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Unten ist das neue oben - hist.unibe.ch · Technologien wie die 3D-seismik zum Einsatz gelangen, um den kommerziellen Gehalt des Untergrunds zu kartieren und die Ênergieversorgung

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UNTEN IST DAS NEUE OBEN

Warum der Untergrund im 21. Jahrhundertzur ultimativen Ressource avanciert und die Geschichts-wissenschaft gut daran täte, diese n vertical turn nich|zu verpassen.

Von Silvia Berger Ziauddin

ln dem i877 erschienenen Buch lhe Underground Wortd: AMirror of Life Betow the Surface schildert dei ameríkanischeJournalist Thomas W. Knox auf über tausend Seiten die bis-weilen fantastischen Formen menschlichen Lebens unter derErde. Die Zusammenstellung von personen, Orten und phä_nomenen ist das wohl umfangreichste Werk zum Untergrundüberhaupt und erinnert in ihrer irrlichternden Ordnung ãn diechinesische Enzyklopädie, mit der Michel Foucault die Archäo-logie der Dinge eröffnete. Knox montiert Berichte über Kohle-,Silber- und Kupferminen und den Alltag der Bergwerksarbei_ter neben Abenteuer von Tauchern, Detektiven und Lumpen_sammlern, verquickt Berichte über Katakomben, Spielhöllenund Weinkeller mit Ausführungen über Korallenriffe, die Bas-tille und Lebensmittelverstecke in Eisbergen, mäandert vonZugtunnels zu Kanalsystemen und Vulkanen.

Von der subterranen Obsession zur Herrschaft aus der Luft

mer mehr begann der Untergrund zum Motor der networkedcity der industriellen Ära zu werden.

Zweifellos lässt sich sagen: Der Untergrund hatte um 1900Konjunktur. Mittlerweile, so könnte man argumentieren, istdie Faszination für den Untergrund einer Obsession mit derSicht von oben gewichen. Der Umgang mit globalen sicher-heits- und sozialpolitischen problemlagen - Terrorismus, Bür-gerkriege, Migrationsströme - scheint sich primär im Luftraumund auf der Erdoberfläche abzuspielen. Drohnen, GoogleEarth und Satellitenbilder sind strategische Technologien, ãieumkämpfte Gebiete registrieren und dazu dienen, Herrschaftaus der Luft auszuüben, um Bevölkerungen am Boden je nachLesart zu überwachen oder zu schützen. Marsmissionen derNASA und privatwirtschaftliche lnitiativen wie MarsOne le-gen überdies nahe, dass das Träumen über die Zukunft derMenschheit mit Terrains jenseits der Erdatmosphäre verbun_den ist.

Blickt man allerdings etwas genauer hin, erweist sich dieSphäre unter Grund heute als ebenso schillernd und um-kämpft. Wie ích nachfolgend argumentieren werde, gewinntder Untergrund - in neuer Konfigurat¡on und materiell-techni_scher Grundierung - erneut massiv an Fahrt und avanciert zurvielleicht entscheidendsten Ressource des 21. Jahrhunderts.

Comeback des Untergrunds

Ein untrügliches lndiz für die gegenwärtige Strahlkraft des Un_tergrunds ist seine Omnipräsenz ín der breiten Offentlichkeit.Mit zunehmender Kadenz tauchen in den letzten Jahren Fo-tobände, Ausstellungen, Serien und Filme auf; vom Band Zü-

Knox'Band über die Unter-Welt fand grossen Anklang. Tat_sächlich übte die subterrane Sphäre im ausgehenden .l9.Jahrhundert auf viele Menschen im Westen elnen ausserge-wöhnlichen Sog aus. Mit einer Mischung aus Verzückung undWiderwillen registrierte man einerseits die fortschreitendetechnologische Bemächtigung des Untergrunds im hochin_dustrialisierten Montanbau, und beobachtete andererseitsdas immer alltäglicher werdende (grosse Buddeln> in den ur-banen Zentren. ln Metropolen wie paris oder London wurdenzu jener Zeit grundlegende lnfrastrukturen geschaffen oderausgebaut: Kanalisation, Wasserversorgung, Dampfrohre, U_Bahnen, Telefonleitungen, elektrische Kabel, Zugtrassees. lm_

