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S130 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 Der unaufgebohrte Tibianagel (UTN, unreamed tibial nail), ursprünglich durch die AO international als temporäres Im- plantat konzipiert,hat seit seinem ersten klinischen Einsatz 1989 zwischenzeitlich in der 2. Generation nicht nur technische Verbesserungen erfahren [3], sondern ist nahezu zum Standardimplantat zur Versorgung von Unterschenkelfrakturen geworden [5]. Durch den weitestgehen- den Erhalt der kortikalen Knochen- durchblutung [12] wie bei der Verwen- dung des Fixateur externe hat er den zu- sätzlichen Vorteil der inneren Fraktur- schienung mit damit vermeidbaren PIN- Infektionsproblemen. Durch den damit verbundenen höheren Patientenkomfort und vergleichbare Heilungszeiten [11] erscheint die Ära des Fixateur externe mit Beginn der 90er Jahre zur Behand- lung auch offener Unterschenkelfraktu- ren durch den UTN abgelöst [7], ähnlich wie mit Beginn der 80er Jahre die Platte am Unterschenkel vom Fixateur externe abgelöst wurde [1, 13]. Aufgrund seiner Verwendbarkeit bei sogar drittgradig geschlossenen und of- fenen Unterschenkelfrakturen [3, 4, 5, 7], einer nachweislichen Minderung der notwendigen Reeingriffe [5, 6], Senkung der sekundären Spongiosatransplanta- tionsrate [11] sowie der Minimierung von Refrakturen [6] ist er auch im eige- nen Vorgehen als Implantat der Wahl an- zusehen. Fehlermöglichkeiten und die Vermeidung derselben sollen im Fol- genden aufgezeigt werden. Implantat Der UTN gewährt neben hoher Knick- festigkeit durch sein spezielles Design als Vollnagel auch bei einem kleinen Durchmesser von 8 und 9 mm die Ver- meidung von Totraum. Im proximalen Drittel ist der Querschnitt viereckig, im mittleren und unteren Drittel kreisseg- mentförmig mit nach ventral zeigender Kante. Die Anpassung an das intrame- dulläre Tibiaschaftprofil erlaubt um et- wa 1 mm größere Implantatdurchmesser gegenüber röhrenförmigen Hohlnägeln, was zusätzlich durch Minderung des Totraums experimentell das Infektions- risiko minimiert [8]. Das Nagelende ist dorsal-konvex, abgeflacht und abgerundet, was eine Na- gelperforation nach dorsal verhindern hilft. Das obere Ende ist ventral abge- schrägt, wodurch eine Irritation des Lig. patellae minimiert wird. Die 2. Genera- tion des Nagels hat distal zwischen den quer zu verriegelnden Verriegelungslö- Trauma Berufskrankh 2001 · 3 [Suppl 2]: S130–S134 © Springer-Verlag 2001 Unterschenkelfraktur Hans Zwipp · René Grass · Lutz Bachmann · Ramona Pietsch · Stefan Rammelt Klinik und Poliklinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus,Technische Universität Dresden UTN Anwendung und Fehlermöglichkeiten Prof. Dr. Hans Zwipp Klinik und Poliklinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Technische Universität Dresden, Fetscherstraße 74, 01307 Dresden (E-Mail: [email protected], Tel.: 0351-4583777, Fax: 0351-4584307) Zusammenfassung Der unaufgebohrte Tibianagel (UTN) der AO ist zu einem Standardimplantat in der Ver- sorgung von Unterschenkelfrakturen gewor- den.Von Oktober 1993–September 1997 wurden 98 UTN bei 91 Patienten implantiert (37% offene, 33% zweit- bis drittgradig ge- schlossene Frakturen). Bei 47 nachunter- suchten Patienten resultierte in 78,8% der Fälle ein gutes bis sehr gutes Ergebnis nach dem Merchant-Score. Häufigste perioperati- ve Komplikation (40,8%) war ein Rotations- fehler > 10°, der in der Hälfte der Fälle erst in der CT-Kontrolle ersichtlich wurde.Zur Ver- meidung solcher Fehler wird die Torsion der Tibia prinzipiell im Vergleich zur unverletz- ten Seite prä- und intraoperativ nach der Methode von Clementz mit dem Bildverstär- ker ermittelt. Die genaue Nagellänge wird durch eine Messlehre ermittelt, wobei eine initiale Frakturdiastase abgezogen werden muss. Die Nageleintrittsstelle orientiert sich exakt an der Verlängerung der Schaftmitte, um Varus- oder Valgusfehlstellungen zu ver- meiden. Bei schwieriger Reposition können temporär eingesetzte Schanz-Schrauben als Repositionshilfe dienen. Ein Rückschlagen des Nagels zur Vermeidung von Diastasen sowie die proximale und distale Verriege- lung sind obligat. Besteht intraoperativ eine Redislokationstendenz mit Varus- oder Val- gusfehlstellung, können Achsen korrigieren- de, sperrende Pollerschrauben eingesetzt werden.Bei postoperativ bestehendem Ver- dacht auf einen Rotationsfehler werden ne- ben der Clementz-Methode ein CT und ggf. die Frühkorrektur durchgeführt. Schlüsselwörter Unterschenkelfrakturen · Unaufgebohrter Tibianagel · Rotationsfehler

