Dülffer mitder Vorgeschichte des Ost-West-Konfliktsim Zweiten Weltkrieg. In den folgenden Ka-piteln über die Zeit zwischen den Berlin-Krisen, die westeuropäische Einigung, dieBildung des Ostblocks, den Prozeß der De-kolonisierung, die Entspannungspolitik undden letzten Kalten Krieg in den 1980er Jah-

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ren mit der in der wirtschaftlichen Krise desOstens begründeten anschließenden Auflö-sung des Konflikts bezieht Dülffer nebender dichten Ereignisgeschichte auch immerdie Strategien und gegenseitigen Perzeptio-nen der Hauptakteure ein. Dabei verwendeter distanzierende Formulierungen über diewestliche Wahrnehmung der kommunisti-schen Bedrohung. Ist die Frage nach denUrsachen des Kalten Krieges damit ent-schieden? Bestätigt der dargebotene Ein-druck, dass der Westen immer einen Schrittfrüher bei seiner Konstituierung war (etwabei der Gründung seines Militärbündnisses),die revisionistische Sicht auf den Beginn desKalten Krieges?

Dülffer ist mit seinen Wertungen imzweiten Teil des Bandes, der über die For-schungspositionen informiert, zurückhal-tend, und dies ist für ein Lehrbuch auch an-gemessen. Hin und wieder scheinen seinePositionen jedoch durch: eine Skepsis ge-genüber den Totalitarismustheorien und dieHaltung einer wissenschaftlichen Äquidis-tanz gegenüber den verfeindeten Machtblö-cken. Einige Forschungsergebnisse sind be-streitbar, so wenn Dülffer apodiktischmeint, von einer ideologisch geleiteten Poli-tik zur Ausbreitung des Kommunismuskönne bei der Bildung des Ostblocks nichtdie Rede sein (S. 53). Oder wenn er über dieAbbildung des Ost-West- auf den Nord-Süd-Konflikt meint: »Mit der Zunahme vonSpannungen zwischen Ost und West undder Unterstützung von nationalen Unab-hängigkeitsbewegungen durch die Sowjetu-nion (..) wurde die langfristig zu gestaltendeUnabhängigkeit erschwert, weil indigeneBestrebungen nach Selbstbestimmung alsAusdruck kommunistischer Unterwande-rung wahrgenommen wurden, obwohl dochkommunistische Einflüsse tatsächlich erstdurch rigide westliche Politik Fuß fassenkonnten.« (S. 64) Nicht nachvollziehbar istder Vorwurf gegenüber dem Schwarzbuchdes Kommunismus, es münde in eine »bloßeEntlarvung von Verbrechen« (S. 164). Ge-nau das ist das Ziel dieses Werkes, warumsollte dies nicht legitim sein? Andere The-menfelder erscheinen dem Rezensenten un-tergewichtet, so der Komplex der deutschenDevisenausgleichszahlungen an die USAoder der zur Zeit intensiv erforschte Ein-

fluss von SED und Sowjetunion auf dieFriedensbewegung. Die großen Kontrover-sen um den amerikanischen Atombomben-abwurf, den Ausbruch des Kalten Krieges,die Stalin-Noten schildert Dülffer aber um-fassend und ausgewogen. Die Gründe fürdie Beendigung des Kalten Krieges nennt erklar: »Die Grundlagen für das Umdenkenbildeten die ökonomischen Daten. DieSchere von westlicher und östlicher Ent-wicklung zeigte sich vor allem in der wirt-schaftlichen Leistung (..) An diesem Punktversuchte die Sowjetunion etwas zu ändernund setze unter Gorbaèev zunächst Refor-men des eigenen Gesellschaftssystems inGang, die jedoch grundsätzlich scheitertenund stattdessen insgesamt die Frage nachdem Zusammenhalt im Ostblock aufwarfen.Eine solche Sprengkraft war nicht von vorn-herein abzusehen.« (S. 96) Dülffer beendetseinen Forschungsbericht mit einem Blickauf die dank der vorzeitigen Aktenfreigabeund der Insider-Darstellungen etwa vonCondoleezza Rice schon relativ weit fortge-schrittene Erforschung der deutschen Verei-nigung, welche das Ende des Kalten Kriegessinnfällig zum Ausdruck brachte.

Zwei Allerweltskarten über die Militär-und Wirtschaftsbündnisse sind für den rechthohen Preis eines Paperback-Bandes wohlzu wenig. Entschädigt wird man freilichdurch ein außergewöhnlich detailliertes Per-sonen- und Sachregister sowie eine Zeittafel.Der dritte, bibliographische Teil des Buchesführt 1053 Titel auf. Ergänzt wird diese fein-gegliederte Bibliographie durch eine etwasanders geordnete erweiterte Bibliographieim Internet unter der URL <http://www.in-ternationale-geschichte.historicum.net/ma-terial/bibliographie.html> (23. 3. 2005). Zuhoffen bleibt, dass diese tatsächlich auchdauerhaft abrufbar ist und ggf. aktualisiertwird. Insgesamt verweist Dülffer sinnvollund nicht ausufernd auf Internetressourcenwie etwa auf die vorbildliche Website derEdition Foreign Relations of the United Sta-tes, URL <http://www.state.gov/r/pa/ho/frus/> (23. 3. 2005). Auch auf diesem Feldhat der Autor die Erwartungen an ein mo-dernes Lehrbuch erfüllt. Die angeführtenKritikpunkte schmälern dabei nicht die Ori-entierungsfunktion des Lehrbuches und dieLeistung des Autors, einen so komplexen

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Gegenstand auf knappem Raum luzide dar-gestellt zu haben.

Münster Peter Hoeres

Stefan KÖPPL: Italien: Transition ohne Re-form? Gescheiterte Anläufe zur Verfassungs-reform 1983-1998 im Vergleich. Stuttgart2003. ibidem-Verlag. 206 S., Paperback,29,90 EUR.

Das italienische politische System hat seit1992 einen so tief greifenden Wandel durch-gemacht, dass viele Autoren das Entsteheneiner »zweiten Republik« konstatierten.Diese These gründet jedoch im Wesentli-chen auf der Beobachtung einer grundlegen-den Transformation des Parteiensystems inden 1990er Jahren. Dagegen ist auffallend,dass es zu einer Verfassungsreform bishernicht gekommen ist, die Verfassungsord-nung von 1948 weiterhin fast unverändertgilt, lediglich das Wahlsystem, das aber gera-de nicht in der Verfassung geregelt ist, 1993reformiert wurde. Dies ist umso bemerkens-werter, als eine ausgeprägte Verfassungsde-batte in Italien durchaus existiert. BeideKammern des Parlaments haben in den ver-gangenen zwei Jahrzehnten nicht wenigerals drei Anläufe unternommen, die Verfas-sung grundlegend zu überarbeiten, indemjeweils paritätisch mit Mitgliedern beiderKammern besetzte Kommissionen zur Aus-arbeitung einer Verfassungsreform (so ge-nannte Bicamerali) eingesetzt wurden, diejedoch stets scheiterten. Stefan Köppl legtmit seiner Monographie nun den ersten sys-tematischen politikwissenschaftlichen Ver-gleich der drei Anläufe zur italienischenVerfassungsreform und ihres Scheiterns vor.

Köppl zielt mit seinem Buch auf zweierlei(S. 3): Erstens will er das dreimalige Schei-tern von Verfassungsreformen in Italien be-schreiben und erklären und zweitens will erauf dieser Grundlage allgemeinere Entwick-lungen der italienischen Politik besser ver-stehen helfen. Der Aufbau der Schrift istübersichtlich und einleuchtend: Nach derEinleitung, in der die Fragestellung und der– überraschenderweise auch in italienischerSprache äußerst spärliche – Forschungs-stand vorgestellt wird, präsentiert der Autor

seinen theoretischen Rahmen, der im We-sentlichen auf dem akteurszentrierten Insti-tutionalismus basiert. In einem dritten Ka-pitel werden einerseits äußerst knapp diezentralen Elemente der Verfassungsordnungvon 1948 sowie die Regelungen zu ihrer Än-derung dargestellt; andererseits werden dieStrukturdefekte der Verfassungswirklich-keit, wie sie insbesondere in der ersten Re-publik auftraten und die den Ausgangs-punkt für die Verfassungsreformdebattebildeten, aufgezeigt und diskutiert.

Im vierten Kapitel wird dann die Ge-schichte der drei gescheiterten Anläufe zurVerfassungsreform in Italien geschrieben.Die drei Fallstudien sind vollkommen paral-lel aufgebaut, was die Vergleichbarkeiterhöht. Stets wird eingangs knapp auf diepolitischen Rahmenbedingungen, die Ein-setzung der jeweiligen Verfassungskommis-sion und ihren Auftrag eingegangen, ehe inden folgenden Unterkapiteln jeweils die Zu-sammensetzung der Kommissionen, diewichtigsten Themen und die Positionierungder relevanten Parteien, der chronologischeAblauf, das jeweilige Ergebnis und dieGründe für das jeweilige Scheitern disku-tiert werden. Die drei Fallstudien sind ver-knüpft durch kurze Kapitel, die einen Über-blick über die wichtigsten politischenGeschehnisse zwischen dem Scheitern dervorangegangenen und der Einsetzung dernachfolgenden Bicamerale geben – eine not-wendige Verknüpfung, arbeiteten die Kom-missionen doch bedingt durch das Ende deskalten Krieges, die Aufdeckung massiverKorruptionsskandale, die Reform des Wahl-rechts und die Transformation des Parteien-systems in ganz unterschiedlichen histori-schen Konstellationen.

