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Utopia The European 4-2012

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Sie können das Magazin hier bestellen: http://www.theeuropean.de/abo

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DAS DEBATTEN-MAGAZIN

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PRINT IST NICHT TOT Andernorts sucht das geschriebene Wort sein Heil im Netz. Wir müssen es wissen, denn wir kommen von dort. Vor drei Jahren hat „The European“ als erstes und immer noch einziges Debatten-Magazin im deutschsprachigen Internet eine Lücke geschlossen. Heute wissen wir, dass es ohne Meinung nicht geht. Oder sehen Sie das etwa anders?

Doch ein Tag hat selbst mit drei Kannen Kaffee nur 24 Stunden. Wann, wurden wir immer wieder gefragt, soll ich all diese Debatten, Kolumnen und Gespräche im Netz lesen? Der gedruckte „The European“ ist unsere Antwort. Legen Sie das Magazin auf Ihren Nachttisch, verstauen Sie es in Ihrem Rucksack, genießen Sie die Lektüre auf dem stillsten aller Örtchen. Keine Sorge, das Magazin bleibt mindestens drei Monate frisch. Dabei gilt: Es gibt nur einen „The European“. Bislang online, jetzt auch gedruckt.

MEINUNG STATT MELDUNG „The European“ funktioniert nicht wie die Magazine, die Sie bereits kennen. Wie bislang im Internet setzen wir auch im Heft auf die Formate Debatten, Kolumnen und Gespräche. Wir folgen keiner politischen Linie. Wir sind bunt. Wir sind grün, schwarz, gelb, rot und seit Neustem auch orange. Und wer weiß, vielleicht in zehn Jahren auch lila.

Unser Markenzeichen sind die Debatten. Denn Debatte ist hohe Kunst: Sie setzt sich aus einzelnen Kommentaren relevanter Köpfe zusammen. Vom Aktivisten bis zur Staatsministerin. Wer wirklich etwas zu sagen hat, bekommt dazu die Gelegenheit. Im Internet haben bei uns bereits mehr als 2.000 Autoren aus 25 Ländern und allen politischen Lagern in mehr als 300 Debatten gestritten. Mal mit dem Florett, mal mit der Keule. Ein Marktplatz der Ideen: Hauptsache, nicht langweilig.

Zu Beginn jeder Debatte stellt die Redaktion ihre These auf und führt in das Thema ein. Dazu beziehen unsere Autoren dann Stellung – mit unterschiedlichsten Sichtweisen. Verfolgen Sie unsere Debatten, wägen Sie die Argumente ab und bilden Sie sich Ihre eigene Meinung. Meldung gibt es überall, Meinung gibt es bei uns.

ZUKUNFT IST HEUTE Was beschäftigt uns? Die Zukunft. Alle Themen unseres ersten gedruckten Magazins blicken nach vorne. In unserer Titelgeschichte zu Utopia sogar ziemlich weit. 1910 hat der Journalist Arthur Brehmer prominente Zeitgenossen über die

„Welt in 100 Jahren“ nachdenken lassen. Unsere Autoren blicken für Sie ins Jahr 2112.Im Herbst schaut die Welt nach Washington. Das machen wir auch, allerdings

interessieren wir uns für die Wahl nach der Wahl. Lesen Sie, wer die USA 2016 aus der großen Krise in die Zukunft führen wird.

Deutschland wählt schon 2013. Und wir meinen, die Piraten haben gute Chancen, an die Regierung zu kommen. Noch gewagter: Sie werden es mit den Konservativen tun – die Halloween-Koalition.

Der schwarz-gelben Regierung läuft dagegen die Zeit davon. Ein Jahr bleibt dem Bündnis aus Union und FDP, um den Eintrag ins Geschichtsbuch zu retten. Unsere Autoren zeigen die großen Baustellen auf.

IHRE REDAKTION

Wie fühlt sich das Papier zwischen Ihren Fingern an? Wir meinen: Print lebt. Sie offenbar auch, denn in Ihren Händen halten Sie unseren Beitrag zur Zukunft des gedruckten Journalismus.

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DEBATTE S. 18

Schwarz-Orange: Die Halloween-Koalition

Die nächste Bundesregierung wird aus Union und Piratenpartei bestehen. Unsere Autoren spielen dieses Szenario schon einmal durch – und finden erstaunliche Gemeinsamkeiten.