UTN

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Page 1: UTN

S130 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001

Der unaufgebohrte Tibianagel (UTN,unreamed tibial nail), ursprünglich durchdie AO international als temporäres Im-plantat konzipiert, hat seit seinem erstenklinischen Einsatz 1989 zwischenzeitlichin der 2.Generation nicht nur technischeVerbesserungen erfahren [3], sondernist nahezu zum Standardimplantat zurVersorgung von Unterschenkelfrakturengeworden [5]. Durch den weitestgehen-den Erhalt der kortikalen Knochen-durchblutung [12] wie bei der Verwen-dung des Fixateur externe hat er den zu-sätzlichen Vorteil der inneren Fraktur-schienung mit damit vermeidbaren PIN-Infektionsproblemen. Durch den damitverbundenen höheren Patientenkomfortund vergleichbare Heilungszeiten [11]erscheint die Ära des Fixateur externemit Beginn der 90er Jahre zur Behand-lung auch offener Unterschenkelfraktu-ren durch den UTN abgelöst [7], ähnlichwie mit Beginn der 80er Jahre die Platteam Unterschenkel vom Fixateur externeabgelöst wurde [1, 13].

Aufgrund seiner Verwendbarkeit beisogar drittgradig geschlossenen und of-fenen Unterschenkelfrakturen [3, 4, 5, 7],einer nachweislichen Minderung dernotwendigen Reeingriffe [5, 6], Senkungder sekundären Spongiosatransplanta-tionsrate [11] sowie der Minimierung

von Refrakturen [6] ist er auch im eige-nen Vorgehen als Implantat der Wahl an-zusehen. Fehlermöglichkeiten und dieVermeidung derselben sollen im Fol-genden aufgezeigt werden.

Implantat

Der UTN gewährt neben hoher Knick-festigkeit durch sein spezielles Designals Vollnagel auch bei einem kleinenDurchmesser von 8 und 9 mm die Ver-meidung von Totraum. Im proximalenDrittel ist der Querschnitt viereckig, immittleren und unteren Drittel kreisseg-mentförmig mit nach ventral zeigenderKante. Die Anpassung an das intrame-dulläre Tibiaschaftprofil erlaubt um et-wa 1 mm größere Implantatdurchmessergegenüber röhrenförmigen Hohlnägeln,was zusätzlich durch Minderung desTotraums experimentell das Infektions-risiko minimiert [8].