Das fünfte Kapitel führt die Analyse dereinzelnen Reformversuche dann verglei-chend zusammen, wobei auch hier wieder-um die bei den Fallstudien angewendeteStruktur durchgehalten wird. Dabei fälltauf, dass die vorläufig letzte Bicamerale »inpuncto Zielsetzung, Durchführung und Er-gebnis als der mit Abstand erfolgverspre-chendste Anlauf zu einer durchgreifendenInstitutionenreform gelten« darf (S. 154).Doch auch ihr war letztlich kein Erfolg be-schieden. Auch die Gründe für das Schei-tern dieses und der vorangegangenen Re-

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formversuche werden im fünften Kapiteleingehender diskutiert. Köppl diagnostiziertfür die italienische Verfassungspolitik einePolitikverflechtungsfalle, da es gerade dieStrukturdefekte der italienischen Verfas-sung, die mit der Reform gelindert werdensollten, waren, die eine Reform unmöglichmachten. Die Parteienzersplitterung über-setzte sich in ein weites Spektrum an Re-formvorstellungen; häufig gab es nicht ein-mal innerhalb der Parteien, geschweige dennzwischen ihnen, auch nur grobe Überein-stimmung über die anzustrebende Reform-richtung. Zudem wechselten die Parteiengelegentlich sogar kurzfristig ihre Positio-nen, wie zuletzt 1998 Berlusconis Forza Ita-lia, die auf diese Weise der dritten Bicamera-le den Todesstoß versetzte. Da fast alleParteien Vetopotenzial besaßen, indem siedrohen konnten, die Regierung (oder dasoppositionelle Wahlbündnis) zu verlassen,überrascht die faktische Unmöglichkeit ei-ner Verfassungsreform kaum mehr. In derSchlussbetrachtung wird die Wahrschein-lichkeit eines zukünftigen Reformerfolgsdaher auch skeptisch beurteilt – gleichwohlwird zu Recht hervorgehoben, dass einigeStrukturdefekte der italienischen Demokra-tie auch ohne Verfassungsreformen besei-tigt werden konnten, nicht zuletzt weil dieTransformation des Parteiensystems aucherhebliche Auswirkungen auf das Funktio-nieren des politischen Systems hatte.

Stefan Köppls Arbeit gebührt Lob,schließt sie doch eine Forschungslücke. DieSystematik der empirischen Analyse istüberzeugend und auch die Verknüpfungvon Theorie und Empirie ist insgesamt ge-lungen. Aufgrund der Fragestellung nachden Möglichkeiten und Grenzen derSelbstreform politischer Systeme verdientsie darüber hinaus nicht nur das Interesseder Italienforscher, sondern auch die Auf-merksamkeit eines größeren Publikums.Diesem erschwert der Autor den Zugangleider unnötigerweise dadurch ein wenig,dass er zu häufig italienische Zitate ohneeine deutsche Übersetzung verwendet.Doch dies kann die positive Gesamtbeurtei-lung des Buches nicht schmälern.

Heidelberg Reimut Zohlnhöfer

Robert KAGAN: Macht und Ohnmacht.Amerika und Europa in der neuen Weltord-nung. Berlin 2003. 127 S., kart./brosch.,7,95 EUR

Um es gleich vorwegzunehmen: Mit »Machtund Ohnmacht« legt Robert Kagan, Journa-list und Senior Associate beim Carnegie En-dowment for International Peace, kein neu-es Werk vor, sondern lediglich eine nurgeringfügig erweiterte Fassung seines pro-vozierenden Essays Power and Weakness(Policy Review 113/2002), welches diesseitsund jenseits des Atlantiks für erheblichesAufsehen gesorgt hat.

Diese – nunmehr in deutscher Sprachevorliegende – Streitschrift überzeugt durchihre klaren Aussagen und provozierendeThesen. Die Hauptthese lautet, dass sichEuropa und die USA in »zentralen strategi-schen Fragen« immer weiter auseinanderentwickeln (S. 7). Den Grund für diesesAuseinanderdriften sieht Kagan nicht, wiedies etwa bei Kenneth Waltz, John Mears-heimer und Stephen Walt bereits Mitte derneunziger Jahre thematisiert wurde, in zu-nehmenden Interessendivergenzen, die ausdem Wegfall der gemeinsamen Bedrohungresultierten, sondern in unterschiedlichensicherheits- und machtpolitischen Kulturenauf beiden Seiten des Atlantiks. Die USAüben Macht in einer anarchischen Hobbes-schen Welt aus (S. 7), während die Europäersich von der Macht abwenden bzw. sich so-gar über diese hinausbewegen (ebd.). Euro-päer sind von der Venus, die USA vomMars, lautet die von Kagan dafür geprägte,nicht originelle, da entliehene, aber dennochgriffige Formulierung.

Damit, so Kagan, würden Amerikanerund Europäer die Perspektive tauschen (S.14). Im 18. und 19. Jahrhundert waren dieEuropäer die Vertreter klassischer Machtpo-litik, während die USA eher idealistischenVorstellungen über die Gestaltung ihrer Au-ßenbeziehungen anhängten. Die Exzesse derMacht, die sich in zwei Weltkriegen nieder-schlugen, hätten jedoch aus der Sicht desAutors wesentlich zu diesem Perspektiven-wechsel beigetragen (S. 22 ff.)

Mehr noch: Aus Sicht der Europäer sollsich an der gegenwärtigen Auseinanderent-wicklung auch möglichst wenig ändern, lau-

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tet der Vorwurf Kagans, da die große Machtder USA und die Bereitschaft, die Verant-wortung für den Schutz anderer Staaten zuübernehmen, Amerika zum Hauptfeind fürandere Staaten macht. Eine Situation, an dersich – so mutmaßt Kagan – aus europäischerSicht einstweilen nichts ändern soll (S. 42).

Mithin: Für Kagan sind die Europäernicht nur machtvergessen (H. P. Schwarz),sondern auch noch perfide buck-passer(John Mearsheimer).

Dass es für Kagans These wenig empiri-sche Evidenz gibt, hat Werner Link in seinerRezension des Buches (FAZ 28.03.03) be-reits dargelegt. Deshalb sei an dieser Stelledarauf verwiesen.

Doch nicht nur in der Ausblendung euro-päischer Realitäten ist Kagans »Streitschrift«zu widersprechen, auch in der Interpretati-on amerikanischer Politik ergeht sich derVerfasser in teils idealistischen Vorstellun-gen, die den Blick auf die Realität eher ver-sperren als eröffnen. So zum Beispiel, wennKagan schreibt, dass alle US-Administratio-nen seit dem Ende des Kalten Krieges dasgleichzeitige Führen von zwei Kriegen inverschiedenen Regionen zur Prämisse ame-rikanischer »Strategie und Militärplanung«erhoben hätten (S. 31). Für die Militärpla-nung ist diese Tatsache unbestreitbar. Fürdie Strategie gilt es jedoch hinzuzufügen,dass das Verhindern des Aufkommens regi-onaler Hegemonie seit Bush sr. oberste Ma-xime amerikanischer Strategie ist (vgl. auchNational Security Strategy 2001). Später (S.110) konzidiert Kagan dann jedoch ebendiesen Sachverhalt. Und dass das primäreZiel jeder amerikanischen Administrationseit 1990 die Bewahrung und der Ausbauder amerikanischen Unipolarität im sicher-heitspolitischen Bereich gewesen ist.

In diesem Zusammenhang war und ist esauch von zentralem amerikanischem Inter-esse, das Entstehen von von der NATO un-abhängigen europäischen Entscheidungs-strukturen und –instrumenten im Bereichder Sicherheitspolitik zu verhindern.

Dass die USA in den vergangenen Jahrenalles dafür getan haben, um diese zumindestvon einigen Europäern befürworteten Opti-onen zu verhindern, ist Legende.

Der Grund, warum Kagan diese Entwick-lungen ignoriert (S. 76-77), ist in seinem me-

chanischen Verständnis von Gleichgewichtzu suchen. Für Kagan kann es ein Gleichge-wicht oder Gegengewicht nur dann geben,wenn die europäischen Staaten ernsthafteAnstrengungen unternehmen würden, ihreVerteidigungshaushalte zu erhöhen. Politi-sche Formen der Gegengewichtsbildung,wie wir sie in den letzten Monaten erlebt ha-ben, werden in dieser Perspektive von Ka-gan gänzlich ignoriert.