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rich Untergrund (2015), dem Dossier Die unterirdische Schweiz(Schweizer Familie, 2016) und Ausstellungen wie lJnterir-disch. Das Spektakel des Unsichtbaren (Museum für Gestal-tung, 2014) hin zu einer ganzen Palette von internationalenFilmen, TV-Serien und Dokumentationen (Dark Days,2000;Cities of the Underworld, History Channel 2007-2009, City ofEmber,2008; Take Shelter, 2012, Above and Below, 2015; lJn-derworld Inc., 2015; Underground,2016-). Neben diesen po-pulären Auseinandersetzungen beweist ein Blick auf diePolitische Geographie und die Urban Studies, dass der Unter-grund im Rahmen eines neu ausgerufenen vertical turns auchim Zentrum intellektueller Debatten angelangt ist. Ein wich-tiger lmpuls für die Beschäftigung mit der vertikalen Rich-tu n gsachse bezieh u ngsweise m it vertika len Vol u men I iefertedie Studie des Architekten Ayel Weizman zur Westbank. Umden palästinensisch-israelischen Konflikt zu verstehen, müs-sen nach Weizman zersplitterte Räume wie die Westbank inihrer Dreidimensionalität erfasst werden, mit Hügelspitzen,Brücken, dem Luftraum, Zäunen, Gelände, Boden und Tun-nels. Weizman illustrierte damit, wie sehr sich in den welt-weit zunehmenden asymmetrischen Kriegen Luftraum undUntergrund zu den am stärksten umkämpften Territorienentwickeln. lnspiriert von dieser Geopolitik der Vertikalitäthaben Stadtforscher in der Folge begonnen, ihre bislang ho-rizontal strukturierten Diskurse ebenfalls neu zu justieren. Sozeigt der jüngst erschienene Band Global IJndergrounds. Ex-ploring Cities within (2016), der in seiner Vielfalt und globalenReichweite einzigartig ist, wie stark heutige Städte mit un-terirdischen Strukturen verschränkt sind und wie unten undoben in einen essentiellen Austausch treten. Wir alle sind, sodie These, mit dem Subterranen verwoben. Dies umso mehr,als die Metropolen sich in Zukunft immer mehr in den Bodensenken und dort ausdehnen werden.

Ultimative Ressource

Diese Entwicklung weist auf einen wichtigen Punkt hin: Wiebereits zum Ende des 19. Jahrhunderts korrespondiert dieheutige Faszination für das Subterrane mit sich beschleuni-genden und künftig neue Dimensionen annehmenden Pro-zessen der Erschliessung, Sichtbarmachung und Kolonisierungdes Untergrunds. Die Eröffnung des Gotthard-Basistunnelsoder Gütertransportprojekte wie Cargo Sous Terrain mögenhierzulande eine verstärkte Sensibilität für Areale unter Grundgeneriert haben. Es gilt jedoch, den Blick von diesen lokalenPhänomenen zu lösen, um die neue Konfiguration sowie dieWirkmächtigkeit des Untergrunds in einer globalen Perspekti-ve zu erfassen. Wie die nachfolgenden Einblicke in Planungen,Studien und Projekte deutlich machen, entwickelt sich der Un-tergrund zur wohl umfassendsten Ressource des 21. Jahrhun-derts. Er kann gleichsam als neue, global bedeutsame frontierbezeichnet werden, an welcher Sicherheit und Sichtbarkeit,Transport, Logistik und lnfrastrukturen, Materialien und Ener-gie, Erholung und Freizeit sowie die Speicherung von Datenund Abfall neu konfiguriert werden.

PÂRIS.

Bild: Thomas W. Knox,The Underground World,1877

Paris unter Grund.

Die Beherrschung von Territorien durch Drohnen und anderesogenannte eyes-in-the-sky-Technologien haben in jüngsterZeit dazu geführt, dass im tiefen Untergrund kaum lokalisier-bare Waffenbasen, militärische Strukturen und Festungen ent-standen sind. Das US-Militär versucht mit einem spezifischenProgramm - dem Projekt Transparent Earth -, die Sicht vonoben auf Territorien unter der Erdoberfläche weiterzutreiben.Mit Hilfe multisensorischer Strategien und Algorithmen sollen,vergleichbar mit Google Earth, 3D-Karten entstehen, welchedie physischen, chemischen und dynamischen Eigenschaftender Erde bis in fünf Kilometer Tiefe abbilden. Der Untergrundwird damit zu einem Ort der Sichtbarkeit, Kontrolle und Einhe-gung, der gegen feindliche oder unzulässige Nutzungen gesi-chert wird und - wie die Militärs versichern - zugleich Katas-trophen wie Erdbeben besser vorhersehbar machen soll. DerWille, durch das Erdreich hindurch zu sehen, zeichnet sich seiteiniger Zeit auch bei der weltweiten ldentifizierung von Erd-gas- und Erdölvorkommen aus, wo verschiedene deep-readiltg-Technologien wie die 3D-seismik zum Einsatz gelangen, umden kommerziellen Gehalt des Untergrunds zu kartieren unddie Ênergieversorgung in Zukunft sicherzustellen.