Das Nagelende ist dorsal-konvex,abgeflacht und abgerundet, was eine Na-gelperforation nach dorsal verhindernhilft. Das obere Ende ist ventral abge-schrägt, wodurch eine Irritation des Lig.patellae minimiert wird. Die 2. Genera-tion des Nagels hat distal zwischen denquer zu verriegelnden Verriegelungslö-

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 2]: S130–S134 © Springer-Verlag 2001 Unterschenkelfraktur

Hans Zwipp · René Grass · Lutz Bachmann · Ramona Pietsch · Stefan RammeltKlinik und Poliklinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie,Universitätsklinikum Carl Gustav Carus,Technische Universität Dresden

UTNAnwendung und Fehlermöglichkeiten

Prof. Dr. Hans ZwippKlinik und Poliklinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie,Universitätsklinikum Carl Gustav Carus,Technische Universität Dresden,Fetscherstraße 74, 01307 Dresden(E-Mail: [email protected],Tel.: 0351-4583777, Fax: 0351-4584307)

Zusammenfassung

Der unaufgebohrte Tibianagel (UTN) der AOist zu einem Standardimplantat in der Ver-sorgung von Unterschenkelfrakturen gewor-den.Von Oktober 1993–September 1997wurden 98 UTN bei 91 Patienten implantiert(37% offene, 33% zweit- bis drittgradig ge-schlossene Frakturen). Bei 47 nachunter-suchten Patienten resultierte in 78,8% derFälle ein gutes bis sehr gutes Ergebnis nachdem Merchant-Score. Häufigste perioperati-ve Komplikation (40,8%) war ein Rotations-fehler > 10°, der in der Hälfte der Fälle erst inder CT-Kontrolle ersichtlich wurde. Zur Ver-meidung solcher Fehler wird die Torsion derTibia prinzipiell im Vergleich zur unverletz-ten Seite prä- und intraoperativ nach derMethode von Clementz mit dem Bildverstär-ker ermittelt. Die genaue Nagellänge wirddurch eine Messlehre ermittelt, wobei eineinitiale Frakturdiastase abgezogen werdenmuss. Die Nageleintrittsstelle orientiert sichexakt an der Verlängerung der Schaftmitte,um Varus- oder Valgusfehlstellungen zu ver-meiden. Bei schwieriger Reposition könnentemporär eingesetzte Schanz-Schrauben alsRepositionshilfe dienen. Ein Rückschlagendes Nagels zur Vermeidung von Diastasensowie die proximale und distale Verriege-lung sind obligat. Besteht intraoperativ eineRedislokationstendenz mit Varus- oder Val-gusfehlstellung, können Achsen korrigieren-de, sperrende Pollerschrauben eingesetztwerden. Bei postoperativ bestehendem Ver-dacht auf einen Rotationsfehler werden ne-ben der Clementz-Methode ein CT und ggf.die Frühkorrektur durchgeführt.

Schlüsselwörter

Unterschenkelfrakturen · UnaufgebohrterTibianagel · Rotationsfehler

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Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 S131

chern ein 3. Verriegelungsloch in a.-p.-Richtung zur optionalen Erhöhung derKippstabilität bei distaler Fraktur. Pro-ximal besteht neben dem seitlich ge-richteten statischen und dynamischenVerriegelungsloch bzw. -schlitz eine 3.optionale schräge Verriegelungsmög-lichkeit nach dorsolateral bzw. dorso-medial, wodurch eine Erhöhung derKippstabilität bei weit proximal gelege-nen Frakturen erreicht werden kann.Durch die schräge Zielrichtung werdenBohrverletzungen des neuro-vaskulärenBündels vermieden. Die Verriegelungs-löcher sind mit selbst schneidenden Ver-riegelungsbolzen (3,2/3,9 mm) besetz-bar. Bei allergologischen Problemen istder Nagel auch als Titanimplantat ver-wendbar.