Mithin: Kagan hat einen eindrucksvollenEssay geschrieben, der es wert ist, gelesenund diskutiert zu werden. Es leidet jedochin starkem Maße an einem eingeschränktenUS-amerikanischen Blickfeld, das die Reali-tät oftmals nicht wahrnimmt und deshalb zufalschen und voreiligen Schlussfolgerungenkommt.

Ob Europa seiner Schlussempfehlung,»sich an die US-Vormachtstellung anzupas-sen«, Folge leisten sollte, hängt davon ab, obEuropa weiterhin bereit sein wird, Objektder internationalen Politik zu sein, oder obes sich anschickt, zum Subjekt ebendieser zuwerden. Tendenzen für letztere Entwick-lung sind gegenwärtig zu erkennen, ob sie inZukunft handlungsbestimmend werden,bleibt abzuwarten.

Köln Carlo Masala

Benjamin R. BARBER: Imperium der Angst.Die USA und die Neuordnung der Welt.München 2003. C. H. Beck. 276 S., gebun-den 19,90 EUR.

Kühle Analyse und heiße Leidenschaft kön-nen bisweilen ebenso energiereiche wie ex-plosive Verbindungen eingehen. Ein Beispielfür den schmalen Grat zwischen Idealismusund Realismus beschreibt das Buch »Impe-rium der Angst« aus der Feder des renom-mierten US-amerikanischen Politikwissen-schaftlers Benjamin Barber. Der Autor legtsachlich und gleichwohl anteilnehmend dar,wie sich die US-amerikanische Politik vonder Idee des präventiven Krieges statt vonderjenigen der präventiven Demokratie lei-ten lässt: Durch die überscharfen Reaktio-nen auf die Herausforderung des Terroris-mus werde die Welt aus ihrem ohnehinprekären Gleichgewicht gebracht.

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So treffend die Diagnose ist, so unsicherbleibt die Therapie, mit der Barber jenes Im-perium der Angst in eine freie »civil society«umwandeln möchte. Die US-amerikanischeAußenpolitik solle sich an der Interdepen-denz der Menschheit orientieren. Eben dar-aus resultiert die Idee der präventiven De-mokratie, denn Interdependenz begreift derVerfasser als »zum Handeln zwingende Re-alität«. Barber scheint die Dependencia-Theorie der siebziger Jahre zu evozieren,wenn er immer wieder als begrenzendenFaktor für das Herrschaftsverhalten derUSA diese von ihm vorausgesetzte gegensei-tige Abhängigkeit unter den Staaten derErde anführt.

Der vormalige Berater der Clinton-Ad-ministration zeigt nicht nur politische Klug-heit, sondern auch vorausschauende Weis-heit, wenn er statt der besonderen US-amerikanischen Form der Demokratie dieallgemeine Idee einer pluralistischen Teilha-be favorisiert. Im Rahmen tradierter und in-digener Institutionen sollen demokratischeHerrschaftsformen entwickelt werden, sodass fanatisierende und kriminogene Nähr-böden austrocknen. Offen bleibt freilich,wie dies in Gesellschaften geschehen soll,die über keinerlei protodemokratische An-lagen verfügen. Wie sind gar Kulturen zudemokratisieren, die in ihrer eigenen Ver-gangenheit noch nicht einmal ein Konzeptvon Freiheit entwickelt haben – sei es alsKollektivgut wie in der antiken DemokratieAthens, sei es als Individualgut wie in denmodernen Demokratien der AtlantischenRevolutionen? Denn Freiheit, das betontBarber immer wieder, ist Voraussetzung fürDemokratie.

Der Professor aus Maryland entwirft dasModell einer öffentlichen Weltmeinung, dieals normatives Metainstitut die neue Ord-nung sanktionieren soll. Die öffentlicheWeltmeinung habe die funktionellen Lü-cken des Völkerrechtes so zu ergänzen, dassdieses nur noch subsidiär greift. Ungewolltschildert der Aufklärer damit jedoch dendrohenden Welttotalitarismus einer gewu-cherten »political correctness«, obwohl erJakobinismen gleich welcher Form aus-drücklich ablehnt. Ist es nicht zumindestwahrscheinlich, dass sich eine solche Ent-wicklung einstellen würde, wenn erst einmal

eine öffentliche Weltmeinung herrschte?Geriete diese nicht eher zur modernen Aus-prägung als einer volonté générale denn zurvormodernen als eines consensus universo-rum?

Eindrucksvoll illustriert Barber, wie inZeiten terroristischer Bedrohung ein Klimavon einschüchternder Unduldsamkeit undpolarisierender Vereinfachung in den USAheraufziehen konnte. Dass ein Buch wiedasjenige von Benjamin R. Barber in denUSA geschrieben wird, zeigt freilich, dassdie US-amerikanische Verfassung intakt ist.

St. Augustin Daniel Hildebrand

Josef BRAML: Amerika, Gott und die Welt –George W. Bushs Außenpolitik auf christ-lich-rechter Basis. Berlin 2005. Matthes &Seitz Verlag. 160 S., brosch., 14,90 EUR.

Das Gute an Josefs Bramls Analyse der reli-giösen Rechten in den USA und ihres Ein-flusses auf die amerikanische Politik ist ihreKürze. Das ist weniger polemisch gemeintals es zunächst klingen mag: In dem Banddes Matthes & Seitz Verlags, der nur dankgroßzügiger Formatierung auf die Stärkevon 160 Seiten anwächst, erfährt der Leserauf knappem Raum viele Fakten und durch-aus interessante Hintergründe zum Netz-werk der religiösen Rechten und ihrem zu-nehmenden politischen Einfluss jenseits desAtlantiks. Wer die eher trocken-nüchterneAufbereitung dieser Fakten nicht scheut –die wohl daher rührt, dass es sich um eineumgearbeitete Studie der »Stiftung Wissen-schaft und Politik« für die Bundesregierunghandelt – darf nach dem Abschluss der Lek-türe endlich gestützt auf Bramls Sachkennt-nis sowie statisches Zahlenmaterial behaup-ten, was man ohnehin spätestens seit derWiederwahl von George W. Bush ahnte:ohne die religiöse Rechte ist in den USAkein Staat mehr zu machen.

Die zentrale These des Bandes lautet, dassdas Wissen um das Gewicht des religiösenFaktors für ein Verstehen der amerikani-schen Politik unabdingbar geworden sei(und Braml belegt diese These ausführlich).Insbesondere die Republikanische Parteiund die religiöse Rechte seien eine Zwecke-

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he eingegangen. Aber man fragt sich: Wennes tatsächlich nur eine Zweckehe und keineLiebesheirat ist, wer ist der eigentlicheNutznießer? Haben die Republikaner es ge-schickt geschafft, das christlich-rechteNetzwerk vor ihrem Wahlkampfkarren zuspannen? Oder haben die religiösen Eifererdie Republikanische Partei schleichend un-terwandert und zum Teil ihres Netzwerksgemacht?

Nachdem im ersten Abschnitt der Unter-suchung ein eher allgemeiner Abriss zu Be-deutung und Struktur der christlichen Rech-ten in den USA gegeben wird, erhofft mansich vom zweiten Teil diesbezüglich Aufklä-rung, denn hier werden eine ganze Reihevon spezifischen Fragen der amerikanischenInnen- und Außenpolitik unter dem Blick-winkel des religiösen Einflussfaktors behan-delt. Doch leider werden die einzelnen The-menbereiche (wie Wirtschaftspolitik,Irakkrieg oder Jerusalem-Frage) nur eherschlaglichtartig beleuchtet. Wer also etwaaufgrund des Untertitels des Bandes erwar-tet, eine fundierte Analyse der AußenpolitikBushs unter dem Aspekt religiös-rechterEinflüsse geboten zu bekommen, wird wohlenttäuscht werden. Weniger (Breite) hättehier sicher die Chance zu mehr (Tiefe) gebo-ten.

Noch befremdlicher wirkt allerdings derUmstand, dass Braml – man ist versucht zusagen: wie der Teufel das Weihwasser – estunlichst vermeidet, jene Fragen zu stellen,die angesichts der eindrücklich nachgezeich-neten Entwicklung doch eigentlich drän-gend gewesen wären: Inwieweit handelt essich bei den Zugeständnissen an die religiöseRechte um machtpolitisches Kalkül oder garum bloße Rhetorik? Weshalb ist es über-haupt zu dem Anwachsen der Bedeutungder religiösen Orientierung in der amerika-nischen Politik gekommen? Und führt dieseEntwicklung nicht zwangsläufig zu einerimmer größeren Polarisierung – nicht nuraußenpolitisch (mit der arabischen Weltebenso wie mit den europäischen Verbünde-ten), sondern eben gerade auch innerhalbder amerikanischen Gesellschaft?

