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University of Zurich Zurich Open Repository and Archive Winterthurerstr. 190 CH-8057 Zurich http://www.zora.uzh.ch Year: 2003 Historiker vor Gericht: Geschichtswissenschaftliches Arbeiten im Rahmen der Kommunikationsgrundrechte Kley, A; Zihler, F Kley, A; Zihler, F (2003). Historiker vor Gericht: Geschichtswissenschaftliches Arbeiten im Rahmen der Kommunikationsgrundrechte. Medialex : Zeitschrift für Kommunikationsrecht, 8(2):187-195. Postprint available at: http://www.zora.uzh.ch Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich. http://www.zora.uzh.ch Originally published at: Medialex : Zeitschrift für Kommunikationsrecht 2003, 8(2):187-195.

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University of ZurichZurich Open Repository and Archive

Winterthurerstr. 190

CH-8057 Zurich

http://www.zora.uzh.ch

Year: 2003

Historiker vor Gericht: Geschichtswissenschaftliches Arbeitenim Rahmen der Kommunikationsgrundrechte

Kley, A; Zihler, F

Kley, A; Zihler, F (2003). Historiker vor Gericht: Geschichtswissenschaftliches Arbeiten im Rahmen derKommunikationsgrundrechte. Medialex : Zeitschrift für Kommunikationsrecht, 8(2):187-195.Postprint available at:http://www.zora.uzh.ch

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Kley, A; Zihler, F (2003). Historiker vor Gericht: Geschichtswissenschaftliches Arbeiten im Rahmen derKommunikationsgrundrechte. Medialex : Zeitschrift für Kommunikationsrecht, 8(2):187-195.Postprint available at:http://www.zora.uzh.ch

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I. Von der Geschichte als Welten-richterin zum Historiker vorGericht

Nach Hegel hat die Geschichtswissen-schaft die Aufgabe, «Weltgericht»1 zu sein.In der Tat ist der Geschichtswissenschaftin den letzten Jahren diese Rolle zuge-schrieben worden2. Die Rolle eines Staatesim Verhältnis zum Holocaust durch dasDritte Reich gab Anlass zu Untersuchun-gen seitens offiziell eingesetzter «Histori-kerkommissionen». Sie hatten die Aufga-be, die Streitfrage zu entscheiden, ob einFehlverhalten vorlag und wer dafür verant-wortlich zu machen sei. Freilich kann dieGeschichtswissenschaft dieses Urteil nichtfällen. Sie würde sich in die politische Aus-einandersetzung begeben und kann ihr Ur-teil nicht mit allgemein verbindlichenNormen begründen. Die Geschichtsschrei-bung ist kein Urteil, sondern Ausdruck dermenschlichen Erfahrungen im Kollektivund des Kollektivs. Dabei liefert diese Er-

fahrung nicht endgültige Ergebnisse, son-dern ist immer nur vorläufig3.

Die Arbeit der schweizerischen Historiker-kommission ist nicht Gegenstand dernachfolgenden Überlegungen. Vielmehrgeht es um die rechtlichen Bedingungenhistorischer Arbeiten aus grundrechtlicherHinsicht. Historiker können insoferntatsächlich vor Gericht kommen. Die Ar-beitsbedingungen von Historikern stehenin einem doppelten Bezug zur Meinungs-freiheit, nämlich wie kommt ein Historikerzu seinem Material aus öffentlichen Archi-ven (Informationsfreiheit des Art. 16 Abs.3 BV, Abschnitt II.) und welche gesetzli-chen Restriktionen sind bei der Veröffent-lichung seiner Arbeiten zu beachten (Art.16 und 17 Abs. 1 und Art. 20 i.V.m. Art. 36BV, Abschnitt III.)? Schliesslich: Gibt es ge-schichtliche Tatsachen als absolute Gren-zen für Äusserungen auch von Historikern(Abschnitt IV.)?

II. Informationsfreiheit: BeschränkteEinsichtnahme in Archive

1. Problem der Informationsfreiheit

Gemäss Art. 16 Abs. 3 BV kann jedermannInformationen aus «allgemein zugängli-chen Quellen« beschaffen und verbreiten.Die Qualifikation einer Quelle als allge-mein zugänglich ergibt sich nach den an-wendbaren gesetzlichen Vorschriften. Dasbedeutet, dass der Verfassungsrichter ei-nem Historiker nicht Hand dazu bietet, ansich geheime, aber nicht schützenswerteInformationen aktiv zu erschliessen4. DieInformationsfreiheit ist damit dem Geset-

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Etudes & réflexions

Untersuchungen & Meinungen

Historiker vor GerichtGeschichtswissenschaftliches Arbeiten im Rahmender Kommunikationsgrundrechte

Andreas Kley Professor für … an der Universität Bern

Florian ZihlerLic. iur, LLM.Eur, Assistent …

1 Vgl. GEORG FRIEDRICH WILHELM HEGEL, Grundliniender Philosophie des Rechts, Werke, Band 7,Frankfurt a.M.: Suhrkamp1986, S. 503, § 340.

2 Z.B. für die Schweiz: Unabhängige Experten-kommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg, dieSchweiz, der Nationalsozialismus und derZweite Weltkrieg, Schlussbericht, Zürich: Pen-do Verlag 2002; vgl. dazu http://www.uek.ch(April 2003). Die Kriegsschuldfrage im ErstenWeltkrieg wurde durch ein Gutachten von HER-MANN KANTOROWICZ untersucht: Gutachten zurKriegsschuldfrage 1914, aus dem Nachlass,Frankfurt a.M. 1967.

3 Vgl. dazu eingehend mit weiteren Hinweisen:BRIGITTE STUDER, Geschichte als Gericht – Ge-schichte vor Gericht. Oder: wie justiziabel istdie Historie? In: Traverse, Zeitschrift für Ge-schichte – Revue d’histoire, 2001/1, S. 97-102.

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zesvorbehalt unterstellt und die anwend-baren Gesetzesvorschriften fliessen unmit-telbar in das Grundrecht ein. Im folgendensollen die typischen Regelungen am Bei-spiel des Bundesarchivs vorgestellt wer-den.

