78
FACHBERATERINNEN und FACHBERATER Regierungspräsidium Stuttgart Schule und Bildung – Allgemein bildende Gymnasien Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema Passionsvertonungen im Barock am Beispiel der Johannes-Passion (BWV 245) von Johann Sebastian Bach Andrea Amann Daniel Brenner Sabine Fischer-Hennen Matthias Guthier Wieland Kleinbub Brigitte Schwarz Dirk Siegel Johannes Stephan Christoph Wagner

Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

FACHBERATERINNEN und FACHBERATER

Regierungspräs idium Stut tgar t

Schule und Bi ldung – Al lgemein b i ldende Gymnasien

Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema

Passionsvertonungen im Barock

am Beispiel der Johannes-Passion

(BWV 245) von Johann Sebastian Bach

Andrea Amann

Daniel Brenner

Sabine Fischer-Hennen

Matthias Guthier

Wieland Kleinbub

Brigitte Schwarz

Dirk Siegel

Johannes Stephan

Christoph Wagner

Page 2: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

2 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Inhalt

Vorbemerkung ............................................................................................................................. 3

I. HINWEISE FÜR KOLLEGINNEN UND KOLLEGEN ....................................................................... 5

1. Allgemeine Informationen zum Johannes-Evangelium ........................................................... 5

2. Die Besonderheiten des Johannes-Evangeliums ..................................................................... 6

3. Zur Theologie des Johannes-Evangeliums ............................................................................... 7

4. Dramatik und Kontemplation ................................................................................................ 10

5. Didaktische Hinweise: kreativer, produktionsorientierter Zugang ........................................ 15

6. Hinweise zu den vier Unterrichtsbausteinen ......................................................................... 18

7. Übersicht: Affekte und Motive .............................................................................................. 19

8. Musikalisch-rhetorische Figurenlehre ................................................................................... 21

9. Auswahl der wichtigsten Figuren in der Johannes-Passion ................................................... 24

10. Die unterschiedlichen Fassungen der Johannes-Passion ....................................................... 33

11. Diskographie (von Hartmut Wolf) .......................................................................................... 36

II. UNTERRICHTSMATERIALIEN ................................................................................................ 39

Fragebogen zur Passion ................................................................................................................. 39

Ein kreativer Zugang zu Bachs Passions-Dramaturgie ................................................................... 40

Musikalisch-theologische Synopse ................................................................................................ 46

Unterrichtsbaustein 1: Die Choräle ............................................................................................... 51

Unterrichtsbaustein 2: Die Rezitative ............................................................................................ 53

Unterrichtsbaustein 3: Die Turba-Chöre ....................................................................................... 56

Unterrichtsbaustein 4: Die Arien ................................................................................................... 58

Nr. 21b. – Sei gegrüßet, lieber Jüdenkönig (Chorus). .................................................................... 60

Nr. 30 – Es ist vollbracht (Alt-Arie). ............................................................................................... 61

Aufgaben zu den Fassungen der Passion....................................................................................... 63

III. LÖSUNGEN .......................................................................................................................... 64

Lösungen zur musikalisch-theologischen Synopse ........................................................................ 64

Lösungen und Hinweise zu Unterrichtsbaustein 1 (Choräle) ........................................................ 65

Lösungen und Hinweise zu Unterrichtsbaustein 2 (Rezitative) ..................................................... 67

Lösungen und Hinweise zu Unterrichtsbaustein 3 (Turba-Chöre) ................................................ 70

Lösungen und Hinweise zu Unterrichtsbaustein 4 (Arien) ............................................................ 71

Lösungen des Arbeitsblatts zum Chor Nr. 21b .............................................................................. 72

Lösungen des Arbeitsblatts zur Arie Nr. 30 ................................................................................... 74

Lösungen des Arbeitsblatts zu den Fassungen .............................................................................. 76

Page 3: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 3

Vorbemerkung

Der Schwerpunkt dieser Handreichungen liegt auf unterschiedlichen Zugängen zum Thema

Passionsvertonung und zur Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach. Es handelt sich

nicht um eine vollständige Analyse. Vorschläge zur Methodik im Musikunterricht beziehen

sich in erster Linie auf unterschiedliche Möglichkeiten, die Schüler an die Thematik der

Johannes-Passion und ihre Anlage als oratorische Passion heranzuführen. Analytische

Aspekte und Materialien zur Analyse haben exemplarischen Charakter und erheben keinen

Anspruch auf Vollständigkeit. Entsprechende Ergänzungen können die unterrichtenden

Fachkollegen je nach Bedarf selbst erstellen. Weitere theologische Einordnungen und

wertvolle Hinweise zu musikalischen Besonderheiten der einzelnen Nummern bietet u.a. das

Buch von Meinrad Walter.1

Diese Handreichung richtet sich an die Fachlehrer. Abgesehen von den Arbeitsblättern und

Materialien in Abschnitt II ist sie ausdrücklich nicht zur Aushändigung an die Schüler gedacht.

Im ersten Teil der Handreichung (Abschnitt I) werden Hinweise zur Unterrichtsgestaltung mit

Hintergrundwissen für unterrichtende Kolleginnen und Kollegen verbunden. Er beinhaltet

auch Erläuterungen zu den in Abschnitt II zur Verfügung gestellten Kopiervorlagen und

Vorschläge zur konkreten Umsetzung im Musikunterricht. Abschnitt II stellt Unterrichts-

materialien bereit. Lösungshinweise finden sich in Abschnitt III der Handreichung.

Bei der Beschäftigung mit der Johannes-Passion haben wir uns von zwei Überlegungen leiten

lassen: Erstens können wir heute nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, dass unsere

Schülerinnen und Schüler2 ohne Weiteres einen Zugang zu dieser Musik und zu den

theologischen Inhalten finden. Ihre individuellen Prägungen sind zu vielfältig und häufig

besteht eine große Distanz zum traditionellen christlichen Gedankengut. Wir können Bachs

Johannes-Passion jedoch nicht ohne ihren theologischen Hintergrund verstehen, denn sie

will – gerade in den Arien und Chorälen – den Zuhörer berühren und zum „Betrachten“ und

„Erwägen“ anregen, also zur Auseinandersetzung mit den theologischen Fragen der

Passionsgeschichte. Ohne diese Grundhaltung der oratorischen Passion zu verstehen, kann

man Bachs Musik aber kaum gerecht werden. Eine wichtige Aufgabe des Musikunterrichts

besteht deshalb darin, für alle Schüler Zugänge herzustellen zu den theologischen Fragen

und zu den Formen, in denen sie sich musikalisch ausdrücken. Das beinhaltet neben

grundsätzlichen ethischen bzw. religiösen Fragestellungen zu Begriffen wie „Schuld“, „Tod“

und „Sünde“ die Beschäftigung mit den Prägungen des Komponisten sowie mit christlichen

und gattungsgeschichtlichen Traditionen. Diese Zugänge bilden einen wesentlichen

Schwerpunkt der Handreichung.

1 Meinrad Walter: Johann Sebastian Bach: Johannespassion. Eine musikalisch-theologische Einführung, Carus-

Verlag, Stuttgart 2011. 2 Im Folgenden meint die Bezeichnung „Schüler“ sowohl weibliche als auch männliche Schüler.

Page 4: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

4 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Zweitens stellen gleichzeitig das schriftliche Abitur und die damit verbundenen analytischen

Aufgabenstellungen natürlicherweise eine zentrale Perspektive für den Unterricht dar. Mit

anderen Worten: Wir müssen den Schülern nicht nur das Werk in seiner ganzen

musikalischen und theologischen Vielschichtigkeit nahebringen, sondern sie auch in die Lage

versetzen, dies in Form schriftlicher Analysen und Interpretationen musiktheoretisch

fundiert auszudrücken.

Inhaltlich-theologische Reflexion und musikalische Analyse sollten deshalb nicht getrennt

nebeneinander stehen, sondern miteinander verbunden werden. Aus diesem Grund haben

wir auch bei den (exemplarischen) analytischen Teilen einen Zugang gewählt, der stark vom

Affektgehalt und von bestimmten theologischen Motiven der einzelnen Nummern ausgeht

(siehe dazu die Übersicht auf Seite 19-21).

Abschließend sei auf das ergänzende Material im Internet verwiesen, das von der Seite des

Regierungspräsidiums Stuttgart heruntergeladen und im Unterricht verwendet werden kann.

Hier finden Sie Power-Point-Präsentationen, teilweise mit vorbereiteten Vortrags-

Manuskripten, außerdem einige der in den Fortbildungen vorgestellten Materialien, die

nicht in die Handreichung übernommen wurden:

• Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs

mit separatem Vortragstext;

• Präsentation zu theologischen Aspekten der Passion anhand des Gemäldes „Gesetz

und Gnade (Sündenfall und Erlösung)“ von Lucas Cranach d. Ä. (mit integrierten

Stichworten zum Vortrag);

• Präsentation zu den unterschiedlichen Fassungen der Johannes-Passion mit

separatem Vortragstext;

• Lösung der musikalisch-theologischen Synopse (vgl. Seite 47 ff.) sowie

• Kopiervorlagen für die einzelnen Komponenten des Puzzles zur oratorischen Passion

mit Lösungsvorschlag für das fertige Plakat.

https://rp.baden-wuerttemberg.de/rps/Abt7/Ref75/Fachberater/Seiten/Musik.aspx#6

Die Präsentationen können mit Hilfe der vorbereiteten Vortragstexte auch von Schülern

gehalten werden.

Die autographe Partitur Bachs (mit der unvollendeten Revision des Jahres 1739) befindet

sich in der Staatsbibliothek Berlin mit der Signatur D-B Mus.ms. Bach P 28 und kann

digitalisiert unter dem folgenden Link eingesehen werden:

https://www.bach-digital.de/receive/BachDigitalSource_source_00000846

Page 5: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 5

I. HINWEISE FÜR KOLLEGINNEN UND KOLLEGEN

1. Allgemeine Informationen zum Johannes-Evangelium

Der Evangelist Johannes beschrieb als letzter der vier Evangelisten in einem Zeitabstand von

ca. 60 Jahren zum historischen Geschehen die Leidensgeschichte Jesu in einer neuen

Betrachtungsweise. Sein zentrales Anliegen ist die Herrlichkeit Gottes, die sich im Leiden

Jesu am Kreuz offenbart (Apotheose: Christi Erhöhung in der Erniedrigung). Jesus zeigt sich

im Johannes-Evangelium im Gegensatz zum Matthäusevangelium nicht als ein leidender,

verzweifelter Mensch („Mein Gott warum hast du mich verlassen“), sondern von göttlicher

Natur („Herrscher“), als ein Botschafter in einer königlichen, souveränen und zielgerichteten

Haltung („Es ist vollbracht“).

Acht ausgewählte Beispiele, die dieses johanneische Jesusbild verdeutlichen:

1. Vermeidung von demütigen Situationen, z.B. der Verzicht auf eine detaillierte

Beschreibung der Kreuzigung oder der Verzicht auf die Beschreibung der

Verzweiflung Jesu im Garten Gethsemane;

2. Blut und Wasser fließen aus seinem Körper als Symbol für Abendmahl und Taufe;

3. Jesus geht im Garten Gethsemane seinen Häschern entgegen, die Soldaten stürzen zu

Boden;

4. Kein Judas-Kuss;

5. Jesus antwortet Pilatus nicht immer, bleibt ruhig an seinem Ort. Pilatus ist es, der hin-

und herläuft;

6. Jesus trägt sein Kreuz selbst;

7. Noch am Kreuz sorgt er für seine Mutter;

8. Dramatisierende Erzählung: in kurzem Wechsel folgen die Fragen des Pilatus und die

Antworten des Volkes.

Belege hierfür in der Musik der Johannes-Passion von J. S. Bach:

1. Eingangschor Nr. 1. „Herr, unser Herrscher“: Das Grundthema wird aufgezeigt mit

einer Anspielung auf Psalm 8, 2. Worte wie „Herr, Herrscher, verherrlicht, herrlich“

werden von der „größten Niedrigkeit“ nicht aufgehoben. Diese zeigt nur den Weg des

Heilands, seine Mission bei den Menschen.

2. Choral Nr. 3 „O große Lieb“: Jesus erwirkt den freien Abzug für seine Jünger. Er

erklärt sich als Herrscher, dessen Reich „nicht von dieser Welt“ ist.

3. Arie Nr. 9 „Ich folge dir gleichfalls“: Der freudige Affekt des Tanzes fügt sich in den

Gesamtzusammenhang (siehe auch Nr. 32, „Mein teurer Heiland“) eines nicht

tragischen Werkes.

4. Choral Nr. 17 „Ach großer König“: Bezug zum Eingangschor, Jesus, der Herrscher, der

König.

Page 6: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

6 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

5. Choral Nr.: 22 „Durch dein Gefängnis“: Die Gefangennahme und Kreuzigung Jesu als

Heilsnotwendigkeit. Fast wird Jesus zum Gegenspieler des Pilatus: der würde ihn

lieber freilassen, doch Jesus will seinen vorbestimmten Weg gehen.

6. Choral Nr. 26 „In meines Herzens Grunde“: Eine feierliche Hymne auf den herrlichen

Herrscher.

7. Arie Nr. 30 „Es ist vollbracht“: Aus der betrachtenden stillen Stimmung erhebt sich

der Mittelteil „Der Held aus Juda siegt mit Macht“, der den endgültigen Sieg Jesu

beschreibt.

8. Arie und Choral Nr. 32 „Mein teurer Heiland, lass dich fragen“: Direkt nach Jesu Tod

ein Tanz in Dur, der die freudige Verheißung auch im Text unterstreicht: „Jesu, der du

warest tot, lebest nun ohn Ende“.

9. Schlusschoral Nr. 40 „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“: Die Anrede „Herr“ und der

hymnische Schluss „[...] ich will dich preisen ewiglich!“ stellen einen direkten Bezug

zum Anfang des Werkes dar.

2. Die Besonderheiten des Johannes-Evangeliums

Zur Entstehung

Das Johannes-Evangelium ist vermutlich erst viele Jahre nach den drei anderen Evangelien –

nach Matthäus, Markus und Lukas – geschrieben worden und nimmt eine Sonderstellung

innerhalb der vier Evangelien ein, weil es nicht in erster Linie den irdischen Lebensweg Jesu

verfolgt, sondern vor allem von den Reden Jesu geprägt ist, die eher thematischen

Reflexionen gleichen.

Zum Verfasser

Die Verfasserfrage des Johannesevangeliums ist nach wie vor umstritten und nicht eindeutig

geklärt.

Der Verfasser selbst nennt seinen Namen nicht. Wenn er von sich spricht, nennt er sich

meistens „den Jünger, welchen Jesus liebhatte“. Er behauptet, ein Augenzeuge zu sein, vgl.

Kap. 1,15 und Kap. 19,35 , wird aber nie mit Namen genannt.

Die literarische Gestalt und auch das theologische Profil sprechen jedoch gegen die

Augenzeugen-Annahme als Verfasser, denn die Wirksamkeit Jesu wird in einem großen

Zeitabstand und auf einem hohen Reflexionsniveau betrachtet, das einer Zeugengeneration

eigentlich widersprechen müsste. Zudem nutzt der Verfasser Traditionen, die eher auf das

hellenistische Judentum zurückzuführen sind, und ihn möglicherweise als „Judenchrist“

kennzeichnen.

Page 7: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 7

Zum Empfänger

Verschiedene Merkmale lassen darauf schließen, dass das Evangelium für Gemeinden

bestimmt war, die über die einzelnen Geschehnisse aus dem Leben und Wirken Jesu bereits

gut unterrichtet waren. Ursprünglich wurde es wohl für Gemeinden Kleinasiens (heutige

Türkei) geschrieben, erfuhr aber bald eine weite Verbreitung unter den heidenchristlichen

Gemeinden.

3. Zur Theologie des Johannes-Evangeliums

Das johanneische Christusbild

Im Zentrum steht selbstredend die Botschaft von Jesus Christus. Johannes referiert diese

Botschaft aber nicht und legt sie auch nicht traktatmäßig dar. Sie wird im Johannes-

Evangelium vornehmlich durch den johanneischen Christus selbst ausgesprochen.

Christus erscheint dabei als der irdische Mensch, dessen reales Menschsein an keiner Stelle

bezweifelt wird. Sein Weg aber wird noch konsequenter als in den synoptischen Evangelien

von seiner Vollendung her gesehen.

Die Welt als Schauplatz des Wirkens Christi

Ein wichtiger Zug des Johannes-Evangeliums ist auch die Weitung der Perspektive.

Schauplatz des Wirkens Christi ist nur pro forma das Land Israel. Genaugenommen spielt die

Topographie aber nur noch eine untergeordnete Rolle. Der Schauplatz des Auftretens Jesu

ist bei Johannes die Welt schlechthin. Es wird nicht betont, dass Jesus zu seinem Volk kam,

sondern das Licht kam in die Welt.

Diese Welt ist aber in der Sicht des Johannes-Evangeliums in einem ambivalenten Zustand:

• Einmal ist sie die Schöpfung Gottes. Sie ist durch die Vermittlung des Christus-Logos

ins Dasein gerufen worden (Joh 1,3). Daher bleibt sie auch Objekt der Liebe Gottes

(Joh 3,16).

• Zum anderen ist diese Welt aber auch der Ort der Verlorenen. Sie ist der Raum der

Finsternis, des Todes, der Lüge und der Unfreiheit.

Der Dualismus von Gott und Welt

Der johanneische Dualismus entzündet sich demnach am Gegenüber von Gott und Welt. Der

verlorene Zustand der Welt ist aber nicht etwa ein unausweichliches Schicksal. Der Grund für

diese Verlorenheit liegt darin, dass sich der Mensch gegen Gott entschieden hat. Daher sind

die Juden bei Johannes auch nicht die Angehörigen eines auserwählten Volkes, sondern

werden gleichsam als Repräsentanten dieser Entscheidung gezeichnet. Die Frage nach der

heilsgeschichtlichen Rolle Israels spielt deshalb kaum eine Rolle. Wenn Johannes davon

spricht, dass die Seinen das Wort nicht aufnahmen (Joh 1,11), dann meint er deshalb die

Menschen (die Welt) schlechthin.

Page 8: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

8 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Die Christologie – Christus und die Welt

In diese Welt, die durch die Entscheidung gegen Gott zur Sphäre der Finsternis wurde, tritt

nun der Logos, der Christus ein. Er kommt aus der Welt Gottes, der Welt des Lichtes und

wird somit zum Licht der Welt (Joh 3,19).

Interessant ist, dass das Johannes-Evangelium zwar nahezu alle wichtigen christologischen

Prädikate nennt, einige haben aber herausragende Bedeutung. Ganz besonders wichtig

werden bei Johannes nämlich die Bezeichnungen

• Sohn,

• Sohn Gottes

• und der, den der Vater gesandt hat.

Sie werden immer wieder verwendet. Der Sohn, den der Vater gesandt hat, wird durch seine

Sendung aus der Welt Gottes zum Mittler des Heils. Indem Christus den Menschen, und

damit der Welt, das Heil anbietet, stellt er diese Welt radikal in Frage. Denn an ihn allein sind

Licht, Wahrheit, Leben und Freiheit gebunden.

Eben diese Güter, die der Mensch so sehr ersehnt, können somit in der Welt definitiv nicht

gefunden oder errungen werden. Nur Christus vermag sie zu vermitteln, denn in ihm

erschließt sich Gott, er ist die Offenbarung Gottes, der Offenbarer schlechthin.

Die Soteriologie (Lehre von der Erlösung aller Menschen im christlichen Kontext) – Der

Glaube an Christus als Bedingung der Heilwerdung

Die Christologie des Johannes mündet direkt in die Soteriologie. Denn durch Christus erhält

der Mensch die Möglichkeit, seinen Standort zu wechseln, aus der Finsternis in das Licht, aus

dem Tod zum Leben zu gelangen. Die grundlegende Bedingung dafür ist der Glaube.

Glauben heißt, Christus als den zu erkennen, sehen, anerkennen und annehmen, als der er

sich vorstellt. Im Johannesevangelium geschieht diese vor allem im Offenbarungswort des

„Ich bin“ („Ich bin der Weinstock“, „Ich bin der gute Hirte“, „Ich bin das Licht der Welt“, „Ich

bin die Auferstehung und das Leben“). Wer zu diesem Glauben gelangt, wechselt seinen

Standort, gelangt vom Unheil zum Heil. Glauben ist demnach eine verwandelnde

Entscheidung. Der johanneische Dualismus ist daher mehrfach auch zutreffend als

Entscheidungsdualismus definiert worden. Der Glaube des Menschen muss zum Bleiben

reifen, also zu einer das ganze Leben über gestaltenden Gemeinschaft mit Christus. Dies wird

vor allem in den Immanenzformeln zum Ausdruck gebracht: Ihr in mir und ich in euch.

Die Eschatologie (prophetische Lehre von den Hoffnungen auf Vollendung)

Die Bedeutsamkeit der Entscheidung, die der Glauben beinhaltet, hat ihren Niederschlag im

Johannes-Evangelium auch in einer veränderten Eschatologie gefunden. Das Johannes-

Evangelium bietet keine Rede, die der eschatologischen Rede in Mk 13 vergleichbar wäre. Es

geht nicht mehr um die nahe bevorstehende Gottesherrschaft, die stündlich anbrechen

kann, vielmehr betont Johannes eine präsentische Eschatologie:

Page 9: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 9

• das ewige Leben wird jetzt schon geschenkt

• das Gericht findet jetzt schon statt

Man kann diese Sätze eigentlich nur dann verstehen, wenn man wahrnimmt, dass sie

wiederum auf die Christologie hin geordnet sind. Wer Christus liebt und sein Wort festhält,

den wird der Vater lieben, und Vater und Sohn werden kommen und bei ihm wohnen (Joh

14,23). In Christus ist die Vollendung anfanghaft bereits gegenwärtig.

Die irdische Christusgemeinschaft aber soll eine Zukunft besitzen: Im Haus des Vaters sind

viele Wohnungen bereitet (Joh 14,2). Hier wird das „schon und noch nicht“ der christlichen

Existenz deutlich. Wir leben bereits in der neuen Wirklichkeit des Vaters, eine Wirklichkeit,

die sich aber erst noch vollenden muss.

Die Ekklesiologie (theologische Reflexion über die Gemeinde)

Das Thema Kirche fällt im Johannes-Evangelium – trotz betonter Ausrichtung auf den

Glauben des einzelnen – keineswegs aus. Aber es stellt sich unter einem betont

christologischen Aspekt dar. Die Bilder von

• Hirt und Herde (Joh 10,1ff)

• oder vom Weinstock und den Rebzweigen (Joh 15,1ff)

versuchen dies zu verdeutlichen.

Ein besonderes Anliegen im Hinblick auf die Kirche ist auch deren Einheit, um die Christus in

seinem Abschiedsgebet den Vater bittet (Joh 17,21ff).

Quellen:

http://www.joerg-sieger.de/einleit/nt/02evan/nt45.htm

http://www.bibelwissenschaft.de/bibelkunde/neues-testament/evangelien/johannes/

https://www.bibelkommentare.de/index.php?page=comment&comment_id=27

https://www.emmaus.de/ingos_texte/joh_ueber.html

Page 10: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

10 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

4. Dramatik und Kontemplation

Dass Dramatik und Kontemplation die beiden großen strukturbildenden Prinzipien in Bachs

Johannes-Passion sind, ist so oft geschrieben und wiederholt worden, dass es zu einem

unhinterfragten Allgemeinplatz geworden ist.

Was bedeutet aber Dramatik und was bedeutet eigentlich Kontemplation? Und wie hängen

diese beiden Begriffe zusammen? Passen Sie zusammen, indem sie sich gegenseitig

ergänzen? Oder stehen sie zueinander im Widerspruch?

Dramatik und Epik

Dramatik leitet sich vom Griechischen ‚dramma‘ ab, zu Deutsch ‚Handlung‘. Im Wesentlichen

hat das Dramatische – entgegen dem landläufigen Wortgebrauch – folgende drei Merkmale:

1.) eine in sich abgeschlossene Handlung, die 2.) auf der Bühne unmittelbar gegenwärtig

dargestellt wird, und zwar 3.) durch die daran beteiligten Personen in Rede und Gegenrede.