Machterhalt der Union: Orangene RevolutionBIRGIT WENTZIEN S. 23

Aufstieg der Piratenpartei: Neu mal klugCHRISTOPH BIEBER S. 26

Chaoten-Koalition: Schön wär die ZeitSTEFAN GÄRTNER S. 30

Das Gewissen der französischen Nation: „Frech sein ist ein guter Anfang“

GESPRÄCH MIT STÉPHANE HESSEL S. 32

DEBATTE S. 36

Das Erbe von Schwarz-Gelb: Macht was draus

Noch ein Jahr bleibt der Koalition, um ihr Vermächtnis zu retten – denn Schwarz-Gelb kommt nie wieder. Baustellen gibt es genug: vom Tonfall bis Europa.

Umgangsformen: Wenn sich Fressen nicht mehr sehen könnenMICHAEL SPRENG S. 41

Familieförderung: Schluss mit dem Nanny-StaatBIRGIT KELLE S. 43

Energiewende: Wende mit SchreckenSTEFANO CASERTANO S. 45

Europapolitik: Und führe sie nicht in VersuchungNIKOLAUS BLOME S. 48

S. 03 THEMENSITZUNG

S. 10 KOLUMNE: BULLSHIT-BINGO

Thomas Ramge: Der Tag des Endes

S. 12 KOLUMNE: ALTERNATIVLOS

Christian Böhme: Mit Schirm, Hebel und Billionen

S. 14 KOLUMNE: POLITICO

Margaret Heckel: Azubi mit 50

S. 16 KOLUMNE: KISSLERS KONTRASTMITTEL

Alexander Kissler: Provision auf Weltrettung

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DEBATTE S. 50

Amerika 2016: Die entscheidende Wahl

Weltmacht in der Warteschleife: Erst bei der Präsidentschaftswahl in vier Jahren werden in den USA die Weichen für die Zukunft gestellt. Unsere Autoren stellen Ihnen den Wahlsieger vor.

Republikaner Bobby Jindal: Der ExorzistANSGAR GRAW S. 54

Demokrat Julián Castro: Der TexanerNICOLAS SIEGEL S. 58

DEBATTE S. 62

Utopia: Das Jahr 2112

In 100 Jahren geht es rund: gigantische Metropolen, die Wirtschaft der Fantasie und Sex mit Robotern. Sieben Experten, sieben Themen, sieben Visionen.

Roboter: Schöne neue Freunde GEORGE A. BEKEY S. 68

Metropolen: Städte statt Staaten SASKIA SASSEN S. 71

Ökonomie: Die virtuelle WirtschaftTOMÁŠ SEDLÁČEK S. 73

Sex: Scharfe GeräteCHRISTOPHER RYAN S. 76

Weltordnung: Krieg in den SternenGEORGE FRIEDMAN S. 78

Staatsform: Herrschaft ohne HerrscherMICHAEL HARDT S. 81

Diplomatie: Willkommen in der WeltbotschaftBEN SCOTT S. 84

Interneterfinder: „In 100 Jahren ist das Internet ein alter Hut“GESPRÄCH MIT VINT CERF S. 86

Exodus: Die Abenteuer der Manhattan-DiasporaBILDSTRECKE VON JAKOB TIGGES S. 90

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DEBATTE S. 100

Drittes Vatikanisches Konzil: Zwischen den Stühlen

Verstaubte Traditionen, antiquierte Ansichten: Um im 21. Jahrhundert relevant zu bleiben, muss sich die katholische Kirche dringend erneuern. Die letzte große Reform ist immerhin 50 Jahre her.

Reformbedarf: Die Kirche braucht ein ParlamentELMAR SALMANN S. 104

Digitaler Wandel: Cloud-ComputingCHRISTIANE FLORIN S. 108

Falsche Sittenlehre: Gib GummiMARIA VON WELSER S. 110

Das neue Gesicht der evangelischen Kirche: „Das ist doch schrill!“

GESPRÄCH MIT BISCHOF RALF MEISTER S. 114

S. 146 NEUROPA: „VEREINIGTE STAATEN VON EUROPA? ZU EINFACH!“

Gespräch mit Oppositionsführer Frank-Walter Steinmeier

S. 153 IMPRESSUM

S. 155 GESELLSCHAFTS-GESPRÄCH: „DIE KANZLERIN MACHT EINEN GUTEN JOB“

Gespräch mit BVB-Kapitän Sebastian Kehl

S. 159 KOLUMNE: SALONBEUSCHL

David Baum: Urlaub bei Gaunern

S. 160 KOLUMNE: ODER SO …

Katja Riemann: Schnittstelle Tradition

S. 161 ALEXANDERPLATZ

Editorial von Chefredakteur Alexander Görlach

S. 162 DEBATTENSTOFF

Zehn Begriffe, die Sie sich merken müssen

DEBATTE S. 118

Homo oeconomicus: Bauch schlägt Hirn

Irren ist menschlich. Unsere Autoren erklären, warum Entscheidungen selten logisch sind – und fordern ein neues Menschenbild.