2. Zweck und Modalitäten der Archivie-rung

Die Archivierung dient der Aufbewahrungund Erschliessung von erhaltenswertemAktenmaterial, d.h. von rechtlich, poli-tisch, wirtschaftlich, sozial oder kulturellwertvollen Unterlagen5. Einerseits soll da-mit Rechtssicherheit und eine rationelleVerwaltungsführung ermöglicht werden.Andererseits geht es um die Bewahrung al-ler Arten von Dokumenten für eine umfas-sende historische und sozialwissenschaftli-che Forschung6.

Nach dem Bundesgesetz vom 26. Juni1998 über die Archivierung (im FolgendenBGA) ist grundsätzlich das Bundesarchivfür die Archivierung der Unterlagen desBundes zuständig7. Soweit ein Bundesge-setz nichts anderes vorsieht, sind die Kan-tone für die Archivierung ihrer Unterlagenselber verantwortlich, selbst wenn diese imZusammenhang mit dem Vollzug vonBundesaufgaben entstanden sind8. In sol-chen Fällen gelangt kantonales Recht zurAnwendung, das aber mit den bundes-rechtlichen Normen oft vergleichbar ist9.Das Archivierungsgesetz sieht vor, dass je-dermann, der Bundesaufgaben wahr-nimmt, der Pflicht unterliegt, dem Bun-desarchiv nicht mehr benötigte Unterla-gen zur Archivierung anzubieten10. DieUnterlagen sind so aufbereitet einzurei-chen, dass ohne zusätzlichen Aufwand dieArchivwürdigkeit bewertet und eine allfäl-lige Archivierung vorgenommen werdenkann11. Das Bundesarchiv legt auf Vor-schlag der anbietepflichtigen Verwaltungs-träger die Archivwürdigkeit fest12.

Sind Unterlagen archiviert, so unterliegensie einer Schutzfrist von 30 Jahren13, d.h.sie bleiben während dieser Zeit weiterhinnicht öffentlich zugänglich. Diese Rege-lung widerspiegelt das nach wie vor gel-tende Geheimhaltungsprinzip mit Öffent-lichkeitsvorbehalt14. Waren aber die Aktenvor ihrer Archivierung öffentlich zugäng-lich, so bleiben sie es auch weiterhin15.

Diese Bestimmung wird bei einem allfälli-gen Bundesgesetz über die Öffentlichkeitder Bundesverwaltung als Koordinations-bestimmung wichtig werden, denn die öf-fentliche Zugänglichkeit von Unterlagenist dann an Hand dieses Öffentlichkeitsge-setzes zu bestimmen16. Archivgut, dasnach Personennamen erschlossen ist undbesonders schützenswerte Personendatenoder Persönlichkeitsprofile enthält, unter-liegt sogar einer Schutzfrist von 50 Jahren.Ausgenommen davon sind Fälle, bei de-nen die betroffene Person in die Aktenein-sicht einwilligt hat oder seit mehr als dreiJahren tot17 ist oder bei denen nicht-perso-

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Kley/Ziehler | Historiker vor Gericht

Zusammenfassung: Diehistorische Forschung istin den letzten Jahren indas Zentrum des Interes-ses gerückt. Dabei stellensich aus medienrechtlicherSicht Fragen, welche dasmethodische Vorgehender Historiker berühren.Der Beitrag behandeltdeshalb die grundrechtli-chen Bedingungenhistorischer Arbeiten. DieArbeitsbedingungen vonHistorikern stehen ineinem doppelten Bezugzur Meinungsfreiheit:Nämlich wie kommt einHistoriker zu seinemMaterial aus öffentlichenArchiven (Informations-freiheit des Art. 16 Abs. 3BV) und welche gesetzli-chen Restriktionen sindbei der Veröffentlichungseiner Arbeiten zu beach-ten (Art. 16 und 17 Abs. 1und Art. 20 i.V.m. Art. 36BV)? Schliesslich: Gibt esgeschichtliche Tatsachenals absolute Grenzen fürÄusserungen auch vonHistorikern? SolcheGrenzen kann die Verwir-kung der Grundrechtebzw. die strafrechtlichenSchranken der Meinungs-freiheit setzen.

4 Bundesgerichtsurteil vom 18.10.2002(1P.240/2002), E. 3.1; BGE 127 I 145 E. 4c/aa,S. 153 f.; JÖRG PAUL MÜLLER, Grundrechte in derSchweiz, 3. Aufl., Bern 1999, S. 282 m.w.H.

5 Art. 3 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 26. Juni1998 über die Archivierung (BGA, SR 152.1)und die dazugehörende Verordnung vom 8.September 1999 zum Bundesgesetz über dieArchivierung (Archivierungsverordnung, VB-GA, SR 152.11).

6 Art. 2 Abs. 2 BGA; Botschaft des Bundesratesvom 26. Februar 1997 über das BGA, BBl 1997II 941 ff., S. 952.

7 Art. 4 Abs. 1 BGA. Das Bundesgericht, das Eid-genössische Versicherungsgericht, die Schwei-zerische Nationalbank und vom Bundesrat alsautonom bezeichnete Anstalten sorgengrundsätzlich selber für die Archivierung (Art. 1Abs. 3 und Art. 4 Abs. 3 BGA). Für die beidenGerichte gelten neben den allgemeinen Anfor-derungen des BGA und der VBGA (Fn. 5) dieVerordnung des Bundesgerichts vom 27. Sep-tember 1999 zum Archivierungsgesetz (SR152.21) und die Verordnung des Eidgenössi-schen Versicherungsgerichts zum Archivie-rungsgesetz vom 26.Oktober 1999 (SR152.22).

8 Art. 4 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 lit. h BGA.9 Vgl. Botschaft des Bundesrates vom 26. Febru-

ar 1997 über das BGA, BBl 1997 II 941 ff., S.946; in diesem Sinn auch BGE 127 I 145 E. 4c/bb S. 154.

10 Art. 6 BGA i.V.m. Art. 4 VBGA.11 Art. 5 Abs. 1 VBGA. Nach Abs. 4 erlässt das

Bundesarchiv dazu genauere Richtlinien (siehehttp://www.bar.admin.ch à Überlieferungsbil-dung (April 2003)).