Lagerung

Im eigenen Vorgehen ist die Verwen-dung des Extensionstischs bis auf weni-ge Ausnahmen seit Jahren verlassen. Eswird ein strahlentransparenter Stan-dardtisch verwendet; die kontralateraleuntere Extremität wird abgesenkt, umzur distalen Verriegelung problemloserdurchleuchten zu können [9]. Vor dersterilen Abdeckung sollte grundsätzlichder gesunde Unterschenkel nach derMethode von Clementz [2] zur indivi-duellen tibialen Torsion vermessen wer-den, um noch intraoperativ nach Nage-lung eine Sollwertüberprüfung durch-führen zu können. Durch den Verzichtauf einen Extensionstisch ist die Opera-tion nicht nur rascher durchzuführen,eine höhere Flexibilität bei der Reposi-tion und beim Bildverstärkereinsatz ge-

geben, sondern es sind auch Risiken derÜberdistraktion und lagerungsbeding-ter Nervenschäden vermeidbar sowie dieintraoperative Clementz-Bildverstärker-kontrolle zur Rotation bei Kniestre-ckung möglich. Außerdem ist bei denhäufigen offenen Frakturen das initialeDébridement einfacher als auf dem Ex-tensionstisch.

Da im eigenen Vorgehen nur seltender große Distraktor als Repositionshil-fe zum Einsatz kommt, der Pinless-Fixa-teur gelegentlich beim Polytraumatisier-ten im Rahmen der Initialversorgungvorgegeben ist, wird in der Regel ma-nuell reponiert, wobei weniger ein steri-les Tourniquet als Repositionshilfe, son-dern lediglich eine mehrfach straff ge-wickelte sterile Binde verwendet wer-den. Letztere ergibt bereits einen gutenHalt und gibt mehr Grifffestigkeit zumReponieren sowie Fixieren des proxi-malen und distalen Schaftfragments.

Längen- undDurchmesserbestimmung

Neben anderen Methoden hat sich imeigenen Vorgehen die intraoperativeLängen- und Durchmesserbestimmungmit der für den UTN vorgegebenen Mess-lehre unter Verwendung des Bildver-stärkers bewährt (Abb. 1). Da die Mes-sung vor der Nagelung erfolgt und dasoft notwendige retrograde Zurückschla-gen eine relative Verkürzung der Tibia-länge bewirkt, ist der entsprechendeWert stets abzuziehen, um ein proximalüberstehendes Nagelende zu vermeiden.Die exakte intraoperative Längen- undDurchmesserbestimmung mit der Mess-

H. Zwipp · R. Grass · L. Bachmann · R. Pietsch · S. Rammelt

Unreamed tibial nailing.Applications and pitfalls

Abstract

Unreamed tibial nailing has become a stan-dard procedure in the treatment of tibialshaft fractures.This procedure was used totreat 98 fractures in 91 patients betweenOctober 1993 and September 1997 (37%open fractures, 33% 2nd- or 3rd-degreeclosed fractures). Among the 47 patientswho have so far been available for clinicaland radiographical follow-up, results accord-ing to the Merchant score have been good toexcellent in 78.8 %.The most frequent peri-operative complication (40.8 %) was rota-tional deformity of more than 10°, whichwas not diagnosed until CT was performedin half the cases. Consequently, tibial torsionis now measured fluoroscopically with theClementz technique before and duringsurgery and compared with that on the un-injured side, with the aim of avoiding rota-tional deformity.The exact length of the un-reamed tibial nail needed is determined pre-operatively by means of a radiopaquegauge, with due consideration for the initialfracture diastasis.The entry point is orientedstrictly at the tibial shaft to avoid varus orvalgus deformity. Percutaneous Schanzscrews can be inserted temporarily for use aslever arms when reduction is difficult.Toavoid diastases it is mandatory that the nailbe struck back and locked proximally anddistally. If nail insertion is followed by persis-tent instability with varus/valgus deviation,locking („poller“) screws can be used. If a ro-tational deformity is suspected after thesurgery, CT scanning and, if necessary, earlycorrection are carried out in addition to fluo-roscopic monitoring.

Keywords

Tibia fracture · Unreamed tibial nailing ·Rotational deformity

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 2]: S130–S134 © Springer-Verlag 2001

Abb. 1 � Intraoperative Im-plantatlängenmessung mitstrahlendichter Messlehre.