Anhand dieser seit der aristotelischen Poetik konstanten Dramenmerkmale wird schnell

erkennbar, dass wir es bei der Johannes-Passion nicht mit einer „echten“ oder

konventionellen Dramatik zu tun haben. Die Handlung ist zwar in sich abgeschlossen,

beginnt mit Jesu Gefangennahme und endet mit seinem Tod am Kreuz und der

anschließenden Grablege. Doch wird die Handlung weder auf der Bühne (noch sonst

irgendwie sichtbar) dargestellt, noch äußern sich alle daran beteiligten Personen in Rede und

Gegenrede. Viel wird einfach nur erzählt. In der Johannes-Passion, selbst in einer

konzertanten Aufführung, in der wir die Sänger ja sehen (und nicht nur hören) können, läuft

die Rezeption ausschließlich über das Ohr. Wir haben es hier also eher mit einem Hörspiel

als mit einem Schauspiel zu tun. Das unterscheidet die Passion als oratorische Gattung von

einer wirklich durch und durch dramatischen Bühnen-Gattung wie der Oper. Deshalb bleibt

die Passion auch eine Passion, wenn wir sie auf CD oder im Radio hören (wo sie uns eben

nicht unmittelbar gegenwärtig, das heißt körperlich, dargestellt wird), während eine Oper

auf CD keine echte Oper mehr ist. Sie ist nur noch eine Opernaufnahme, da bei der Oper als

Theatergattung die gegenwärtig-verkörperte Live-Darstellung (auf der Bühne) zu den

wesentlichen, sie konstituierenden Eigenschaften gehört.

Trotzdem ist es natürlich nicht falsch, der Johannes-Passion dramatische Elemente

zuzuschreiben: Wer dächte nicht an die ergreifenden letzten Jesusworte oder an die

spöttischen, rechthaberischen oder sonstigen Turba-Chöre (in der sich eben die unmittelbar

daran beteiligte Personen redend äußern)? Im festen Willen den johanneischen Bibeltext an

zwei Höhepunkten wie der Verleugnung des Petrus und dem Tode Jesu zu dramatisieren,

erlaubt sich Bach sogar, zwei kurze Passagen aus dem Matthäus-Evangelium einzufügen.

Und die Dramatisierungen gelingen an beiden Stellen, obwohl sie beide „nur“ vom

Evangelisten, also dem Erzähler, vorgetragen werden. Warum gelingt dies zum Beispiel im

Rezitativ nach der Verleugnung des Petrus? Der Evangelist – eigentlich unbeteiligt – erzählt

wie ein unmittelbar daran Beteiligter. Er lässt sich gewissermaßen in die Handlung

Page 11: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 11

hineinziehen, indem er den Gestus des bitterlichen Weinens (von Petrus!) affektvoll-

lautmalerisch mit ausgeprägten, dissonanten und für ein Rezitativ eigentlich völlig

unüblichen melismatischen Ausschmückungen darstellt (Nr. 12c). Genau das ziemte sich

aber nicht für einen Erzähler und genau das wurde Bach von der modernen Komponisten-

garde der Zeit um Johann Mattheson auch ästhetisch vorgeworfen: Madrigalismen hätten im

Rezitativ nichts verloren, sondern seien nur in der Arie statthaft.3

Bleiben wir beim Erzähler, dessen pure Existenz die Passion gattungsmäßig in Richtung eines

Epos, eines tragischen Heldengedichtes rückt: Jesus, die Hauptfigur, „der Held aus Juda“ (Nr.

30), wird – wie es sich übrigens auch für den Helden einer Tragödie, also eines Dramas

gehört – unschuldig schuldig und stirbt am Ende.

Es ist daher kein Wunder, dass der große Theaterreformer Bertolt Brecht die Matthäus- und

die Johannes-Passion so verehrt hat. Sie kamen seiner Idee des epischen Theaters ziemlich

nahe. Das epische Theater ist ja ein Theater, das die Erzählhaltung, also das lehrende Zeigen

schon im Namen trägt. Im Gegensatz dazu liebt die konventionelle Dramatik das

Vergegenwärtigen, Darstellen und Spielen.

Oratorische Passion und Passionsoratorium

Meinrad Walter sieht genau in dieser verschiedenen Erzählweise ein wichtiges

Unterscheidungsmerkmal zwischen der Oratorischen Passion im Stile Bachs und dem damals

modernen, gerade neu aufkommenden textlich und stilistisch einheitlichen Passions-

oratorium, das viele Komponisten auf das Libretto von Barthold Hinrich Brockes (1660-1747)

komponierten:

„Abschließend bringen wir die Entwicklung [von der Oratorischen Passion zum

Passionsoratorium] nochmals auf die beiden Grundbegriffe ‚Schauspiel‘ und ‚Spiegel‘. Das

Schauspiel des Passionsoratoriums verlangt nach einem Publikum [= griech. ‚Öffentlichkeit‘];

die Oratorische Passion als Spiegel braucht Hörer, die mitbeten. Das Schauspiel fesselt die

Aufmerksamkeit und richtet alles auf ein Ziel aus: wie es ausgehen wird. Der Spiegel setzt

von Anfang an voraus, dass der Hörer den Ausgang kennt, und nur deshalb kann das Ziel in

jedem einzelnen Punkt schon antizipiert werden. Die Oratorische Passion betrachtet die

Passion von der Auferstehung her, was in der österlichen Rahmung der Bach’schen

Johannes-Passion mit den Stichworten „Verherrlichung“ und ewiger Lobpreis überaus

deutlich wird.“4

In den Bach’schen Passionen übernimmt also der Evangelist die Rolle des Erzählers, der die

wesentlichen Elemente einer ohnehin bekannten Handlung auswählt und vorzeigt mit dem

Zweck, dass der Hörer sich dabei nicht nur gut unterhalten fühle, sondern auch etwas

verstehe und lerne.

3 Geck, S. 72 f.

4 Walter, S. 37.

Page 12: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

12 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Warum komponiert Bach kein Passionsoratorium im Brockes-Stil?

Martin Geck schreibt dazu5: „Insgesamt kann man sagen, dass Bach – wie so oft – die

ästhetische Einheit und die stilistische Reinheit des ausschließlich auf freier Dichtung

basierenden Passionsoratoriums nicht reizten.“ Ein wesentliches ästhetisches Anliegen des

auf originale Bibeltexte und überlieferte Liedtexte verzichtenden Passionsoratoriums war

eben, dieses als antiquiert empfundene Textgemisch durch einen stilistisch einheitlichen

Text zu ersetzen. Bach dagegen interessierte sich anscheinend viel mehr für das Erzählende,

die eher heldenepisch zu verstehende Gattung des Bibeltextes (Jesus als „Held aus Juda“)

und damit für die „Buntheit der oratorischen Passion insgesamt: Gerade mittels der durch

die Verschiedenheit der Texte [Luthers Bibeltext, Kirchenlieder, freie Barockdichtung]

bedingten stilistischen Brechungen, die diese Gattung im Laufe ihrer Geschichte erlebt hatte

[…], vermochte Bach Aussagen zu machen, die den theologischen, gesellschaftlichen und

individuellen Sinn von Kirchenmusik weit vielschichtiger und mehrperspektivischer deutlich

machen konnten als eine einheitliche, den Gesetzen einer rationalen Ästhetik unterworfene

Dichtung. Bach schwebte kein einheitlicher Stil vor, er arbeitete vielmehr auf jeweils

spezifische Weise mit geschichtlich gewachsenem und deshalb uneinheitlichem Material.“6

Bach lässt musikalisch traditionelles und musikalisch modernes Denken in der Johannes-

Passion hart aufeinanderprallen. Der Choralsatz folgt auf eine raffiniert instrumentierte,

moderne Arie, die bewusst mechanisch-technisch wirkende Permutations-Chorfuge der

Kriegsknechte (Nr. 27b) löst sich überraschend aus dem opernartigen Rezitativ und geht

anschließend fast ebenso rasch wieder in ein solches über.

Genau das aber sorgt für die Lebendigkeit, die auch reale menschliche Existenzen in ihrer

Widersprüchlichkeit ausmacht. Dramaturgisch kann man sich da an die Buntheit eines

Shakespeare-Bühnenstücks erinnert fühlen. Wie Bach die verschiedenen Textstile und

musikalischen Formen mischt, so kombiniert Shakespeare auf engstem Raum hohen und

niederen Sprechstil, lässt Herrscher und einfaches Volk Szene an Szene auftreten, um die

Gesamtheit der Gedanken in der Welt nicht harmonisierend, sondern unmittelbar

aufeinanderfolgend, im direkten und harten Kontrast, zu erfassen.7

Das Kirchenlied im Oratorium – kollektive Kontemplation

Betrachten wir das traditionellste Element, das Bach in seinen Bibeltext einfügt, etwas

genauer, die Choräle oder Kirchenlieder. In der ästhetischen Diskussion der Zeit war für

aufgeklärte Komponisten wie Johann Mattheson (1681-1764) „der eigentliche Choral Gesang

5 Geck, S. 28.

6 Geck, S. 28f.

7 „Es ist Bachs Neigung, durch den Rückgriff auf Elemente umgangsmäßiger, d.h. in ihrem gesellschaftlichen

Zusammenhang deutlich oder jedenfalls von fern identifizierbarer Gattungen einer stilistischen

Vereinheitlichung geradezu entgegenzuwirken und ein fast fremdartiges Leben in die Komposition zu bringen.

Der Choral (im Zusammenhang mit der Arie ‚Mein teurer Heiland, lass dich fragen‘ [Nr. 32]), das Tombeau (als

semantischer Hintergrund der Arie ‚Es ist vollbracht‘), die Chaconne (als Fundament der Arie ‚Ach mein Sinn‘),

der Tanz (u. a. als Passepied in der Arie ‚Ich folge dir gleichfalls‘ und als Sarabande im Schlusschor ‚Ruhet

wohl‘) sind einige solcher im Zusammenhang mit der Johannespassion zu nennende Elemente.“ (Geck, S. 37)

Page 13: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 13

keine Music“. Das Einschalten eines Chorals in eine mehrsätzige Komposition drückt für

Mattheson statt Kunst und Modernität Primitivität und Traditionalismus, überhaupt

Außermusikalisches und einer einheitlichen Ästhetik Zuwiderlaufendes aus. 8

Bach dagegen versteckt das (oft von den kirchlichen Auftraggebern ausdrücklich verlangte)

Kirchenlied nicht. Er hat keine Angst davor, dass dieses sich als ästhetischer Fremdkörper

erweist. „Er stellt ihn [den Choral] vielmehr als Zeugen der Tradition und als Sprecher der

versammelten Gemeinde deutlich heraus.“ 9 Neben bloßem Zuhören hatte man als

Gemeinde so die Möglichkeit, die neukomponierte, musikalisch moderne Passion mit

musikalisch Vertrautem zu verknüpfen und – bei Kenntnis der Melodien, die zitiert wurden –

eventuell selbst aktiv mitzuwirken.10 Das sorgte für eine größere Aufmerksamkeit und

Eingängigkeit (heute würde man – etwas modisch – sagen: Nachhaltigkeit).

Bach nutzt innerhalb seiner besonderen epischen Passionsdramatik die Möglichkeit, mithilfe

der eingeschalteten Choräle, das dramatische Geschehen anzuhalten, um es durch die

bekannten – und dadurch allgemein verständlichen – Liedtexte neu zu beleuchten,

emotional zu vertiefen, gedanklich auszulegen oder aus der Wir-Perspektive zu

kommentieren. Selbst wenn Bach Choraltexte auswählt, die im Singular, in der Ich-Form,

formuliert sind, wie in Nr. 11: „Ich, ich und meine Sünden“ ist durch die Besetzung als

vierstimmiger Choral immer klar, dass dieses Ich exemplarisch für das Wir steht. Es ist ein

Kollektivkommentar, dramaturgisch gesehen durchaus oft mit kathartischer, befreiender

Wirkung. Theologen würden vielleicht eher von Kontemplation (lat. Beschauung,

Meditation) sprechen: in der philosophisch-theologischen Mystik eine betrachtende

Zuwendung zum Übersinnlichen mit dem Ziel einer unmittelbaren Vereinigung mit dem

Göttlichen. In der Bach’schen durch und durch protestantisch geprägten Johannes-Passion

scheint Kontemplation allerdings weniger etwas Mystisches zu sein als ein ziemlich

rationaler Dialog zwischen Gott (in diesem Falle Jesus als „Held aus Juda“) und dem Ich, dem

das gemeinschaftliche Wir auch als Ich angehört.11

Für die echten Individualkommentare sind dagegen die Arien zuständig: Selbstverständlich

können auch sie als beispielhaft für das Wir, für alle in der Zuhörerschaft, angesehen

werden. Sie können aber auch dramaturgisch – wie die Arie in der Oper – als affektstarke

Äußerung einer unmittelbar an der Handlung beteiligten Person gedeutet werden (zum

Beispiel die Sopran[!]-Arie „Ich folge dir gleichfalls“ als Einsicht in das naiv-kindlich-freudige

Innenleben Petrus‘ oder des anderen Jüngers, der Jesus nachfolgt). Formal-dramaturgisch

8 Zitiert nach Geck, S. 29.

9 Geck, S. 30.

10 Ob die Kirchengemeinde bei Bach die bekannten Choralmelodien mitgesungen hat, ist nicht eindeutig belegt.

Allerdings war die Möglichkeit dazu mithilfe bekannter Melodien und den verteilten gedruckten Textbüchern

gegeben. Dass das Mitsingen der Gemeinde bei den Kirchenliedern damals in Sachsen ein allgemein üblicher

Brauch war, bestätigt ein Ausschnitt aus Christian Gerbers Historie der Kirchen-Ceremonien in Sachsen

(Dresden und Leipzig 1732): „Bisher hat man gar angefangen die Paßions-Historia, die sonst so fein de simplici

& piano, schlicht und andächtig gesungen wurde, mit vielerley Instrumenten auf das künstlichste zu

musicieren, und bisweilen ein Gesetzgen [Sätzchen] aus einem Paßions-Liede einzumischen, da die gantze

Gemeinde mitsinget.“ Zitiert nach Walter, S. 33. 11

Walter, S. 30.

Page 14: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

14 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

unterscheiden sich diese Arien nicht von Arien eines Passionsoratoriums oder selbst einer

Oper.

Verhältnis zwischen Dramatik und Kontemplation

Fragt man erfahrene Chorsänger oder sonstige Kenner nach dem Typischen, dem

Markanten, dem Prägnanten, auch dem Besonderen der Johannes-Passion, so bekommt

man oft zu hören, es seien „die vielen langen und tollen Turba-Chöre“ der aufgepeitschten

Menge. Tatsächlich scheinen die lauten und umtriebigen Menschengruppen aufgrund ihrer

dramaturgischen Bedeutung als nahezu einzige Widersacher Jesu, die Turbachöre aufgrund

ihrer dramatischen Wucht, vor allem ihrer Lautstärke und ihres Tempos, besonders

eindrücklich zu sein. Auch die musikalische Qualität dieser fein gearbeiteten imitatorischen

Sätze mit einprägsam-sprechenden Soggetti macht diese Aussagen durch und durch

nachvollziehbar.

Betrachtet man allerdings die verschiedenen Formen der Johannes-Passion unter dem

Aspekt der Quantität, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Bei der Quantifizierung habe ich

nicht einfach die Choräle, die frei gedichteten Chöre (= Gruppen-Arien), die Turba-Chöre und

die Rezitative gezählt, da die pure Anzahl ein schiefes Bild ergeben würde, sondern anhand

der CD-Aufnahme unter John Elliot Gardiner aus dem Jahre 198612 die tatsächliche zeitliche

Ausdehnung gemessen, und zwar mit folgendem Resultat:

Form Arien Chöre Choräle Bibeltext ohne Turbae und Jesus

Turba-Chöre Jesus-Worte

Zeitdauer in

Minuten

41‘13 16‘02 12‘12 24‘54 8‘27 3‘44

Funktion Kontemplation/Kommentar Epik/Dramatik (erzählte Handlung)

Zeitdauer

in Minuten

69‘27 37‘05

Das überraschende Resultat ist, dass die betrachtenden Teile insgesamt fast doppelt so lang

sind wie die dramatisch-erzählenden Teile, der Redeanteil der Hauptfigur Jesus liegt

zwischen 3 und 4 %, die Turbachöre machen weniger als 8% der Gesamtzeit aus.

Mithilfe dieser Statistik versteht man auch, warum man nach der Wiederentdeckung des

Bach’schen Vokalwerks im 19. Jahrhundert bei Aufführungen in den Arien und Chören so

stark gekürzt hat. Man wollte offensichtlich das zeitliche Ungleichgewicht zwischen der als

überlang empfundenen kontemplativen Richtung nach innen (Walter) und der dramatischen

Richtung nach vorn ausbalancieren.

Letztendlich hat man aber damit das Besondere der Bach’schen Passionsdramaturgie

verdeckt, indem man versuchte, sie einer vermeintlich spannenderen Operndramaturgie

anzupassen.

12

CD Johann Sebastian Bach: Johannes-Passion BWV 245; The Monteverdi Choir, The English Baroque Soloists;

Leitung: John Eliot Gardiner (1986).

Page 15: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 15

5. Didaktische Hinweise: kreativer, produktionsorientierter Zugang

Gerade die Besonderheit dieser Bach’schen Passionsdramaturgie kann für die Schüler durch

einen kreativen Zugang im Unterricht unmittelbar erfahrbar und damit auch verständlich

gemacht werden (siehe auch die Arbeitsschritte oben und die Arbeitsblätter in Abschnitt II,

Seite 40-45). Ausgehend vom eigentlichen Handlungsgerüst, dem Bibeltext, sollen die

Schüler – wie Bach selbst es auch tun musste – nach eingehendem Textstudium überlegen,

an welchen Stellen sie betrachtende Lied-Kommentare in den Bibeltext einschalten

möchten. (Dass man dabei auf durchaus unterschiedliche Ideen kommen kann, zeigen zum

Beispiel die verschiedenen Gestaltungen Bachs der Petrus-Szene in der Johannes- und der

Matthäus-Passion.) Wenn die Schüler einmal dieses Produktions-Verfahren des Auswählens

und Einschaltens neuer, fremder Texte selbst gemacht haben, so die Überlegung, werden sie

auch die Bach’sche Johannes-Passion verständiger und verständnisvoller hören und

betrachten können (siehe die Bezüge in der Synopse, Seite 47 ff.).

Als Textausschnitt wurde ein Abschnitt aus dem ersten Teil der Passion gewählt, in dem die

Verleugnung des Petrus‘ erzählt wird. Seine durch und durch menschliche und damit für uns

verständliche Schwäche kann eine Identifikation und einen Perspektivenwechsel für die

Schüler erleichtern. Außerdem sind die Bach’schen Einschaltungen an dieser Stelle

musikalisch und dramaturgisch besonders interessant und abwechslungsreich.

Arbeitsschritte zum Kennenlernen des Textes durch spielerische Annäherung

Der Lehrer leitet im Plenum an. Die Schüler und der Lehrer stehen oder sitzen im Kreis. Jeder

Schüler benötigt das AB mit dem in Zeilen gegliederten Bibeltextausschnitt aus der

Johannes-Passion:

a) Schüler musikalische Gegensatzpaare finden und mithilfe der Gegensatzpaare

zeilenweise gegensätzlich reihum sprechen lassen; Beispiel:

Schüler 1 (laut) Da hatte Simon Petrus ein Schwert

Schüler 2 (leise) und zog es aus

Schüler 3 (laut) und schlug nach des Hohenpriesters Knecht

Schüler 4 (leise) und hieb ihm sein recht Ohr ab;

etc.

Mögliche Gegensatzpaare:

laut-leise

schnell-langsam

hoch-tief

staccato-legato

Dauer: höchstens 2-3 Minuten, nicht mit einem Paar den ganzen Text durchgehen,

nach 10-20 Zeilen nächstes Paar vorgeben

Page 16: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

16 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

b) Dasselbe mit emotionalen Gegensatzpaaren durchführen:

wütend-resigniert

gehetzt-entspannt

lachend-weinend

verliebt-gehässig

schüchtern-selbstbewusst

nüchtern wie ein Nachrichtensprecher-emotional bewegt wie ein Betroffener etc.

c) Wichtige Vorübungen zur folgenden Kreativaufgabe: Schüler das im Text geschil-

derte Geschehen in eigenen Worten zusammenfassen lassen.

Nachdem die wesentlichen Vorgänge in ihrer Chronologie geklärt sind, können die

Schüler noch spielerisch versuchen, die Geschichte aus der Perspektive daran

beteiligter Personen zu erzählen. Das hilft, sich in andere Rollen hineinzuversetzen

und die Handlung aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Selbstverständlich

dürfen und sollen dabei auch die Gefühle des jeweiligen Erzählers verbal oder

nonverbal (z. B. durch Schluchzen, spöttischen Ton, Lachen etc.) ausgedrückt werden.

Möglichkeiten sind beispielsweise:

Jesus erzählt in Ich-Form;

Petrus erzählt in Ich-Form;

Ein Knecht und die Magd erzählen (zusammen!) in Ich- bzw. Du-Form;

Der allwissende Gott (Jesu Vater) erzählt in Ich-Form.

Liedauswahl

Bachs Kriterien für die Liedverwendung in seinen Passionen sollen hier noch einmal genannt

werden. Daran sollten sich auch die Schüler bei ihrer Liedauswahl orientieren.

• Die Melodien müssen bekannt sein (Mitvollzug und Bezugnahme zum Originaltext

sowie eventuelles Mitsingen sonst unmöglich – bei Vorlage des gedruckten

Textbuches ohne Noten).

• Die Melodien müssen (als Möglichkeit eines Kollektiv-Kommentars, vergleichbar den

Chören in der griechischen Tragödie) zur Evangelistenerzählung und zur Situation

passen.

• Sie müssen mit derselben Sorgfalt in der Ausführung wie die anderen Musikstücke

(für die Schüler: wie der bereits gegebene Bibeltext) behandelt werden.13

Bach wendet diese Kriterien bei der Auswahl seiner zwölf eingeschalteten Kirchenlieder an.

Er wählt vier traditionelle reformatorische Gemeinde- und Glaubenslieder des 16.

Jahrhunderts aus (Nr. 5, Nr. 15 und 37 sowie Nr. 40). Doppelt so viele Choräle, nämlich die

13

Bach setzt deshalb zum Beispiel ein und dieselbe Choralmelodie niemals auf die gleiche Weise aus und zieht

alle Register des harmonischen Ausdrucks, um die jeweilige Textaussage möglichst deutlich zu machen. Er

konzentriert sich daher in einem naturgemäß homophonen, colla-parte-begleiteten Choralsatz auf die

harmonische Anreicherung der drei Begleitstimmen Alt, Tenor und Bass.

Page 17: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 17

übrigen acht, gehen auf sogenannte Andachtslieder des 17. Jahrhunderts zurück, die

„zunächst vor allem in Liederbüchern für die private Hausandacht erschienen und erst zu

Lebzeiten Bachs endgültiger Bestandteil des gottesdienstlichen Gemeindegesangs

wurden“.14

Um die Liedauswahl für die jeweilige Unterrichtssituation praktikabel zu machen, kann man

die Schülergruppen einfach zwei Lieder (eines chorisch, eines solistisch gesungen) aus dem

jeweils in der Schule vorhandenen und eingeführten Liederbuch aussuchen lassen. Für

avancierte und sehr repertoirekundige Gruppen kann man die Auswahl noch einmal

einschränken, zum Beispiel nur Lieder in deutscher Sprache, nur geistliche Lieder (z. B. Swing

low, sweet chariot; Nobody knows the trouble I’ve seen; Amazing Grace; Lobe den Herren;

Wer nur den lieben Gott lässt walten; Ein feste Burg ist unser Gott; Danke für diesen guten

Morgen u.v.a.), nur Volkslieder (Es geht ein dunkle Wolk herein; O Welt, ich muss dich lassen;

All mein Gedanken; Muss i denn zum Städtele hinaus; Da unten im Tale u.v.a.), nur

englischsprachige Popmusik (Yesterday; Help; Let it be; As tears go by; Knockin‘ on heaven’s

door; My way; Tears in heaven; What a wonderful world; Somewhere over the rainbow

u.v.a.) zulassen. Eigene Erfahrungen haben aber gezeigt, dass die Sache gerade ohne Stil-

Einschränkungen interessant und im Sinne einer Oratorischen Passion bunt bleibt.

(Letztendlich sind wir da genau bei der gleichen ästhetischen Diskussion, die auch in der

ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, um 1720, geführt wurde.) Bei meinem letzten Versuch

habe ich das ganze Liederbuch freigegeben, was zugegebenermaßen auch zu makabren (im

Monty-Python-Stil „Always look on the bright side of life“ nach „und ging hinaus und

weinete bitterlich“), aber gerade dadurch zu interessanten Ergebnissen und ästhetischen

Diskussionen geführt hat. Wenn man aber auf die Begründung der Liedeinschübe (siehe AB,

Aufgabe 4, Seite 42) besteht, sollte man vor einer allzu großen Beliebigkeit gefeit sein.

Präsentation und Auswertung

Wichtig wäre mir bei der abschließenden Präsentation, zumal bei einem vierstündigen Kurs,

dass die Schüler alles selbst (eventuell mit Lehrerhilfe) live singen und musizieren, also keine

Abspielgeräte und Playbacks verwenden. Mithilfe eines eventuell von den Schülern selbst

entwickelten Feedback-Bogens kann man eine geregelte Auswertung und einen Vergleich

der vorgeführten Versionen vornehmen.