Leider bewegt Bramls Arbeit sich überdie rein deskriptive Ebene kaum hinaus. Er-klärungen für die aufgezeigten Entwicklun-gen werden nicht gegeben. Und es mag zwar

wichtig sein, die große und immer nochwachsende Bedeutung des religiösen Fak-tors in der amerikanischen Politik zurKenntnis zu nehmen, aber es gibt eben auchdie andere, die freiheitliche Seite der ameri-kanischen Gesellschaft. Nicht nur Linksin-tellektuelle fühlen sich zunehmend durchdie religiösen Moralisten und rechtskonser-vativen Falken gegängelt und in ihrer Frei-heit eingeschränkt. Ihre Sichtweise kommtallerdings nicht zu Wort. So gesehen kannman Amerika, Gott und die Welt durchausals eine Art Gegenlektüre zu Michael Moo-res Pamphlet Dude, Where’s My Country?lesen, denn Moores These war es ja genau,dass Bush und die mit ihm verknüpfte Rech-te eben nicht die Mehrheit des Volkswillensverkörpern. So ist es schade, dass Moorezwar die richtigen Fragen stellt, aber überPolemik kaum hinaus reicht, währendBraml das wenige, was er sagt, zwar fundiertbelegt, aber es – sei es bewusst oder unbe-wusst – versäumt, jene Fragen zu stellen, dieeine Antwort Wert gewesen wären.

München Anil K. Jain

Detlef JUNKER: Power and Mission. WasAmerika antreibt. 3. Aufl. Freiburg imBreisgau 2003. Herder. 192 S., Hardcover,19,90 EUR

Was Amerika antreibt ist eine Frage, die sichunzählige Politikwissenschaftler gegenwär-tig stellen. Die Antworten auf diese Fragesind zum größten Teil reduktionistisch, dadie Hauptantriebskräfte der aktuellen ame-rikanischen Außenpolitik in dem Wechselvon der Clinton- zur Bush-Administrationgesehen werden. Der Einzug so genannterneokonservativer Kräfte ins Weiße Hausund in das Pentagon wird zumeist verant-wortlich für eine scheinbar radikale Wendein der US-Außenpolitik gemacht. Die Lö-sung scheint somit auf der Hand zu liegenund die Hoffnung richtet sich auf die kom-menden Präsidentschaftswahlen.

Die »reduktionistische Schule« in der US-Außenpolitik-Analyse versäumt es zumeist,ihre Thesen durch einen systematischenVergleich mit der Politik früherer amerika-nischer Administrationen zu untermauern.

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Ein solcher historischer Blick zurück würdejedoch, wie das Buch des ehemaligen Direk-tors des Deutschen Historischen Instituts inWashington und Professors für Amerikani-sche Geschichte an der Universität Heidel-berg zeigt, zwangsläufig zu einer Revisionder These von der neokonservativen Revo-lution in der amerikanischen Außenpolitikführen. Denn Junkers Hauptthese, die er auf170 Seiten anhand der Analyse amerikani-scher Außenpolitik seit 1776 entfaltet, lau-tet: »Weil der amerikanische Patriotismusmit der zivilreligiösen Sendungsidee derFreiheit tief verbunden ist [...] ist der Auf-stieg der USA zur einzig verbliebenen Su-permacht der Gegenwart [...] untrennbarmit der amerikanischen Idee der Freiheitverbunden.« (S. 9)

Die zivilreligiöse Sendungsidee führte zurGlobalisierung der amerikanischen Außen-politik, deren Grundidee am besten in denWorten des ehemaligen AußenministersRusk wiedergegeben werden kann, der 1965sagte: »Wir müssen uns um alles kümmern.«(S. 12).

Ausgestattet mit den Machtmitteln sowiemit einer Sendungsidee globalisierte sich dieAußenpolitik der USA sukzessive, wie Jun-ker knapp, jedoch deutlich und klar heraus-arbeitet. Da jedoch jedes Sendungsbewusst-sein zu seiner Realisierung einen Feindbraucht, entwickelte sich die US-Außenpo-litik in einer manichäischen Weise, was ins-besondere in Kriegszeiten zu einer »Dämo-nisierung des Gegners« (Carl Schmitt)führte und oftmals in der totalen Vernich-tung des Gegners endete.

Ziel amerikanischer Außenpolitik war esseit der Gründung der Vereinigten Staaten,für das eigene Territorium maximale Sicher-heit zu gewährleisten. Zu diesem Zweckewurde zunächst Lateinamerika unter dieKontrolle der USA gebracht (Monroe-Dok-trin), und in der Folgezeit richtete sich dasInteresse der USA auf die pazifische und at-lantische Gegenküste. Die Furcht vor einemmöglichen Hegemon an diesen Gegenküs-ten, der die amerikanische Sicherheit bedro-hen und zugleich den Einfluss der USA inAsien und Europa einschränken würde, warder entscheidende Motor für den EintrittAmerikas in den Ersten und Zweiten Welt-krieg. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde

die manichäische Falle der USA durch das»Reich des Bösen« besetzt und alle Anstren-gungen der US-Administrationen richtetensich von 1948 bis 1990 darauf, die Sowjetu-nion und ihre Alliierten auf der ganzen Weltzunächst zurückzudrängen und, als dieUdSSR die gesicherte nukleare Zweitschlag-fähigkeit erreichte, einzudämmen. Zugleichgaben sich die US-Administrationen mitdem Ziel der Eindämmung nicht zufrieden,sondern arbeiteten daran, die USA zu derglobal dominierenden Macht werden zu las-sen. Die Ankündigung der Strategic De-fence Initiative ordnet Junker richtigerweisein diese grundlegende Tendenz amerikani-scher Außenpolitik ein. Interessanterweiseweist Junker der Nixon-Administrationeine Sonderstellung in dieser Entwicklungein. Denn Nixon – und noch mehr seinemSicherheitsberater Kissinger – ist es zu ver-danken, dass die bis dahin dominierendengeschichtsphilosophischen Fortschrittsmo-delle, von denen die US-Außenpolitik zu-tiefst geprägt war, einer realpolitischenBetrachtung der Lage wichen, die dazuführte, dass die »Existenz der Hauptmächte,unabhängig von ihrer jeweiligen innerenOrdnung, als legitim anerkannt« wurde(S. 107). Dieser Wechsel ermöglichte dieOrientierung der US-Außenpolitik an derAufrechterhaltung des Gleichgewichts derMächte« und ebnete den Weg zur Entspan-nungspolitik. Mit der Wahl von James E.Carter zum 39sten Präsidenten der USAkehrte jedoch das zivilreligiös motivierteSendungsbewusstsein ins Weiße Haus zu-rück.

Mit dem Fall der Berliner Mauer und derImplosion der Sowjetunion eröffneten sichfür die amerikanische Außenpolitik neueHandlungsspielräume, da es seitdem keinenglobalen Gegner mehr gibt. Diese neuestrukturelle Konstellation führte dazu, dassdie drei amerikanischen Administrationenseit dem Ende des Ost-West-Konflikts derGlobalisierung des amerikanischen Sen-dungsbewusstseins den Vorrang eingeräumthaben. Doch da die Trias amerikanischerAußenpolitik aus »globalen Interessen,Furcht und Missionsidee« (S. 129) bestand,erodierte die innenpolitische Unterstützungfür das globale Engagement der USA zuse-hends. Mit dem 11. September ist die ma-

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nichäische Falle jedoch wieder gefüllt undGeorge Bush steht mit seiner Politik »in derältesten Tradition Amerikas« (S. 171).

Junkers Buch liefert nicht nur einen wich-tigen Beitrag zu einem besseren Verständnisamerikanischer Außenpolitik, sondern istauch aus einer theoretischen Perspektivevon besonderem Interesse. Denn er lieferteinen empirischen Beitrag zur Verifizierungeiner der zentralen Thesen des offensivenRealismus, wonach Großmächte nach im-mer mehr Macht streben, um absolute Si-cherheit zu erzielen, und eine Strategie zurErfüllung dieses Ziels ist der Versuch, globa-le Hegemonie zu erlangen. Und zugleichzeigt Junker, wie dies auch unlängst Chris-topher Layne getan hat, dass die USA, wieJohn Mearsheimer dies behauptet hat, keineAusnahme von dieser generellen Tendenzdarstellen.

Köln Carlo Masala

Harald MÜLLER: Amerika schlägt zurück.Die Weltordnung nach dem 11. September.Frankfurt 2003. Fischer Taschenbuchverlag.288 S., kart., 12,90 EUR

Bücher, die gewissermaßen parallel zu welt-politischen Ereignissen erscheinen, sind oft-mals sogenannte Schnellschüsse. Sie zeich-nen sich zumeist durch Deskription undoberflächliche Analyse aus. Um es gleichvorwegzunehmen: Das jüngste Buch desFrankfurter Politikwissenschaftlers HaraldMüller gehört nicht in diese Kategorie. ImGegenteil: Mit »Amerika schlägt zurück«liefert Müller eine erste umfassende Darstel-lung der weltpolitischen Veränderungennach dem 11. September, die sich durch fun-dierte Kenntnisse und analytische Tiefe aus-zeichnet und zugleich zum Widerspruch he-rausfordert.