Moral: Betrug macht betrügerischDAN ARIELY S. 124

Liebe: Liebe hat keine FunktionDEIRDRE MCCLOSKEY S. 127

Entscheiden: Rien ne va plusBARRY SCHWARTZ S. 129

Wirtschaft: Ohne Vernunft und VerstandTHOMAS VAŠEK S. 132

PanoramenBILDSTRECKE VON JULIAN CHARRIÈRE S. 136

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DIE HALLOWEEN-KOALITION —Wie verrückt muss man sein, um ein Jahr vor der Wahl eine solche Koalition zu prophezeien? Gar nicht. Denn wenn Angela Merkel Kanzlerin bleiben will, geht das nur mit den Piraten.

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J ournalisten lieben Farbenspiele, ob Jamaika, Schwarz-Grün oder Ampel. Vor der letzten Bundestagswahl sah sich der damalige FDP-General Nie-

bel gar gezwungen, die Spanien-Koalition, bestehend aus SPD, FDP und Linkspartei, kategorisch auszuschließen. Nächstes Jahr ist wieder Hochsaison bei den Farbenspielern, und mit bis zu sechs Parteien wird es theoretisch bunter als je zuvor. Doch schon jetzt lässt sich absehen, dass es realistisch nur drei mögliche Koalitionen geben wird: die Große Koalition, die Ampel oder – und das ist neu und das macht Spaß – die Halloween-Koalition aus Schwarz und Orange.

Das augenscheinlichste Argument für dieses Bündnis ist das Personal. Schon jetzt gibt es bei der CDU Schlüsselfiguren wie Umweltminister Alt-maier, die nicht nur von der Vorzeige-Piratin Weisband bei Twitter umwor-ben werden. Auch die drei letzten Piratenpartie-Vorsitzenden Seipenbusch, Nerz und jetzt Schlömer sind – wenn überhaupt verortbar – konservativ.

Die Piraten sind längst aus dem Netz in der Wirklichkeit angekommen. Und so wird in der Union die Erkenntnis reifen, dass es mit den Piraten am einfachsten funktioniert. Noch viel mehr für die Halloween-Koalition spricht allerdings, wie unsicher die anderen beiden Optionen sind.

DIE AMPEL ALS EINZIGE LINKE ALTERNATIVE

2013 wird wie alle Bundestagswahlen eine Richtungswahl. Die Wähler ent-scheiden, ob der 2005 von der Union eingeschlagene Weg der Mitte der richtige ist. Die linke Alternative dazu werden die Sozialdemokraten anbieten müssen, wenn sie wieder den Kanzler stellen wollen. Wollen die Wähler diesen Richtungswechsel, dann funktioniert das nur über die Ampel. Weder wird Rot-Grün genügend Stimmen bekommen noch wird die SPD den Feh-ler machen, die Linkspartei in die Regierung zu holen. Auch eine Koalition aus SPD, Grünen und Piratenpartei ist unwahrscheinlich, in einer Dreier-Kons-tellation drohen die Piraten aufgerieben zu werden.

Dazu kommt, dass Dreier-Koalitionen schwach und instabil sind. Das letzte Experiment im Saarland ist fulminant gescheitert. Für 2013 braucht man sich nur die drei Ampel-Kandidaten anzusehen: Weder ist sicher, ob die FDP erneut in den Bundestag einzieht, noch ob die Grünen wirklich mit den Liberalen können und wollen. Und die Sozialdemokraten standen sich in den letzten Jahren immer gerne selbst im Weg. Überhaupt müssten sie erst mal den passenden Kanzler für die Ampel finden.

MERKELS OPTION: DIE PIRATENPARTEI

Die einzig rechnerisch sichere Option ist die Große Koalition. Mit einem wichtigen Unterschied zu 2005: Die SPD-Granden mussten am eigenen Leib spüren, dass Juniorpartner in Großen Koalitionen immer die Verlierer sind. Ob Steinbrück, Gabriel oder Steinmeier: Keiner von den dreien hat Lust, sich Merkel noch einmal unterzuordnen.