An die Auswertung schließt sich idealerweise der Vergleich mit der Bach’schen Fassung an.

(Textfassung mit nach Textsorte unterschiedenen Schriftarten bei den Unterrichts-

materialien). Anhand des nun gut bekannten Textes könnte dies ein Einstieg in die

musikalische Analyse über das Hören sein, die man anschließend mithilfe des Notentextes

vertiefen kann.

Je nach Interesse und Zeitbudget kann das Projekt noch um den sehr aufschlussreichen

Vergleich mit der entsprechenden Stelle aus der Matthäus-Passion erweitert werden.

14

Geck, S. 32.

Page 18: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

18 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

6. Hinweise zu den vier Unterrichtsbausteinen

Der Johannes-Passion liegen (abgesehen von den Rahmensätzen und Mischformen wie den

Arien mit Chor Nr. 24 und Nr. 32) im Wesentlichen drei verschiedene Textsorten zugrunde,

denen jeweils eigene musikalische Formen und Funktion entsprechen.15

Text Evangelium Kirchenliedstrophen Freie Textdichtung

musikalische Form Rezitative Turba-Chöre Choräle Arien

Funktion Passionsbericht / Handlung

theologischer

Kommentar

betrachtende

Perspektive

Dramatik / „nach vorn“ Kontemplation / „nach innen“

Diese Anlage ist das wesentliche Merkmal der Oratorischen Passion im Gegensatz zum

Passionsoratorium (vgl. Walter, S. 32 ff. und 44 ff.). Die vier Bausteine stellen jeweils eine

der musikalischen Formen (Rezitativ, Turba-Chor, Arie und Choral) in den Mittelpunkt und

zeigen beispielhaft Wege der Annäherung im Musikunterricht.

• In Baustein 1 (Choräle) steht der Choral Nr. 3 („O große Lieb“) im Mittelpunkt.

Zunächst kann die ursprüngliche Melodie („Herzliebster Jesu“) gesungen und von den

Schülern harmonisiert werden. Anschließend wird Bachs Choralsatz thematisiert.

Zunächst in Form eines einfachen Tonsatzes mit Funktionssymbolen zur Choral-

melodie (entsprechend den Tonsätzen im fachpraktischen Abitur), der dann mit

Bachs aufwändigerem Satz (u.a. Durchgänge und Vorhalte in den Mittelstimmen)

verglichen wird. Daraus werden dann die Grundlagen der Generalbassbezifferung

hergeleitet. Abschließend wird in einer Analyseaufgabe der Affektgehalt des Chorals

anhand einzelner Schlüsselbegriffe thematisiert und mit dem Choral Nr. 17, der auf

derselben Melodie basiert, verglichen. Bei Zeitmangel kann auch direkt mit Aufgabe 3

(Seite 52) eingestiegen und der erste Schritt (Singen und Harmonisieren der

ursprünglichen Melodie) ausgelassen werden.

• In Baustein 2 (Rezitative) wird auf die in Baustein 1 erworbenen Fähigkeiten zum

Aussetzen eines Generalbasses zurückgegriffen. Der Baustein beginnt mit dem

Aussetzen und Musizieren eines Rezitativs. Falls das Aussetzen im Unterricht nicht

möglich ist, kann auch aus Klavierauszügen musiziert werden. Anschließend stehen

Zuordnungs- und Vertonungsaufgaben im Mittelpunkt, bei denen das Verhältnis

zwischen Text und Musik auf unterschiedlichen Ebenen beleuchtet wird

(Sprachrhythmus und -betonung, inhaltliche Entsprechungen …).

15

Die freien Textdichtungen der Arien sind häufig durch biblische Texte inspiriert und weisen teilweise enge

Bezüge zu diesen Vorlagen auf. Vor dem Hintergrund dieser Einteilung bezeichnet Walter die Rahmensätze

„Herr unser Herrscher“ und „Ruht wohl“ als „Chor-Arien“ (Walter, S. 44). Der einzige Choral, dessen Text

nicht auf traditionellen Liedtexten basiert, ist der Choral Nr. 22 „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“. Eine

Übersicht über die Herkunft der Choral-Texte liefert Walter, S. 259 ff..

Page 19: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 19

• In Baustein 3 (Turba-Chöre) wird der dramatische Grundzug der Chöre zunächst beim

Hören, später durch das Einstudieren eines Sprechstücks und durch szenische

Umsetzung in den Mittelpunkt gerückt. Am Ende des Bausteins sollen daran

anknüpfend die in diesen Chören ausgedrückte extreme emotionale Erregung

reflektiert und die musikalischen Eigenschaften analytisch erfasst werden, die sie

erzeugen.

• In Baustein 4 (Arien) sollen die Hinweise zur „Vorgehensweise bei der Analyse und

Interpretation von Vokalmusik“ in Kombination mit den Beispielen den Schülern

helfen, relevante Aspekte innerhalb eines Notentextes zu erkennen und von eher

unwichtigen Beobachtungen zu unterscheiden, die unterschiedlichen Ebenen der

Wort-Ton-Beziehung zu verstehen und dadurch in ihren eigenen Texten mehr

Struktur und sprachliche ‚Treffsicherheit’ zu verleihen. Weil hier ein höheres

Reflexionsniveau vorausgesetzt wird, folgt dieser Teil als letzter Baustein. Mit ihm soll

die Verbindung von einer eher affektiven (Turba-Chöre) und praktischen (Choräle,

Rezitative) zur analytischen Herangehensweisen erreicht werden, wie sie im Abitur

und in Klausuren erwartet werden. Dabei ist es sicherlich ratsam, die gegebenen

Hilfestellungen nicht nur zu besprechen, sondern während der weiteren

Beschäftigung mit der Passion immer wieder zu verwenden. So kann die analytische

Herangehensweise auf weitere Nummern der Passion übertragen werden (siehe

hierzu die Übersicht mit Affekt-Zuordnungen unten).

7. Übersicht: Affekte und Motive

Die folgende Übersicht soll dabei helfen, sich auch den analytischen Aufgabenstellungen

über die theologischen Inhalte zu nähern, wobei die in der Tabelle aufgeführte Auswahl an

Affekten und Motiven die Brücke zwischen theologischer Annäherung und musikalischer

Analyse bilden kann. Den einzelnen Affekten oder geistlichen Motiven werden einzelne

Nummern der Passion zugeordnet.

Nr. Form Textanfang Textstelle(n)

Trauer, Leiden, Schmerz

3 Choral O große Lieb Marterstraße, und du musst leiden

9 Arie Ich folge dir gleichfalls geduldig zu leiden [Fassung IV]

12c Rezitativ Er leugnete aber und sprach und weinete bitterlich

14 Choral Petrus, der nicht denkt zurück und bitterlichen weinet

19 Arioso Betrachte, meine Seel in Jesu Schmerzen

20 Arie Mein Jesu [Fassung IV] schmerzhaft bitter leiden [Fassung IV]

Page 20: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

20 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

24 Arie Eilt Marterhöhlen

34 Arioso Mein Herz Leiden; leidet; in Trauer kleidet

35 Arie Zerfließe mein Herze [ganze Nummer]

37 Choral O hilf Christe, Gottes Sohn durch dein bitter Leiden

Verzweiflung, Schrecken

13 Arie Ach, mein Sinn [ganze Nummer]

24 Arie Eilt [ganze Nummer]

34 Arioso Mein Herz [ganze Nummer]

Aggression, Wut, Hohn und Spott

15 Choral Christus, der uns selig macht verlacht, verhöhnt und verspeit

16 Turba-Chor Wäre dieser nicht ein Übeltäter Wäre dieser nicht ein Übeltäter

18 Rezitativ Da sprach Pilatus zu ihm geißelte ihn

21b/d Turba-Chöre Sei gegrüßet, kreuzige sei gegrüßet; kreuzige

23d Turba-Chor Weg, weg mit dem weg weg mit dem; kreuzige

Kampf

16e Rezitativ Auf dass erfüllt würde die Schrift würden darob kämpfen

30 Arie Es ist vollbracht Der Held aus Juda siegt mit Macht

Herrlichkeit, Größe

1 Eingangschor Herr, unser Herrscher Herrscher; Herrlichkeit; verherrlicht

17 Choral Ach großer König großer König, groß zu allen Zeiten

35 Arie Zerfließe, mein Herze dem Höchsten zu Ehren

40 Choral Ach Herr, lass dein lieb Engelein Ich will dich preisen ewiglich

Erniedrigung

1 Eingangschor Herr, unser Herrscher in der größten Niedrigkeit

30 Arie Es ist vollbracht gekränkten Seelen; Trauernacht

Liebe, Freude

3 Choral O große Lieb Lust und Freuden

9 Arie Ich folge dir gleichfalls [ganze Nummer]

28 Choral Er nahm alles wohl in Acht [ganze Nummer]

Erlösung, Heil

7 Arie Von den Stricken mich zu entbinden; völlig zu heilen

32 Arie Mein teuer Heiland aller Welt Erlösung; vom Sterben freigemacht

39 Schluss-Chor Ruht wohl macht mir den Himmel auf

40 Choral Ach Herr, lass dein lieb Engelein vom Tod erwecke mich

Page 21: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 21

Kontemplation, Versenkung

19 Arie Betrachte, meine Seel [ganze Nummer]

30 Arie Es ist vollbracht [ganze Nummer]

Tod, Sterben

16d Turba-Chor Wir dürfen niemand töten Wir dürfen niemand töten

16e Rezitativ Auf dass erfüllet würde die Schrift welches Todes er sterben würde

31 Rezitativ Und neiget das Haupt und verschied

35 Arie Zerfließe mein Jesus ist tot

Ambivalenz aus Schrecken und Erlösung

7 Arie Von den Stricken binden ↔ entbinden

19 Arioso Betrachte, meine Seel ängstlichem Vergnügen …

20 Arie Erwäge [ganze Nummer]

22 Choral Durch dein Gefängnis [ganze Nummer]

26 Choral In meines Herzens Grunde zu Trost in meiner Not; dich hast geblut zu Tod

8. Musikalisch-rhetorische Figurenlehre

„Die Musik des Barocks aber will in dem, was sie bedeutet, noch über die Abbildlichkeit

hinaus. … Sie will den Menschen in sich hineinlassen, … sie will Bewegungen des Gemüts,

Freude und Traurigkeit, Zorn und Verzweiflung, Liebe und Demut, ausdrücken und zudem

möglichst auch den konkreten Sinngehalt der zu vertonenden Texte in die Musik übersetzen,

um auf diese Weise auf die Menschen zu wirken, die Sänger und Spieler und Hörer, sie

bewegend und belehrend.“ 16

I. Einleitung

Musikalisch-rhetorische Figuren sind nach Merkmalen typisierte musikalische Gestalten und

dienen in Anlehnung an die rhetorischen Figuren der Rede der Hervorhebung eines

Textsinnes (Interpretation, musikalische Auslegung, z.B. Climax), eines Bildes (z.B. Anabasis,

Katabasis, Imitatio) oder Affektes (z.B. Schmerz, Trauer ausgedrückt durch Passus

duriusculus). Analog zu Quintilians Definition einer rhetorischen Figur („Eine Figur … ist die

Gestalt einer Rede in Abweichung von der gewöhnlichen und zunächst sich anbietenden Art

zu sprechen.“)17 sind musikalisch-rhetorische Figuren als formelhafte Ausschmückungen

16

Hanns Heinrich Eggebrecht: Musik im Abendland. Piper Verlag, 6. Auflage (2005), S.345/346. 17

Fabius Quintilian, um 35 – 100 n.Chr., Verfasser der ersten systematischen rhetorischen Figurenlehre

„Institutio Oratoria“.

Page 22: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

22 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

oder kunstvolle Abweichungen vom Tonsatz eine Abweichung von der „einfachen Art“ des

Komponierens. Sie erfüllen im sprachlichen und im musikalischen Werk die gleichen

Funktionen: Sie gelten als Freiheiten (Licentiae) gegenüber dem Regulären, sie wirken als

Ausschmückungen (Ornamenta), sie geben dem Werk Mannigfaltigkeit und Abwechslung

(Variatio), sie sind im Schaffensprozess eine Quelle der Erfindung (Fons Inventionis) und

sollen bei alledem dem Hörer den Sinn einer Aussage nahebringen und verdeutlichen.18

In der Erscheinungsweise des figürlichen und des affekthaften Abbildes gibt es Berührungen

und Überschneidungen. Der Affekt des Schmerzes wird häufig durch enge, bevorzugt

chromatische Tonfolgen ausgedrückt. Die mit chromatischen Tönen durchsetzte Tonfolge

von Halbtönen, insbesondere der chromatische Quartgang abwärts ist andererseits auch ein

Tonfolgetypus, eine musikalische Figur, „Passus duriusculus“ („ein etwas harter Gang“)

genannt, der den Grund des Schmerzes, z.B. die Sünde bezeichnet. Der „Passus duriusculus“

ist in der neueren Schreibweise, dem Stilus modernus als Satzfreiheit (die Stimme „weicht

ab“ von der Ordnung der Diatonik) zugelassen.

II. Musikalische Figurenlehren

Die rhetorisch-musikalische Figurenlehre ist aus dem Bedürfnis heraus entstanden, bereits

bestehende musikalische Phänomene zu beschreiben. Die erste systematische musikalische

Figurenlehre wurde Anfang des 17. Jahrhunderts von Joachim Burmeister verfasst19. Gegen

Ende des 18.Jahrhunderts, einer Zeit, in der schematisierte Lehren einem auf einen

Individualismus betonenden musikalischen Ausdruck der Empfindungen widersprachen,

erschien mit Johann Nikolaus Forkels „Allgemeine Geschichte der Musik“ 20 die letzte

systematische musikalische Figurenlehre.

Die Beziehung zwischen Musik und Rhetorik hatte um 1600, also zum Zeitpunkt der

Entstehung der ersten systematischen Figurenlehre, eine bereits hundertjährige

Vorgeschichte. Die klassische Rhetorik und ihre Wiederbelebung im Zeitalter des

Humanismus dienten für die Musiktheorie des 16. und 17. Jahrhunderts als Vorbild. Die

Systematik dieser Kunst, das Kernstück der gelehrten Bildung, sollte als Beispiel für die

Kompositionskunst herangezogen werden. Wie in der Rhetorik der Aufbau und die Wirkung

der klassischen Vorbilder im Hinblick auf die zur Anwendung gelangten Kunstmittel, wozu

auch die Figuren zählen, zu analysieren war, war es auch das Ziel der Musiklehre, die

musikalischen Phänomene in den Werken der Meister des 16.Jahrhunderts zu erschließen

und zu benennen. Der Mangel an Begriffen zur Benennung dieser Phänomene führte zur

Übernahme von Termini aus der Rhetorik, einer Kunst, die mit der Musik in enger Beziehung

stand. Handwerkliche Kompositionslehren, bei Joachim Burmeister (1606) und Johann

Gottfried Walther (1708) „Musica poetica“ (griech. von poiein, das „Machen“ einer

Komposition) genannt, dienten den Komponisten als „Erfindungsquelle“ (fons inventionis).

Analog der Ars rhetorica, die lehrt, wie ein Redner eine Rede zu fertigen hat, damit sie ihrem

18

a.a.O. Eggebrecht, S. 372. 19

Joachim Burmeister. Hypomnematum musicae poeticae (Rostock, 1599), Musica Poetica (Rostock, 1606). 20

Johann Nikolaus Forkel, Allgemeine Geschichte der Musik, Göttingen 1788.

Page 23: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 23

Gegenstand und Zweck entspricht, anschaulich und eindrucksvoll ist und die Hörer zu

belehren (docere), zu bewegen (movere) und zu ergötzen (delectare) vermag, erfindet und

verwendet der Musicus poeticus Figuren, um den Sinngehalt des Textes sinn- und

affektgemäß abzubilden. Insgesamt sind über 150 musikalisch-rhetorische Figuren in den

verschiedenen Figurenlehren beschrieben, wobei damit nur ein Teil der in Kompositionen zu

erkennenden Tonbildern erfasst wurde.

� Joachim Burmeister : Hypomnematum musicae poeticae (Rostock, 1599)

� Joachim Burmeister: Musica poetica (Rostock, 1606)

� Johannes Nucius : Musices poeticae (Niesse, 1613)

� Athanasius Kircher: Musurgia universalis (Rom, 1650)

� Christoph Bernhard: Tractatus compositionis augmentatus (ca. 1657)

� Johann Gottfried Walther: Praecepta der musikalischen Composition (Weimar,

1708)21

� Johann Gottfried Walther: Musicalisches Lexikon (Leipzig, 1732)

� Johann Mattheson: Der vollkommene Capellmeister (Hamburg, 1739)

� Johann Adolf Scheibe: Critischer Musicus (Leipzig, 1745)

� Johann Nikolaus Forkel: Allgemeine Geschichte der Musik (Göttingen, 1788)

Im Vergleich der verschiedenen Lehren offenbart sich die Mannigfaltigkeit des Figuren-

Begriffs: von einer einheitlichen Figurenlehre des Barock kann nicht gesprochen werden.

Häufig lassen gerade die vielfachen Bedeutungsmöglichkeiten eines Begriffs das Verständnis

der Lehre eines einzelnen Autors erkennen. So versteht Joachim Burmeister in seiner Musica

poetica (1606) unter einer Climax eine melodische Wendung, die von einer benachbarten

Ausgangsstufe wiederholt wird, wobei der Stufengang auf- oder abwärts gewählt werden

kann. Johann Gottfried Walther stellt dagegen in seinem Musicalischen Lexicon (1732) das

emphatische Moment heraus, wenn er die Wiederholungsrichtung aufwärts bestimmt:

„Climax oder Gradatio ist, wenn ein melodischer Abschnitt etlichemal immediate nach

einander immer um einen Ton höher angebracht wird.“

Die terminologische Abhandlung der unten zusammengestellten Begriffe orientiert sich an

den zu Johann Sebastian Bachs Zeit erschienenen Figurenlehren. Bei den folgenden

Beispielen für die kompositorische Anwendung musikalisch-rhetorischer Figuren in der

Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach kommt es nicht auf eine vollständige

Zusammenstellung, sondern auf die Klarstellung der Prinzipien der barocken

Figurenkomposition an. In diesem Sinne soll das Glossar auch im schulischen Unterricht

verwendet und sinnentleertes Aufzählen barocker Figuren in der Analyse vermieden werden

(vgl. auch „Leitfaden – Vorgehensweise bei der Analyse und Interpretation von Vokalmusik“,

Seite 58).

21

Während ihrer gemeinsamen Wirkungszeit in Weimar von 1708 – 1717 waren Johann Sebastian Bach und

Johann Gottfried Walther durch persönliche und musikalische Beziehungen eng verbunden.

Page 24: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

24 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

9. Auswahl der wichtigsten Figuren in der Johannes-Passion

1. Hypotyposis-Figuren (griech. Abbildung):

Sammelbezeichnung für alle Figuren, die den Text abbilden.

Anabasis (griech. Hinaufsteigen, Aufstieg): eine aufwärts gerichtete melodische Bewegung

zur Übersetzung einer aufwärtsgerichteten Bewegung oder Thematik, z.B. bei Textstellen

wie „empor“, „Himmelfahrt“, „auferstehen“ (z.B. Chor Nr. 39, T. 68/69 „macht mir den

Himmel auf“ aufsteigende Melodielinie in Achteln in Bass und Sopran).

Chor Nr. 39, T. 69/70

Catabasis / Katabasis (griech. Abstieg): Gegensatz zu Anabasis, abwärts gerichtete

melodische Bewegung (z.B. Rezitativ Nr. 2c, T. 27/28 „und fielen zu Boden“).

Rezitativ Nr. 2c, T. 27/28

Circulatio (lat. Kreis, Ring): kreisförmige Bewegung der Melodie zur Darstellung einer

kreisförmigen, umzingelnden Bewegung, kann auch als Abbild für Vollkommenheit und

Schönheit stehen, häufig bei Textstellen wie „Erde“, „Krone“, „rund“ usw. (z.B. Choral Nr. 3,

T. 7/8 Bass „mit der Welt“).

Page 25: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 25

Choral Nr. 3, T. 5-11

Fuga (lat. Flucht): Nachahmung einer Melodie, Kanon („fuga imaginaria“ = „scheinbare

Fuge“) bzw. eine von allen Stimmen durchgeführte Imitation („fuga realis“) zur Darstellung

aufeinander folgender Handlungen (z.B. Arie Nr. 9 „ich folge dir gleichfalls mit freudigen

Schritten“ Nachfolge von Singstimme und Flöten bzw. von Flöten und Singstimme, T. 16 m.

A. / 17 sogar Continuo – Singstimme – Flöten), aber auch: flüchtige, äußerst rasche

Bewegung einer oder mehrerer Stimmen bei Wörtern, die ein „Fliehen“ aussagen (z.B. Arie

Nr. 24, T. 17/18 „eilt“).

Arie Nr. 24, T. 14-20

Hyperbole (griech. Überwerfen, Übersteigerung): einzelne Töne überschreiten den üblichen

Tonumfang einer Singstimme, das Überschreiten des Liniensystems nach oben, z.B. für

„Himmel“, „Höhe“ (z.B. Chor Nr. 1, T. 38 Sopran: für die Anrufung des Herrschers werden die

höchsten Lagen aufgesucht, Rezitativ Nr. 2a, T. 10 „und der Hohenpriester“).

Page 26: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

26 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Rezitativ Nr. 2a, T. 9/10

Hypobole, das Unterschreiten, z.B. für die Hölle (Absinken in besonders tiefe Lage z.B. bei

der Darstellung der „größten Niedrigkeit“ in Chor Nr. 1, T. 86 Sopran nach Katabasis).

Tirata (ital. in einem Zuge): Folge von schnellen, stufenweise auf- und absteigenden Noten,

die alle von gleichem Wert sind bei Wörtern wie „werfen“, „schleudern“, „blitzen“;

Mattheson möchte den Begriff als „Schuss“ oder „Pfeilwurf“ verstanden wissen, also

aufwärts oder abwärts schnellender Lauf zur Verbindung zweier entfernt liegender

Melodietöne (z.B. Arioso Nr. 34, T. 5 „Der Vorhang reißt“ absteigende 32-tel).

Arioso Nr. 34, T. 5/6

Tremolo (ital. Zittern): Walther und Mattheson verstehen darunter die „Schwebung auf

einem eintzigen festgesetzten Ton“, also rasche gleichmäßige Wechsel auf einem Ton (z.B.

Arioso Nr. 34, T. 6 „Die Erde bebt“ 32-tel Tonrepetitionen, NB siehe oben).

2. Melodische Figuren:

Figuren, die den Affektgehalt, z.B. Trauer und Leid, ausdrücken.

Exclamatio (lat. Ausruf): ein aufwärts gerichteter Sprung, nach Walter mit expressivem

Intervall wie kleiner oder großer Sexte (z.B. Rezitativ Nr. 2a, T. 16/17 „Wen suchet ihr?“; Arie

Nr. 7, T. 88 Singstimme „von den Stricken“) zum Ausdruck einer starken Gemütsbewegung

wie Schmerz oder Freude.

Page 27: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 27

Rezitativ Nr. 2a, T. 15-17

Interrogatio (lat. Frage): zumeist Sekundschritt aufwärts (Rezitativ Nr. 4, T. 15 „Vater

gegeben hat?“).

Rezitativ Nr. 4, T. 13-15

Passus duriusculus (lat. ein etwas harter Gang): ein unnatürlicher Gang, entweder in einer

Stimme gegen sich selbst = chromatische melodische Fortschreitung, häufig chromatischer

Quartgang zum Ausdruck großen Schmerzes (Chor Nr. 1, T. 15-18 Flauto traverso II / Oboe II;

Choral Nr. 3 „Marterstraße“ Chromatik in den Außenstimmen; Rezitativ Nr. 12c, T. 33-38

chromatischer Bassgang) oder gegen eine andere betrachtet – wenn in einer Stimme

übermäßige Sekunde, verminderte Terz oder (sekundmäßig ausgefüllt) verminderte und

übermäßige Quarte und Quinte vorkommen.

Rezitativ Nr. 12c, T. 32-38

Pathopoeia (griech. Gemütsbewegung, Leid darstellend): die Einfügung leiterfremder

Halbtöne (oft in chromatischen Tonfolgen) zur Darstellung von Leid und Schmerz (z.B.

Rezitativ Nr. 12c, T. 33-38, NB siehe oben).

Saltus duriusculus (lat. ein etwas harter Sprung): bezeichnet die Verwendung „unerlaubter"

Sprünge- ein melodisch dissonierender (oft verminderter oder übermäßiger) Sprung, in der

Page 28: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

28 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Regel abwärts, der in der Barockmusik oft als musikalisches Abbild des Sündenfalls

eingesetzt wird (z.B. Rezitativ Nr. 2a, T. 5 „Judas aber“ absteigender verminderter Dreiklang,

Rahmenintervall Tritonus, T. 9 „der Hohenpriester“; Rezitativ Nr. 4, T. 5/6 „ein Schwert“, T.