In acht empirisch-analytischen Kapitelngeht Müller den Veränderungen der Weltpo-litik ab dem 11. September nach. Ausgehendvon der zutreffenden Einsicht, dass der 11.September die Welt nicht grundlegend ver-ändert hat (S. 29-30), sondern Entwicklun-gen in der internationalen Politik, die bereitsvor dem 11. September, ja eigentlich seitdem Fall der Mauer in nuce zu beobachten

waren, beschleunigt hat, skizziert Müller dieAusgangslage. Sinnvollerweise setzt diesemit einer Betrachtung der Struktur des in-ternationalen Systems sowie einer ausführli-chen Analyse der Machtpotenziale der Ver-einigten Staaten, der einzig verbliebenenSupermacht, ein. Detailliert skizziert Müllerdie Machtfülle der USA in der internationa-len Politik des 21. Jahrhunderts und über-rascht seine Leser mit der Aussage, dassgroße Macht nicht unbedingt Unilateralis-mus wie ein Naturgesetz produziert (S. 45).Große Macht, so könnte man Müller zu-stimmen, nicht, aber übergroße Macht ver-leitet dazu, dies lehrt die Geschichte, nichtmit Bedacht und moderat vorzugehen. DieTendenz zum unilateralen Handeln ist Staa-ten mit übergroßer Macht immanent. Nach-dem weiterhin die Ansätze von Gegen-machtbildung gegenüber den USA kurzskizziert werden und auf die auch nach dem11. September noch immer einer Regulie-rung harrenden globalen Probleme verwie-sen wird (S. 56-63), wendet sich das dritteKapitel des Buches der Frage zu, welche Ur-sprünge der islamistische Terrorismus einerAl-Qaida hat, welche Taktiken und Strategi-en er verfolgt. Diese beiden Kapitel bildendie Präludien zu der eigentlichen Analysedes Buches, die die Auswirkungen des 11.Septembers auf die internationale Politikanalysiert (Kapitel 4-7). Was sind dieHauptentwicklungslinien? Zunächst einmalstellt der Autor fest, dass der 11. Septembereine Rehabilitierung des Staates bewirkt hat.Die Diskussion über Entstaatlichung derPolitik, die insbesondere von der deutschenPolitikwissenschaft in den letzten 10 Jahrenmit Emphase betrieben wurde, hat durchden 11. September und die außen- sowie in-nenpolitischen Reaktionen der Staaten einenbeträchtlichen Dämpfer erhalten. Denn eswurde deutlich, dass nur der Staat, dem esgelingt, »sein Gewaltmonopol zu behaup-ten«, der »transnational verflochtenen Ge-sellschaft ein hinreichendes Minimum an Si-cherheit, auf deren Grundlage sie dieWohlfahrtseffekte von Globalisierung reali-sieren kann« (S. 103), bietet. Dieser Aussageist uneingeschränkt zuzustimmen. Warumder Autor dann jedoch, wenige Seiten spä-ter, behauptet, dass der Staat des Gewaltmo-nopols in einem ewigen Wettbewerb mit

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dem Staat demokratischer Kontrolle unddem Wohlfahrtsstaat steht (S. 108), er-schließt sich nicht, da ersterer, wie Müller jaselbst konstatiert, die Vorraussetzung fürletztere bildet.

Die Reaktionen der USA sowie der regio-nalen Großmächte bilden den Gegenstandder darauf folgenden drei Kapitel (5-7). Wasdie USA und ihre Reaktionen auf den 11.September anbelangt, so wiederholt Müllerhier die in der Literatur oftmals vorzufin-dende These, dass die Neokonservativenden 11. September als window of opportu-nity benutzt haben, um längst ausgearbeite-te Pläne zu realisieren. Als Beleg für dieseThese wird, wie in anderen Studien auch, dieerste Fassung der National Security Strategyvon 1992 (das sog. Wolfowitz-Papier) her-angezogen (S. 134). Unter Bush habe sich –so Müller – die Wendung zur konfrontati-ven Hegemonialmacht (S. 242) vollzogen.Was Müller jedoch nur verhalten andeutet,ist die Tatsache, dass die Wendung amerika-nischer Außen- und Sicherheitspolitik nichterst unter Bush vollzogen wurde, sondernsich bereits in der Clinton-Administrationdeutlich abzeichnete. Was unter Bush hin-zukommt, und dieses Faktum thematisiertMüller nicht, ist die Kombination vonmachtpolitischer Stärke mit missionari-schem Sendungsbewusstsein. Ferner scheintdie Verwendung des Hegemonialbegriffs fürdie gegenwärtige Politik der Bush-Adminis-tration nicht unproblematisch, wenn manHegemonie als Führung definiert, die aufAkzeptanz der Gefolgsstaaten beruht. Dieamerikanische Politik seit dem 11. Septem-ber nimmt immer stärker imperiale Züge anund stößt auf immer weniger Akzeptanz,was der Autor in den Kapiteln über die Re-aktionen der Europäer, der Russen, Chine-sen und Inder auf den 11. September und dieamerikanischen Reaktionen deutlich heraus-arbeitet.

Zu guter Letzt lässt es sich der Autornicht nehmen, eine weltpolitische Strategiefür das 21. Jahrhundert zu formulieren(S. 246 ff.). Hier dominiert der Wunsch, dassdie »Selbstreinigungskräfte der amerikani-schen Demokratie« (S. 266) letztendlich ob-siegen werden, dass die Zivilgesellschaftendiesseits und jenseits des Atlantiks den ame-rikanischen Unilateralismus einschränken

werden. Wünschenswert wäre dies sicher-lich. Doch stellt sich die Frage, warum eineandere Administration als die gegenwärtigeauf die Vorzüge unilateraler Politik verzich-ten sollte, zumal wenn, wie dies beim Krieggegen den Irak der Fall ist, eine überwälti-gende Mehrheit der Zivilgesellschaft hinterder Politik ihrer Administration steht.

Köln Carlo Masala

Rainer RUPP / Burchard BRENTJES / Sieg-wart-Horst GÜNTHER: Vor dem drittenGolfkrieg. Geschichte der Region und ihrerKonflikte. Ursachen und Folgen der Ausein-andersetzung am Golf. Berlin 2002. DasNeue Berlin Verlagsgesellschaft mbH (editi-on ost). 239 S., kart./brosch., 14,90 EUR

Tatsächlich »vor dem dritten Golfkrieg«(2003) wäre man versucht gewesen, dasBuch als Fortschreibung des arbeiter- undbauernstaatlichen Antiamerikanismus bei-seite zu legen, doch unter dem Eindruck derErfahrungen des US-Vorgehens im UN-Si-cherheitsrat und gegen den Irak sowie ange-sichts kritischer Debatten über dieTragfähigkeit der Argumente (vor allem hin-sichtlich irakischer Massenvernichtungswaf-fen) ist das Buch als ein herausforderndespolitisches Buch zu bewerten – sofern mandie zahlreichen Überpointierungen undSchlagworte auf sich beruhen zu lassen ver-mag. Ihre ideologische Vorverpflichtungkönnen oder wollen die drei Autoren nichtrelativieren: Der Irak unter Saddam Husseinsei wiederholt als Aggressor aufgetreten,doch sei nicht nur er ein »Kriegsverbre-cher«, sondern auch der »imperialistischeStaat« USA.

Das macht das Buch einerseits sogar sach-licher lesbar, weil man von Anfang an weiß,aus welcher ideologischen Verpackung mandie berichteten – ehrlich erschütternden –Informationen über das Leiden der Zivilbe-völkerung im Irak, vor allem in und nachden US-geführten Militäraktionen, auspa-cken muss. Andererseits weist die Argu-mentation ungefähr dieselbe intellektuelleEbene auf, die die auszugsweise zitierteRede von Saddam Hussein am erstenKriegstag im Januar 1991 repräsentiert, in

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der es um »kriminellen Zionismus« und den»Satan im Weißen Haus« geht (S. 205). Soführt Siegwart-Horst Günther, Mediziner,Assistent bei Albert Schweitzer in Lambare-ne und als DDR-Bürger seit 1956 regelmä-ßig auf Besuchen im Irak, aus: Nachdem derIrak sozusagen nur Kuwait besetzt habe, er-hielten umgehend 40 000 US-Soldaten denMarschbefehl: Das US-imperialistische»Kriegsszenario«, in das Präsident Bush sen.Saddam habe hineinlocken wollen, sei auf-gegangen (S. 193).