12 Art. 7 BGA i.V.m. Art. 5 Abs. 2, 3 und Art. 6VBGA.

13 Art. 9 Abs. 1 BGA. Die Schutzfrist beginnt mitdem Datum des jüngsten, vom Inhalt her rele-vanten Dokuments eines Geschäftes oder Dos-siers (Art. 10 BGA i.V.m. Art. 13 VBGA).

14 Vgl. ANDREAS KLEY/ESTHER TOPHINKE, Kommentarzu Art. 16 BV, N. 32, in: Die schweizerischeBundesverfassung, Kommentar, Zürich/Lachen2002, S. 253.

15 Art. 9 Abs. 2 BGA.16 Vgl. Botschaft zum Bundesgesetz über die Öf-

fentlichkeit der Verwaltung vom 12.2.2003,BBl 2003 1963 ff., S. 1978.

17 Art. 11 Abs. 1 und 2 BGA. Besonders schüt-zenswerte Personendaten sind etwa Daten

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nenbezogene Nachforschungen bezwecktwerden18. Bei gewissen Kategorien von Ar-chivgut (z.B. von der Bundesanwaltschaftoder vom VBS19) oder im Einzelfall zurWahrung überwiegender schutzwürdigerInteressen kann die Schutzfrist verlängertwerden. Die Erstreckung darf zusammenmit der gewöhnlichen Schutzfrist nichtlänger als 50 Jahre dauern20.

3. Einsichtnahme durch Historikerwährend der Schutzdauer

Obwohl mit der Archivierung die Voraus-setzungen für die historische und sozialwis-senschaftliche Forschung geschaffen wer-den sollen21, sieht das Gesetz jedoch keinWissenschaftsprivileg vor22. Für die Ein-sichtnahme während der Schutzfrist geltenalso auch für Historiker die allgemeinenVoraussetzungen von Art. 13 BGA. DasRecht auf Einsichtnahme während derSchutzfrist ist anerkannt. Umstritten ist je-doch regelmässig, ob die abliefernde Behör-de ein Gesuch auf Einsichtnahme aufGrund entgegenstehender öffentlicherund/oder privater Interessen ablehnendarf. Ein wissenschaftlich arbeitender Hi-storiker kann sein Interesse zusätzlich mitder Wissenschaftsfreiheit des Art. 20 BVverstärken. Das Bundesgericht hat zwarArt. 20 BV nur für den Fall als Schlüssel zuzusätzlichen Informationen angesehen, alsein «spezifischer Forschungsansatz« die Er-schliessung von Akten erfordere23. Es isthingegen beruhigend vom Bundesgerichtim Fall Wottreng zu hören, dass nicht nurdie Natur-, sondern auch die Geistes-, Sozi-al- und historischen Wissenschaften sichauf Art. 20 BV berufen können. Das Bun-desgericht hielt den Beizug der Strafregi-ster-Akten «unter dem Gesichtswinkel derWissenschaftlichkeit« für nicht zwingendund verweigerte dem Journalisten und Hi-storiker Wottreng deshalb die Aktenein-sicht und die Berufung auf Art. 20 BV24.

Die Schutzfristen von 30 bis 50 Jahren sol-len überwiegende öffentliche oder privateInteressen schützen25. Der Gesetzgeber ver-mutet, dass diese durch eine allgemeineZugänglichkeit verletzt würden. Sind sol-che Interessen jedoch nicht gefährdet undverbietet keine gesetzliche Vorschrift dieEinsichtnahme während der Schutzfrist, somuss einem Gesuchsteller Einsicht in dievon ihm gewünschten Unterlagen gewährt

werden. Auf Grund des Verhältnismässig-keitsprinzips nach Art. 5 Abs. 2 und 36 Abs.3 BV muss die Einsichtnahme gewährlei-stet werden, wenn die entgegenstehendenInteressen mit Auflagen oder Bedingungenausreichend geschützt werden können. Daskann etwa durch Anonymisierung von Per-sonen oder durch Auflagen an die Moda-litäten der Veröffentlichung durch den Ge-suchsteller26 geschehen.

Die wichtigsten öffentlichen Interessenwerden in der Archivierungsverordnungdefiniert27, nämlich die innere und äussereSicherheit der Eidgenossenschaft, die Be-ziehungen des Bundes zu den Kantonen,zu ausländischen Staaten und internatio-nalen Organisationen und die Handlungs-fähigkeit des Bundesrates. Dabei muss dieöffentliche Sicherheit der Eidgenossen-schaft bloss gefährdet sein, währenddemdie Gefährdung der übrigen Interessen dau-erhaft bzw. schwerwiegend sein muss.Steht die öffentliche Sicherheit des Bundesin Frage, so scheinen höhere Anforderun-gen für die Gewährung einer Einsicht zugelten. Ein Gutachten des Bundesamtes fürJustiz vertritt jedoch die Ansicht, dass dieöffentliche Sicherheit ernsthaft gefährdetsein muss, da in einemdemokratischenStaat Schutzmassnahmen eine Ausnah-meerscheinung bleiben müssten. Selbst dieGeheimhaltungs-Klassifizierung gewisser

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Untersuchungen & Meinungen

Kley/Ziehler | Historiker vor Gericht

über religiöse und politische Ansichten und Tätigkeiten, über Mas-snahmen der sozialen Hilfe oder über strafrechtliche Sanktionen(vgl. dazu und zu weiteren Beispielen Art. 3 lit. c des Bundesgeset-zes vom 19. Juni 1992 über den Datenschutz (DSG; SR 235.1). EinPersönlichkeitsprofil ist eine Zusammenstellung von Daten, die eineBeurteilung wesentlicher Aspekte der Persönlichkeit einer natürli-chen Person erlaubt (Art. 3 lit. d DSG; vgl. auch VPB 65-48).

18 Art. 11 Abs. 3 BGA. Art. 13 Abs. 2 lit. e DSG (Fn. 17) sieht eine ähn-liche Regelung vor.

19 Siehe dazu Anhang 3 der VBGA.20 Art. 12 BGA i.V.m. Art. 14 VBGA.21 Siehe Fn. 6.22 BGE 127 I 145 E. 4 c/bb S. 154. Dies wurde u.a. mit der Rechts-

gleichheit und der schwierigen Definition des Wissenschaftsbegriffsbegründet; vgl. Botschaft des Bundesrates vom 26. Februar 1997über das BGA, BBl 1997 II 941 ff., S. 962.