Die SPD geht die Große Koalition also nur ein, wenn die Union dafür einen hohen Preis bezahlt und auf das einzige verzichtet, was die Wähler noch an ihr schätzen: die Kanzlerin.

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Und so bleibt der Merkel-Union nichts, als sich nach Alternativen umzusehen. Was bleibt da außer den Piraten? Für Schwarz-Gelb wird es nicht reichen, Schwarz-Grün ist in Hamburg gestorben und bei der aktuellen linken Führung sowieso nicht denkbar.

Wenn die Piraten zweistellig werden und die Union sich hält, dann ist Schwarz-Orange die einzig mögliche Zweier-Koalition. Für Merkel, auch das haben die letzten Jahre gezeigt, geht es primär um Machtsicherung, und da wird die Halloween-Koalition zur einfachsten Option.

Die thematischen Widersprüche beider Parteien sind nur auf den ersten Blick Hindernisse – ebenso wie die momentan schwächeren Umfragen. Uni-on und Piratenpartei liegen nicht zu weit auseinander. Wer anderes denkt, hat die Piraten nicht verstanden.

DIE PIRATEN SIND NICHT LINKS

Der größte Fehler, der in Bezug auf die Piraten gemacht wird, ist ihre Verortung im linken Lager. Die Piraten sind die erste Partei in deutschen Parlamenten, die sich auf der Rechts-Links-Skala nicht mehr einordnen lässt. Sicherlich sind viele Überzeugungen der Piraten nicht gerade das, was man als konservativ bezeich-nen würde. Aber ihre stärksten Positionen und Meinungen haben sie da, wo die Union schwächelt. Kaum ein Christdemokrat findet Netzsperren sinnvoll, es fehlte nur die Expertise, einen besseren Entwurf auszuarbeiten.

Und selbst wenn der Widerspruch zwischen den konservativen Hardlinern in der Union und der jungen Piratenpatei bestehen bleibt: Im Vergleich zu Schwarz-Grün, wo jahrelang die Atomkraft ein Bündnis verhinderte, fehlt ein derart großer ideologischer Graben. Weder ist die Netz-Lobby so stark wie die Atom-Lobby noch sind digitale Themen aus Sicht der Union unglaublich wich-tig. Und aus der Perspektive der Piraten, die immer noch nicht alle wichtigen Ressorts wie Wirtschaft und Finanzen abdecken, kann die Union etliche Lücken schließen.

WENN DER WÄHLER RUFT, WERDEN DIE PIRATEN FOLGEN

Bei allem üblichen Wechselwillen bleibt dem linken Lager nur die fragile Am-pel. Für andere Dreier-Koalitionen fehlt der politische Wille und für Zweier- Koalitionen die Mehrheit. Das gilt auch für die Union. Und der größtmögliche Kompromiss, die Große Koalition, geht nur über Merkels politische Leiche. Halloween ist also Ultima Ratio.

In einer schwarz-orangenen Koalition kann die Union weiter ihren Kurs der Mitte fahren, die Piratenpartei aber eigene Akzente setzen. Das häufig angeführte Argument, die Partei sei noch nicht so weit, zählt nicht. Denn wenn der Wähler den Auftrag gibt, dann werden sich auch die Piraten ihrer Verantwortung stellen.

VON THORE BARFUSS IM NAMEN DER REDAKTION

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von STEFAN GÄRTNER

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Wenn Profikasper und Amateurkasper koalieren, ist das mindestens eines:

eine Mordsgaudi.

W enn (womit ja leider ganz und gar nicht zu rechnen ist) Schwarz und Orange, also Uni-

on und Piratenpartei, nach der nächsten Wahl zum Deutschen Bundestag eine Mehrheit hätten und sich darauf verständigten, die Zukunft des deutschen Volkes gemeinsam ins Licht zu hebeln, dann wäre die deutsche Regierungspolitik ein einziger großer Synergieeffekt.