Durch die jeweilige orthogradeBildverstärkereinstellung bei

angelegter Messlehre in Höheder ehemaligen distalen

Epiphysenfuge und in Höhedes Tibiakopfs kann der

Vergrößerungsfaktor unbe-rücksichtigt bleiben

Page 3: UTN

lehre erfolgt mit dem Bildverstärker un-ter streng orthograder Einstellung derfußnahen Tibia mit Platzierung des un-teren Messlehrenendes knapp distal derehemaligen Epiphysenfuge. Danach wer-den der Bildverstärker orthograd auf denTibiakopf eingestellt und die Implan-tatlänge abgelesen. Zur Bestimmung des Markraumdurchmessers werden dieMesslehre über den kleinsten Durch-messer der Diaphyse gelegt und die Ska-lierung hierfür abgelesen.

Operativer Zugang

Für den UTN reicht in der Regel eineInzision von 2–3 cm aus, um mit demMarkraumeröffnungsinstrument undder dazugehörigen Schutzhülse einzu-gehen,ein Weichteilschutzblech ist über-flüssig. Die Inzision erfolgt bei stark ge-beugtem Kniegelenk, wobei der obereSchnittpol über dem unteren Patella-drittel zu liegen kommt und in die Mit-te des Tibiaschafts zielt. Das Lig. patellaewird beim transligamentären Vorgehenmit dem Skalpell ebenfalls in Richtungauf die Tibiavorderkante in Faserrich-tung gespalten. Der Zentrierdorn er-laubt das Ertasten der Tibiavorderkanteund wird in Richtung auf die proximaleSchaftmitte in die Tibia eingedreht. An-schließend wird die Schutzhülse darü-ber geführt und bis auf die Tibiavorder-kante geschoben. Um sowohl für denZugang als auch für die Markraumeröff-nung eine sichere Orientierung der Mit-te des Tibiaschafts zu haben, wird unterinitialer einmaliger Bildverstärkerkon-trolle ein gekürzter Kirschner-Draht zurMarkierung der Mitte des Tibiaschaftsoberflächlich eingebracht.

Markraumeröffnung

Die Markraumeröffnung orientiert sichnicht an der Mitte des Tibiakopfs undnicht an der Tuberositas tibiae, sie er-folgt vielmehr in der Frontalebene ge-nau in der Verlängerung der Mitte desTibiaschafts. Nur so können ein Valgus-fehler bei zu weit lateraler Einführungoder ein Varusfehler bei zu weit media-ler Platzierung vermieden werden.

In der seitlichen Ansicht liegt derEintrittspunkt exakt an der Tibiavor-derkante. Nur bei ungenügender Beu-gung des Kniegelenks wird die Nagel-spitze durch die Patella nach dorsal ge-hebelt. Dadurch kann bei weit proximal

gelegenen Frakturen leicht eine Ante-kurvationsfehlstellung begünstigt wer-den.

Reposition

Tibiavorderkante und antero-medialeTibiafläche des proximalen und distalenHauptfragments werden unter manuel-ler Palpationskontrolle auf eine Ebenegebracht und gleichzeitig in der Achseausgerichtet.Während der Assistent denNagel mit leichten Hammerschlägen bisan die Fraktur heranführt, können gele-gentlich indirekt bei Widerstand dernicht korrekt reponierte distale Mark-raum gespürt und mit der Nagelspitzedas distale Hauptfragment ertastet wer-den. Das korrekte Auffädeln wird klinischsofort durch eine Zunahme der Stabilitätbemerkt, insbesondere kann dies an der fehlenden Querverschieblichkeit derFraktur getastet werden. Im Zweifelsfallerfolgt die Kontrolle unter dem Bildver-stärker.