23 BGE 127 I 145 E. 4 d/cc, S. 157: «Auch unter dem Gesichtspunktder Wissenschaftlichkeit des zu erstellenden Werkes bedarf es derEinsicht in die Akten nicht zwingend; diese ist nicht allein schondeshalb in Frage gestellt, weil gewisse Quellen nicht ausgeschöpftwerden können“.

24 BGE 127 I 145 E. 4 d/cc, S. 157. Das Bundesgericht zeigte demJournalisten indessen den Weg und dieser erhielt später entspre-chend Einsicht. Sein Werk erschien 2002 im Orell-Füssli-Verlag,Zürich: WILLI WOTTRENG: Tino – König des Untergrundes. Die wildenJahre der Halbstarken und Rocker.

25 Botschaft des Bundesrates vom 26. Februar 1997 über das BGA, BBl1997 II 941 ff., S. 957.

26 Art. 11 Abs. 3 und 13 Abs. 3 BGA; Art. 19 VBGA.27 Art. 14 Abs. 3 VBGA.

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Unterlagen28 könne nur ein Indiz für Ge-heimhaltungsinteressen sein, da diese imLaufe der Zeit entfallen können29. DerSchutz der Polizeigüter (z.B. Leib und Le-ben von in den Unterlagen erwähnten Per-sonen) wird von der Verordnung nicht aus-drücklich erwähnt, ist jedoch ebenfalls alslegitimes öffentliches Interesse zu betrach-ten30.

Die Akteneinsicht darf nur verweigert wer-den, wenn sie geeignet ist, die öffentlichenInteressen zu gefährden. Ansonsten wäreein Eingriff in das Einsichtsrecht unver-hältnismässig. Ausserdem ist stets eine Gü-terabwägung zwischen dem Aktenein-sichtsrecht und den gefährdeten öffentli-chen Interessen vorzunehmen. Nimmt diezuständige Behörde eine solche nicht vor,so liegt eine formelle Rechtsverweigerungvor31.

Private Interessen können einer Einsicht-nahme durch Historiker ebenfalls entge-genstehen. Dazu zählen etwa der Schutzvor vorzeitiger Offenbarung von Berufs-und Fabrikationsgeheimnissen32, die kör-perliche und psychische Integrität, die Ge-heim- und Intimsphäre sowie die informa-tionelle Selbstbestimmung einer Person33.Die Archiveinsicht muss wiederum geeig-net sein, die betreffenden Rechtgüter zu ge-

fährden und die Güterabwägung muss zuLasten des Einsichtsrechts ausfallen.

Es ist möglich, dass nach dem Wegfall öf-fentlicher Interessen weiterhin überwie-gende private Interessen bestehen. Aller-dings werden bei Personen, die als Politikerund Amtsträger öffentlich in Erscheinungtraten, meist keine legitimen privaten In-teressen anzunehmen sein34. Personen derZeitgeschichte, wie z.B. Bundesräte, hoheMilitärs, Bundesrichter und Amtsdirekto-ren, können hinsichtlich ihrer Tätigkeit inder Öffentlichkeit keine überwiegenden pri-vaten Interessen beanspruchen35.

4. Rechtsschutz bei verweigerterEinsichtnahme

Die Behörde, welche die Archivalien ur-sprünglich erstellt oder empfangen hat, er-lässt eine Verfügung nach Art. 5 Abs. 1VwVG36 betreffend Einsichtnahme37. Hatein Bundesamt38 verfügt, so kann Verwal-tungsbeschwerde beim entsprechendenDepartement39 und letztinstanzlich beimBundesrat40 erhoben werden. Die Verwal-tungsgerichtsbeschwerde an das Bundesge-richt ist wohl ausgeschlossen, da die Aus-nahme von Art. 100 Abs. 1 lit. a OG (inne-re und äussere Sicherheit) greift41. Hat keinBundesamt verfügt, so richtet sich derRechtsweg nach dem Sezialerlass, etwa derVerordnung des Bundesgerichts zum Ar-chivierungsgesetz42. Ansonsten kommendie allgemeinen Verfahrensregeln des Ver-waltungsverfahrens- und des Organisati-onsgesetzes der Bundesrechtspflege zumZug.

5. Beurteilung: Archive beginnen zuerzählen ...

Der Prinzip geheimer Verwaltungs- undGerichtstätigkeit befindet sich auf demRückzug. Johann Gustav Droysen (1808-1884)43 bedauerte, dass es ihm nicht ver-gönnt war, «andere als die bekannten Quel-len zu benutzen». Daraus schloss er:«Wahrlich es ist nicht gut, dass unsere Ge-schichte stumm ist». Die Zeit der «schwei-genden Archive«44 scheint angesichts desgrossen Interesses an historischen For-schungen abzulaufen. Freilich fehlt ein ei-gentlicher Durchbruch auf der Ebene derVerfassung oder der Gesetzgebung. ImBund und in vielen Kantonen ist das Öf-

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Kley/Ziehler | Historiker vor Gericht

28 Siehe Fn. 19.29 Gutachten des Bundesamtes für Justiz vom 30. April 1990 betref-

fend Einsichtsrecht in Strafakten der Militärjustiz in Sachen Landes-verräter während des Aktivdienstes 1939-1945. In: VPB 55-3, E.2.4.1 (S. 33 ff.). Vgl. WILLY HUBER, Das Recht des Bürgers auf Ak-teneinsicht im Verwaltungsverfahren, Dissertation St. Gallen 1980,S. 178.

30 VPB 55-3, E. 2.4.1 (S. 35). WILLY HUBER (Fn. 29), S. 179.31 BGE 110 Ia 83 E. 4 S. 85 f.32 Art. 14 Abs. 4 VBGA.33 VPB 55-3, E. 2.4.2 (S. 35).34 Siehe Fn. 33.35 Art. 18 Abs. 4 VBGA.36 Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungs-

verfahren (VwVG, SR 172.021).37 Art. 22 Abs. 1 VBGA.38 Auch das Bundesarchiv ist als zentrale Verwaltungseinheit des Eid-

genössischen Departements des Innern ein Bundesamt (Regie-rungs- und Verwaltungsverordnung vom 25. November 1998(RVOV, SR 172.010.1), Anhang, lit. B, EDI).