9 „Ohr ab“; Rezitativ Nr. 18c, T. 25 „Mörder“; Rezitativ Nr. 25a, T. 1 „kreuzigten“; Arie Nr. 13,

T. 68 „Schmerzen“).

Arie Nr. 13, T. 67/68

Syncopatio (lat./griech. zusammenschlagen): rhythmische Verschiebung der Betonungs-

verhältnisse, so dass eine eigentlich unbetonte Zählzeit betont wird; in der Barockzeit gilt die

Synkope als Verstoß gegen die Ordnung des Taktes und wird deshalb oft dem Begriffsfeld

Sünde, Reue, Schuld zugeordnet.

3. Emphasis-Figuren (griech. Verdeutlichung, Nachdruck), auch Wiederholungsfiguren:

Figuren, die durch Wiederholung eine Aussage nachdrücklich bekräftigen (Verdeutlichung,

Steigerung)

Anadiplosis (griech. Wiederdopplung): Wiederholung einer Schlusswendung am Anfang des

nächsten Abschnitts (z.B. Rezitativ Nr. 29 – Arie Nr. 30: die letzte Phrase des Sängers in

Rezitativ Nr. 29 „Es ist vollbracht“ T. 13/14 nimmt Bach in der darauf folgenden Arie Nr. 30 in

T. 1 in der Viola da gamba wieder auf).

Climax (griech. Leiter, Treppe) oder Gradatio (lat. stufenweise Erhöhung): mehrfache, sich

steigernde Wiederholung eines Melodieabschnitts auf einer höheren Stufe. In der Rhetorik

ist die Climax oder Gradatio eine Steigerung mittels Satzgliedern, die jeweils emphatisch an

das Vorhergehende anknüpfen, z.B. Jauchzet und singet, singet und rühmet, rühmet und

lobet! (Chor Nr. 1, T. 25-27 Sopran, T. 42-44 Sopran „unser Herrscher“).

Chor Nr. 1, T. 42-44, Sopran

Page 29: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 29

Congeries (lat. Masse, Haufen): Anhäufung von Konsonanzen beim Fortschreiten der

Stimmen stufenweise in der gleichen Richtung, länger, als der Satz es normalerweise

gestattet: Nach Burmeister auf- oder absteigende, synkopierte Folge von Terz-Quint- und

Sextakkorden, zur emphatischen Hervorhebung der Worte.

Epanalepsis (griech. Wiederaufnahme): der gleiche Ausdruck kommt am Anfang und am

Schluss des gleichen Satzes vor (z.B. Arie Nr. 30: der zweite, kontrastierende Arien-Teil „Der

Held aus Juda siegt mit Macht“ mündet in der textlichen und musikalischen Wiederholung

des Anfangsteils „Es ist vollbracht“).

Epizeuxis (griech. Zusammenfügung): Wiederholung einer Wort- und Tongruppe auf einer

anderen Stufe, auf- oder abwärts (z.B. Chor Nr. 2b, T. 19-21 „Jesum von Nazareth“).

Chor Nr. 2b, T. 19-21

Imitatio (lat. Nachahmung) nach Walther: die Wiederholung des Themas auf einer anderen

Tonstufe in einer anderen Stimme.

Mimesis (griech. Nachahmung, Abbild): nach Johann Gottfried Walther die Wiederholung

eines Themas in der gleichen Stimme, aber auf verschiedenen Tonstufen (z.B. Chor Nr. 12b,

T. 15 ff. Sopran „bist du nicht“).

Chor Nr. 12b, T. 15-18

4. Pausen-Figuren:

Die Pause als Figur basiert auf dem Nicht-Pausieren: sie erscheint dort, wo für gewöhnlich

keine Pause steht, so dass sie ihre Wirkung als unerwartetes Ereignis erhält.

Abruptio (lat. Bruch, Abriss): der unerwartete Abbruch des Musikflusses, eines

musikalischen Gedankens, z.B. wenn an einer Stelle, an welcher der Auflösungston einer

Dissonanz erklingen müsste, eine Pause steht (so dass die Dissonanz unaufgelöst bleibt),

oder wenn ein Kadenzverlauf „zerrissen“, d.h. durch eine Pause unterbrochen wird.

Page 30: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

30 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Apocope (Apokope, griech. Abschneidung): die ungewöhnliche Verkürzung eines Finaltons,

das „Abschnappen, Abhacken“ einer Stimme, zur Darstellung von „Mangel“, „fehlen“ (häufig

bei Wörtern wie „nichts“, „Nein“, „verbergen“, „leer“ (z.B. Chor Nr. 12b, T. 6 ff „bist du nicht

seiner Jünger einer“).

Chor Nr. 12b, T. 7-10

Aposiopesis (griech. Verschweigen, Beginn des Schweigens): das Pausieren aller Stimmen,

oft nach einem Abbruch des Satzes (Abruptio) = vor allem die Generalpause zur Darstellung

von Sterben, Schlafen oder Schweigen (z.B. Rezitativ Nr. 31 „und verschied“, danach

Generalpause).

Rezitativ Nr. 31

Tmesis (griech. Trennung, Zerschneidung): Zerschneiden des Melodieverlaufs durch Pausen,

die die Trennung von etwas ausdrücken können.

Suspiratio (lat. Seufzer): der Tmesis verwandt, die mehrfache Unterbrechung eines Melodie-

und Sprachflusses (oft bis zur Trennung der Silben eines Wortes) im Sinne des Stöhnens,

Seufzens durch eine oder mehrere Pausen, im 18. Jh. häufig mit einer fallenden Sekunde

einhergehend, Ausdruck für „Qual“, „Mühe“, „Leiden“ , aber auch „Sehnsucht“ (z.B. Arie Nr.

13, T. 24, 28, 30 „ach“, Arie Nr. 30 „Es ist vollbracht“).

Page 31: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 31

Arie Nr. 24, T. 24-32

5. Satz-Figuren:

Antithesis, Antitheton (griech. Gegensatz): Bezeichnung für musikalische Gegensätze, die

durch Wechsel bewirkt werden, die Gegensätze können sich auf eine oder mehrere

musikalische Eigenschaften beziehen (z.B. Arie Nr. 30 „Es ist vollbracht“: T. 1-19 „Es ist

vollbracht“ Molt´adagio, h-Moll, fallende Melodik mit vielen Seufzermotiven, ausgedünnter

Satz / T. 20-39 „Der Held aus Juda siegt mit Macht“ Vivace, D-Dur, aufsteigende

fanfarenähnliche Dreiklangsmelodik, forte, voller Streichersatz/ T. 40-44 Adagio, h-Moll,

Melodik vgl. Teil 1); auch der Gegensatz zwischen Arie Nr. 9 „Ich folge dir gleichfalls– Arie Nr.

13 „Ach mein Sinn“ wirkt antithetisch).

Noema (griech. Gedanke, Entschluss): homophoner Abschnitt in einer polyphonen

Komposition, der homophone Satz enthält keine Dissonanzen; durch eine bestimmte

Aussage soll durch die Musik mehr zu erkennen gegeben werden, als wörtlich ausgedrückt

wird, durch die Abweichung von der umgebenden Kompositionsweise (Polyphonie) wird

dem Textabschnitt größere Bedeutung zugemessen (z.B. Chor 23f „Wir haben keinen König

denn den Kaiser“ nach den polyphonen Chören 23b „Lässest du diesen los“ und 23d „Weg,

weg mit dem, kreuzige ihn“).

Parrhesia (griech. Redefreiheit): Gebrauch verminderter oder übermäßiger Intervalle

(harmonisch oder melodisch), die jedoch so zu geschehen hat, daß es keinen Ubellaut

Page 32: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

32 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

verursachet22; zur Darstellung des Schwankenden, Verderbten, Sündhaften (z.B. Arie Nr. 30,

T. 13 „die Trauernacht“, Tritonus g-cis wird melodisch ausgefüllt und dadurch gemildert).

Arie Nr. 30, T. 13 Melodische Parrhesia

Zur Übertragbarkeit musikalisch-rhetorischer Begriffe auf spätere Musik

Die Frage ist nun, ob und wie weit man rhetorische Begriffe auf spätere Musik übertragen

darf. Stellvertretend für unzählige andere Beispiele sei ein Werk angeführt: Richard Wagner,

Beginn des Tristan-Vorspiels. Die ausdrucksvoll aufsteigende kleine Sexte, mit der das

Vorspiel anhebt, hat etwas „Sprechendes“. Ist es rechtens, sie im Geiste der alten

Figurenlehre als „Exclamatio“ zu deuten und zu bezeichnen?

Der Musikwissenschaftler Clemens Kühn äußert sich dazu in seinem Lexikon Musiklehre:

„Die herausfordernden Fragen sind jedes Mal: ob eine äußerliche Übereinstimmung

musikalischer Vorgänge auch im inneren Sinn für dasselbe steht; ob sich historische

Traditionslinien zeigen, in denen Früheres aufgegriffen, aber dem eigenen Komponieren

anverwandelt wird; oder ob eine Übertragung verfehlt ist, da sich die rhetorische Substanz

verflüchtigt hat und nicht nur die Sprachmittel, sondern auch das kompositorische Denken

unvergleichlich anders sind.“23

Literatur:

Bartel, Dietrich: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, Laaber 2017 (7. Auflage).

Eggebrecht, Hanns Heinrich: Musik im Abendland, Piper 2005 (6. Auflage).

Eggebrecht, Hans Heinrich: Heinrich Schütz. Musicus Poeticus. Florian Noetzel GmbH 2000 (3. Auflage).

Geck, Martin: Bach, Johannespassion. Wilhelm Fink Verlag 1991.

Kühn, Clemens: Lexikon Musiklehre, Bärenreiter 2016.

Die Musik in Geschichte und Gegenwart, DTV, Band 4.

Riemann Musiklexikon, Schott & Söhne.

VDS Handreichungen zum Musikunterricht Heft 8 Januar 1987. Affekte-Figuren- Manieren.

Walter, Meinrad: Johann Sebastian Bach, Johannes Passion, Carus Verlag 2011.

22

Johann Gottfried Walther. Musicalisches Lexicon. 23

Clemens Kühn. Lexikon Musiklehre. Bärenreiter Verlag, 2016, S. 77.

Page 33: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 33

10. Die unterschiedlichen Fassungen der Johannes-Passion

Die Unterschiede zwischen den Fassungen bilden im Musikunterricht nur einen Randaspekt,

da die traditionelle Mischfassung für das Abitur verbindlich ist. Die exemplarische

Beschäftigung mit dieser Besonderheit ermöglicht allerdings wertvolle Erkenntnisse über

Bachs Arbeitsweise und die Werkauffassung seiner Zeit.

An keinem Werk hat Bach so viel experimentiert, geändert und überarbeitet wie an der

Johannes-Passion. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die zahlreichen

Änderungen dem Willen entsprungen sind, den Notentext zu vervollkommnen und in einer

verbindlichen Fassung letzter Hand der Nachwelt zu überlassen, oder ob es sich (für die Zeit

durchaus typisch) um pragmatische Anpassungen an geänderte Aufführungssituationen

handelt.

Als die Passion 1724 in der Leipziger Nikolaikirche uraufgeführt wird (Fassung I), entspricht

ihre äußere Anlage weitgehend der heute geläufigen Mischfassung. Eine vollständige

Rekonstruktion der Partitur ist nicht mehr möglich. Insbesondere Fragen zur Mitwirkung

einzelner Instrumente (etwa der Flöten) sind nicht mehr eindeutig zu klären. Allerdings

existieren einige Stimmen (u.a. eine vollständige Continuo-Stimme), aus denen die

Gesamtanlage des Werks ersichtlich ist.

Bereits ein Jahr nach der Uraufführung wird die Johannes-Passion in der Thomaskirche

erneut unter Bachs Leitung aufgeführt (Fassung II). Dabei tauscht Bach den Eingangs-Chor

gegen die Choralfantasie „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ aus, ersetzt mehrere Arien

und den Schluss-Choral und fügt eine weitere Arie ein (11+). Außerdem überarbeitet er das

Rezitativ Nr. 33, das nun seine siebentaktige Gestalt erhält. Diese Änderung des Rezitativs ist

die einzige Änderung des Jahres 1725, bei der Bach vorhandene Musik überarbeitet (in

diesem Fall erweitert) – und es ist die einzige Änderung, an der er später festhalten wird.

Um 1730 führt Bach die Passion erneut auf (Fassung III). Die Änderungen der Fassung II

werden dabei größtenteils wieder rückgängig gemacht. So nimmt auch der Eingangs-Chor

„Herr unser Herrscher“ nun wieder seinen Platz ein. Der Schluss-Choral wird gestrichen und

erneut eine Arie ausgetauscht. Die bedeutendsten Änderungen betreffen jedoch jene

Stellen, an denen Bach Texte aus dem Matthäus-Evangelium in die Passion eingefügt hatte:

Das Weinen des Petrus (Rezitativ Nr. 12) und die Beschreibung der Naturgewalten nach Jesu

Tod (Rezitativ Nr. 33). Weil die folgenden Nummern 34 und 35 mit dem Rezitativ eine

inhaltliche und musikalische Einheit bilden, entfallen auch das Arioso „Mein Herz“ und die

Arie „Zerfließe, mein Herze“. Sie werden vermutlich durch eine instrumentale Sinfonia

ersetzt, die jedoch heute verschollen ist. Auf der Suche nach Gründen ist man auch bei

diesen Änderungen auf Vermutungen angewiesen. Möglicherweise hängt der Verzicht auf

die Matthäus-Interpolationen mit der mittlerweile uraufgeführten Matthäuspassion

zusammen. Auffällig ist jedenfalls, dass auch diese Änderungen nicht von Dauer sind.

Page 34: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

34 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

1739 beginnt Bach, die Partitur nochmals komplett neu zu schreiben. Dabei ändert er

zahlreiche Details, unter anderem die Stimmführung in den Mittelstimmen an einigen Stellen

des Eingangs-Chors und der Choräle. Diese subtilen Änderungen werden jedoch nicht in das

Stimmenmaterial übernommen und sind zu Bachs Lebzeiten nie erklungen. Seine

Handschrift endet nach 20 Seiten nach Nummer 10. Dieser Torso wurde später von einem

Kopisten nach der damals noch vorhandenen Partitur der Uraufführung vervollständigt.

1749 führt Bach die Passion in vergrößerter Besetzung erneut auf (Fassung IV) und kehrt

dabei wieder zur Gesamtanlage der ersten Fassung zurück. Allerdings erhalten nun mehrere

Arien einen neuen Text. An der Erweiterung des Rezitativs Nr. 33 hält Bach indessen als

einziger Änderung des Jahres 1725 fest. Dies ist die einzige Stelle, an der er 1749 zur Fassung

II statt zur Fassung I zurückkehrt.

Die heute geläufige (und für das Abitur vorgesehene) Mischfassung kombiniert die iden-

tische Gesamtanlage der Fassungen I und IV mit den ursprünglichen Texten aus Fassung I,

der größeren Instrumentation aus Fassung IV (u.a. mit Kontrafagott) und dem erweiterten

Rezitativ der Fassung II. Außerdem werden in den ersten zehn Nummern die Änderungen

der unvollständigen Revision berücksichtigt.

Spannend sind in diesem Zusammenhang auch die Techniken der Rekonstruktion: Der

Herausgeber der Neuen Bach-Ausgabe, Arthur Mendel, konnte die Platzierung einzelner in

späteren Fassungen eingefügter Nummern unter anderem durch einen Abgleich der

Nadellöcher in den Originalstimmen bestimmen, denn diese Nummern wurden in die

vorhandenen Stimmen eingenäht.

In Bezug auf die eingangs gestellte Frage stellt man fest, dass die Unterschiede zwischen den

Fassungen zwei Facetten zeigen: Einerseits zeugen sie von Bachs Willen, dem Werk eine

endgültige und möglichst vollkommene Gestalt zu verleihen. Dies zeigen die vielen subtilen

Änderungen der Revision 1739 und das aufwändige Unterfangen, hierfür die ganze Partitur

neu zu schreiben, aber auch die Tatsache, dass Bach in der letzten Fassung nicht überall zur

ersten Version zurückkehrt, sondern beim Rezitativ Nr. 33 die Erweiterung der Fassung II

beibehält (bezeichnender Weise die einzige Stelle, an der Bach 1725 vorhandene Musik

überarbeitet und nicht nur ersetzt hat). Andererseits zeigt sich im Austausch ganzer

Nummern und dem Angleichen der Instrumentation Bachs Pragmatismus. Gerade die

Tatsache, dass er diese Änderungen allesamt wieder rückgängig macht, deutet auf deren nur

vorübergehende und von einer konkreten Aufführungssituation abhängende Gültigkeit hin.

Quellen:

Mendel, Arthur (Hg.): Johann Sebastian Bach, Johannespassion, Bärenreiter, BA 5037, NBA Serie II, Band 4:

Kassel und Basel 1973.

Ders.: Kritischer Bericht zu NBA II/4, Bärenreiter, Kassel und Basel 1974.

Page 35: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 35

Fassung Jahr / Ort Charakteristika Beispiel 1: Eingangschor

Beispiel 2: Rez. Nr. 33

I 1724

St. Nikolai

• Nicht rekonstruierbar, da nur

unvollständiges Stimmenmaterial

überliefert ist.

• Gesamtanlage entspricht im Grund-

satz der heute geläufigen

Mischfassung bzw. Fassung IV

„Herr unser

Herrscher“

Mitwirkung der

Flöten unsicher

Dreitaktige

Kurzfassung

(vmtl. nach

Markus-

Evangelium)

II

1725

St.

Thomas

• Vollständig rekonstruierbar.

• Eingangschor und Schlusschor werden

ersetzt.

• Mehrere Arien werden ersetzt.

• Eine neue Arie wird eingefügt (11+).

Ersetzt durch

Choralfantasie

„O Mensch, bewein

dein Sünde groß“

in Es-Dur (später

Matthäus-Passion)

Siebentaktige

Fassung nach

Matthäus

III um 1730

St. Nikolai

• Änderungen aus Fassung II werden

größtenteils rückgängig gemacht.

• Ohne Schluss-Choral (endet mit „Ruth

wohl“).

• Teilweise neue Besetzungen

• Matthäus-Interpolationen werden

entfernt (betrifft Nr. 12 sowie Nr. 33

bis 35).

„Herr unser

Herrscher“

mit Flöten

Ersetzt durch

instrumentale

Sinfonia

(verschollen)

zusammen mit

Nr. 34 und 35

unvoll-

endete

Revision

1739

[nicht

aufge-

führt]

• Gesamtanlage wie in Fassung I

• Zahlreiche Änderungen im Detail, die

allerdings nicht in das

Stimmenmaterial übernommen

wurden.

• Bachs Handschrift bricht nach Nr. 10

ab. Die Partitur wurde später von

einem Kopisten nach Fassung I

vervollständigt und von Bach

korrigiert.

„Herr unser

Herrscher“

in zahlreichen

Details

überarbeitet

[spätere

Ergänzung

entspricht

Fassung II

bzw. IV]

IV 1749

St. Nikolai

• Entspricht weitgehend einer Rückkehr

zu Fassung I

• Teilweise stärkere Besetzung

• Textänderungen in Nr. 9, 19 und 20

„Herr unser

Herrscher“

wie Fassung I / III

mit Flöten und

Kontrafagott

Wie Fassung II

Die im Internet verfügbare Präsentation24 bietet einen Überblick über die Fassungen und

macht an ausgewählten Stücken (Eingangs-Chor und Rezitativ Nr. 33, siehe Tabelle oben) die

wesentlichen Änderungen zwischen den Fassungen exemplarisch deutlich. Die Aufgaben

(siehe S. 63) können im Anschluss daran in Gruppen erarbeitet und die Ergebnisse

präsentiert werden. Dabei werden verschiedene Aspekte thematisiert (Detailänderungen

der Revisionsfassung, Austausch des Eingangs-Chores, Neutextierung). Die in den

Aufgabentexten angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die empfohlene Partitur

(Bärenreiter TP 197).

Abschließend kann die Frage diskutiert werden, welche Fassung sich heute für Aufführungen

anbietet. Dabei ist zu bedenken, dass eine Fassung letzter Hand von Bach selbst nicht

existiert, wenngleich er sie mit der Revision 1739 angestrebt hat. Da Bach den Austausch

24

https://rp.baden-wuerttemberg.de/rps/Abt7/Ref75/Fachberater/Seiten/Musik.aspx#6

Page 36: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

36 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

einzelner Nummern jedes Mal wieder rückgängig gemacht hat und sich in der Fassung IV

wieder stark an die ursprüngliche Gestalt annähert, darf man davon ausgehen, dass die

Mischfassung einer ‚idealen’ Fassung letzter Hand wohl am nächsten kommt. Andererseits

stellt dies eine Version dar, die so zu Bachs Lebzeiten nie erklungen ist und die sich

verschiedener Schichten bedient (Texte aus Fassung I, Änderungen der Revisionsfassung,

Rezitativ Nr. 33 aus Fassung II und Besetzung aus Fassung IV) und mindestens einen Bruch

enthält (nach dem Ende der Revisionsfassung, also nach Nr. 10). Eine solche Stückelung

könnte man allerdings wiederum mit Bachs eigener Experimentierfreude rechtfertigen.

Letztlich kann es auf diese Frage keine verbindliche Antwort geben. Allerdings öffnen die

Argumente den Blick für die Aufführungspraxis und das Werkverständnis der Bach-Zeit

ebenso wie für seine eigene Arbeitsweise.

11. Diskographie (von Hartmut Wolf)

An CD-Aufnahmen von Bachs Johannes-Passion herrscht kein Mangel: Im Stuttgarter CD-

Laden „Einklang“ stehen fast 20 verschiedene Aufnahmen im Regal. In der Stuttgarter

Stadtbibliothek sind 22 (!) verschiedene Aufnahmen ausleihbar. Ich habe versucht, mir einen

Überblick über die Qualität der Aufnahmen zu verschaffen. Danach kann ich 2 Aufnahmen

empfehlen, die für den Einsatz im Unterricht meines Erachtens besonders geeignet sind:

Masaaki Susuki hat schon 1998 eine sensible, vom beweglichen, einheitlichen, jungen

Chor des Bach Collegium Japan angeführte Studioaufnahme in Tokio aufgenommen. Sein

Instrumentalensemble gestaltet fein differenziert, natürlich auf „Originalinstrumenten“.

Die komplexen Sätze sind durchhörbar, die Instrumente auch in den Chorsätzen immer

deutlich. Für die Begleitung der Rezitative und der meisten Arien verwendet Suzuki ein

dezent eingesetztes Cembalo, in den Christus-Rezitativen und manchen Arien auch die

Orgel. Da Bach für die zweite Aufführung die Renovierung eines Cembalos verlangte, ist

dies auch stilistisch vertretbar und klanglich überzeugend. Gerd Türk findet als Evangelist

den richtigen Anteil an Dramatik (ohne Pathos). Peter Kooij zeigt – gerade auch in der

packenden Gestaltung der Bass-Arie Nr. 24 „Eilt...“(mit idealen Choreinwürfen „wohin“) –

seine Kompetenz. Sopran und Altus überzeugen durch Leichtigkeit und stimmliche Über-

zeugungskraft. Im Anhang sind die in der Fassung von 1725 neu hinzugekommenen Tenor-

und Bassarien eindrucksvoll aufgenommen. Es gibt – wie auch in der Gardiner-Aufnahme

– keine sprachlichen Verfärbungen, beide Chöre finden den richtigen Ton für die Dramatik

der Turba-Chöre und die beseelte, nie nur routinierte Darstellung der Choräle.

2003 nahm John Eliot Gardiner die Johannes-Passion im Kaiserdom zu Königslutter mit

dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists live auf. Der Chorklang ist etwas

persönlicher, nicht ganz so geschlossen wie bei Suzuki, die Sätze sind packend gestaltet.

Mark Padmore gestaltet den Evangelisten mit etwas unruhigerer Stimme eindrucksvoll.

Die Solisten Joanne Lunn, Barbara Fink und Hanno Müller-Brachmann überzeugen. Auch

Page 37: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 37

in dieser Aufnahme wird den Wort-aus-deutenden musikalischen Details das nötige

Gewicht verliehen, ohne den großen Fluss zu gefährden. Bei Gardiner werden ganze

„Szenen“ unter einem Track zusammengefasst und z. T. keine Pausen zwischen den

Nummern gemacht, was den dramatischen Zug verstärkt, aber das Auffinden einzelner

Stücke etwas erschwert.