Zusätzliche Repositionstechnikenwie die Schlingen- oder Hebeltechniksind am Unterschenkel in der Regelnicht erforderlich. Gelegentlich kann dieJoystick-Technik, insbesondere bei ver-alteten Frakturen, hilfreich sein. In die-sen Fällen kann ein temporäres Ein-schrauben von 2 Schanz-Schrauben mitdem Aufsetzen von Handbohrfutterndas Repositionsmanöver erleichtern. Istes notwendig, einen großen Distraktorzu verwenden, werden von antero-medi-al je eine Schanz-Schraube in den Tibia-kopf bzw. distal oberhalb des Innen-knöchels eingebracht. Mit einer unikor-tikal zusätzlich eingebrachten Schanz-

Schraube mit Handgriff in das stärkerdislozierte Fragment kann die Varus-,Valgus- oder Anterekurvationsfehlstel-lung leichter korrigiert werden.

Verriegelung

Der UTN wird grundsätzlich proximalund distal verriegelt.

Im eigenen Vorgehen werden meistalle 3 distalen Verriegelungslöcher be-setzt und daraufhin das fixierte distaleFragment vor der proximalen Verriege-lung zurückgeschlagen,um Diastasen zuvermeiden. Bei proximalen Frakturenwird proximal dynamisch, statisch undschräg verriegelt. Eine alleinige, dyna-misch proximale Verriegelung erhaltennur A3-, stabile B2-, B3- und C2-Fraktu-ren. Alle anderen Frakturen werden inder Regel dynamisch und statisch ver-riegelt.

Die Kompressionsbolzentechnikwird im eigenen Vorgehen nicht ver-wendet, da es zur stärkeren Bolzende-formierung kommen kann, wohingegensich bei der Rückschlagtechnik die Kraftauf 3 Bolzen verteilt.

Drehfehlerkontrolle- und -korrektur

Vor dem definitiven distalen Verriegelnwerden nach initialer Ermittlung des Tor-sionswinkels der gesunden Seite (nochvor der Abdeckung) jetzt die Femurkon-dylen des genagelten Beins deckungs-gleich in die Nullposition gebracht undanschließend das distale Hauptfragmentüber dem ungebohrten Nagel so langegedreht, bis die Winkeldifferenz der or-

S132 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001

Unterschenkelfraktur

Abb. 2 � Drehfehler-messung nach Clementz[2]

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thograden Darstellung des Innenknö-chels und die der Femurkondylen demWert der gesunden Seite entsprechen(Abb. 2). In dieser Position wird jetztverriegelt, wobei in der Freihandtechnikund unter Bildverstärkerkontrolle sehrgenau darauf zu achten ist,dass der Bild-wandler so lange gedreht wird, bis dasVerriegelungsloch kreisrund erscheint.Das Zentrum wird mit einem 3.0-Kirschner-Draht mit Handgriff ange-körnt, sodass anschließend der Bohrermit dem strahlentransparenten oszillie-renden Bohreraufsatz die zentrale ortho-grade Darstellung des Bohrers erleich-tert und der strahlendichte Ring des os-zillierenden Bohrers konzentrisch aus-gerichtet werden kann (Abb. 3).

Korrektur von Drehfehlern

Fehler der Rotationsbestimmung nachClementz [2] sind durch chronische oderakute Instabilität des gesunden oder ver-letzten Kniegelenks möglich sowie durchein Streckdefizit im Kniegelenk oder ei-nen vorbestehenden Drehfehler. In die-sen Situationen werden ein frühpostope-ratives Drehfehler-CT des Unterschen-kels im Seitenvergleich durchgeführtund ggf. sehr früh eine Korrektur ange-strebt [10]. Dabei werden nach Setzen

paralleler Spickdrähte in die proximaleund distale Tibia die distalen Schraubengelöst, der Innen- oder Außendrehfeh-ler im notwendigen Maß korrigiert unddie Verriegelungsbolzen neu gesetzt.

Korrektur von Fehlstellungen

Bei reponierbaren Fehlstellungen mitRedislokationstendenz kann die Redis-lokation mit sperrenden Pollerschrau-ben nach der Empfehlung von Krettek etal. [6] verhindert werden. So kann beibestehender Varustendenz mit einermedial vom Nagel eingebrachten Poller-schraube die Revarisierung verhindertwerden, bei Valgustendenz entsprechendmit einer von lateral eingebrachtenSchraube, die den Nagel in die korrektePosition drängt. Hierzu werden die selbstschneidenden Verriegelungsbolzen mit3,2 bzw. 3,9 mm verwendet.