39 Art. 47a VwVG (Fn. 36).40 Art. 72 und 74 VwVG (Fn. 36).41 Art. 100 Abs. 1 lit. a des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 1943

über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG, SR 173.110).Aufschlussreich dazu VPB 40-12, S. 49; BGE 104 Ib 129 E. 1 S. 131f.; 118 Ib 277 E. 2b S. 280; 121 II 248 E. 1 S. 250.

42 Art. 16 (Fn. 7).43 DROYSEN ..... Vorlesungen über die Freiheitskriege, Erster Theil, Kiel

1846, Vorwort (ohne Seitenzahlen).44 DROYSEN (Fn. 43).

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fentlichkeitsprinzip mit Geheimnisvorbe-halt noch immer nicht eingeführt wor-den45. Deshalb werden sich die Forscherweiterhin im Einzelfall um eine Einsichtbemühen müssen. Die Abwägung der Inter-essen im Rahmen der Verhältnismässig-keitsprüfung bleibt bedeutsam.

III. Bedingungen historischer (Mei-nungs-) Äusserungen in Radiound Fernsehen

1. Ausgangspunkt: Geschichtswissen-schaftliche Quellenkritik

In der modernen Geschichtswissenschaftist die Bedeutung der Kritik zunächst durchBarthold Georg Niebuhr (1776-1831) ent-wickelt worden. Später hat Johann GustavDroysen in seinen Vorlesungen über die«Historik» die moderne historisch-kritischeMethode verfeinert46. Dabei handelt es sichnicht um eine bestimmte Methode der Ge-schichtsforschung, sondern um ein beson-deres Verständnis im Umgang mit Quellenund den daraus zu ziehenden Schlüssen.Droysen unterschied:

a) Kritik der Echtheit: «Es fragt sich, ob dasMaterial wirklich das ist, wofür es gehaltenwird oder gehalten werden will»47.

b) Kritik des Früheren und Späteren: «Esfragt sich, ob das Material noch unverän-dert das ist, was es ursprünglich war undnoch sein will, oder welche Veränderungenan demselben zu erkennen und ausserRechnung zu stellen sind» 48.

c) Kritik des Richtigen (oder Quellenkri-tik49): «Es fragt sich, ob das Material, da eswurde, das gab und geben konnte, wofür esals Beleg gehalten wird oder gehalten wer-den will, oder ob es gleich, da es wurde,nur teilweise, nur in gewisser Art, nur rela-tiv richtig sein konnte oder wollte»50.

d) Kritische Ordnung des verifizierten Ma-terials: «Es fragt sich, ob das Material, wiees vorliegt, noch alle Momente enthält,von denen die Forschung Zeugnis sucht,oder in welchem Masse es unvollständigist»51.

Auch nach dem Zusammenwirken dieservier Formen historischer Kritik ist nachDroysen das Ergebnis von Kritik nicht «‘die

eigentliche historische Tatsache’, sondern,dass das Material bereit gemacht ist, eineverhältnismässig sichere und korrekte Auf-fassung zu ermöglichen»52. Der Historikerund der historisch recherchierende Journa-list formulieren Hypothesen, die sichdurch die Erhebung von Faktenmaterial zuThesen verdichten lassen. Je nach Ausgangvon Verifikation bzw. Falsifikation ist eineHypothese abzuändern oder sogar fallen zulassen53.

Das Bundesgericht hatte sich in seinen Ur-teilen zum (strafrechtlichen) Fall Hofer-Frick54 mit der Quellenarbeit des Histori-kers Walther Hofer beschäftigt. Es hob denFreispruch von der «üblen Nachrede gegeneinen Verstorbenen» auf. Hofer hätte als«gewiegter Historiker» den Fehler «auf denersten Blick erkennen können». Hofer hat-te nämlich den Rechtsanwalt WilhelmFrick in einem Zeitungsartikel55 als «Ver-trauensanwalt einer Gestapoabteilung»und als «Gestapovertrauten» bezeichnet. Erstützte sich dabei auf eine Dissertation56.Hofer verwendete eine verbreitete zeitspa-rende Methode, indem er bloss die Sekun-därquelle las, aber die (von ihm nicht ein-gesehene) Originalquelle57 zitierte. DieseQuelle bezeichnete Frick nicht als «Ver-trauensanwalt einer Gestapoabteilung».Das Bundesgericht verlangte deshalb dieBestrafung von Hofer und lehnte späterauch eine Revision dieses Urteils ab58. Diearbeitssparende Methode von Hofer ver-letzt in der Tat Grundsätze historischen Ar-beitens; das Bundesgericht hatte also ge-wissermassen Droysen Recht gegeben59.

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Kley/Ziehler | Historiker vor Gericht

45 Siehe dazu ANDREAS KLEY, Besprechung des Urteils Wottreng, BGE127 I 145 ff., in: medialex 2001, Heft 4, S. 240. Siehe nun aber dieBotschaft des Bundesrates: FN 16.

46 DROYSEN JOHANN GUSTAV, Historik, Textausgabe von Peter Leyh(1857/1882), Stuttgart: Frommann-Holzboog-Verlag 1977.

47 DROYSEN (Fn. 46) 429.48 DROYSEN (Fn. 46) 429.49 DROYSEN (Fn. 46) 430, vgl. namentlich § 33.50 DROYSEN (Fn. 46) 429.51 DROYSEN (Fn. 46) 430.52 DROYSEN (Fn. 46) 431.53 Vgl. VPB 56-13, E. 4.2 (S. 102); VPB 62-50, E. 6.5 (S. 460).54 Urteil vom 4.7.1986, in: Plädoyer 1989, S. 65-67 sowie BGE 125 IV

298 ff.55 NZZ vom 26./27.2.1983, Nr. 48.56 Nämlich: WALTER WOLF, Faschismus in der Schweiz, Zürich: Flamberg

Verlag 1969.57 Bericht der Zürcher Obergerichts an den Kantonsrat zur Motion Nä-

geli vom 4.11.1953, Amtsblatt des Kantons Zürich 1953, S. 905 ff.58 BGE 125 IV 298 ff.59 Ebenso THOMAS GEISER, Der Historiker vor dem Zivilrichter, in: AJP

4/92, S. 451 f.