Vier gute Aufnahmen erreichen meiner Meinung nach nicht ganz das Niveau der beiden

obengenannten Aufnahmen:

Helmuth Rilling gestaltet mit der Gächinger Kantorei und dem Bach-Collegium Stuttgart in

seiner „jüngsten“ Aufnahme von 1996 intensiv und textbezogen. In dem ansonsten guten

Chor ist leider der Sopran uneinheitlich, Einzelstimmen sind in höheren Lagen mehrfach

hörbar. Die Bassarie Nr. 24 wird von Andreas Schmidt mit grobem Dauerstaccato gesungen.

Dafür sind auch bei Rilling die zusätzlichen Arien der 2. Aufführung und sogar der neue

Eingangschor mit aufgenommen. Dass mit „modernen“ Instrumenten gespielt wird, fällt

kaum ins Gewicht.

Philippe Herreweghe interpretiert 1988 mit dem guten Collegium Vocale wach und solide.

Die Aufführung ist jedoch auf hohem Niveau etwas bedächtig, Aufregendes findet kaum

statt, auch die Solisten überzeugen nicht durchgehend.

Peter Dijkstra überzeugt in einer neuen Aufnahme von 2016 gestalterisch mit dem Chor

des Bayerischen Rundfunks und Concerto Köln. Der Chorklang wirkt aber (vor allem im

Sopran) fast wie eine Ansammlung von Einzelstimmen, die Balance zwischen Chor und

Orchester ist nicht gegeben. Julian Prégardien ist ein idealer Evangelist, die andern

Solisten singen (zu) vibratoreich.

Bevorzugt man eine Aufnahme mit Knabenchor, kommt Georg Christoph Billers Aufnahme

von 2007 mit dem Thomanerchor Leipzig und dem Gewandhausorchester in Frage. Der Chor

singt beweglich und genau, die Vorzüge des frischen Klanges kommen gut zur Geltung. Klang

und Gestaltung des Orchesters wirken gelegentlich etwas schwerfällig, die Solisten sind nicht

ideal.

Im Folgenden möchte ich kurz darlegen, warum ich die anderen mir bekannten Aufnahmen –

zumal für den Gebrauch im Unterricht – nicht empfehlen kann.

Franz Brüggen hat 2010 mit der Capella Amsterdam und dem Orchestra of the 18th

century eine kraftlose live-Aufnahme ohne erkennbaren Gestaltungswillen eingespielt.

Markus Schäfer als sehr guter Evangelist und Carolyn Sampson als überzeugende

Sopranistin können die langweilige Aufführung nicht retten.

Die Aufnahme von 1997 mit Paul Dombrecht und Il Fondamento beginnt und endet mit

(unverdientem) Beifall. Schon der Einleitungschor enthält unsinnige Zäsuren, die Folge

von einzelnen Effekten macht wenig Sinn, der Evangelist ist unzureichend, das Cembalo

dominiert nervig.

Benoit Haller mit der Chapelle Rhénane (2008) hat mit Julian Prégardien einen sehr guten

Page 38: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

38 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Evangelisten und ein gutes Orchester. Sein „Solisten-Ensemble“ singt auch so, es handelt

sich um eine schwer erträgliche, zügellose Stimm-Ausstellung, die Choräle klingen

salbungsvoll.

Die neuere Aufnahme von Nikolaus Harnoncourt (1993) mit dem Arnold Schönberg-Chor

und dem Concentus musicus Wien ist intensiv und interessant, aber leider nicht mehr

erhältlich. Seine Aufnahme von 1971 wurde wieder aufgelegt. Sie ist aber wegen mancher

Unsicherheiten der Instrumente und dem undifferenzierten Chor der Wiener

Sängerknaben nicht angemessen.

Edward Higginbottom nimmt 2001 die Tempi extrem langsam, sie werden nicht mit Leben

gefüllt. Die Solisten (u.a. ein Knaben-Sopran) überzeugen nicht.

René Jacobs sucht in seiner Aufnahme von 2016 mit dem RIAS-Kammerchor und der

Akademie für Alte Musik Berlin ständig, bei gesteigertem Ausdruck, neue Lösungen und

überraschende Effekte. Der Chorklang ist uneinheitlich und wird immer wieder durch

solistisch ausgeführte Teile mit (zu) viel Inbrunst unterbrochen. Die Solisten – aus dem

Chor –gestalten (zu) unterschiedlich, einzig Werner Güra als Evangelist kann überzeugen.

Auch im Cantus Cölln unter Konrad Junghänel (2011) klingt der Chor wie „einige Solisten“,

ungeschlossen und vibratoreich, die Turbachöre klingen nur kultiviert. Die Solisten sind

wenig überzeugend, das Orchester klingt dumpf.

In der Aufnahme von Sigiswald Kuijken (1988, 2012 wieder aufgelegt), überzeugen nur

die Solisten, allen voran Christoph Prégardien als Evangelist. Bei durchschnittlichem Chor

sind die Tempi durchweg zu langsam, es fehlt eine lebendige Gestaltung.

Auch die neue Einspielung von Marc Minkowski und Les Musiciens du Louvre (2017)

überzeugt nicht. Der Chorklang kann kaum als solcher bezeichnet werden, eine

Ansammlung von vibratoreichen Einzelstimmen ordnet alles einer aufgesetzten Dramatik

unter. Für die Solisten gilt dasselbe, so dass keine sinnvolle Interpretation zustande kommt.

Die Aufnahme der Niederländischen Bach-Gesellschaft unter Jos van Veldhoven beginnt

mit einem dominierenden, unpassenden Arpeggio-Akkord des Cembalos, das Ensemble ist

klein. „Drücker“ auf langen Tönen und andere Gestaltungsversuche wirken affektiert. Die

Choräle sind geradezu salbungsvoll gesungen, insgesamt herrscht zu viel Lamento.

In den als unbefriedigend empfundenen Aufnahmen findet fast durchweg keine sinnvolle

Gestaltung der Choräle statt. Oft sind sie systematisch abgespult, die Behandlung der

Fermaten und des Textes wirkt gedankenlos. Wie man weiß, ist ein solcher Vergleich von

Interpretationen natürlich subjektiv. Ich denke aber, dass meine Beschäftigung mit so vielen

Aufnahmen es mir erlaubte, eine solche Beurteilung zu erstellen. Für viele ist es

selbstverständlich, „YouTube“ zu bemühen. Dort gibt es (in Bild und Ton) mehrere

Gesamtaufnahmen der Bachschen Johannes-Passion, empfehlenswerte von Dijkstra,

Gardiner und Suzuki.

Hartmut Wolf

Page 39: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 39

II. UNTERRICHTSMATERIALIEN

Fragebogen zur Passion

1) Der Begriff "Passion" leitet sich von dem lateinischen Wort "passio" ab und kann "Leid"

aber auch "Leidenschaft" bedeuten. Welche Gedanken und Bilder löst bei Ihnen das Wort

"Leiden" aus? Haben beide Begriffe miteinander zu tun?

2) Wo begegnen Sie in ihrem Alltag "Leid"? Wie gehen Sie damit um?

3) Christen glauben daran, dass Jesus Christus am Kreuz gestorben ist, um uns von unseren

Sünden zu befreien. Sind für Sie so altmodische Begriffe wie "Sünde" und "Schuld" heute

noch relevant? Was könnte man darunter verstehen? Kann Christus uns durch seinen Tod

von unseren Sünden "erlösen"?

4) Jesus Christus stirbt am Kreuz und steht am dritten Tage wieder auf. Gibt es in Ihrer

Vorstellung den Begriff "Auferstehung"? Gibt es ein Leben nach dem Tod?

5) Tod und Musik. Sehen Sie hier einen Zusammenhang? Erläutern Sie.

a) Versuchen Sie die Fragen zu beantworten, machen Sie sich dabei Notizen.

b) Tragen Sie Ihre Antworten in der Gruppe vor. (Gerne auch anhand von selbst

ausgewählten Bildern.)

c) Tauschen Sie Ihre Gedanken und Meinungen aus.

Kruzifixus vom barocken Hochaltar von Caspar Friedrich Löbelt, um 1721

(Thomaskirche Leipzig)

Page 40: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

40 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Ein kreativer Zugang zu Bachs Passions-Dramaturgie

Johannes 18, 10-27 und Matthäus 26, 75 (letzter Satz)

(Bibeltext in der von Bach vertonten Fassung)

Da hatte Simon Petrus ein Schwert

und zog es aus

und schlug nach des Hohenpriesters Knecht

und hieb ihm sein recht Ohr ab;

und der Knecht hieß Malchus.

Da sprach Jesus zu Petro:

„Stecke dein Schwert in die Scheide!

Soll ich den Kelch nicht trinken,

den mir mein Vater gegeben hat?“

Die Schar aber und der Oberhauptmann

und die Diener der Jüden nahmen Jesum

und bunden ihn

und führeten ihn aufs erste zu Hannas;

der war Kaiphas Schwäher, welcher des Jahres Hoherpriester war.

Es war aber Kaiphas,

der den Juden riet,

es wäre gut, daß ein Mensch würde umbracht für das Volk.

Simon Petrus aber folgete Jesus nach und ein anderer Jünger.

Dieser Jünger war dem Hohenpriester bekannt

und ging mit Jesu hinein in des Hohenpriesters Palast.

Petrus aber stand draußen vor der Tür.

Da ging der andere Jünger,

der dem Hohenpriester bekannt war,

hinaus,

und redete mit der Türhüterin

und führete Petrum hinein.

Da sprach die Magd,

die Türhüterin, zu Petro:

„Bist du nicht dieses Menschen Jünger einer?“

Er sprach:

„Ich bin’s nicht.“

Es stunden aber die Knechte und Diener

und hatten ein Kohlfeu‘r gemacht

(denn es war kalt)

und wärmeten sich.

Petrus aber stund bei ihnen

Page 41: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 41

und wärmete sich.

Aber der Hohepriester befragte Jesum um seine Jünger und um seine Lehre.

Jesus antwortete ihm:

„Ich habe frei, öffentlich geredet vor der Welt.

Ich habe allezeit gelehret in der Schule

und in dem Tempel,

da alle Juden zusammenkommen,

und habe nichts im Verborgnen geredt.

Was fragst du mich darum?

Frage die darum, die gehöret haben, was ich zu ihnen geredet habe!

Siehe,

dieselbigen wissen, was ich gesaget habe.“

Als er aber solches redete,

gab der Diener einer, die dabeistunden, Jesu

einen Backenstreich

und sprach:

„Solltest du dem Hohenpriester also antworten?“

Jesus aber antwortete:

„Hab ich übel geredt,

so beweise es, daß es böse sei;

hab ich aber recht geredt,

was schlägest du mich?“

Und Hannas sandte ihn gebunden zu dem Hohenpriester Kaiphas.

Simon Petrus stund

und wärmete sich,

da sprachen sie zu ihm:

„Bist du nicht seiner Jünger einer?“

Er leugnete aber und sprach:

„Ich bin’s nicht.“

Spricht des Hohenpriesters Knecht‘ einer,

ein Gefreundter des,

dem Petrus das Ohr abgehauen hatte:

„Sahe ich dich nicht im Garten bei ihm?“

Da verleugnete Petrus abermal,

und alsobald krähete der Hahn.

Da gedachte Petrus an die Worte Jesu

und ging hinaus

und weinete bitterlich.

Page 42: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

42 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Aufgabe 1:

a) Gliedern Sie den Text in verschiedene Szenen.

b) Notieren Sie zu jeder Szene eine passende Überschrift.

Aufgabe 2:

Einigen Sie sich in Ihrer Gruppe auf zwei markante Textstellen, die Ihnen für einen

Textkommentar bzw. Texteinschub geeignet erscheinen.

Aufgabe 3:

Kommentieren Sie mithilfe von zwei frei wählbaren Liedern und Songs (aus Ihrem

Liederbuch) die Handlung einmal chorisch singend und einmal solistisch singend.

Wichtiger Hinweis:

Selbstverständlich dürfen Sie auch nur einzelne Teile von Liedern verwenden, z. B. nur den

Refrain oder nur die 3. Strophe. Sie müssen also nicht mit dem eigentlichen Lied-Beginn

anfangen, wenn zum Beispiel der Refrain oder die 3. Strophe besser zu Ihrer ausgesuchten

Stelle passt.

Aufgabe 4:

Begründen Sie anschließend schriftlich und für einen Außenstehenden nachvollziehbar,

warum Sie gerade dieses Lied/diesen Song/diesen Refrain/diese Textstrophe an dieser Stelle

eingefügt haben. Beschreiben Sie dabei die inhaltliche Verbindung zwischen der

dramatischen Situation des Bibeltextes und Ihres selbst gewählten Textes.

Aufgabe 5:

Studieren Sie Ihre eigene Version des ganzen vorliegenden Passions-Abschnitts mit Ihrer

Gruppe aufführungsreif ein.

Denken Sie daran, dass Sie ein Lied chorisch, zusammen ein- oder mehrstimmig in der

Gruppe, und ein Lied solistisch singen müssen. Beim solistischen Lied kann tatsächlich nur

eine Person singen, es können sich aber auch mehrere Solisten abwechseln. Wer gerade

nicht singt, übernimmt eine eventuelle (instrumentale oder vokale) Begleitung oder pausiert.

Legen Sie in Ihrer Gruppe auch fest, wie Sie den Bibeltext darbieten wollen: Wer spricht was

wie? Jeder Satz bzw. jeder Textabschnitt sollte mit einer klar erkennbaren emotionalen

Haltung vorgetragen werden. Notieren Sie diese Haltungen in Ihren Text wie in ein

Regiebuch für ein Hörspiel.

Aufgabe 6:

Präsentieren Sie Ihre Version mit voller Überzeugung dem Plenum.

Page 43: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 43

Johannes 18, 10-27 und Matthäus 26, 75

(mit Bachs Lied-Kommentaren der Johannes-Passion)

Da hatte Simon Petrus ein Schwert

und zog es aus

und schlug nach des Hohenpriesters Knecht

und hieb ihm sein recht Ohr ab;

und der Knecht hieß Malchus.

Da sprach Jesus zu Petro:

„Stecke dein Schwert in die Scheide!

Soll ich den Kelch nicht trinken,

den mir mein Vater gegeben hat?“

Dein Will gescheh, Herr Gott, zugleich auf Erden wie im Himmelreich. Gib uns Geduld in Leidenszeit, gehorsam sein in Lieb und Leid; wehr und steur allem Fleisch und Blut, das wider deinen Willen tut!

Die Schar aber und der Oberhauptmann

und die Diener der Jüden nahmen Jesum

und bunden ihn

und führeten ihn aufs erste zu Hannas;

der war Kaiphas Schwäher, welcher des Jahres Hoherpriester war.

Es war aber Kaiphas,

der den Juden riet,

es wäre gut, daß ein Mensch würde umbracht für das Volk.

Von den Stricken meiner Sünden

mich zu entbinden,

wird mein Heil gebunden.

Mich von allen Lasterbeulen

völlig zu heilen,

lässt er sich verwunden.

Simon Petrus aber folgete Jesus nach und ein anderer Jünger.

Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten

und lasse dich nicht,

mein Leben, mein Licht.

Befördre den Lauf

und höre nicht auf,

selbst an mir zu ziehen, zu schieben, zu bitten.

Page 44: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

44 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Dieser Jünger war dem Hohenpriester bekannt

und ging mit Jesu hinein in des Hohenpriesters Palast.

Petrus aber stand draußen vor der Tür.

Da ging der andere Jünger,

der dem Hohenpriester bekannt war,

hinaus,

und redete mit der Türhüterin

und führete Petrum hinein.

Da sprach die Magd,

die Türhüterin, zu Petro:

„Bist du nicht dieses Menschen Jünger einer?“

Er sprach:

„Ich bin’s nicht.“

Es stunden aber die Knechte und Diener

und hatten ein Kohlfeu‘r gemacht

(denn es war kalt)

und wärmeten sich.

Petrus aber stund bei ihnen

und wärmete sich.

Aber der Hohepriester befragte Jesum um seine Jünger und um seine Lehre.

Jesus antwortete ihm:

„Ich habe frei, öffentlich geredet vor der Welt.

Ich habe allezeit gelehret in der Schule

und in dem Tempel,

da alle Juden zusammenkommen,

und habe nichts im Verborgnen geredt.

Was fragst du mich darum?

Frage die darum, die gehöret haben, was ich zu ihnen geredet habe!

Siehe,

dieselbigen wissen, was ich gesaget habe.“

Als er aber solches redete,

gab der Diener einer, die dabeistunden, Jesu

einen Backenstreich

und sprach:

„Solltest du dem Hohenpriester also antworten?“

Jesus aber antwortete:

„Hab ich übel geredt,

so beweise es, daß es böse sei;

hab ich aber recht geredt,

was schlägest du mich?“

Wer hat dich so geschlagen, mein Heil, und dich mit Plagen so übel zugericht‘? Du bist ja nicht ein Sünder wie wir und unsre Kinder, von Missetaten weißt du nicht.

Page 45: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 45

Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körnlein finden des Sandes an dem Meer, die haben dir erreget das Elend, das dich schläget, und das betrübte Marterheer.

Und Hannas sandte ihn gebunden zu dem Hohenpriester Kaiphas.

Simon Petrus stund

und wärmete sich,

da sprachen sie zu ihm:

„Bist du nicht seiner Jünger einer?“

Er leugnete aber und sprach:

„Ich bin’s nicht.“

Spricht des Hohenpriesters Knecht‘ einer,

ein Gefreundter des,

dem Petrus das Ohr abgehauen hatte:

„Sahe ich dich nicht im Garten bei ihm?“

Da verleugnete Petrus abermal,

und alsobald krähete der Hahn.

Da gedachte Petrus an die Worte Jesu

und ging hinaus

und weinete bitterlich.

Ach, mein Sinn,

wo willt du endlich hin,

wo soll ich mich erquicken?

Bleib ich hier,

oder wünsch ich mir

Berg und Hügel auf den Rücken?

Bei der Welt ist gar kein Rat,

und im Herzen

stehn die Schmerzen

meiner Missetat,

weil der Knecht den Herrn verleugnet hat.

Petrus, der nicht denkt zurück, seinen Gott verneinet. Der doch auf ein‘ ernsten Blick bitterlichen weinet. Jesu, blicke mich auch an, wenn ich nicht will büßen; wenn ich Böses hab getan, rühre mein Gewissen.

Page 46: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

46 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Musikalisch-theologische Synopse

Aufgaben:

1) Markieren Sie die Spalten farbig. Alle Turbae rot, die Arien hellgrün (Arioso dunkelgrün)

und die Choräle blau. Die Rezitative bleiben weiß. Chor Nr. 1 und Nr. 39 in orange.

2) Beschreiben Sie den formalen Aufbau. Vergleichen Sie dabei Teil I und Teil II.

3) Lesen Sie alle Spalten. Benennen Sie die theologischen Inhalte.

4) Untersuchen Sie die Anordnung der Choräle und erläutern Sie deren Funktion.

5) Äußern Sie sich zur Anordnung der Arien. Inwiefern unterscheidet sich die Betrachtung

von der eines Chorals?

Page 47: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 47

Mu

sikalisch

-the

olo

gische

Syno

pse

na

ch d

em

Urte

xt der N

eu

en

Ba

ch-A

usga

be

(Arth

ur M

en

de

l)

The

olo

gische

s Gru

nd

prin

zip B

achs: D

ram

atische

Rich

tun

g na

ch vo

rn (R

ezitative

/Turb

ae) u

nd

be

trachte

nd

e R

ichtu

ng n

ach

inn

en (A

rien

/Ch

oräle

)

Musik Theologie Gattungen

Trin

ität:dre

i

Schich

ten

,

Dre

iteiligke

it,

dre

ifach

An

rufu

ng

Lob

de

s

He

rrsche

rs

(=Je

su);

Trin

ität:

Vate

r, Soh

n

un

d H

eilige

r

Ge

ist

1.C

ho

r: He

rr,

un

ser

He

rrsche

r

Teil I

2.R

ecit.:

Jesu

s

ging m

it

sein

en

Jün

gern

Garte

n G

eth

sem

ane

un

d G

efan

gen

nah

me

(Ho

rtus)

Ferm

ate a

uf

"Lieb

",

inte

nsive

Ch

rom

atik,

exclam

atio im

Te

no

r be

i

"Marte

r-

straße

",

Ko

ntrast "Lu

st

un

d Fre

ud

en

"

un

d "le

ide

n"

Lieb

e G

otte

s,

die

alle

me

nsch

liche

n

Maß

stäbe

spre

ngt.

"Ich" u

nd

Jesu

s

3.C

ho

ral:

O gro

ße

Lieb

4.R

ecit.:

Au

f dass

das W

ort

erfü

llet

rde

Stichw

ort

= "V

ate

r

Ch

oral

be

antw

orte

t

Frage au

s

Re

zitativ mit

d-m

oll,

Pe

nd

eln

de

r

Harm

on

ik

zwisch

en

d-m

oll u

nd

A-D

ur,

Be

ton

un

g de

r

ho

rizon

talen

Stimm

füh

run

g

Vate

run

ser-

Bitte

; Jesu

s

nim

mt d

ie

Passio

n als d

en

Wille

n d

es

Vate

rs freiw

illig

an. G

ed

uld

als

Fruch

t de

r

Passio

n.

5.C

ho

ral:

De

in W

ill

gesch

eh

, He

rr

Go

tt zugle

ich

6.R

ecit.:

Die

Schar

abe

r

Stichw

ort =

"un

d

bu

nd

en

ihn

"

Ve

rleu

gnu

ng d

es P

etru

s (Po

ntifice

s)

Mu

sikalische

Ein

he

it von

"Bin

de

n" u

nd

En

tbin

de

n":

z.B.

me

lismatisch

-

syllabisch

,

abw

ärts-

aufw

ärts,

disso

na

nt-

kon

son

ant

Dre

iersch

ritt:

Ve

rstrickun

g

in Sü

nd

e o

de

r

Kran

khe

it –

die

He

ilun

g

davo

n

(=E

ntb

ind

un

g)

– d

urch

Jesu

s

Ve

rwu

nd

un

g,

Erlö

sun

g

"do

cere

"

7.A

ria:

Vo

n d

en

Stricken

me

ine

r

Sün

de

n

8.R

ecit:

Simo

n

Pe

trus ab

er

folge

te

Jesu

s nach

Stichw

ort =

"folge

te"

Nach

folge

:

Imitatio

ns-

form

en

,

fugato

,

Seq

ue

nze

n,

Freu

de

:

Tan

zcharakt

er 3

/4-T

akt,

Sech

zeh

nte

l

-Lauf

Na

chfo

lge

Jesu

als

Fruch

t de

r

Passio

n,

Freu

de

"de

lecta

re"

9.A

ria:

Ich fo

lge d

ir

gleich

falls

10

.Re

cit.:

De

rselb

ige

Jün

ger

Stichw

ort

=

"Ba

cken

-

streich

"

Be

ton

un

g von

"We

r" un

d

"Ich",

Qu

intse

xt-

akkord

un

d

De

hn

un

g be

i

"schlage

n",

chro

matisch

e

Vo

rhaltb

il-

du

nge

n,

eige

nw

illige

Ferm

aten

-

bild

un

g

1.Stro

ph

e

= Frage

2.Stro

ph

e

= A

ntw

ort

Zwie

sprach

e

mit d

em

leid

en

de

n

Jesu

s

Vo

rstellu

ng

de

s Leid

en

s

pro

pter m

e ,

pro

me

11

.Ch

oral:

We

r hat d

ich

so ge

schlage

n

Page 48: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

48 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Musik Theologie Gattungen

Ein

schu

b

"we

ine

te

bitte

rlich"

aus

Ma

tthä

us-

Eva

nge

lium

12

.Re

cit.:

Un

d H

ann

as

sand

te ih

n

geb

un

de

n

Ve

rleu

gnu

ng d

es P

etru

s (Po

ntifices)

kein

me

lod

ische

s

un

d

rhyth

misch

es

Gle

ichm

aß,

Sänge

r agiert

gege

n

Instru

me

nte

,

Dyn

amik zu

m

Schlu

ss hin

(kein

da cap

o)

Be

stürzu

ng

üb

er d

as

Ve

rsagen

be

i

de

r Nach

folge

Jesu

,

Re

ue

un

d

Ve

rzwe

iflun

g,

Ch

ristus-Ich

(=P

etru

s)

"mo

vere

"

13

.Aria:

Ach

, me

in Sin

n

Ch

rom

atik im

Bass ("P

etru

s"),

un

aufge

löste

Span

nu

ng b

ei

"zurü

ck", He

r-

vorh

eb

un

g von

"bitte

rlich" im

Sop

ran, A

chte

l

in d

en

Mitte

lstimm

en

,

"Jesu

, blicke

..."