Im Januar 1991 seien dann »430 000 US-Soldaten und eine Viertelmillion Alliierteaus 32 Staaten mit dem Mandat der UNOüber den Irak her[gefallen]«, was »praktischein Weltkrieg« gewesen sei (S. 195). Gün-thers Ausführungen gehen gleichwohl aufdie Gräueltaten Saddams gegenüber seinerBevölkerung und den Kurden ein, mündendann aber in ein Pamphlet: Die USA hätten,mehrfach im Bündnis mit den »Rüstungs-schmieden« der »BRD«, Munition unterVerwendung angereicherten Urans produ-ziert und im Golfkrieg 1991, aber auch imKosovo-Krieg 1999 breit verstreut einge-setzt (S. 223-225). Die Problematik des Ein-satzes von Waffen, die im Verdacht stehen,schwer gesundheits- und erbgutschädigendzu sein, hätte durchaus vertieft und mit demmoralpolitischen Selbstanspruch der USAkontrovers kontrastiert werden können.Stattdessen jedoch endet Günthers Beitragmit der Andeutung, das Problem der Ge-fährdung des Weltfriedens durch Massen-vernichtungswaffen sei nicht der Irak, son-dern die USA, die sich seit dem Golfkrieg1991 eine »Pax Amerikana« erbomben woll-ten (S. 232).

Den kühnen Bogen von der amerikani-schen »Massenvernichtungswaffen-Lüge«zum strategischen Ölinteresse in Zentralasi-en schlägt Rainer Rupp, der aus der »BRD«stammt, aber im Rahmen seiner Tätigkeit imWirtschaftsdirektorat der NATO als Infor-mationslieferant für das sozusagen antiim-perialistisch-demokratische Lager tätig war.Die untergegangene »revolutionäre Sowjet-macht« habe ein Machtvakuum hinterlassen,das Zentralasien zum »Objekt der Begierdewestlicher imperialer Kapitalinteressen« ge-macht habe (S. 30). Vergleichsweise lesens-wert ist demgegenüber die bereits 1998 ver-

fasste Abhandlung von Burchard Brentjes,zu DDR-Zeiten Professor für OrientalischeArchäologie. Sie dreht sich um den »Golfvor den Kriegen«, hält wissenschaftlichenAnsprüchen stand und ist informativ – nichtnur ob des realsozialistischen Jargons undder für den ganzen Band typischen marki-gen Statements wie die amerikanisch-west-europäische »Demonstration totaler Ge-walt gegen die Staaten der Dritten Welt«oder die amerikanische »militärische undwirtschaftliche Okkupation des arabischenErdöls« (S. 32), sondern auch inhaltlich.

Brentjes beschreibt die Golfregion alsZentrum der Menschheitskultur, dessen Er-schütterung durch den »Einfall der europäi-schen Seemächte«, die Pfadabhängigkeitender britischen Kolonialherrschaft, die Ent-wicklung der Erdölwirtschaft und schließ-lich – hier verflüchtigt sich der analytischeDuktus, den die Darstellung zwischendurchgewinnt – die »Eroberung« der Regiondurch die USA und das »Blutvergießen un-ter dem Deckmantel der Vereinten Natio-nen« (S. 33). Immerhin ruft Brentjes beden-kenswerte Fakten in Erinnerung, die vorallem hätten helfen können, im Vorfeld des»dritten Golfkriegs« die Selbstgerechtigkeitder britischen Position kritisch zu hinterfra-gen. Der ganze Irak war letztlich eine briti-sche Schöpfung, eine Zwangsvereinigungder vormaligen getrennten osmanischenProvinzen um Mosul, Bagdad und Basra mitihren unterschiedlichen ethnischen und reli-giösen Minderheiten (S. 122). Bewusstseinfür solche Pfadabhängigkeiten hätte die ver-bohrten Positionen in den deutschen undinternationalen Diskussionen im Vorfeld des»dritten Golfkriegs« ja durchaus weiterbrin-gen können.

Berlin Alexander Siedschlag

Herfried MÜNKLER: Die neuen Kriege.Reinbek bei Hamburg 2004. Rowohlt Ver-lag. 285 S., TB., 8,90 EUR

»Was als Krieg zu bezeichnen ist und wasnicht, ist spätestens seit dem 11. September2001 keine innerakademische Frage mehr,sondern eine Entscheidung von womöglichweltpolitischer Relevanz« (S. 12). Münklers

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primäre Antwort ist, dass die neuen Kriegein vielerlei Hinsicht eine Rückkehr in dieZeit vor der staatlichen Monopolisierungdes Kriegswesens sind. Im historischen Ver-gleich vor allem zum Dreißigjährigen Kriegveranschaulicht Münkler die Besonderhei-ten der neuen Kriege: die Privatisierung, dieAsymmetrisierung und die Autonomisie-rung zuvor militärisch eingebundener unddeswegen vor allem auch politisch steuerba-rer kriegerischer Gewalt.

Die immense strategische Bedeutung vonNichtkombattanten für den gewaltsamenKonfliktaustrag stellt Münkler in aller Härteheraus: zum Ersten grenzüberschreitendeFlüchtlingsströme, die ganze Regionen de-stabilisieren und externe Ressourcen für dieFortsetzung der Gewalt bereitstellen (inso-fern zum Beispiel in Flüchtlingslagern neueKämpfer rekrutiert werden); zum Zweitendie immer häufiger – auch wegen des durchden Sensationsjournalismus ermöglichten»Kriegs«-Wertes solcher Akte – bereits stra-tegisch eingeplante Ausübung von Gräuel-taten an der Zivilbevölkerung (beispielswei-se Verstümmelungen); zum Dritten dermassive Einsatz von Kindersoldaten. Gera-de Kindersoldaten symbolisieren für Münk-ler die Ökonomisierung der »neuen Krie-ge«: Oft werden sie bereits durch die sozio-ökonomische Verelendung ihrer Familienregelrecht zum Einsatz gezwungen, sind inder menschenverachtenden Logik derGewaltprivatiers eine kostengünstige Res-source, effizient einsetzbar und gut kontrol-lierbar (zum Beispiel aufgrund von Drogen-abhängigkeit).

Im Zuge dessen sind die neuen Kriegeauch kein Instrument mehr, um Konflikt-komplexität zu reduzieren: die zwischenden Kontrahenten umkämpfte Frage militä-risch zu entscheiden und dadurch zugleichdie allseitige Akzeptanz der so herbeige-führten Konfliktlösung abzusichern (S. 67f.). In den neuen Kriegen tritt vielmehr andie Stelle des (er-)lösenden Friedensschlus-ses der spannungsgeladene, langwierige undstets vom Scheitern bedrohte Friedenspro-zess.

Während die Bezeichnung »Friedenspro-zess« von den westlichen Staaten gerne imMunde geführt wird, um das gemeinsamenachhaltige Interesse an einer konstruktiven

Konfliktbewältigung herauszustreichen,macht Münkler am Beispiel des Kriegs ge-gen den Terrorismus deutlich, welches in-nerwestliche Konfliktpotenzial dabei be-steht: Europas Idee ist der Frieden durchWiederherstellung von Staatlichkeit, umdem internationalen Terrorismus sein trans-nationales und irredentistisches Potenzialabzugraben. Die USA sehen aber in Staat-lichkeit, wenn auch verfehlter Staatlichkeit(Schlagwort »Schurkenstaaten«), gerade eineHauptursache des internationalen Terroris-mus. Damit ist zwar die Leitfrage des Bu-ches (was ist als Krieg zu bezeichnen undwas nicht, und welche politischen Folgenergeben sich daraus?) nicht unbedingt be-antwortet, aber immerhin der Bogen vonder Gegenwart der Vergangenheit hin zuden gegenwärtigen Grenzen einer gemeinsa-men Bewältigung der Zukunft geschlagen.

Einem Text wie diesem, der nicht ganzklar macht, an welches Publikum er sichwendet, in einer Rezension Rechtes anzu-tun, ist nicht ganz leicht. Da der Autor inseiner Argumentation immer wieder Seiten-hiebe gegen die Friedens- und Konfliktfor-schung platziert, mag es angemessen sein,den Text eben auch nach wissenschaftlichenKriterien im engeren Sinn zu beurteilen undnicht nur als ein interessantes politischesSachbuch zu lesen.

Inwieweit man die zur Sprache kommen-den Fälle politologisch unter den Begriff»Krieg« fassen kann (und welchen analyti-schen Mehrwert diese semantische Etiket-tierung bringt), lässt Münkler zu weit offen.Dass allein der Abgang vom clausewitz-schen Axiom des politischen Charakters desKrieges (deswegen vor allem auch seiner po-litischen Führung) und der Suche nach dergroßen Entscheidungsschlacht es noch nichtunlogisch macht, hinsichtlich der »neuenKriege« überhaupt von »Krieg« zu spre-chen, ist klar. Allerdings geht Münkler mög-lichen systematischen Einwänden gegen dieSubsumierung der neuen Formen internati-onal relevanter militärischer Gewaltausü-bung überhaupt unter den Begriff »Krieg«nicht so kraftvoll nach wie es seinem Argu-mentationsduktus entspräche. Krieg impli-ziert ein Ziel, setzt die Vorstellung seinesEndes voraus. Nun beschreibt Münkler je-doch glasklar, dass private Akteure im Drei-

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ßigjährigen »Krieg« ebenso wie heute direktvon der Gewalt leben und somit kein Inter-esse am Ende der Auseinandersetzungen he-gen. Einige Überlegungen zu diesem Be-griffsparadox zu erfahren, hätte denLesegewinn noch gesteigert.