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Kontrastiert man die bundesgerichtlichenAussagen im strafrechtlichen Fall Hofer-Frick mit dem (grundrechtlichen) FallWottreng60, so widerspricht die Forderungnach Konsultation der Primärquellen demverweigerten Archivzugang. Diese Unstim-migkeit ist wohl durch die jeweils getrenn-ten Rechtsgebiete und Verfahren (Straf-recht / Nichtigkeitsbeschwerde / Kassati-onshof – Grundrechte / staatsrechtliche Be-schwerde / Öffentlichrechtliche Abteilung)erklärbar, aber in der Sache nicht zu recht-fertigen. Darüber hinaus geben die beidenUrteile Hofer-Frick den Beobachtungenvon Peter Noll Recht61:

«Wie die moderne Wissenschaft anihrer eigenen Vergänglichkeit arbeitet:A übernimmt z.B. einen Gedanken vonB, und in der ersten Publikation zitierter auch den B, wie es sich gehört. Spä-ter kommt A auf das Thema zurück,und in der zweiten Publikation zitierter nun nur noch sich selbst, nämlichseine frühere Publikation. Von B istnicht mehr die Rede. Dasselbe kannnatürlich auch dem A passieren vonSeiten des C usw. Über das Zitieren undNichtzitieren könnte man eine längereAnalyse und Satire schreiben. Häufigkommt es z.B. vor, dass einer die Se-kundärquelle nicht zitiert, sondernnur die Primärquelle, ohne diese abergelesen zu haben. Er übernimmt ein-fach das Zitat aus der Sekundärquelle».

2. Kritische Ordnung und Darstellungdes Materials in elektronischenMedien

Das Interesse an der jüngeren Schweizerge-schichte ist durch die Sammelklage gegen

die Schweizer Banken in den USA und dieerhobenen Vorwürfe an die Adresse derSchweiz in den letzten Jahren stark gestie-gen und fand damit Eingang in den Pro-grammen von Fernsehveranstaltern. Zwarhat eine dokumentarisch-historische Sen-dung nicht dem wissenschaftlichen An-spruch eines Historikers, sondern den jour-nalistischen und medienrechtlichen Sorg-faltspflichten zu genügen. Entscheidendist, ob die Thematik einer Sendung und dieaufgestellten Thesen sorgfältig und gewis-senhaft dokumentiert sind62. Hinzukom-men kommen noch die besonderen Bedin-gungen für Sendungen in den elektroni-schen Medien.

Programmbeiträge am Fernsehen und imRadio müssen dem Sachgerechtig-keitsprinzip entsprechen63. Fakten sindfolglich objektiv wiederzugeben, so dasssich der Zuschauer bzw. Zuhörer eine eige-ne Meinung bilden kann64. Ansichten undKommentare sind deshalb von solchenFakten abzugrenzen65. Je kleiner das ver-nünftigerweise zu erwartende Vorwissendes Publikums ist, desto höhere Anforde-rungen sind an dieses Gebot der Transpa-renz zu stellen. Neben der Würdigung dereinzelnen Informationen ist der Gesam-teindruck einer Sendung entscheidend66.Die Ausstrahlung einseitiger Informationverletzt nicht zwingend das Sachgerechtig-keitsgebot. Soweit Fehler nicht geeignetsind, den Gesamteindruck einer Sendungoder eines Beitrags wesentlich zu beeinflus-sen, handelt es sich aus programmrechtli-cher Sicht um Nebenpunkte67.

Das Sachgerechtigkeitsgebot bezweckt denSchutz des Publikums, weshalb eine rezipi-entenorientierte Betrachtungsweise ange-zeigt ist68. Es ist zu fragen, wie das Publi-kum die Sendung vernünftigerweise verste-hen konnte. Neben dem Vorwissen sind indiesem Zusammenhang die Eigenheitendes Sendegefässes (Sendezeit; Nachrichten-oder Dokumentarsendung) und der Gegen-stand einer Sendung zu würdigen69. Einstrenger Sorgfaltsmassstab ist anzuwenden,wenn schwerwiegende Vorwürfe erhobenwerden und so ein erhebliches Schadensri-siko für Direktbetroffene oder Dritte resul-tiert. In diesem Fall muss sich die Recher-che bis auf Details der Anschuldigungen er-strecken70.

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60 Siehe Fn. 45.61 PETER NOLL, Diktate über Sterben & Tod, Zürich: Pendo Verlag 1984,

S. 48 f.62 VPB 62-50, E. 6.5 (S. 460); VPB 56-13, E. 4.4 (S. 105).63 Art. 93 Abs. 2 Satz 3 BV und Art. 4 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom

21. Juni 1991 über Radio und Fernsehen (RTVG, SR 784.10).64 BGE 119 Ib 166 E. 3a S. 170; Bundesgerichtsurteil vom 21.11.2000

(2A.12/2000), E. 5 b.65 Art. 4 Abs. 2 RTVG (Fn. 63): «Ansichten und Kommentare müssen

als solche erkennbar sein.»; VPB 62-50, E. 6.2 (S. 459).66 VPB 64-120, E. 5.2 (S. 1216); VPB 62-50, E. 4.1 (S. 458) und E. 7.2

(S. 461); VPB 62-27, E. 4.1 (S. 200).67 VPB 64-120, E. 6.2 (S. 1216 f.); vgl. MARTIN DUMERMUTH, Die Pro-

grammaufsicht bei Radio und Fernsehen in der Schweiz, Disserta-tion, Bern 1992, S. 288 und 315 ff.

68 VPB 64-120, E. 5.4 (S. 1216); VPB 62-27, E. 3.3 (S. 200).69 VPB 64-120, E. 5.4 (S. 1216) und E. 6.6 (S. 1217 f.); VPB 62-27, E.

4.1 (S. 200).