= o

hn

e

Ch

rom

atik

Re

ue

als Fruch

t

de

r Passio

n,

Ge

wisse

n,

Be

schlu

ss de

s

1.T

eile

s

14

.Ch

oral:

Pe

trus, d

er

nich

t de

nkt

zurü

ck

markan

te

To

nw

ied

er-

ho

lun

gen

,

strahle

nd

ho

he

Lage d

es So

pran

s,

groß

e h

armo

nisch

e

Farbigke

it

erklin

gt nach

de

r

Pre

digt,

Ein

gangsru

f

"Ch

ristus" =

An

knü

pfu

ng an

Ein

gangsch

or,

Re

sum

ee

de

s

erste

n P

assion

steils

= ge

füh

rt für

gottlo

se Le

ut",

dram

aturgisch

e

Ve

rbin

du

ng zu

Ch

oral N

r. 37

,

An

rufu

ng,

Erö

ffnu

ng d

es 2

.

Te

iles

15

.Ch

oral:

Ch

ristus, d

er u

ns

selig m

acht

Teil II / V

erh

ör u

nd

Ge

iße

lun

g (Pilatu

s)

16

.Re

cit.:

Da

füh

rete

n

sie Je

sum

du

rchge

he

nd

e

Ach

telb

ew

e-

gun

g im B

ass,

Gan

zton

he

r als Nr.

3, ke

ine

üb

er-

rasche

nd

en

Ferm

aten

An

knü

pfu

ng

an C

ho

ral Nr.3

(gleich

e M

elo

-

die

), maje

stä-

tische

r Jesu

s

("zu alle

n

Zeite

n" –

sieh

e

Ein

gangsch

or)

Ch

oral

be

schlie

ßt

kein

e Sze

ne

=

qu

asi

"Inte

rme

zzo"

Da

nk

17

.Ch

oral:

Ach

, groß

er

nig

18

.Re

cit.:

Da

sprach

Pilatu

s zu

ihm

fließ

en

de

s

Figure

nw

erk

(Laute

!), kurze

,

staun

en

de

Ph

rasen

in d

er

Singstim

me

,

paralle

l gefü

hrte

ged

ämp

fte V

io-

line

n (→

"Mild

e

un

d H

erb

he

it"),

Disso

nan

zen

,

steh

en

de

r

Gru

nd

ton

es un

d

Ab

we

ichu

ng

"Be

trachte

n" =

äuß

erlich

es

Seh

en

(de

s

Bild

es d

er

voran

ge-

gange

ne

n

Ge

iße

lun

g) /

"We

rmu

t" üb

er

Jesu

Leid

en

wa

nd

elt sich

zur

"süß

en

Fruch

t"

"oh

n U

nte

rlass"

19

.Ario

so:

Be

trachte

me

ine

See

le

Pau

sen

be

i

"Erw

äge" =

prü

fen

de

s

Inn

eh

alte

n,

De

hn

un

gen

=

Gle

ichge

wich

t,

"Au

gen

mu

sik"

be

i

"Wasse

rwo

gen

"

un

d

"Re

gen

bo

gen

"

"Erw

äge" =

vom

äuß

erlich

en

Seh

en

(Ario

so)

nu

n zu

m

tiefe

ren

Ve

rste-

he

n (h

ier als

Au

fford

eru

ng),

vom

"blu

tge-

färb

ten

cken

"

zum

"Re

gen

bo

gen

"

=G

otte

s

Gn

ad

en

zeich

en

=A

rioso

un

d A

ria

län

gste Zeit d

er

Versen

kun

g

20

.Aria:

Erw

äge, w

ie se

in

blu

tgefärb

ter

cken

Page 49: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 49

Musik Theologie Gattungen

21

.Re

cit.:

Un

d d

ie

Krie

gs-

kne

chte

floch

ten

Me

lod

ische

Ve

rklamm

eru

ng

mit d

em

vorige

n

Re

zitativ in alle

n

Stimm

en

Zen

trum

de

r

Tu

rbae

-

Symm

etrie

,

Parad

oxo

n:

"Ke

rker ist d

er

Gn

ade

nth

ron

"

→ Je

su"

Kn

ech

tscha

ft"

we

gen

de

r

"Freu

nd

schaft"

zu d

en

Me

nsch

en

22

.Ch

oral:

Du

rch d

ein

Ge

fängn

is,

Go

ttes So

hn

23

.Re

cit.:

Die

Jüd

en

abe

r

schrie

en

un

d

sprach

en

Rh

ythm

us ge

gen

natü

rliche

s

Takte

mp

find

en

--> U

nsich

erh

eit,

eile

nd

er A

ufstie

g

(we

chse

lwe

ise

auftaktig u

nd

volltaktig)

We

g de

s

Glau

be

ns (n

ach

Go

lgatha),

Üb

erw

ind

un

g

de

r

An

fech

tun

gen

(=V

ersu

chu

nge

n),

orie

ntie

run

gs-

lose

s Frage

n d

er

Gläu

bige

n u

nd

be

ruh

igen

de

An

two

rt

24

.Aria:

Eilt, ih

r

ange

foch

tne

n

See

len

25

.Re

cit.:

Alld

a

kreu

zig-

ten

sie

ihn

zuve

rsicht-

liche

r (Es-

Du

r!),

schre

iten

de

r

Vie

rtelp

uls,

markan

te

Ferm

aten

auf

"No

t" un

d

"To

d"

inn

ere

An

eign

un

g

de

r Bo

tscha

ft

Jesu

,

Stichw

ort-

ansch

luss

"Nam

en

Jesu

",

Affe

kt de

r

Freu

de

,

Be

züge

zum

eige

ne

n

Sterb

en

(ars

mo

rien

di)

26

.Ch

oral:

In m

ein

es

He

rzen

s

Gru

nd

e

Stichw

ort =

"Mu

tter"

27

.Re

cit.:

Die

Krie

gs-

kne

chte

abe

r

bre

iter, ru

hige

r

Vie

rtelp

uls,

gleich

förm

ig,

Seku

nd

-

be

we

gun

gen

in

de

r Me

lod

ie,

häu

fig

A-D

ur als

"An

ker"

(Glau

be

) ,

ho

he

Lage u

nd

De

hn

un

g be

i

"Me

nsch

en

-

lieb

e"

letzte

"irdisch

e"

Tat Je

su,

Au

fford

eru

ng

("O M

en

sch,

mach

e

Rich

tigkeit")

zur N

ach

folge

Jesu

,

Lieb

e, T

rost

28

:Ch

oral

Er n

ahm

alles

wo

hl in

acht

Page 50: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

50 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Musik Theologie Gattungen

Qu

elle

: Walte

r, Me

inrad

: Joh

an

n Seb

astia

n B

ach

, Joh

an

nesp

assio

n: ein

e mu

sikalisch

-theo

log

ische E

infü

hru

ng

, Caru

s, Stuttgart 2

01

1.

Stichw

ort

= "E

s ist

vollb

rach

t"

29

.Re

cit.:

Un

d vo

n

Stun

d an

To

d u

nd

Grab

legu

ng (Se

pu

lcrum

)

abw

ärts

fließ

en

de

Me

lod

ik +

Sextsp

run

g

("Tro

st"),

Ko

ntrast zu

m

Mitte

lteil:

To

nart, T

em

po

,

Be

setzu

ng,

vokal-

instru

me

nta

l,

Te

xtbe

-

han

dlu

ng,

Rh

ythm

us

Jesu

To

d

als Sie

g

(=jo

han

ne

ische

Th

eo

logie

),

Ide

ntitä

t de

s

He

lde

n m

it

de

m Lam

m

(+Sie

gesfah

ne

)

= Sym

bo

l für

Au

ferste

hu

ng

"do

cere

"

30

.Aria:

Es ist vo

llbrach

t

Stichw

ort

=

"ne

iget d

as

Ha

up

t"

31

.Re

cit.:

Un

d n

eige

t

das H

aup

t

tänze

rische

r

12

/8-T

akt =

Glau

be

ns-

gew

isshe

it,

4/4

-Takt

de

s Ch

orals

= Stab

ilität,

Ve

rzöge

r-

un

g de

s Ja-

Wo

rtes,

spru

ngh

afte

Me

lod

ik

Zwie

ge-

spräch

de

r

gläub

igen

See

le m

it

de

m

Ge

kreu

zig-

ten

Erlö

sun

g

(Solo

) un

d

Ve

rsöh

nu

ng

(Ch

or) =

simu

ltan

"de

lecta

re"

32

.Aria:

Me

in te

ure

r

He

iland

Stichw

ort

=

"Vo

rha

ng"

"Fels"

Ein

schu

b

aus

Ma

tthä

us-

Eva

nge

lium

33

.Re

cit.:

Un

d sie

he

da

Orge

lpu

nkt g

(vgl. Ein

gangs-

cho

r)

Un

ison

o-

Tre

mo

lo d

er

Streich

er,

Oktav-

du

rchla

uf b

ei

"ganze

We

lt",

Ve

ränd

eru

ng

de

r Harm

on

ik

in d

en

steh

en

de

n

Bläse

rklänge

n

Be

trach

tun

g:

"Me

in H

erz"

un

d

die

"We

lt"

Zusam

me

n-

klang

von

Ko

smo

s

un

d

Mikro

kosm

os

34

.Ario

so:

Me

in H

erz,

ind

em

die

ganze

We

lt

"zerflie

ße

n-

de

"

Me

lod

ie-

Linie

n,

"be

be

nd

e"

Re

pe

tition

en

,

staccato-

Dre

iklangs-

bre

chu

nge

n

pe

rsön

liche

Kla

ge,

"inn

ere

s

Be

be

n"

(An

knü

pfu

ng

an A

rioso

),

vgl. Arie

Nr.

13

"mo

vere

"

35

.Aria:

Zerflie

ße

,

me

in H

erze

36

.Re

cit.:

Die

Jüd

en

abe

r,

die

we

il

es d

er

sttag

war

vgl. Nr. 1

5

-->e

in T

on

he

r,

en

tlege

ne

To

narte

n

z.B. d

es-

mo

ll

An

rufu

ng

zwisch

en

Lanze

n-

stich,

Kre

uzab

-

nah

me

un

d

Be

gräbn

is

37

.Ch

oral:

O h

ilf

Ch

riste,

Go

ttes

Soh

n

38

.Re

cit.:

Darn

ach

bat

Pilatu

s

vorw

ie-

gen

d

Ho

mo

-

ph

on

ie,

Ro

nd

ofo

rm,

abste

igen

d

= G

rab,

aufste

igen

d

= H

imm

el

Das G

rab als

das

En

de

alle

r

No

t,

Be

freiu

ng

de

r See

len

,

Ch

ristus

spre

ngt

die

Pfo

rten

de

r Hö

lle

39

.Ch

or:

Ru

ht w

oh

l,

ihr h

eilige

n

Ge

be

ine

Oktav-

sprü

nge

im B

ass,

verzie

rter

Alt,

Qu

asi-

Glo

ria

T.1

5ff.,

De

hn

un

g

be

i

"ew

iglich"

Jesu

To

d

un

d

"Ich",

Bitte

um

him

mli-

sche

Vo

llen

-

du

ng

40

.Ch

oral:

Ach

He

rr,

lass de

in

lieb

En

gele

in

Page 51: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 51

Unterrichtsbaustein 1: Die Choräle

Hintergrund-Information: Die meisten Choräle der Johannes-Passion basieren auf den

Melodien und Texten überlieferter (häufig lutherischer) Kirchenlieder. Der Choral Nr. 3 O

große Lieb stammt aus dem Lied Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen von Johann

Heermann (Text) und Johann Crüger (Melodie).

Aufgabe 1: Erfinden Sie eine einfache Begleitung zur ursprünglichen Choralmelodie.

Notieren Sie sie in Form von Harmoniesymbolen oder einer ausnotierten Begleitstimme.

2. O, große Lieb, o Lieb ohn alle Maße, 3. Ach, großer König, groß zu allen Zeiten,

Die dich gebracht auf diese Marterstraße! Wie kann ich gnugsam diese Treu ausbreiten?

Ich lebte mit der Welt in Lust und Freuden, Keins Menschen Herze mag indes ausdenken,

Und du musst leiden. Was dir zu schenken.

4. Ich kann’s mit meinen Sinnen nicht erreichen,

Womit doch dein Erbarmen zu vergleichen.

Wie kann ich dir denn deine Liebestaten

Im Werk erstatten?

Aufgabe 2: Vergleichen Sie die Choralmelodie aus der Johannes-Passion mit der Vorlage.

Setzen Sie Bachs Choralmelodie vierstimmig aus (nächste Seite). Vergleichen Sie

anschließend Ihren vierstimmigen Satz mit demjenigen Bachs und benennen Sie die

Unterschiede zwischen Ihrem und seinem Choralsatz.

Page 52: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

52 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Hintergrund-Information: Zu den wesentlichen Kennzeichen der Barockzeit gehört die

Generalbass-Praxis. Der sogenannte Basso continuo bildet das harmonische Fundament der

Musik. Er besteht aus einem oder mehreren Bass-Instrumenten (z.B. Cello, Kontrabass oder

Fagott) und einem oder mehreren Harmonieinstrumenten (z.B. Cembalo, Orgel oder Laute).

Der Spieler der Orgel oder des Cembalos hatte dabei jedoch nur eine mit Ziffern versehene

Bass-Stimme vor sich. Die Kombination aus Basston und Ziffer muss er beim Spielen in einen

Akkord übersetzen und so aus dem Stegreif die rechte Hand zum Bass hinzu „erfinden“.

Gleichzeitig muss er vielfältige Regeln zur Stimmführung und Stilistik beachten. Diese

Musizierpraxis breitete sich von Italien über Deutschland in andere Länder aus und wurde zu

einem bestimmenden Merkmal der Zeit. Johann Sebastian Bach soll die Bedeutung des

Generalbasses mit folgenden Worten charakterisiert haben:

„Der Generalbass ist das vollkommenste Fundament der Music welcher mit beyden

Händen gespielet wird dergestalt das die lincke Hand die vorgeschriebenen Noten spielet

die rechte aber Con- und Dissonantien darzu greift damit dieses eine wohlklingende

Harmonie gebe zur Ehre Gottes und zulässiger Ergötzung des Gemüths.“ (zitiert nach: dtv-

Atlas Musik, S. 101)

Aufgabe 3: Versuchen Sie die Bedeutung der Ziffern zu entschlüsseln, indem Sie die Töne aus

Bachs Chorsatz in das obere System übertragen.

Aufgabe 4:

a) Da die Choralmelodie weitgehend vorgegeben war, konnte der Affektgehalt in den

Chorälen vor allem durch die Gestaltung der Unter- und Mittelstimmen sowie durch die

Harmonisierung verdeutlicht werden. Untersuchen Sie diese Merkmale an den

Textstellen diese Marterstraße, Lust und Freuden sowie und du musst leiden.

b) Vergleichen Sie den Choralsatz von Nr. 3 mit dem Choralsatz von Nr. 17, der auf

demselben Kirchenlied basiert, und erläutern Sie Unterschiede in der Vertonung.

Page 53: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 53

Unterrichtsbaustein 2: Die Rezitative

Page 54: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

54 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Aufgabe 1: Ordnen Sie die Textschnipsel den einzelnen Abschnitten zu und notieren Sie die

zugeordneten Texte jeweils unter die Noten. Begründen Sie Ihre Zuordnung.

Aufgabe 2: Vertonen Sie die Texte im Kasten auf der nächsten Seite jeweils als Rezitativ.

Gehen Sie folgendermaßen vor:

• Sprechen Sie den Text mehrmals in einem gleichmäßigen Metrum, um eine

natürliche Sprachbetonung zu erreichen und unterstreichen Sie die betonten /

wichtigen Silben.

• Notieren Sie einen passenden Rhythmus, bei dem die unterstrichenen Silben auf

betonten Zählzeiten liegen.

• Legen Sie den melodischen Verlauf fest:

- Orientieren Sie sich an den Harmonien der notierten Continuo-Begleitung.

Melodische Zieltöne / Silben auf den betonten Zählzeiten sollten zum jeweiligen

Akkord passen.

- Der Charakter sollte zum Affekt / zum beschriebenen Inhalt passen (fallende /

aufsteigende Linie, Sprünge, ggf. bestimmte Figuren …).

• Möglicher Zusatz: Bringen Sie bei besonders wichtigen Schlüsselbegriffen

Verzierungen an.

• Vergleichen Sie Ihre Vertonung mit derjenigen Bachs.

Jesus spricht zu ihnen Ich bin’s Judas aber, der ihn verriet stund auch bei ihnen

Als nun Jesus zu ihnen sprach: Ich bins wichen sie zurücke und fielen zu Boden

Page 55: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 55

Simon Petrus aber folgete Jesu nach und ein ander Jünger

… da er deutete, welches Todes er sterben würde.

Page 56: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

56 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Unterrichtsbaustein 3: Die Turba-Chöre

Page 57: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 57

Aufgaben:

1. Hören Sie sich den Chor Nr. 23d aus Bachs Johannes-Passion an („Weg mit dem“) und

beschreiben Sie seine Wirkung.

2. Studieren Sie das Sprechstück vierstimmig ein.

3. Analysieren Sie die in diesem Stück dargestellte Situation und bringen Sie sie in

Zusammenhang mit dem Passionsbericht (Texte von Nr. 21 und 23). Entwerfen Sie

hierzu eine kurze Szene (ohne gesprochenen Text). Überlegen Sie sich Körpersprache,

Haltung, Gestik und Mimik der beteiligten Personen und bauen Sie an geeigneter

Stelle das Sprechstück ein. Präsentieren Sie anschließend die Szene.

4. Reflektieren Sie ihre Eindrücke: Von welchen Emotionen und Konflikten werden die

handelnden Personen beeinflusst?

5. Hören Sie die gesamte Szene (Nr. 21 bis 23) an mit dem Choral „Durch dein

Gefängnis, Gottes Sohn“. Beschreiben Sie die Wirkung des Chorals an dieser Stelle.

Beziehen Sie seinen Text auf die Handlung der Personen und interpretieren Sie seine

theologische Aussage. Beschreiben Sie im Vergleich dazu die Wirkung der Turba-

Chöre und benennen Sie die musikalischen Mittel, mit denen Bach sie erzielt.

Hintergrund: Der Begriff „Turba“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet

Menschenmenge / Auflauf, aber auch Unruhe / Getümmel. Mit dem Begriff Turba-Chor oder

Turbae bezeichnet man in der Johannes-Passion die Chöre, in denen Bach die Worte der

Widersacher Jesu und der Kriegsknechte vertont.

Page 58: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

58 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Unterrichtsbaustein 4: Die Arien

Leitfaden – Vorgehensweise bei der Analyse und Interpretation von Vokalmusik:

• Eingehen auf den Grundcharakter (Tonart, Tempo, Dynamik, Besetzung …)

• Einzelne Stellen – wenn sie inhaltlich bedeutsam und musikalisch ergiebig / auffällig sind.

⇒ Zwei Möglichkeiten zum Verhältnis von Musik und Textinhalt

- Begriffe werden betont / hervorgehoben (z.B. durch Wiederholung oder durch

besonders lange, hohe oder laute Noten)

- Inhalte (z.B. Emotionen) werden dargestellt / umgesetzt / abgebildet / ausgedrückt

o sinnbildliche Darstellung (z.B. „Höhe“ – „Tiefe“) durch bestimmte Figuren oder musikalische Abbildung (Hypotyposis-Figuren)

o charakterliche Darstellung / Affekte z.B. durch Figuren wie den passus duriusculus

• Beschreibung des Sachverhalts und Nennung von Fachbegriffen (z.B. Figuren …)

Figuren und Affekte:

Affekte können durch bestimmte Figuren ausgedrückt werden,

z.B. Trauer und Schmerz durch chromatische Tonfolgen

(„passus duriusculus“)

Affekte wie Freude können (außer durch

Figuren) auch durch Parameter wie Tempo,

Tongeschlecht, Besetzung, Taktart,

Dynamik etc. ausgedrückt werden.

Figuren können Inhalte jenseits bestimmter

Affekte und Gefühle (wie bestimmte textlich

erzeugte Vorstellungen) abbilden, z.B. Höhe

und Tiefe … („Hypotyposis-Figuren“)

Page 59: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 59

Beispiel: Arie Nr. 35 „Zerfließe mein Herze“ (Takt 67 bis Takt 88) Die Tonart f-Moll, das ausdrücklich vorgeschriebene langsame Tempo („Molt’ adagio“) und

die reduzierte Besetzung (solistische Begleitstimmen, Violine con sordino, Continuo-Gruppe

ohne Kontrafagott) verleihen der Arie einen andächtig-flehenden, in sich gekehrten

Charakter. Die langen melodischen Phrasen mit häufiger Überbindung und das Aussparen

des Taktschwerpunkts im Bass verleihen der Musik zusätzlich etwas Schwebendes.

Auffällig ist vor allem die Vertonung der Aussage „Dein Jesus ist tot“ im Mittelteil der Arie.

Die Aussage wird durch mehrfache Wiederholung hervorgehoben: das Wort „tot“ erklingt

insgesamt acht Mal (in Takt 70, 73, 80, 81, 82, 84, 85 und 88) und wird von Bach mit

verschiedenen musikalischen Mitteln ausgedeutet. Die von Pausen unterbrochenen, in

kleinen Sekunden fallenden Seufzer-Figuren (Suspiratio) in Takt 84 und 85 drücken Trauer

und Schmerz aus, eine langgezogene Verzierung25 tiefe innere Erschütterung (Takt 80 und

81). Daneben verwendet Bach unterschiedliche Figuren zur sinnbildlichen Darstellung des

Todes wie Abwärtsbewegungen (z.B. in Takt 70) und schließlich das Verstummen durch eine

Fermate mit anschließender Pause als Symbol für den Tod in Takt 70 und 82 (Aposiopesis).

Notenbeispiel: Takt 78 bis 82 Aufgabe: Übertragen Sie die Vorgehensweise auf das Arioso Nr. 19 Betrachte meine Seel.

1. Analysieren Sie den Arien-Text. Geben Sie die Textaussagen in eigenen Worten

wieder, deuten Sie den theologischen Gehalt und erklären Sie an diesem Beispiel die

Funktion der Arien innerhalb der Passion.

2. Beschreiben Sie den musikalischen Charakter der Arie und nennen Sie die

musikalischen Mittel, mit denen Bach ihn erzeugt.

3. Erläutern Sie anhand ausgewählter Stellen Bachs Mittel der Textausdeutung.

25

Ausführung hier vermutlich im Sinne eines Tremolo bzw. eines „bebenden“ Vibrato.

Page 60: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

60 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Nr. 21b. – Sei gegrüßet, lieber Jüdenkönig (Chorus), S. 78ff.

1. Betrachten Sie den kurzen Ausschnitt aus dem Film „Marie Antoinette“ (2006)

der Regisseurin Sofia Coppola.

a) Beschreiben Sie den Inhalt dieser Filmszene. Achten Sie insbesondere auf

Anlass, Personen, Kleidung sowie die dargestellten Räumlichkeiten.

b) Welche Musik ist zu hören? Beschreiben Sie kurz, indem Sie auf die Aspekte

Besetzung, Charakter und Funktion näher eingehen.

2. Hören Sie den Beginn des Chorus 21b.:

a) Nennen Sie Taktart und Charakter. Stellen Sie außerdem noch Bezüge zur

Musik aus Aufgabenteil 1b) her.

b) Wie wirkt die Musik? Welche Affekte werden hier angesprochen?

3. Gliedern Sie den Chorsatz mit Hilfe des Notentextes unter satztechnischen

Aspekten. Inwieweit unterstützt die Satztechnik den Inhalt?

4. Vergleichen Sie den vorliegenden Chorsatz mit der Arie „Ich folge dir gleichfalls

mit freudigen Schritten“ (Nr. 9, S. 32).

a) Nennen Sie auffällige musikalische Gemeinsamkeiten zwischen der Arie und

dem Chorus!

b) Versuchen Sie, die Gemeinsamkeiten inhaltlich zu deuten.

5. Die gleiche Stimmung findet sich auch in der Rock-Oper „Jesus Christ Superstar“

(1971) von Andrew Lloyd-Webber. Betrachten Sie den Filmausschnitt zu „King

Herod’s Song“ und benennen Sie Merkmale, die diese Stimmung unterstützen.

Gehen Sie sowohl auf den Text als auch auf Bild und musikalische Umsetzung

näher ein.

Page 61: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 61

Nr. 30 – Es ist vollbracht (Alt-Arie), S. 132ff.

1. Füllen Sie folgende Tabelle mit Hilfe der Partitur aus:

T. 1ff. (= A) T. 20ff. (= B)

Tempo

Tonart

Taktart

Besetzung

Dynamik

Melodik /

charakteristische

Intervalle

Rhythmik

Affekt

→ ________________________________________________________________________________

__________________________________________________________________________________

Page 62: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

62 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

2. Analyse

a) Ergänzen Sie den Lückentext mit Hilfe des Notentextes.