Nachbehandlung

Der Standard der Nachbehandlung um-fasst immer die initiale Teilbelastungvon 15–20 kg unter Abrollen des Fußes.Eine Vollbelastung nach Wundheilungist bei stabiler Fraktur (A3, C2) mit guterknöcherner Abstützung möglich. Bei al-len anderen Frakturen ist eine Vollbelas-tung je nach Instabilität des Frakturtypsspätestens nach 12 Wochen möglich.

Eine konsequente, distale Dynami-sierung nach 6 Wochen sollte bei sicherverzahnten B2–3- bzw. C2-Frakturen er-folgen, bei B1- und unsicher verzahntenB2–3- oder C3-Frakturen frühestensnach 8 Wochen. Eine proximale Dyna-misierung ist angezeigt bei A1–2-Frak-turen nach 8 Wochen, bei den meist sehrinstabilen C1- und C3-Frakturen je nachradiologischem Verlauf,wenn überhaupt.

Eigenes Krankengut

In einem 4-Jahres-Zeitraum von Okto-ber 1993–September 1997 wurden in derUnfallchirurgischen Klinik am Univer-sitätsklinikum „Carl Gustav Carus“ derTechnischen Universität Dresden insge-samt 91 Patienten mit einer Unterschen-kelschaftfraktur, davon 7 beidseitig, mit-tels unaufgebohrtem Marknagel versorgt,sodass insgesamt 98-mal ein UTN zurAnwendung kam. In 90 Fällen erfolgteeine primäre Nagelung, in 8 Fällen eingeplanter Verfahrenswechsel nach initi-aler Stabilisierung mit Fixateur externe.

Das proximale Drittel war dabei in 2,2%,das distale Drittel in 4,4%, das mittlereDrittel (42 nach AO-Klassifikation) in93,4% der Fälle betroffen. Die Verteilungdes Frakturtyps nach der AO-Klassifi-kation lässt ein Überwiegen der B2-Frakturen mit 30,6% der Fälle erkennen(Abb. 3). In 37% der Fälle lagen offeneFrakturen, in immerhin 33% der Fällegeschlossene Frakturen Grad 2 und 3(Tabelle 1) vor. An perioperativen Kom-plikationen konnte am häufigsten eineFehlverheilung der Rotation gesehenwerden, die in mehr als der Hälfte derFälle erst in der CT-Drehfehler-Kontrol-le auffiel (Tabelle 2). Von zwischenzeit-lich 47 klinisch-radiologisch kontrol-lierten Patienten einschließlich CT-Un-tersuchung konnten immerhin

∑ 57,5% ein exzellentes,∑ 21,3% ein gutes,∑ 10,6% ein befriedigendes und∑ 10,6% ein schlechtes Gesamtergebnis

nach dem Score von Merchant und Dietzerreichen.

Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 S133

Tabelle 1Weichteilschaden: UTN (n = 98)

Gustillo Tscherne (offen) 37% (geschlossen) 63%

I° 26 0/I° 32II° 6 II° 24III° a, b, c 3/2/0 III° 7

Tabelle 2Perioperative Komplikationen (n = 98)

Komplikationen Anzahl

Fraktur/Sprengung 2Proximal: Bohrerbruch 4Distal: fehlplazierte Schraube 3Bolzen-/Nagelbruch 15/1

Nachkorrektur (Achse/Rotation) 5Diastase, 3–6/7–11/≥ 12 mm 26/6/0Weichteil-/Knocheninfekt 3Pseudarthrose 2Fehlverheilung: ≥ 10° Varus-/ 6

Valgus-/Ante-/RekurvationCT-kontrolliert: ≥ 10° Außen-/ 18/22

InnerotationVerkürzung ≥ 10 mm 7

Abb. 3 � Frakturklassifikation nach AO (n = 98)

Page 5: UTN

S134 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001

Unterschenkelfraktur

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