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Die gesetzlichen Programmbestimmungenschliessen weder Stellungnahmen und Kri-tiken noch den sog. «anwaltschaftlichenJournalismus« aus. Aber es muss die Trans-parenz gewährleistet bleiben, dass sich derZuschauer ein eigenes Bild machen kann.Ob dies der Fall ist, beurteilt sich in ersterLinie danach, ob der Beitrag insgesamt ma-nipulativ wirkt71. Es ist sogar zulässig, einan sich dem Sachgerechtigkeitsgebot wi-dersprechenden Beitrag zu senden, soferndieser beispielsweise durch Anmoderationund eine anschliessende Diskussionsrundeso relativiert wird, dass die Zuschauer diemangelnde Seriosität und die einseitigeAusrichtung erkennen können72.

3. Beurteilung: Sachgerechtigkeit versushistorische Urteilskraft?

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass dasfundamentale Kommunikations-grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 16Abs. 1 BV) im Rahmen der Medienfreiheitin Radio und Fernsehen (Art. 17 Abs. 1BV)den Charakter ändert. Es wird zu einer in-stitutionellen Garantie73, die nur nochsachgerechte Meinungsäusserungen imSinne von Art. 93 Abs. 2 BV zulässt. Auchfür Historiker und historisch berichtendeJournalisten ergeben sich daraus zusätzli-che Einschränkungen. – Was würde wohlein urliberaler Autor wie John Stuart Mill(1806-1873) zu dieser «Medienfreiheit» sa-gen? Orientiert man sich an seiner Hal-tung, so dürfte er die geforderte Sachge-rechtigkeit kritisch beurteilen. Zur «eigent-lichen Region menschlicher Freiheit«gehört nach Mill die Freiheit des Denkens,wovon jene der Meinungsäusserung nichtzu trennen sei. Die Urteilsfähigkeit und -kraft hiengen entscheidend davon ab, dasssich ein Mensch allen Meinungen und Kri-tiken ausgesetzt und diese auch geprüft ha-be. «Die ständige Gewohnheit der Korrek-tur und Vervollständigung der eigenenMeinung durch ihren kritischen Vergleichmit den Meinungen anderer ist (...) die ein-zige feste Grundlage für ein Vertrauen aufsie»74. Für Mill ist es auch wichtig, dass je-der sich Irrtümer, Einseitigkeiten und Un-ausgewogenes ungehindert anhörenkann75. Das Sachgerechtigkeitsgebot wärefür ihn wohl ein Greuel, ausser er hätte seinpositives Menschenbild angesichts derMacht der Massenmedien geändert.

In einem liberalen Sinn ist das Sachgerech-tigkeitsgebot in der Medienfreiheit des Art.17 i.V.m. Art. 93 Abs. 2 BV zwiespältig. Esist angesichts der Medienmacht verständ-lich, aber andererseits mit der Vorstellungurteilsfähiger Menschen, die in einer frei-en, pluralistischen und demokratischenGesellschaft leben, unvereinbar.

IV. Geschichtliche Tatsachen alsabsolute Grenzen von Meinungs-äusserungen

Art. 18 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes(GG) kennt die Verwirkung von Grund-rechten76. Niemand soll sich im Kampf ge-gen die freiheitliche, demokratischeGrundordnung der BundesrepublikDeutschland auf (publikumswirksame)Grundrechte berufen können. Die deut-sche Demokratie soll wehrhaft und streit-bar sein77. Dem Paradoxon «Beseitigungder Grundrechte mit Hilfe dieser Grund-rechte» soll also vorgebeugt werden. AufGrund des komplizierten Verfahrens undder für die betroffenen Personen einschnei-denden Auswirkungen einer Grundrechts-verwirkung ist Art. 18 GG bisher nicht an-gewandt worden78.

Die schweizerische Bundesverfassungkennt keine solche Bestimmung, weshalbrevisionistische oder rassistische Mei-nungsäusserungen unter dem Schutz derGrundrechte stehen, aber gemäss Art. 36

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70 VPB 63-96, E. 8.2-8.4 (S. 909); VPB 62-50, E. 6.1 (S. 459); VPB 62-27, E. 4.2 (S. 201).

71 BGE 121 II 29 E. 3b S. 34; Bundesgerichtsurteil vom 21.11.2000(2A.12/2000), E. 5b; vgl. DUMERMUTH (Fn. 67), S. 364 ff.

72 VPB 62-50, E. 7.1 und 7.2 (S. 460 ff.).73 Im Sinne von CARL SCHMITT, Freiheitsrechte und institutionelle Ga-

rantien, 1931, enthalten in: C.S., Verfassungsrechtliche Aufsätzeaus den Jahren 1924-1954, 3. Aufl., Berlin 1985, S. 140 ff.

74 Vgl. JOHN STUART MILL, Über die Freiheit, Leipzig und Weimar: GustavKiepenheuer Verlag 1991, S. 28 f.

75 Vgl. MILL (Fn. 74), S. 43 f.76 Art. 18 Abs. 1 GG – Verwirkung von Grundrechten: «Wer die Frei-

heit der Meinungsäusserung, insbesondere die Pressefreiheit (...),die Lehrfreiheit (...), die Versammlungsfreiheit (...), die Vereini-gungsfreiheit (...), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (...),das Eigentum (...) und das Asylrecht (...) zum Kampfe gegen diefreiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirktdiese Grundrechte».

77 Vgl. dazu ANDREAS KLUMP, Freiheit den Feinden der Freiheit? Die Kon-zeption der streitbaren Demokratie als demokratietheoretischesFundament zur Auseinandersetzung mit politischem Extremismus àhttp://www.extremismus.com/texte/streitbar.htm (April 2003);MICHAEL BRENNER zu Artikel 18 GG, Rn. 1-9, S. 2125 ff. in: v.MANGOLDT/KLEIN/STARCK, GG – Bonner Grundgesetz, Bd. 1.

78 BRENNER (Fn. 77), Rn. 11 ff.

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BV beschränkbar sind. Der Gesetzgeber hatdenn auch diese Meinungsäusserungen inArt. 261bis StGB verboten79.