Berlin Alexander Siedschlag

Corinna HAUSWEDELL / Christoph WEL-LER / Ulrich RATSCH / Reinhard MUTZ /Bruno SCHOCH (Hg.): Friedensgutachten2003. Münster/Hamburg/London 2003. LitVerlag. 317 S., brosch., 12,90 EUR.

Eine unerlässliche Quelle der Friedensfor-schung und der kritischen Sicherheitspolitikist der gemeinsam vom Bonn InternationalCenter for Conversion (BICC), dem Institutfür Entwicklung und Frieden der Universi-tät Duisburg-Essen (INEF), der HessischenStiftung Friedens- und Konfliktforschung(HSFK), dem Institut für Friedensforschungund Sicherheitspolitik an der UniversitätHamburg (IFSH) und der Forschungsstelleder Evangelischen Studiengemeinschaft(FEST) in Heidelberg herausgegebene Band2003 des jährlich erscheinenden Friedens-gutachtens allemal. Nur eines ist er im Grosseiner Artikel keinesfalls: eben ein Gutach-ten, das verschiedene Positionen abwägendgegenüberstellt, zeitgeschichtliche und his-torische Einordnungen aktueller Ereignisseund Entwicklungen vornimmt oder Verläufevon politischen und wissenschaftlichen De-batten über Friedensfragen nachzeichnet.Sofern über die 24 »Einzelanalysen« (die zu-meist nur karge oder gar keine Literaturbe-lege beinhalten und sich bisweilen alspolitische Pamphlete entpuppen) hinweg einBezugsrahmen erkennbar ist, ist das die prä-sentistische These eines zwischen Asymmet-rien hin- und hergerissenen »neuenWeltgefüges« nach dem 11. September. Sys-tematisch ärgerlich ist zudem, dass mehrereBeiträge unter Hinweis auf Artikel 2 (4) derUN-Satzung das Postulat der Kriegsverhü-tung fälschlicherweise zu einem Wesens-merkmal des Völkerrechts nach demZweiten Weltkrieg erklären. Das in Artikel 2(4) zum Ausdruck kommende Wesensmerk-mal ist vielmehr das darüber wesentlich hin-

ausgehende allgemeine Gewaltverbot. Einschlichtes Kriegsverbot wäre der Stand von1928 und dem Briand-Kellogg-Pakt.

Bei Reinhard Mutz (IFSH) kommt esnoch schlimmer, wenn er behauptet, »Zei-chen offener Renitenz« hätten »in der Orga-nisationsgeschichte der NATO Seltenheits-wert«. Vielmehr habe es die (US-)Vormachtimmer verstanden, entweder bündnispoliti-sche Konflikte ständig zu vertagen oder aberin Formelkompromisse zu transformieren.Allein dass nunmehr offene Konflikte an dieOberfläche träten, stelle etwas »qualitativNeues« dar und werfe die Frage auf, »wozudie NATO noch nützen soll« (S. 136). Dassdiese Lesart der NATO-Geschichte Hum-bug ist, zeigen nicht nur die vorliegendenStudien zu den Bündniskrisen der 1950er-,1960er- und 1980er-Jahre, sondern im Übri-gen die aus der friedenspolitischen For-schungsecke selbst stammende Untersu-chung von Thomas Risse über den Einflussder kleineren NATO-Staaten.

Mutz ist keineswegs der einzige in demBand anzutreffende Fall, in dem ein »Gut-achten« Substanzielleres über den jeweiligenGutachter aussagt als über die zu bewälti-genden Sachverhalte. Gleichwohl beinhaltetdas Friedensgutachten einige interessanteAnsätze zu einer in den Tatsachen stehendenMultiperspektive. Dazu gehören die Ausfüh-rungen von Jocelyn Mawdsley (BICC) überdie rhetorische Überkompensation der nachwie vor mangelnden inneren und äußerenGlaubwürdigkeit der Europäischen Sicher-heits- und Verteidigungspolitik. Gerade imLichte dessen argumentiert die Autorin nichtetwa für irgendeine Abkopplung von oderGegenmachtbildung zu den USA, sondernfür eine transatlantische Partnerschaft auf derGrundlage der wechselseitigen Akzeptanzvon Standpunkten und Interessen (S. 156).

Seine Kompetenz hat das Friedensgutach-ten unbestritten in den Analysen zu Afrika,Asien und Lateinamerika. Besonders erhel-lend ist etwa Alexandra Krauses (HSFK) Bi-lanz zur Rolle der EU als friedenspoliti-schem Akteur in Afrikas Region der GroßenSeen, die in eine fundierte Politikempfeh-lung mündet: eine Sozialisationsstrategie, inderen Rahmen die EU versucht, afrikanischeStaaten durch Dialog - aber zugleich frie-denspolitisch-rhetorische Zurückhaltung -

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zu humanitären und demokratischen Nor-men zu führen (S. 169). Dass der Dialog-An-satz gleichwohl kein generelles Instrumentist, um gewaltsamen Konfliktaustrag zu zivi-lisieren, macht Heidrun Zineckers (HSFK)Darstellung der seit dem 19. Jahrhundert inKolumbien grassierenden endemischen Ge-walt deutlich. Seit dem ersten Dialog zwi-schen Regierung und Paramilitärs im Jahr1980 gab es vielfach unterbrochene Ver-handlungsprozesse, bis der Präsident im Fe-bruar 2002 im Zuge des 11. September den»totalen Krieg« gegen alle Guerillas im Landerklärte (S. 221). Im Gegensatz zum Terro-rismus hat die »veralltäglichte Gewalt« inKolumbien jedoch kriminelle Wurzeln, unddas könnte langfristig den Weg zu einer Ver-handlungslösung im Stil der klassischenKonflikttheorie eröffnen. Dafür müssten alleBeteiligten - Staat und Guerilla - angehaltenwerden, ihre Eigeninteressen deutlich zu de-finieren, damit sie sich überhaupt in einemgemeinsamen Verhandlungsfeld bewegenkönnen. Eine sich nicht auf die Fata Morga-na irgendeiner Weltdemokratie versteifendeEU als internationaler Akteur könnte in die-sem Zusammenhang als Lernhelfer, spätervielleicht als Mediator eine »Repolitisie-rung« des Konflikts fördern (S. 228).

Ebenso positiv herauszustellen ist zumBeispiel die von Gunter Schubert (FEST)vorgelegte Bestandsaufnahme von ChinasAußen- und Sicherheitspolitik nach dem 16.Parteitag im November 2002. Sicherheitspo-litik und Rüstungsdoktrin werden sich un-ter der neuen Führung kaum ändern, lautetsein (angenehm) nüchternes wie ernüchtern-des Fazit. Insbesondere dürfe man aus demBlickwinkel Europas nicht übersehen, dassSicherheitspolitik in China dem Militärklassische Aufgaben zuweise: Durchsetzungterritorialer Hoheitsansprüche, Sicherungdes Zugangs zu Ressourcen und Abschre-ckung gegen die Einmischung in »innereAngelegenheiten« (S. 210).

Insofern beinhaltet das Friedensgutachten2003 durchaus Potenziale, auf denen sichaufbauen ließe, um Entwicklungen tatsäch-lich zu begutachten statt im Stil normativerBeliebigkeit allzu brüsk mit Visionen eines»Zivilmacht«-Friedens zu konfrontieren.

Berlin Alexander Siedschlag

Immanuel WALLERSTEIN: Utopistik. Histo-rische Alternativen des 21. Jahrhunderts, ausdem Amerikanischen von Jürgen Pelzer, miteinem Nachwort von Andrea Komlosy.Wien 2002. Promedia Druck- und Verlags-ges.m.b.H. 117 S., kart., 9,90 EUR

Utopistik nennt Immanuel Wallerstein, einrenommierter Soziologe, der sich zuerst alsEntwicklungstheoretiker, dann als Theoreti-ker des modernen, also kapitalistischen»Weltsystems« vor allem akademische Re-putation erwarb, seinen Ansatz, die Mög-lichkeiten darzulegen, die nach dem vonihm vorausgesagten, unweigerlich bevorste-henden endgültigen Zusammenbruch desKapitalismus aufscheinen.

Im Gegensatz zu Utopie erörtert Utopis-tik die Optionen, wie eine alternative,glaubhaft bessere, historisch auch möglicheZukunft gestaltet werden könnte, die aberkeineswegs mit Gewissheit eintreten muss.Unter Bezugnahme auf Max Webers »mate-riale Rationalität« geht es Utopistik also umdie Vereinbarung all dessen, was von Wis-senschaft, Moral und Politik darüber zu er-fahren ist, welches die letzten (welt-)gesell-schaftlichen Ziele sein sollten. Finalegesellschaftliche Gesamtziele festzulegen istnur in der Phase einer systemischen Wei-chenstellung, also in der Zeit eines histori-schen Übergangs realistisch, den Wallerstein»Verwandlungs-ZeitRaum« nennt.