Das zentrale Motiv der Arie (T. 1, gespielt von: ___________________________ ) hat drei

Merkmale, die dem französischen Tombeau (= __________________________ )

des 17. Jh. entsprechen: das Tongeschlecht ________ , das Rahmenintervall einer

fallenden ____________________ (Töne/T. 1: ________________ ) und viele

______________________________ . Sowohl die Melodik als auch der Text

entstammen dem zuvor erklungenen Rezitativ „Und von Stund an“: in den Takten

__________ des Rezitativs singt Jesus die Worte _________________________ ; hier

jedoch in _______ -Moll, beginnend mit dem Ton ______ und endend auf ______.

Diese abwärts gerichtete Figur wird in der Figurenlehre auch als ________________

bezeichnet, das „Verzahnen“ zweier Stücke durch gemeinsamen Text bzw. Melodie

wird ___________________ genannt.

In der Arie singt die Sängerin zunächst den Duktus der Gambe nach (T. 5), jedoch

vom Ton ______ beginnend. Aber schon einen Takt später erleben wir eine Betonung

des Wortes „ist“, die mit dem aufwärts gerichteten Sprung einer ________________

verbunden ist; in der Figurenlehre nennt man dies _______________ . In T. 8 werden

zudem noch die Worte „ ___________________ “ mit dem gleichen Intervall

hervorgehoben. Erst später greift die Alt-Stimme auf die schlichtere Variante aus dem

Rezitativ zurück: in Takt ______ und nochmals in Takt ______ führt sie das Motiv in die

Grundtonart __________ zurück.

Lösungen in alphabetischer Reihenfolge:

13/14; 40; 44; Anadiplosis; d’; Es ist vollbracht; Exclamatio; fis; fis; fis’-ais; h’; h-Moll; Katabasis; kleinen Sexte;kleinen Sexte; Moll; O Trost; Totenklage/Klagegesang; Verzierungen/Vorhalte; Viola da gamba.

b) Schreiben Sie in Anlehnung an den Lückentext eine Analyse zum B-Teil der Arie (T.

20-40), indem Sie auf sämtliche Aspekte der obigen Tabelle eingehen.

3. Melodiezitate neben und nach der Johannes-Passion (Höraufgaben)

a) Wir hören drei andere Werkausschnitte, in denen das berühmte Kopfmotiv aus der

Arie „Es ist vollbracht“ zitiert wird. Gehen Sie v.a. auf Besetzung, Gattung und Epoche

näher ein und überlegen Sie, ob der besondere Affekt des A-Teils der Arie erhalten

geblieben ist.

b) Wir hören den B-Teil der Arie in zwei Fassungen: zunächst das Bachsche Original,

dann in der Version Robert Schumanns (1810-1856) aus dem Jahre 1851. Benennen

Sie die musikalischen Unterschiede, v.a. auch im Hinblick auf den Affekt des B-Teils.

Page 63: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 63

Aufgaben zu den Fassungen der Passion

Aufgabe 1: In der Revision des Jahres 1739 ändert Bach zahlreiche Details. Untersuchen Sie

die Takte 67 bis 72 des Eingangschors („zu aller Zeit, auch in der größten Niedrigkeit,

verherrlicht worden bist“) und benennen Sie die Änderungen, die Bach in der

Revisionsfassung (Seite 13 bis 14) gegenüber der älteren Fassung I (Seite 178-179)

vorgenommen hat. Zusatz: Überlegen Sie sich mögliche Gründe für Bachs Änderungen.

Aufgabe 2: In der Fassung II des Jahres 1725 ersetzt Bach den Eingangschor Herr, unser

Herrscher durch die Choralfantasie O Mensch, bewein dein Sünde groß. Laut Meinrad Walter

führt dies zu einer „deutlich anderen Passions-Perspektive.“

Belegen Sie diese These durch einen Vergleich der beiden Texte. Gehen Sie dabei auf die

wesentlichen theologischen Aussagen ein und stellen Sie die damit verbundene Perspektive

auf die Passionsgeschichte dar.

Fassung I (1724) Fassung II (1725)

Herr, unser Herrscher,

Dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist!

Zeig uns durch deine Passion,

Dass du, der wahre Gottessohn,

Zu aller Zeit,

Auch in der größten Niedrigkeit,

Verherrlicht worden bist.

Herr, unser Herrscher,

dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist!

O Mensch, bewein dein Sünde groß,

Darum Christus seins Vaters Schoß

Äußert und kam auf Erden;

Von einer Jungfrau rein und zart

Für uns er hie geboren ward,

Er wollt der Mittler werden.

Den Toten er das Leben gab

Und legt dabei all Krankheit ab,

Bis sich die Zeit herdrange,

Dass er für uns geopfert würd,

Trüg unsrer Sünden schwere Bürd

Wohl an dem Kreuze lange.

Aufgabe 3: In der Fassung IV des Jahres 1749 bekommt die Arie Nr. 20 einen neuen Text,

wodurch das Verhältnis zwischen Textinhalt und musikalischer Umsetzung ein anderes wird.

a) Untersuchen Sie die Fassung I (Seite 68 bis 77) im Hinblick auf textausdeutende Mittel:

Welche Schlüsselbegriffe werden betont, welche Aussagen musikalisch nachvollzogen?

b) Erläutern Sie, wie sich an den untersuchten Stellen das Verhältnis zwischen Musik und

Textinhalt durch den neuen Text in der Fassung IV (Seite 260-261) ändert.

Fassung I (1724) Fassung IV (1749)

Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken

In allen Stücken

Dem Himmel gleiche geht,

Daran, nachdem die Wasserwogen

Von unsrer Sündflut sich verzogen,

Der allerschönste Regenbogen

Als Gottes Gnadenzeichen steht!

Mein Jesu, ach! dein schmerzhaft bitter Leiden

Bringt tausend Freuden,

Es tilgt der Sünden Not.

Ich sehe zwar mit vielen Schrecken

Den heilgen Leib mit Blute decken;

Doch muss mir dies auch Lust erwecken,

Es macht mich frei von Höll und Tod.

Page 64: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

64 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

III. LÖSUNGEN

Lösungen zur musikalisch-theologischen Synopse

2) Beschreiben Sie den formalen Aufbau. Vergleichen Sie dabei Teil I und Teil II.

- zwei Teile / 5 Akte (1. Teil → Petrus / 2.Teil → Pilatus und Jesus)

- Eingangschor und Schlusschor mit Choral → bilden einen Rahmen

- betrachtende Teile (Choräle, Arien) unterbrechen Handlung

- der Actus "Pilatus" ergibt sich als numerische Mitte, ganz im Sinne der Theologie des

Johannesevangeliums

- Bach stellt Verhör, Verurteilung und Kreuzigung ins Zentrum

- Häufung der Turbae-Chöre im 2.Teil → Dramatik / Symmetrie um Choral Nr. 22 → "Gefängnis"

3) Lesen Sie alle Spalten. Benennen Sie die theologischen Inhalte.

Liebe Gottes, Geduld als Frucht der Passion, Erlösung, Freude in der Nachfolge Christi, Vorstellung des

Leidens, Dank, Leid verwandelt sich in "süße Frucht", Gottes Gnade, die Knechtschaft Jesu wegen

Freundschaft zu den Menschen, Überwindung der Anfechtungen, Aufforderung zur Nachfolge Jesu, Jesus

Tod als Sieg, Erlösung und Versöhnung, Betrachtung von Kosmos und Mikrokosmos, persönliche Klage,

Anrufung, Jesu Tod und "ich"

4) Untersuchen Sie die Anordnung der Choräle und erläutern Sie deren Funktion.

- die Choräle knüpfen ähnlich den Arien an die Stichworte aus den Rezitativen an

- von 11 Chorälen bilden 5 den Abschluss eines Actus, 5 Choräle stehen in der Mitte einer Szene. Ein Teil

bildet die Eröffnung des 2.Teiles.

- die Choräle sind Ausdruck des gemeinsamen Glaubens (= Glaubensbekenntnisse)

5) Äußern Sie sich zur Anordnung der Arien. Inwiefern unterscheidet sich die Betrachtung

von der eines Chorals?

- Die Arien Nr. 7 / 9 / 13 entsprechen den Arien Nr. 30 / 32 / 35 („docere" – „delectare" – „movere"),

1.Teil „Petrus" = 2.Teil „Ich"

- zwei Mal Kopplung von Arioso und Arie = vertiefende Betrachtung / längere Versenkung

- Arien sollen den Gläubigen berühren (Affekt), Wortwiederholungen, Motivwiederholungen,

- in den Arien findet die empfindsame Aneignung des Glaubens statt („Glaubensarbeit" in der inneren

Betrachtung)

Hinweis: Ein Muster der ausgefüllten Tabelle finden Sie auf der Seite des RP Stuttgart unter

https://rp.baden-wuerttemberg.de/rps/Abt7/Ref75/Fachberater/Seiten/Musik.aspx#6

Page 65: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 65

Lösungen und Hinweise zu Unterrichtsbaustein 1 (Choräle)

Hinweis: Es bietet sich an, die ursprüngliche Choralmelodie zunächst gemeinsam (unbegleitet) zu singen, bevor

die Schüler Aufgabe 1 bearbeiten. Die Schülerlösungen können anschließend wiederum durch gemeinsames

Singen verglichen werden. Sofern ausführbar, lohnt es sich im späteren Verlauf auch Bachs Chorsatz

mehrstimmig zu singen oder zu musizieren.

Aufgabe 1: Erfinden Sie eine einfache Begleitung zur ursprünglichen Choralmelodie.

Notieren Sie sie in Form von Harmoniesymbolen oder einer ausnotierten Begleitstimme.

Durch die kirchentonale Gestalt des Liedes sind verschiedene Harmonisierungen denkbar. Es bieten sich z.B.

halbtaktige oder taktweise Harmoniewechsel aus g-Moll, d-Moll, c-Moll, F-Dur, B-Dur und Es-Dur an.

Aufgabe 2: Vergleichen Sie die Choralmelodie aus der Johannes-Passion mit der Vorlage.

Setzen Sie Bachs Choralmelodie vierstimmig aus. Vergleichen Sie anschließend Ihren

vierstimmigen Satz mit demjenigen Bachs und benennen Sie die Unterschiede zwischen

Ihrem und seinem Choralsatz.

Bach ändert den Grundrhythmus in einen auftaktigen, gleichmäßig schreitenden Viertel-Rhythmus ab. Die

Änderung des Tons f zum Leitton fis in Takt 1 auf der dritten Zählzeit zeigt das moderne harmonische Denken in

Dur und Moll.

Vergleich mit dem Satz von Bach (Choral „O große Lieb“): Bach erzielt einen reicheren und volleren Klang durch:

• Mehrere Durchgänge (in Alt und Bass in Takt 1 sowie in Alt im Takt 2)

• Septimvorhalt im Tenor im Takt 1 auf Zählzeit 1 (Ton b)

• Wechselnote im Tenor in Takt 1 auf Zählzeit 2+

Aufgabe 3: Versuchen Sie die Bedeutung der Ziffern zu entschlüsseln, indem Sie die Töne aus

Bachs Chorsatz in das obere System übertragen.

Die Ziffern geben die Töne an, die über dem Basston gespielt werden müssen, ähnlich mancher Ziffern bei der

auch in den Tonsätzen im Abitur gebräuchlichen Funktionsschreibweise (z.B. bei S6, S56, D7 oder

Vorhaltsakkorden)

• Keine Angabe bedeutet: der leitereigene Dreiklang wird gespielt

• 6 = Sextakkord (Sexte statt Quinte über dem Bass-Ton)

• 4 und 6 = Quartsextakkord (wobei hier auf Zählzeit 2 des ersten Taktes aufgrund der Chorstimmen

eigentlich ein Terzquartakkord vorliegt, den Bach dem Generalbass aber nicht vorzeichnet. Der

fehlende Ton g wird dann allerdings als Auflösung der Quarte in die Terz angezeigt, was der

Wechselnote im Tenor entspricht).

• 2, 4 und 6 = Sekundakkord

• 5 und 7 bedeutet: Septime wird hinzugefügt (wobei die 5 häufig nicht notiert wird).

• 4 oder 6 mit Strich: Erhöhte Quarte bzw. Sexte

• Ein einzelnes Kreuz, b oder Auflösungszeichen bezieht sich auf die Terz.

Page 66: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

66 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Aufgabe 4:

a) Da die Choralmelodie weitgehend vorgegeben war, konnte der Affektgehalt in den

Chorälen vor allem durch die Gestaltung der Unter- und Mittelstimmen sowie durch die

Harmonisierung verdeutlicht werden. Untersuchen Sie diese Merkmale an den

Textstellen diese Marterstraße, Lust und Freuden sowie und du musst leiden.

Die „Marterstraße“ vertont Bach mit einer absteigenden chromatischen Linie im Bass (Passus duriusculus),

einem auffälligen Sprung (Exclamatio) im Tenor und dem im Sopran eingefügten Ton des, der in der

originalen Melodie nicht vorkommt und ebenfalls eine absteigende Chromatik erzeugt. „Lust und Freuden“

ist insbesondere im Alt verziert.26

Bei „und du musst leiden“ erfolgt zwei mal ein verminderter

Intervallsprung abwärts (Saltus duriusculus) im Bass (zuerst die verminderte Quarte b – fis, danach der

Tritonus g – cis). Gleichzeitig macht der Lagenwechsel in den drei Oberstimmen den Gegensatz zwischen

„Lust und Freuden“ einerseits (Takt 8-9) und „leiden“ andererseits (Takt 10-11) klanglich deutlich.

b) Vergleichen Sie den Choralsatz von Nr. 3 mit dem Choralsatz von Nr. 17, der auf

demselben Kirchenlied basiert, und erläutern Sie Unterschiede in der Vertonung.

Choral Nr. 17 steht in a-Moll, also einen ganzen Ton höher. Auffälligster Unterschied ist der gleichmäßig in

Achteln fortschreitende Bass im Choral Nr. 17, der ihm „große Ruhe und Majestät verleiht“ (Walter, S.

149). Die Änderung, die Bach im Choral Nr. 3 in Takt 5 in der Melodie beim Wort „Marterstraße“

vorgenommen hat, findet in Nr. 17 keine Entsprechung. Auch der textausdeutende chromatische Bass

weicht einer diatonischen Verzierung bei „Treu ausbreiten“. Die gesamte zweite Choralzeile steht nun in

stabilem C-Dur, während in Nr. 3 hier mehrfach innerhalb der verwandten Tonarten moduliert wird:

26

Die durch die Vorhaltbildungen im Alt entstehenden Dissonanzen deutet Walter als Zeichen, dass es sich um

weltliche, und damit „falsche“ Freude handelt (vgl. Walter, S. 86).

Page 67: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 67

Lösungen und Hinweise zu Unterrichtsbaustein 2 (Rezitative)

Hinweis: Im Unterricht kann zunächst das Rezitativ Nr. 4 erarbeitet werden, indem die Gesangsstimme mit allen

gemeinsam einstudiert wird. Anschließend kann die Continuo-Stimme nach den in Baustein 1 erarbeiteten

Generalbass-Regeln ausgesetzt und danach musiziert werden. Um sie zu musizieren, können Schüler je nach

verfügbarer Besetzung an Tasteninstrumenten sowohl die Rolle des Harmonieinstruments als auch die des Bass-

Instruments übernehmen. Darüber hinaus können verschiedene weitere Instrumente (z.B. auch Glockenspiele)

integriert werden. Nachdem die Continuo-Stimme eingeübt ist, kann das Rezitativ mit verteilten Rollen (ggf. mit

Dirigent), also auch mit Sänger (ggf. Sprecher) musiziert werden. Dabei kommt es freilich weder auf

authentische Besetzung noch auf ausgefeilte Schlagtechnik des Dirigenten an. Vielmehr sollten das Prinzip eines

instrumental begleiteten deklamatorischen Sprechgesangs und das Zusammenspiel von Sänger und Continuo-

Gruppe für die Schüler erfahrbar werden.

Page 68: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

68 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Aufgabe 1: Ordnen Sie die Textschnipsel den einzelnen Abschnitten zu und notieren Sie die

zugeordneten Texte jeweils unter die Noten. Begründen Sie Ihre Zuordnung.

Einzelne Ausschnitte können anhand der Silbenzahl eindeutig zugeordnet werden. Allerdings lassen sich auch

weitergehende Überlegungen (z.B. das Zitat des Quartsprungs bei „Ich bin’s“) einbeziehen. Eine Kontrolle kann

durch gemeinsames Singen oder Sprechen erfolgen.

Es gibt drei Ausschnitte, die jeweils sechs Textsilben / sechs Noten umfassen. Hier müssen inhaltliche

Überlegungen einbezogen werden, die auf unterschiedliche Ebenen des Wort-Ton-Verhältnisses verweisen:

• „und fielen zu Boden“ ist der einzige auftaktige Ausschnitt, was sich mit der Betonung auf der zweiten

Silbe erklärt, während die beiden anderen Ausschnitte auf einer betonten Silbe und damit direkt auf der

Zählzeit 2 bzw. 3 beginnen.

• Darüber hinaus wird das Zu-Boden-fallen durch die absteigende Bewegung figürlich dargestellt

(Hypotyposis).

• „wichen sie zurücke“ ist durch die Sechzehntel rascher und vermittelt das Bild des hektischen

Zurückweichens (Affekt des Erschreckens), während „Jesus spricht zu ihnen“ insgesamt ruhiger und

gravitätischer wirkt.

Page 69: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 69

Aufgabe 2: Vertonen Sie die Texte im Kasten auf der nächsten Seite jeweils als Rezitativ.

Zum besseren harmonischen Verständnis kann das erste zu Aufgabe 2 gehörende Rezitativ in Funktions-

Harmonik analysiert und mit Generalbass-Ziffern versehen werden (das zweite Rezitativ ist harmonisch deutlich

anspruchsvoller).

Bachs Rezitativ Nr. 8 beginnt mit einer ansteigenden Linie, hauptsächlich mit den Tönen des B-Dur-Dreiklangs (c

und es sind Durchgänge). Melodisches Ziel sind der Aufwärtsbewegung sind die Hochtöne zu den Worten „Jesu

nach“. Die Aussage „und ein ander Jünger“ ist davon abgesetzt in einer tieferen Lage und bildet einen

kadenzierenden Schluss (Bass-Klausel). Mit dieser Grundgestalt nimmt Bach die Motivik der folgenden Arie „Ich

folge dir gleichfalls“ vorweg, die sich somit nicht nur inhaltlich, sondern auch musikalisch direkt auf das

vorhergehende Rezitativ bezieht (vgl. Walter S. 111 und die musikalisch-theologische Synopse, Seite 47 ff.).

Besonderheiten in Bachs Rezitativ Nr. 16e:

• „deutete“ ist als Ausruf (Exclamatio) herausgehoben

• „Todes“ im Kontrast dazu eine Oktave tiefer

• Bei „sterben“ Exclamatio mit Saltus duriusculus (verminderte Septime) in Verbindung mit

Seufzermelodik.

Page 70: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

70 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Lösungen und Hinweise zu Unterrichtsbaustein 3 (Turba-Chöre)

Aufgaben:

1. Hören Sie sich den Chor Nr. 23d aus Bachs Johannes-Passion an („Weg mit dem“) und

beschreiben Sie seine Wirkung.

2. Studieren Sie das Sprechstück vierstimmig ein.

3. Analysieren Sie die in diesem Stück dargestellte Situation und bringen Sie sie in

Zusammenhang mit dem Passionsbericht (Texte von Nr. 21 und 23). Entwerfen Sie

hierzu eine kurze Szene (ohne gesprochenen Text). Überlegen Sie sich Körpersprache,

Haltung, Gestik und Mimik der beteiligten Personen und bauen Sie an geeigneter

Stelle das Sprechstück ein. Präsentieren Sie anschließend die Szene.

4. Reflektieren Sie ihre Eindrücke: Von welchen Emotionen und Konflikten werden die

handelnden Personen beeinflusst?

5. Hören Sie die gesamte Szene (Nr. 21 bis 23) an mit dem Choral „Durch dein

Gefängnis, Gottes Sohn“. Beschreiben Sie die Wirkung des Chorals an dieser Stelle.

Beziehen Sie seinen Text auf die Handlung der Personen und interpretieren Sie seine

theologische Aussage. Beschreiben Sie im Vergleich dazu die Wirkung der Turba-

Chöre und benennen Sie die musikalischen Mittel, mit denen Bach sie erzielt.

In Nr. 21 zeigt Pilatus (wie bereits in Nr. 18) Skrupel und zweifelt an der Schuld Jesu. Die Hohepriester und das

Volk fordern indessen seinen Tod. Hass und Wut sowie eine ungeheure Gruppendynamik zeigen sich ebenso wie

Furcht bei Pilatus und tiefe Ergebenheit und Einsicht in seine Bestimmung bei Jesus. Zur Ergänzung können

bildliche Darstellungen (wie die Bildtafel 6 bei M. Walter) herangezogen und gemeinsam interpretiert werden.

Typische Merkmale des Turba-Chores Nr. 18e, durch die der Eindruck einer aufgebracht

durcheinanderschreienden Menschenmenge erzeugt wird, sind u.a.:

• der polyphone Satz

• eine schnelle Durchpulsung in allen Stimmen

• syllabischer Gesang in kurzen Notenwerten mit vielen Tonsprüngen

• zusätzlich schnelle Sechzehntelbewegung in den Begleitstimmen

• Die synkopischen Rufe „Kreuzige“ wirken wie unvermittelte Einbrüche in den kurzatmigen „weg weg“-

Gestus

Bei den übrigen Turba-Chören lassen sich meist ähnliche musikalische Mittel benennen.

Der Choral Nr. 22 wirkt innerhalb dieser aufgeheizten Atmosphäre wie eine Insel der Ruhe. Er schafft einen

Moment der Kontemplation (Perspektive „nach innen“) und rückt mit der untrennbaren Einheit aus Kreuzigung

und Auferstehung eine theologische Kernbotschaft in den Mittelpunkt: Nach der christlichen Theologie kann die

Erlösung der Menschheit nur durch den grausamen Akt der Kreuzigung wirklich werden: Durch Jesu „Gefängnis“

wird den Menschen die „Freiheit“ gegeben: „Denn gingst du nicht die Knechtschaft ein, wird unsre Knechtschaft

ewig sein.“ Dieser Gedanke spielt insbesondere im Johannes-Evangelium eine zentrale Rolle und durchzieht

zahlreiche Arien und Choräle der Passion sowie die Aussagen von Jesus im Rahmen des Passionsberichts (siehe

die Allgemeinen Hinweise zur Theologie des Johannes-Evangeliums, Seite 5-9).

Page 71: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 71

Lösungen und Hinweise zu Unterrichtsbaustein 4 (Arien)

Hinweis: Im Unterricht bietet es sich an, vom allgemeinen Höreindruck der Arie „Zerfließe mein Herze“ (Nr. 35)

ausgehend die musikalischen Mittel Schritt für Schritt einzugrenzen und mit Hilfe des Arbeitsblattes zu

systematisieren. Anschließend können die Beobachtungen anhand des Notentextes konkretisiert werden.

Nachdem die Schüler mit der Systematik vertraut sind, können die Beispiele besprochen und anschließend die

Vorgehensweise auf das Arioso Nr. 19 übertragen werden (Aufgaben 1 bis 3). Damit soll auch sinnentleertes

Aufzählen barocker Figuren vermieden und ein Bewusstsein für die verschiedenen Ebenen der Wort-Ton-

Beziehung geschaffen werden (vgl. Seite 23).

Aufgabe: Übertragen Sie die Vorgehensweise auf das Arioso Nr. 19 Betrachte meine Seel.

1. Analysieren Sie den Arientext. Geben Sie die Textaussagen in eigenen Worten

wieder, deuten Sie den theologischen Gehalt und erklären Sie an diesem Beispiel die

Funktion der Arien innerhalb der Passion.

Im Text wird die betrachtende Perspektive des Individuums eigenommen („betrachte, meine Seel“).

Dabei wird das Spannungsverhältnis ausgedrückt („ängstliche[s] Vergnügen“, „bittre Lust“) zwischen

dem Schrecken der Kreuzigung und dem damit unlösbar verbundenen Heilsversprechen: Die Erlösung

der Menschheit wird erst durch die Qualen des sterbenden Jesus ermöglicht („dein höchstes Gut in Jesu

Schmerzen“). Daraus resultiert die Aufforderung, sich Jesus zuzuwenden und im christlichen Sinne zu

glauben bzw. sich mit der Kreuzigung und ihrer theologischen Bedeutung auseinanderzusetzen („sieh

ohn Unterlass auf ihn“). Damit liefert die Arie einen Moment des Innehaltens und der Reflexion sowie

(als Zweck dieser Betrachtung) einen theologischen Kommentar, der das Geschehen einordnet und im

theologischen Sinne deutet und erklärt.

2. Beschreiben Sie den musikalischen Charakter der Arie und nennen Sie die

musikalischen Mittel, mit denen Bach ihn erzeugt.

Musikalischer Grundcharakter: ruhig, meditativ, kontemplativ, innerlich versunken.