Allerdings beinhaltet die von der Schweizratifizierte und innerstaatlich unmittelbaranwendbare Europäische Menschenrechts-konvention (EMRK) in Artikel 17 ein mitArt. 18 GG vergleichbares Verbot des Mis-sbrauchs ihrer Garantien80. Neben rassen-diskriminierenden Äusserungen81 und derGutheissung des nationalsozialistischenGedankengutes82 sind vor allem Holocaust-Lügen83 relevant gewesen. Die frühere Eu-ropäische Kommission für Menschenrechtehat in diesen Fällen entweder die Anwen-dung der Garantien der EMRK verneint,was der Konzeption von Art. 17 EMRK ent-spricht. Oder sie hat Art. 17 EMRK bei derPrüfung der Verhältnismässigkeit von Ein-griffen als besonders gewichtiges Elementfür deren Bejahung verwendet. Das führtzum gleichen Ergebnis, klammert jedochdie betreffenden Äusserungen nicht vom

sachlichen Schutzbereich der angerufenenKonventionsbestimmung aus. In zweineueren Urteilen84 hat der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte angedeutet,dass solche Äusserungen in Zukunft vomSchutzbereich der Meinungsfreiheit ausge-schlossen würden. Ein revisionistischer Hi-storiker könnte sich bei einer strafrechtli-chen Verurteilung auf Grund einer Holo-caustlüge nicht mehr auf die Meinungsfrei-heit (Art. 10 EMRK) berufen. Entsprechen-des muss auch für Religionsführer hinsicht-lich der Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) gel-ten.

Es besteht also ein absoluter Schutz des An-sehens von Personen und religiösen, ethni-schen und politischen Gruppierungen.Dementsprechend sind wesentliche histo-rische Tatsachen vor Verdrehung und Um-kehrung geschützt. In diesen Fällen darfniemand, auch nicht unter dem Vorwandder Wissenschafts- oder gar der Religions-freiheit85, das Gegenteil behaupten. Inso-fern werden den Äusserungen von Histori-kern und Religionsführern Grenzen gesetzt.Damit die Ergebnisse der Geschichtswis-senschaft in einen Prozess permanenter Re-visionen86 und Diskussionen eingebettetbleiben, sollte sich die Anwendung vonArt. 17 EMRK jedoch beschränken auf:

- rassendiskriminierende Äusserungen,- Holocaustlügen bzw. die grobe Verfäl-

schung oder Leugnung ähnlich gesicher-ter Tatsachen und

- Rechtfertigungen des Genozides an denJuden durch das nationalsozialistischeDeutschland bzw. der Greueltaten ähn-lich menschenverachtender Herrschafts-systeme.

Bei Nietzsche87 hat die kritische Ge-schichtsschreibung die Aufgabe, das Ver-gangene zu verurteilen und den Menschenvon der Geschichte zu befreien, damit die-ser unbeschwert leben kann. Man könntedie Behauptungen der Revisionisten, Holo-caustleugner und Geschichtsverdreher alseinen derartigen verurteilenden Befrei-ungsschlag deuten. Tatsächlich kann imSinne von Nietzsche die durch die Ge-schichtsschreibung überlieferte Erfahrungals eine Last empfunden werden. Gleich-wohl hat diese Last auch einen staats- undmenschenrechtlichen Sinn: Sie will dieWiederholung oder Nachahmung dieser

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79 Vgl. die aktuelle Darstellung in: Präsentation des 2. und 3. periodi-schen Berichts der Schweiz an den Uno-Ausschuss zur Beseitigungjeder Form von Rassendiskriminierung, Direktion für Völkerrecht,Bern 2002, zweiter Teil, Ziff. 3, S. 55 ff.

80 Art. 17 – Verbot des Missbrauchs der Rechte: «Diese Konvention istnicht so auszulegen, als begründe sie für einen Staat, eine Gruppeoder eine Person das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eineHandlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Konventionfestgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärkereinzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist“. Vgl. da-zu JOCHEN ABR. FROWEIN/WOLFGANG PEUKERT, Europäische Menschen-rechtskonvention – EMRK-Kommentar, 2. Aufl.,Kehl/Strassburg/Arlington 1996, S. 490, Rn. 1; P. VAN DIJK / G.J.H.VAN HOOF, Theory and Practice of the European Convention on Hu-man Rights, 3rd ed., The Hague 1998, S. 750; MARK E. VILLIGER,Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK),2. Aufl., Zürich 1999, S. 464, Rn. 703; ARTHUR HAEFLIGER/FRANK SCHÜR-MANN, Die Europäische Menschenrechtskonvention und dieSchweiz, 2. Aufl., Bern 1999, S. 347; STEFAN TRECHSEL, Kurzkom-mentar zum schweizerischen Strafgesetzbuch, 2. Aufl., Zürich1997, N. 9 zu Art. 261bis StGB, S. 863.

81 Kommissionsentscheid, Glimmerveen und Hagenbeek gegen dieNiederlande, 11.10.79, D&R 18, 187 (188).

82 Kommissionsentscheid, Kühnen gegen Deutschland, 12.5.88, D&R56, 205 (206).

83 Kommissionsentscheid, Walendy gegen Deutschland, 11.1.1995,D&R 80, 94 (95) und Kommissionsentscheid, Remer gegenDeutschland, 6.9.1995, D&R 82, 117 (119).

84 Urteil «Jersild gegen Dänemark« vom 23.9.1994, appl. no.15890/89, § 35; Urteil «Lehideux und Isorni gegen Frankreich«vom 23.9.1998, appl. no. 24662/94, §§ 47 und 53.

85 In BGE 123 IV 202 ging es um eine Verurteilung eines Leiters der«Universalen Kirche« wegen Rassendiskriminierung im Sinne vonArt. 261bis StGB, der die Behauptung weiterverbreitete: «wegen ih-rer satanischen Gier zettelten die Juden den 2. Weltkrieg an“.

86 Vgl. STUDER (Fn. 3), S. 101.87 FRIEDRICH NIETZSCHE, Kritische Studienausgabe: Die Geburt der Tragö-

die/Unzeitgemässe Betrachtungen I-IV/Nachgelassene Schriften1870-1873, Band 1, München: dtv 1999, Unzeitgemässe Betrach-tungen II Nr. 3, S. 269.

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traumatischen Erfahrungen verhindern.Die Verwirkung der Grundrechte bzw. dasstrafrechtliche Verbot der «Holocaustlüge«bewahrt dieses Gedächtnis. Eine «Befrei-ung« von dieser Geschichtslast ist uner-träglich.

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