Eine derartige Situation sieht der Autoram Übergang des Jahrtausends gegeben. DieKraft des die Geokultur des Weltsystemsbestimmenden zentristischen Liberalismusverfällt und mit ihm geht das Vertrauen indie Fähigkeit staatlicher Strukturen verlo-ren, das wichtigste Ziel, das ist die Verbesse-rung des Gesamtwohls, zu erreichen. Durchdie implizierte Delegitimierung staatlicherStrukturen greift eine Antistaatsideologieum sich, die einen entscheidenden Pfeilerdes modernen Weltsystems unterminiert,das Staatensystem selbst, ohne den die not-wendige endlose Kapitalakkumulation nichtmöglich ist. Das kapitalistische Weltsystemist damit in seine Krisenphase eingetreten.Die Träume von einer besseren Welt auf-grund beständiger Fortschritte sind geschei-tert, das erwartete Paradies ist verloren.

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ZfP 52. Jg. 2/2005

Kritik 257

In der bereits angebrochenen schwierigenPhase des Übergangs, die vielleicht die kom-menden fünfzig Jahre andauert, wird derKapitalismus weiter geschwächt, vor allemdurch den weltweiten Trend zur Erhöhungder Lohnkosten, durch die Erhöhung derstaatlichen Ausgaben, durch welche sich diesteuerliche Belastung der Unternehmen er-höht, sowie durch die unabdingbare Not-wendigkeit, die Kosten für die Reparaturder globalen Umwelt zu tragen, wodurchwieder die Steuerquote und zugleich dieProduktionskosten der Unternehmen er-höht werden. Diesen Kostendruck von denUnternehmen zu nehmen, werden die ge-schwächten Staaten, die ohnehin in einer»fiskalischen Krise« stecken, weil sie dieAusgaben für unternehmerisch relevante In-frastrukturen erhöhen, die Steuern aber zu-gleich senken sollen, zunehmend weniger inder Lage sein. Als Folge tritt global ver-stärkt das Problem auf, angemessene Profiterealisieren zu können, wodurch zugleich die»Unvermeidbarkeit des Fortschritts« obso-let wird. Wallerstein zeichnet so ein Szena-rio, das von großer Unordnung, persönli-chen Unsicherheiten und Gefährdungen,von Auflösung und Desintegration gekenn-zeichnet ist – das Bild eines historischenSystems in tiefster Krise, das nicht mehr inder Lage ist, in ein Gleichgewicht zurückzu-kehren, sondern in ein unkontrollierbaresChaos versinken muss.

Unter Bezugnahme auf den Ansatz der»materialen Rationalität« erwartet und er-hofft Wallerstein für die Zeit nach demÜbergang ein System sozialer Gerechtig-keit, das relativ demokratisch und egalitärsein könnte, weil der Primat der endlosenKapitalakkumulation beendet wird. So lie-ßen sich Strukturen entwickeln, die der Op-timierung jedermanns Lebensqualität die-nen, aber auch die Rettung der Biosphärebedeuten. Die Errichtung gemeinnützigerBetriebe könnte die Grundlage für den Pro-duktionsmodus des neuen Systems abgeben,das dann vielleicht die nächsten 500 Jahrebestimmen wird, wobei die Kreativität dermenschlichen Phantasie herausgefordert ist.

Natürlich wird die letzte Phase des Über-gangs nicht kampflos verlaufen, vielmehrwerden die Privilegierten mit allen Mittelnversuchen, ihre Privilegien zu bewahren.

Wirksam führen kann die bevorstehendenAuseinandersetzungen für die Unterdrück-ten wohl nur eine zivilgesellschaftliche Re-genbogen-Koalition, auch wenn dies einKampf wird, der keine Garantie dafür bie-tet, dass er von den sozialen Bewegungengewonnen werden wird.

So vage diese Aussichten, so vage abge-fasst ist die gesamte kleine Schrift, und zwarsowohl argumentativ wie auch sprachlich,wozu die oft unglückliche Übersetzung bei-trägt. Die argumentative Vagheit verdanktsich wohl der Tatsache, dass Wallerstein hierbloß eine Kompilation früherer Publikatio-nen vorlegt, ohne deren Kenntnis die Schrifthäufig unverständlich wirkt. Über den In-halt kann man geteilter Meinung sein, aberwer von dem marxistisch geprägten Autoreine Marx gemäße Interpretation des Über-gangs vom kapitalistisch geprägten Weltsys-tem in ein anderes (oder auch in mehrere an-dere) erwartet, wird gewiss enttäuscht.Wallerstein wollte mit diesem Büchleinwohl ein »Alterswerk« vorlegen – sehr»weise« scheint es mir nicht geraten zu sein.

München Bernd M. Malunat

Werner LOH / Wolfgang WIPPERMANN(Hg.): »Faschismus« – kontrovers. Stuttgart2002. Lucius & Lucius. 253 S., kart./brosch.29,- EUR.

Das Unterfangen ist hoch begrüßenswert.Ein Autor vertritt und begründet eine Posi-tion, auf die Kritiker antworten. Der Verfas-ser hat dann Gelegenheit zur Replik. So sinddie Beiträge in der Zeitschrift »Ethik undSozialwissenschaften« aufgebaut, die seitdem Jahr 2002 den Titel »Erwägen – Wissen– Ethik« angenommen hat. Die Kontroverseüber den »Faschismus«-Begriff geht auf eineVeröffentlichung in dieser Zeitschrift zu-rück, ist jedoch erweitert worden.

Wolfgang Wippermann gibt zunächst ineiner ausführlichen Einleitung (S. 1-50) ei-nen Überblick zur Geschichte und Theorie-geschichte des »Faschismus«-Begriffs. An-schließend findet sich der »Hauptartikel«von Wippermann »Hat es Faschismus über-haupt gegeben?« (S. 51-70), auf den 16 in-und ausländische Historiker, Philosophen,

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Politikwissenschaftler und Soziologen (Lo-thar Fritze, Peter Fritzsche, Roger Griffin,Eike Hennig, Klaus Holz, Wolfgang Kraus-haar, Volker Kronenberg, Reinhard Kühnl,Stanley F. Payne, Friedrich Pohlmann, Ka-rin Priester, Werner Röhr, Achim Siegel, Lo-thar Steinbach, Ernst Topitsch, FriedrichZunkel) geantwortet haben (S. 71-161). DerReplik Wippermanns (S. 163-173) folgen dieabschließenden Stellungnahmen der Kriti-ker, von denen bis auf Kühnl, Payne undTopitsch alle diese Gelegenheit genutzt ha-ben (S. 175-252). Eine Duplik Wippermannsunterbleibt – zu Recht. Denn wer das ersteWort hat, muss nicht auch das letzte haben.

Wippermann begründet seine bekannte,in mehreren Büchern verfochtene These,wonach es angängig sei, an einem generi-schen Faschismusbegriff festzuhalten. Tota-litarismustheorien könnten Faschismusthe-orien nicht ersetzen. Dabei bedient er sichmancher Überspitzungen, die nicht denKern seiner Argumentation betreffen, wenner etwa davon spricht, dass »diese Mimikry[des MSI] mit der Umbenennung der Parteiin ›Alleanza Nazionale‹ (Nationale Allianz)ihren Höhepunkt [erreichte]. Dennoch be-steht kein Zweifel, auch diese inzwischenvon Gianfranco Fini angeführte Partei als›faschistisch‹ bzw. ›neofaschistisch‹ zu be-zeichnen« (S. 32). Kein Zweifel? Und: »Umdie Jahrtausendwende herum gab es in eini-gen ostdeutschen Städten und Regionen tat-sächlich so etwas wie ›national befreite Zo-nen‹, die von ›Ausländern‹ oder auch bloß›ausländisch‹ aussehenden Personen nur un-ter Gefahr für Leib und Leben betreten wer-den konnten, was ein Gefahrenpotentialdarstellt« (S. 39). Tatsächlich?

Aber auch bei Wippermanns Kritikernfinden sich zuweilen Überspitzungen (be-sonders krass bei Reinhard Kühnl und Wer-ner Röhr). Der Rezensent findet am über-zeugendsten die Einwände von VolkerKronenberg und Friedrich Pohlmann, fürdie kein Gegensatz von Faschismus- undTotalitarismustheorie bestehen muss. Wip-permann bestreitet dies in seiner Entgeg-nung mit wenig plausiblen Einwänden. Inden erneuten Repliken verweist WolfgangKraushaar zu Recht auf Wippermanns»Phobie gegenüber jeglichem Ansatz zu ei-ner Totalitarismustheorie« (S. 206).

Wie immer man diese Kontroverse be-werten mag (für den Rezensenten ist die Po-sition Wippermanns nicht tragfähig genug):Die Vorgehensweise des Bandes verdientuneingeschränkte Unterstützung. Sie istAusdruck von Wissenschaftspluralismus,das Spektrum der Autoren erfreulich breit.In einer Zeit, in der (auch in der Wissen-schaft) Lagermentalität dominiert, gehörtein solcher Band zu den Ausnahmen. Manmuss verstärkt miteinander reden. WernerLoh sei Dank.

Chemnitz Eckhard Jesse

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