Musikalische Mittel:

• ausdrückliche Bezeichnung „pianissimo“ für das Kontrafagott; kleine Besetzung: Violinen nur

solistisch und mit Dämpfer

• langsames Tempo (Adagio), Dehnungen (Überbindungen) in den Violinen

• eher tiefe Lagen (Kontrafagott, tiefe Lage der Violinen, Gesang im Stimmfach Bass)

• anfänglicher Orgelpunkt im Bass und flächige akkordische Begleitung

3. Erläutern Sie anhand ausgewählter Stellen Bachs Mittel der Textausdeutung.

Einzelne Stellen (exemplarisch):

• Seufzer / Zweierbindungen abwärts bei „beklemmtem Herzen“ (T. 5): Der Affekt der Trauer

und des Leids

• Verminderter Dreiklang abwärts bei „Jesu Schmerzen“ (T. 6/7): Affekt des Schmerzes wird

durch die Figur des Saltus duriusculus ausgedrückt.

• Hervorhebung der Aussage „ohn Unterlass auf ihn“ durch mehrfache Wiederholung am Ende.

Damit verbunden ist eine inhaltliche Entsprechung, indem die Zeit angesichts der

wiederkehrenden Aussage „ohn Unterlass“ stillzustehen scheint.

Page 72: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

72 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Lösungen des Arbeitsblatts zum Chor Nr. 21b

1. Betrachten Sie den kurzen Ausschnitt aus dem Film „Marie Antoinette“ (2006)

der Regisseurin Sofia Coppola. [Kap. 5, ca. 4’]

a) Beschreiben Sie den Inhalt dieser Filmszene. Achten Sie insbesondere auf

Anlass, Personen, Kleidung sowie die dargestellten Räumlichkeiten.

Im Filmausschnitt sieht man zwei Szenen: zunächst die kirchliche Trauung zwischen Louis

Auguste, dem Dauphin Frankreichs und späteren König Louis XVI., und Marie-Antoinette,

jüngstes Kind von Kaiserin Maria Theresia. Die feierliche Zeremonie findet in der

Schlosskirche von Versailles statt und wird von einem Bischof geleitet. Zugegen sind zudem

noch hohe Vertreter des 1. und 2. Standes. [Anm.: Marie Antoinette war zum Zeitpunkt der

Eheschließung 14, Louis Auguste knapp 16 Jahre alt!].

Die zweite Szene zeigt die anschließende Feier. Hier tanzt das Brautpaar in einem

prunkvollen Saal Menuett, der Hofstaat inkl. König Louis XV., der Großvater des Dauphins,

und dessen Mätresse (Gräfin du Barry), schauen hierbei zu.

b) Welche Musik ist zu hören? Beschreiben Sie kurz, indem Sie auf die Aspekte

Besetzung, Charakter und Funktion näher eingehen.

Die kirchliche Trauung wird von feierlicher Orgelmusik begleitet, das anschließende Menuett

entstammt Jean-Philippe Rameaus Ballettoper „Les Indes Galantes“ [Nouvelle Entrée aus der

Szene 6: Menuett I/II]. Insbesondere das erste Menuett (dieser Begriff sollte hier erneuert

bzw. eingeführt werden) strotzt vor Lebensfreude und Pomphaftigkeit, wozu neben dem

frischen Tempo auch die Bläser (Trp./Ob.) beitragen. Beide Szenen zeigen sehr schön die

Aufgabe von Musik im Absolutismus: Repräsentation des 1. und 2. Standes, von geistlicher

und weltlicher Macht.

2. Hören Sie den Beginn des Chorus 21b.:

a) Nennen Sie Taktart und Charakter. Stellen Sie außerdem noch Bezüge zur

Musik aus Aufgabenteil 1b) her.

Zu hören ist ein Dreiermetrum (hier: 6/4-Takt) sowie ein tänzerischer Charakter mit starker

Betonung der ersten (bzw. vierten) Zählzeit. Sehr deutlich sind die Bezüge zum Menuett aus

Aufgabe 1 zu erkennen.

b) Wie wirkt die Musik? Welche Affekte werden hier angesprochen?

Die Schüler können den Charakter des Hörbeispiels erfassen. Der Text sowie die

musikalischen Beobachtungen führen sehr schön zu den Affekten „Hohn, Spott und

Verachtung“. Hier kann auch der Spitzenton (g’’) der Sopranstimme genannt werden, der

einen „spöttischen Akzent“ auf „lie-ber Jüdenkönig“ bedeutet. [Interessanter Weise werden

mit dem gleichen Ton im weiteren Verlauf auch noch die Silben „ge-grü-ßet“ und „Jü-

denkönig“ hervorgehoben, also alle wichtige Silben dieses Grußes.]

3. Gliedern Sie den Chorsatz mit Hilfe des Notentextes unter satztechnischen

Aspekten. Inwieweit unterstützt die Satztechnik den Inhalt?

Der erste Teil (T. 5-12) ist polyphon gehalten, der zweite Teil (T. 12-16) homophon. Ein Fugato in

Engführung eröffnet den Chorus: die Kriegsknechte sprechen durcheinander und können ihren

Einsatz „kaum abwarten“ (Engführung): jeder möchte den „Jüdenkönig“ Jesus spöttisch begrüßen.

Laut Fugenregeln müsste zumindest die Exposition ohne Fugenkünste auskommen – hierauf

verzichtet Bach jedoch aus dramaturgischen Gründen. Der homophone Abschnitt kann als

„Einigung“ der Masse angesehen werden; wie aus einem Munde wird der gesamte Gruß zweimal

gesungen.

Page 73: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 73

4. Vergleichen Sie den vorliegenden Chorsatz mit der Arie „Ich folge dir gleichfalls

mit freudigen Schritten“ (Nr. 9, S. 32). [Die Arie sollte den Schülern bekannt sein.]

a) Nennen Sie auffällige musikalische Gemeinsamkeiten zwischen der Arie und

dem Chorus.

Beide Stücke stehen in der gleichen Tonart (B-Dur) und haben das gleiche (3er)Metrum und

in etwa das gleiche Tempo. Die Melodie findet sich erstmalig in den Takten 18-20 (dort auf

den Text „gleichfalls mit freudigen Schritten“, also dem zweiten Teil des Soggettos).

b) Versuchen Sie, die Gemeinsamkeiten inhaltlich zu deuten.

Neben den eher „vordergründigen“ Parallelen (Tonart, Metrum) ist die melodische

Übereinstimmung am auffälligsten. In der Arie sind Text und musikalische Umsetzung

„stimmig“, d.h. sie passen zueinander. Das lyrische Ich folgt Jesus nach (ein Grundsatz des

Christentums), und zwar „freudigen Schrittes“. Dieser Affekt der Freude soll zusammen mit

dem „gleichfalls“ die „erhoffte Einheit zwischen biblischem Geschehen (damals) und

betrachtendem Innehalten (heute) ins Spiel bring(en)“. (Walter, S. 107) Ebenso erscheint in

der Arie der imitative Aspekt; Walter: „Im musikalischen Imitieren wird zugleich die

Untrennbarkeit von Nachfolgen und Nachahmen künstlerisch deutlich, denn die Stimmen

folgen einander, indem sie sich gegenseitig nachahmen. ‚Was ist Nachfolgen, wenn nicht

Nachahmen?’ – fragte bereits der Kirchenvater Augustinus.“ (S. 112)

Erst mit Kenntnis dieses „ehrlichen Affekts“ wird der spöttische Affekt des Chorus 21b.

deutlich: die Kriegsknechte wollen Jesus nicht nachfolgen (sie bedienen sich lediglich der

„Sprache“ und „Form“ der Anhänger Jesu). Sie wollen ihn verspotten und haben sich als

Masse (turba) zusammengeschlossen, um gegen den vermeintlich Schwachen vorzugehen.

5. Die gleiche Stimmung findet sich auch in der Rock-Oper „Jesus Christ Superstar“

(1971) von Andrew Lloyd-Webber. Betrachten Sie den Filmausschnitt zu „King

Herod’s Song“ und benennen Sie Merkmale, die diese Stimmung unterstützen.

Gehen Sie sowohl auf den Text als auch auf Bild und musikalische Umsetzung

näher ein. [Kap. 18, ca. 3’]

Lloyd-Webber greift in dieser Nummer auf den Charleston zurück, der – ähnlich wie das „Menuett“

in der Johannes-Passion – als „musikalischer Fremdkörper“ in Jesus Christ Superstar empfunden

werden kann; typisch ist v.a. die Besetzung von Klavier, Schlagzeug, Tuba („walking Bass“). Die

Off-Beats, die ihren Ursprung im Ragtime („zerrissenes Zeitmaß“) haben, finden sich sehr schön im

Refrain („So you are the Christ...“). Der lockere Tanz des Herodes (der zudem noch mit einem

ganzen Harem junger, leicht bekleideter Frauen einhergeht) zeigt die totale Oberflächlichkeit

dieser Königsmacht und zugleich auch die Ohnmacht des Angeklagten Jesus von Nazareth. Genau

in dieser Oberflächlichkeit verlangt Herodes nach Beweisen für die Göttlichkeit Jesu’: „Prove to me

that you’re devine; change my water into wine.“ / „Prove to me that you’re no fool; walk across

my swimming pool.“ (nach Edgar Reuber, Werkanalyse der Rockoper Jesus Christ Superstar, Halle

2007, S. 66ff.) Erst als Jesus keinerlei Reaktion auf die Provokationen zeigt, verliert Herodes am

Ende des Songs die Contenance und lässt ihn durch Soldaten abführen.

Page 74: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

74 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Lösungen des Arbeitsblatts zur Arie Nr. 30

1. Füllen Sie folgende Tabelle mit Hilfe der Partitur aus:

T. 1ff. (= A) T. 20ff. (= B)

Tempo Molt’ adagio Vivace

Tonart h-Moll D-Dur

Taktart 4/4 (C) 3/4

Besetzung Viola da gamba, Alt-Stimme, B.C. Vl. I/II, Va., Viola da gamba, Alt-

Stimme, B.C.

Dynamik Keine Angabe (leise, auch durch

solistische Besetzung mit Gambe, Alt

und B.C. – senza Bassono grosso!)

(für Barockzeit) äußerst differenzierte

Angaben/häufige Wechsel zwischen p

und f; zudem spielt kompletter

Streichersatz

Melodik /

charakteristische

Intervalle

Sekunden (häufig abwärts)

dominieren; auffällige Sextsprünge

(exclamatio) aufwärts (z.B. T. 6) bzw.

Sextambitus bei „Es ist vollbracht“

Dreiklangsmelodik (in syllabischen

Abschnitten) und melismatisches

Skalenwerk bei „Kampf“ und „Macht“,

das an die Skalen aus dem

Eingangschor erinnert („Herrscher“,

„herrlich“)

Rhythmik Komplex: viele Punktierungen,

Vorhalte und sehr ausdifferenzierte

Notenwerte (bis hin zu 64tel in der

Gambe – T. 4)

Eher gleichförmig: Achtel und

Sechzehntel dominieren, keine

Überbindungen, Synkopen o.ä.

Affekt Klage, Trauer Freude, Jubel

� In sämtlichen Parametern stehen sich die Teile A und B diametral gegenüber. Die beiden

unterschiedlichen Affekte werden somit überaus deutlich und plakativ in den Mittelpunkt gestellt.

2. Analyse

a) Ergänzen Sie den Lückentext mit Hilfe des Notentextes.

Das zentrale Motiv der Arie (T. 1, gespielt von: Viola da gamba) hat drei Merkmale, die

dem französischen Tombeau (=Totenklage/Klagegesang) des 17. Jh. entsprechen: das

Tongeschlecht Moll, das Rahmenintervall einer fallenden Sexte (Töne/T. 1: fis’-ais) und

viele Verzierungen/Vorhalte. Sowohl die Melodik als auch der Text entstammen dem

zuvor erklungenen Rezitativ „Und von Stund an“: in Takt 13f. des Rezitativs singt Jesus

die Worte Es ist vollbracht; hier jedoch in fis-Moll, beginnend mit dem Ton d’ und

endend auf fis. Diese abwärts gerichtete Figur wird in der Figurenlehre auch als

Katabasis bezeichnet, das „Verzahnen“ zweier Stücke durch gemeinsamen Text bzw.

Melodie wird Anadiplosis genannt.

In der Arie singt die Sängerin zunächst den Duktus der Gambe nach (T. 5), jedoch

vom Ton h’ beginnend. Aber schon einen Takt später erleben wir eine Betonung des

Wortes „ist“, die mit dem aufwärts gerichteten Sprung einer kleinen Sexte verbunden

ist; in der Figurenlehre nennt man dies Exclamatio. In T. 8 werden zudem noch die

Worte „O Trost“ mit dem gleichen Intervall hervorgehoben. Erst später greift die Alt-

Page 75: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 75

Stimme auf die schlichtere Variante aus dem Rezitativ zurück: in Takt 40 und

nochmals in Takt 44 führt sie das Motiv in die Grundtonart h-Moll zurück.

b) Schreiben Sie in Anlehnung an den Lückentext eine Analyse zum B-Teil der Arie

(T. 20-40), indem Sie auf sämtliche Aspekte der obigen Tabelle eingehen.

Erwartet wird eine ausformulierte Analyse. Anregungen hierzu finden sich z.B. bei Walter, S. 181f.,

Geck, S. 94 oder Scholz, S. 99.

3. Melodiezitate neben und nach der Johannes-Passion (Höraufgaben)

a) Wir hören drei andere Werkausschnitte, in denen das berühmte Kopfmotiv aus

der Arie „Es ist vollbracht“ zitiert wird. Gehen Sie v.a. auf Besetzung, Gattung und

Epoche näher ein und überlegen Sie, ob der besondere Affekt des A-Teils der

Arie erhalten geblieben ist.

I) Johann Sebastian Bach (1685-1750), Chromatische Fantasie und Fuge, BWV 903,

Mittelteil (Rezitativ)

II) Ludwig van Beethoven (1770-1827), Sonate für Klavier und Violoncello Nr. 3 A-

Dur, op. 69, 1. Satz (Allegro ma non tanto), Durchführung

III) Ludwig van Beethoven (1770-1827), Sonate As-Dur, op. 110, Adagio ma non

troppo (Arioso dolente)

Man könnte diese Musikbeispiele auch mit dem Ziel hören, die Zitate aus der Johannes-Passion

überhaupt zu erkennen bzw. um den Schülern zu zeigen, dass das Bachsche Motiv auch Beethoven

inspiriert hat. [Die Frage, ob Beethoven überhaupt die Johannes-Passion gekannt hat, muss hier

nicht zwingend erörtert werden; wahrscheinlich ist eher, dass er die im Druck erhältliche

„Chromatische Fantasie und Fuge“ gekannt haben kann, möglicherweise ein „Tombeau“ auf den

Tod Bachs erster Ehefrau Maria Barbara; vermutlich hat Bach selbst auch das Motiv aus seinem

um 1720 entstandenen Klavierwerk für die Johannes-Passion entnommen; vgl. hierzu auch Geck,

S. 93]

b) Wir hören den B-Teil der Arie in zwei Fassungen: zunächst das Bachsche Original,

dann in der Version Robert Schumanns (1810-1856) aus dem Jahre 1851.

Benennen Sie die musikalischen Unterschiede, v.a. auch im Hinblick auf den

Affekt des B-Teils.

Robert Schumann fügt seiner Fassung zwei Trompeten hinzu, die den Affekt der „Freude“ noch

besser unterstützen. Die majestätisch-fanfarenhaften Tonrepetitionen deuten bereits über das

Passionsgeschehen hinaus auf Ostern hin. Bach hatte womöglich Ähnliches im Sinn, worauf die

„österliche Tonart“ D-Dur und der fanfarenhafte Duktus der Streicher hindeuten; in der Karwoche

hatten aber Pauken und Trompeten zu schweigen.

Page 76: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

76 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

Lösungen des Arbeitsblatts zu den Fassungen

Aufgabe 1: In der Revision des Jahres 1739 ändert Bach zahlreiche Details. Untersuchen Sie

die Takte 67 bis 72 des Eingangschors („zu aller Zeit, auch in der größten Niedrigkeit,

verherrlicht worden bist“) und benennen Sie die Änderungen, die Bach in der

Revisionsfassung (Seite 13 bis 14) gegenüber der älteren Fassung I (Seite 178-179)

vorgenommen hat. Zusatz: Überlegen Sie sich mögliche Gründe für Bachs Änderungen.

Takt Stimme Änderung der Revisionsfassung mögliche Gründe *

67 Bass Einsatz „auch“ auf 4+ statt auf 4 Ausgewogenheit zwischen den Stimmen durch

Angleichung an den Alt

68 Alt Auf Schlag 3+ Ton b statt c Harmonie (Es-Dur) höher gewichtet als parallele

Stimmführung (vgl. Violine 2)

68 Sopran, Alt Bögen fehlen bei Zweierbindung keine Auswirkung auf die Ausführung

68 Tenor Synkope in der ersten Takthälfte möglicherweise zur Erzeugung größerer Intensität

70 Bass Auf Schlag 4+ Ton a statt cis Vermeidung von Akzentparallelen mit dem Alt

70-71 Tenor (= Va) Am Taktende Tonfolge e – f statt

b – a

Die kleine None b über dem Basston a wird

vermieden. Wie in Takt 68 (Alt) scheint Bach hier

der Zusammenklang wichtiger als eine

einheitliche Stimmführung

71 Tenor, Bass

geänderte Stimmführung: Bass

mit Tonfolge b – e – cis

statt e – a – a und Tenor

g’ – cis – e statt g – cis – a

Schwächere Schlusswendung über dem

Orgelpunkt (keine Bass-Klausel), zumal in Takt

70-71 die Bass-Klausel neu hinzukommt (s.o.).

Der Tenor wird angeglichen um über dem Bass zu

bleiben. Außer dem Durchgang in Flöte / Oboe I

erklingt kein a, stattdessen ein verminderter

Septakkord über Orgelpunkt d im Generalbass.

72 Alt Punktierte Achtel auf Schlag 1 Harmonische Angleichung an die Figur in der

Violine 2

*) Mögliche Gründe für die Änderungen zu erkennen, kann von den Schülern nicht erwartet werden. Sie dienen

an dieser Stelle nur als Ergänzung für die unterrichtenden Lehrkräfte.

Aufgabe 2: In der Fassung II des Jahres 1725 ersetzt Bach den Eingangschor Herr, unser

Herrscher durch die Choralfantasie O Mensch, bewein dein Sünde groß. Laut Meinrad Walter

führt dies zu einer „deutlich anderen Passions-Perspektive.“

Belegen Sie diese These durch einen Vergleich der beiden Texte. Gehen Sie dabei auf die

wesentlichen theologischen Aussagen ein und stellen Sie die damit verbundene Perspektive

auf die Passionsgeschichte dar.

• Laut Meinrad Walter „fungiert das Exordium als eine Art Überschrift“ und sein Thema ist die Frage

nach dem Warum und damit nach dem Kern des christlichen Glaubens. Zu dieser theologischen

Botschaft trete hier ein „verkündende[r] Gestus“.

• Im Eingangschor „Herr, unser Herrscher“ steht zunächst die Anrufung des Herrn und seine Herrlichkeit

und Größe im Mittelpunkt (Wortfeld „Herrscher“, „Ruhm“, „herrlich“). [Damit steht laut Walter die

Frage im Raum „Wie überhaupt kann der Herrscher des Himmels und der Erde leiden und gewaltsam

umkommen“ – Die Antwort laute nach Johannes: Weil er Mensch geworden sei. Es geht also um die

Menschwerdung Jesu und sein Opfer in Einklang mit der göttlichen Bestimmung, somit um das

„Verhältnis Gott-Christus“.]

Page 77: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 77

• In der Fassung II geht der Text von der Sündhaftigkeit des reuevollen Menschen aus, die das Opfer erst

notwendig macht. Von dort wird der Bogen über Jesu Leben (Wunderheilungen) bis zum Tod am Kreuz

geschlagen („für unsre Sünden“).

• Die für die Passion zentralen Schlüsselbegriffe „Kreuz“, „Sünde“, die „Toten“ und das „Opfer“ aus dem

Eingangschor der zweiten Fassung kommen in „Herr unser Herrscher“ überhaupt nicht vor.

• Walter schreibt zusammenfassend: „Das ursprünglich christologische [also von der Person Jesus als

Gottessohn und seiner Bedeutung ausgehende] Exordium ist durch ein soteriologisches [von der

Erlösung der sündhaften Menschen durch Jesu Kreuzestod ausgehendes] ersetzt.“

Details siehe M. Walter S. 62-65 und 219-221.

Die Unterschiede werden insbesondere deutlich, wenn man die Perspektive des Johannes-Evangeliums mit der

des Matthäus-Evangeliums vergleicht. Der Vergleich bietet sich hier an, denn die Choralfantasie „O Mensch

bewein dein Sünde groß“ wurde von Bach später in die Matthäuspassion aufgenommen. Die unterschiedlichen

Sichtweisen zeigen sich in den Jesus-Worten ebenso wie in den kommentierenden Texten der Arien und des

Eingangs-Chors. Eine Beschreibung der besonderen theologischen Perspektive des Johannes-Evangeliums im

Vergleich zu den synoptischen Evangelien mit Verweis auf die Bedeutung für die Vertonung des Textes und die

insbesondere die Auswahl der kommentierenden Arien-Dichtungen liefert M. Walter auf Seite 79. Siehe hierzu

auch die Informationen zum Johannes-Evangelium (Seite 5-9).

Aufgabe 3: In der Fassung IV des Jahres 1749 bekommt die Arie Nr. 20 einen neuen Text,

wodurch das Verhältnis zwischen Textinhalt und musikalischer Umsetzung ein anderes wird.

a) Untersuchen Sie die Fassung I (Seite 68 bis 77) im Hinblick auf textausdeutende Mittel:

Welche Schlüsselbegriffe werden betont, welche Aussagen musikalisch nachvollzogen?

Hervorhebung und Abbildung bestimmter Schlüsselbegriffe in Fassung I („Erwäge“)

• Mehrfache Wiederholung, teilweise starke Dehnung der Aufforderung „erwäge“ mit kurzem

Innehalten durch Pausen als musikalisches Sinnbild (Takt 5-6, Takt 9-10 und Takt 15).

• Hochton bei „Himmel“ (Takt 12 und 14)

• Melismatische Ausziehrung der Begriffe „Wasserwogen“ (Takt 22-23 und 32-33), „verzogen“

(Takt 24 und 33-34), „Regenbogen“ (Takt 25-28 und 35-38), „Gnadenzeichen“ (Takt 28 und 29

sowie 38-39)

• Wiegende Bewegung in den Violinen bei „Wasserwogen“ (Takt 22-23)

Fassung I (1724) Fassung II (1725)

Herr, unser Herrscher,

dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist!

Zeig uns durch deine Passion,

Dass du, der wahre Gottessohn,

Zu aller Zeit,

Auch in der größten Niedrigkeit,

Verherrlicht worden bist.

Herr, unser Herrscher,

dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist!

O Mensch, bewein dein Sünde groß,

Darum Christus seins Vaters Schoß

Äußert und kam auf Erden;

Von einer Jungfrau rein und zart

Für uns er hie geboren ward,

Er wollt der Mittler werden.

Den Toten er das Leben gab

Und legt dabei all Krankheit ab,

Bis sich die Zeit herdrange,

Dass er für uns geopfert würd,

Trüg unser Sünden schwere Bürd

Wohl an dem Kreuze lange.

Page 78: Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs mit separatem Vortragstext; • Präsentation

Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion

78 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart

b) Erläutern Sie, wie sich an den untersuchten Stellen das Verhältnis zwischen Musik und

Textinhalt durch den neuen Text in der Fassung IV (Seite 260-261) ändert.

• Die Hervorhebung der Aufforderung „Erwäge“ entspricht nun die Hervorhebung der Anrede „mein

Jesu“. Das Innehalten durch die Pause verliert jedoch seine Bedeutung.

• Der Hochton in Takt 12 und 14 auf „tilgt“ statt „Himmel“ verliert die bildliche Entsprechung der

ursprünglichen Hypotyposis-Figur (Himmel = Höhe).

• Die Melismen betonen nun die Begriffe „Schrecken“ (Takt 22-23 und 32-33), „decken“ (Takt 24

und 34), „erwecken“ (Takt 25-28 und 35-38), wodurch die enge Beziehung zwischen Textinhalt

und Musik teilweise verloren geht. Dasselbe gilt für die Begleitfiguren in Takt 22.

M. Walter bemerkt hierzu: „Erst die Textänderungen von 1749 eliminieren den symbolischen Kern der Arie

mitsamt einigen konkreten Details dieser Leidensstationen. […] Insbesondere am Beginn des B-Teils will

man den ‚Schrecken‘ nicht glauben, wenn er in Gestalt einer großen melodischen Linie und begleitet von

wiegenden Terzparallelen daherkommt.“ (Walter, S. 158)