Zum Beispiel könnten sich Wolfgang Schäub-le und der Piratenvorsitzende Bernd („Das Brot“) Schlömer darüber austauschen, wo man Geld her-nimmt, wenn man keines hat: Fast die Hälfte al-ler Piraten hat fürs laufende Jahr noch keine Mit-gliedsbeiträge gezahlt, so wie, auf höherer Ebene, die deutschen Unternehmen gar nicht daran den-ken, den Staat, der ihnen doch gehört, auch noch zu finanzieren. Schlömer will seine Landesver-bände Mahnungen verschicken lassen, Schäuble die historisch niedrigen Unternehmenssteuern unter Umständen ganz abschaffen, damit mehr Arbeitsplätze entstehen und dann die Arbeiter die Steuern zahlen – genial. Da könnte Politneuling Schlömer also noch eine Menge lernen.

Umgekehrt würde sich Bildungsministerin An-nette („Hexe“) Schavan

gewiss über die Piratin Julia Schramm freuen, der die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ bereits aner-kennend einen entschlossenen Hang zum „Gefasel“ attestiert hat und die als wunderbares Beispiel da-für dienen könnte, dass es auch ohne Bildung „geht“ und es weiß Gott kein richtiges Studium braucht, um sich als Politprofi, Diskursteilnehmerin („Du kannst sagen, mein Geschäftsmodell ist voll awe-some und hat mir voll viel gebracht und ich möchte es erhalten, und ihr Ficker, ihr macht mir das Ge-schäftsmodell nicht kaputt.“) und aber auch einfühl-same Lyrikerin („Der Nebel hängt tief / Kontrolle verlustiert sich / eigenwillig und stur // Die Ernst-haftigkeit lähmt / zerlegt in einzelne Teile / zerfällt in der Zweisamkeit“) hervorzutun.

Dies wiederum: Die sich stur verlustierende Kontrolle wäre dann eine furchtbare, stopp: frucht-bare Gemeinsamkeit mit Hans-Peter Friedrich (Inneres), denn während Friedrich Ausländer und Sportler auf Terrorismus beziehungsweise Hitler kontrolliert und sich dafür viel Kritik gefallen las-sen muss, demonstriert Schramm, dass vollkom-men unkontrolliertes In-der-Gegend-Herumexis-tieren ja vielleicht auch keine Lösung ist; während Friedrich wiederum von Schramms Internetkom-petenz profitieren könnte, die zwar (laut Auskunft eines Parteikollegen) nur die „einer Zwölfjährigen“ ist, aber selbst als solche die des Innenministers (BTX, Pac-Man) um locker zehn Jahre übertrifft.

UNKONTROLLIERTES IN-DER- GEGEND-HERUMEXISTIEREN

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Für einen voll viel bringenden Posten als Staatsse-kretärin sollte es jedenfalls reichen.

In jedem Fall müssten Sebastian Nerd (lies: Nerz) und Marina Weisband (vergleiche auch Michael Haneke, „Das weiße Band“) wieder mit-machen: diese als frisch-juvenile, vollkommen er-folglose, dafür wunderschöne Familienministerin, jener als Entwicklungshilfeaugust, der in Afrika den Bau von Datenautobahnen überwachen muss, weil er da nicht so viel kaputtmachen kann; und vielleicht auch mal ein bisschen abnimmt.

Um das Amt des Wirtschaftsministers reißen sich die Piraten, wenn es mal so weit ist, naturge-mäß nicht – gerade deshalb muss man es ihnen aber aufs Auge drücken, um Antipathien von der Union abzuziehen und den Youngstern zu zeigen, wie richtige Politik geht: mit Dieter Hundt essen gehen müssen und die Rechnung bezahlen. Ange-lika Beer böte sich hier an, obwohl sie als gewesene friedenspolitische Sprecherin der Grünen („Bom-bardiert Belgrad!“) vielleicht doch besser ins Vertei-digungsministerium passte, Thomas de Maizière bei der Morgenlatte helfen. Morgenlage. Mensch!

Bleiben noch Arbeit, Gesund-heit, Umwelt und Verbraucher-schutz. Gesundheit interessiert

die Piraten nicht, sie sind ja noch so jung, und im Internet kann man sich jederzeit den billigsten Zahnarzt heruntergoogeln; und da die meisten Piraten aus Berlin sind, ist das Arbeitsministe-rium natürlich auch nicht das richtige, haha-ha! Außerdem denkt Angela Merkel nicht daran, die von der Leyen was anderes machen zu lassen, schlimmstenfalls Kanzlerin, ein Job, für den ja auch awesome Julia (Schramm) viel besser geeig-net wäre (Selbsteinschätzung).