Die Gewährleistung von Sicherheit und die neue Sichtbar-keit unter Grund reichen allerdings längst nicht aus, um dieRelevanz des Subterranen im 21. Jahrhundert zu begrün-den. Die eigentliche Zukunftsmächtigkeit des Untergrundsmanifestiert sich in seiner umfassenden Erschliessung und

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Díe Lowfine in NewYorkCity.

Nutzbarmachung für die Metropolen. Mehr als die Hälfte derWeltbevölkerung lebt heute in Städten; im Jahr 2050 werdenes wahrscheinlich über zwei Drittel sein. Um der steigendenNachfrage nach Raum, Bauland, Wasser, Energie und Geoma-terialien zu begegnen, entwickeln Megacitíes wie Hong Kongoder Singapur Pläne für eine nachhaltige Entwicklung des ur-banen Untergrunds. Hierzu wurden eigens Forschungszentrengegründet, etwa das seit 2011 an der Nanyang University inSingapur bestehende Center for Underground Space. Auf derBasis eines neuen Gesetzes, das die Entwicklung des Unter-grunds fördern soll, skizziert das Forschungszentrum verschie-dene Visionen, um Singapurs Schlüsselressourcen Raum, Ma-terialien und Umwelt in drei Dimensionen zu entwickeln. Einsubterraner Science Park mit Forschungs- und Entwicklungs-laboratorien für 4200 Mitarbeiter, Cargo-Tunnels zwischenZentrum und Container-Häfen und ein riesiger unterirdischerÖlbunker sind geplant oder bereits umgesetzt. ln Hong Kongidentifizierte ein Masterplan jüngst strategische Kavernenare-ale, welche die Basis für Regierungseinrichtungen, aber auchfür lndustrien, Geschäfte und Wohnstätten bilden sollen. DenVorbildern des norwegischen Green Mountain und dem Su¡lssFort Knoxfolgend, könnten in diesen Kavernen auch Serversta-tionen und Datenzentren untergebracht werden - als gleich-sam sichere, unzerstörbare materielle Homebase unserer Da-tenwolken. Andere Metropolen, insbesondere in China, folgendiesen Beispielen zur Expansion des urbanen Untergrunds. Diechinesische Nanjing University hat in den letzten Jahren zu-

Bild: @read studio

sammen mit der ETH Lausanne im Deep Cify-Projekt Kriterienentwickelt, die es Städten weltweit ermöglicht, ihr Potentialfür Untergrundurbanismus zu evaluieren.

Dass der Untergrund dabei auch zum Ort der Rekreationund Erneuerung werden kann und die lmaginationsweltendes Ober- und Unterirdischen immer mehr verschmelzen,illustrieren Projekte wie die Lowline in New York. Sie ist alsGegenstück zur High Llne gedacht, einem ausrangiertenZug-trassee in Chelsea, auf dem man mitten in Manhattan in künst-lich-wilder Natur spazieren und verweilen kann. Die für 2O21geplante Lowline nun ist ein durch spezielle Lichtkollektorenm¡t natürlichem Licht von oben bespieltes und von Pflanzenumranktes Reich unter der Delancey Street an der Lower EastSide. Ein unterirdischer Park also, der das Leben der Stadtbe-wohner von der beengten, oberirdischen Betonwüste befrei-en und zur neuen Erholungszone werden soll. Die Bilder desProjekts erinnern an das liebliche Bruchtal in The Lord of theRrngs und unterstreichen den Wunsch der Lowline-Betreiber,ein begrüntes, tra nszendentes Zukunftshabitat zu schaffen.

Chance für die Geschichtswissenschaft

Weshalb sollten der aktuelle Aufschwung des Untergrunds undseine Konversion zur umfassenden Ressource für uns Histori-kerinnen und Historiker von Bedeutung sein? Zum einen kanndie Geschichtswissenschaft dazu beitragen, vergessene Unter-grundkonjunkturen sichtbar zu machen und die gegenwärtige

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