Aber Verbraucherschutz, das ginge, das muss sogar: undemokratische Urhebergebühren, betrü-gerische Abzock-Flats, zu hohe Hardwarepreise, das checkt die Aigner doch nie, da müssen mal Pi-raten ran. Aber Umwelt, das soll ruhig der Altmai-er weitermachen, so viele Dicke haben die Piraten nicht, und der Nerz ist ja in Afrika; und was ein richtiger Nerd ist, der interessiert sich doch auch gar nicht für seine Umwelt. Also.

Schwarz-Orange – wer ist da blind, wer lahm? Ich säh es jedenfalls gern, besonders dann, wenn die Piraten traditionsgemäß den Außenminister stell-ten. Johannes Ponader macht seinen Antrittsbesuch in Frankreich in Trekking-Sandalen, und wenn der Hollande labert, wird ein bisschen auf dem Smart-phone rumgefingert. Das ist dann sofort einen ARD-Brennpunkt wert, und die Leserbriefschreiber schäumen, deutschlandweit, wochenlang.

Schön wäre das. Zu schön.

STEFAN GÄRTNER

www.theeuropean.de/stefan-gaertner

DER AUTOR IST JAHRGANG 1973, STUDIERTE

GEISTESWISSENSCHAFTLICHES IN MAINZ UND NEW

YORK UND WAR VON 1999 BIS 2009 REDAKTEUR

BEIM „ENDGÜLTIGEN SATIREMAGAZIN TITANIC“.

GÄRTNER SCHREIBT NEBEN DEM MONATLICHEN

POLITESSAY FÜRS HAUSBLATT BÜCHER, KRITIKEN,

GLOSSEN UND WITZE. DRUCKFRISCH LIEGT VOR:

„DEUTSCHLANDMEISE. STREIFZÜGE DURCH EIN

WAHNSINNIGES LAND“. GÄRTNER IST SEIT 2010

KOLUMNIST BEI „THE EUROPEAN“.

ANTRITTSBESUCH IN TREKKING-SANDALEN

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Vinton „Vint“ Cerf ist einer der Väter des Internets. Heute ist er Vizepräsident von Google und verantwortlich für die Technologien von morgen. Weltregierung, Reisen nach Alpha Centauri, die Entdeckung der Dunklen Materie: Im Gespräch mit Alexander Görlach klärt Cerf die großen Fragen der Zukunft.

„In 100 Jahren ist das Internet ein alter Hut“ —

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The European: Herr Cerf, wagen wir den Blick in die ferne Zukunft: Wie wird das Internet in einem Jahrhundert aussehen?Cerf: Wir sprechen hier über 2112, das zweite Jahrzehnt im 22. Jahrhundert! Versetzen Sie sich nach 1912 und versuchen Sie sich vorzustellen, wie damals eine Prognose für die Welt von heu-te ausgesehen hätte. Es war gerade erst das Radio erfunden, es gab das Telefon und den Telegrafen. Einstein hatte zwar bereits seine Relativitätsthe-orie aufgestellt, aber der ganz große Spaß folgte erste sieben Jahre später mit der experimentellen Bestätigung seiner These.

Also ist es unmöglich, Vorhersagen zu treffen?Nein, das nicht. Im 22. Jahrhundert gibt es mit Sicherheit sich selbst steuernde Autos. Unterhal-tungen mit Computern gehören zum Alltag und künstliche Intelligenz versteht sogar menschliche

Gesten. Echtzeit-Übersetzungen sind Standard bei Unterhaltungen – ob unter vier Augen oder über Kontinente hinweg. Jeder auf dem Plane-ten ist vernetzt. In 100 Jahren ist das Internet ein alter Hut.

Welchen weiteren Einfluss wird Technologie auf unser Leben haben?Riesige Mengen an Wissen werden verfügbar sein. Und wir werden vor allem genügend technische Ka-pazitäten haben, diese zu nutzen. Augmented Rea-lity (durch Technologie erweiterte Realität, Anm. d. Redaktion) wird Normalität sein. Unser Zuhause, unsere Büros, unsere Autos, ja selbst unsere Kör-per werden voll und ganz technologisiert sein. Wir werden auf vorbeugende medizinische Versorgung setzen und so dauerhaft gesund und fit bleiben. Klassische Verbrennungsmotoren werden längst abgeschafft, elektrische Maschinen der Standard

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sein. Kunststoffprodukte werden nicht mehr aus Öl, sondern Salzwasser-Algen hergestellt.

Wie wird es in 100 Jahren um die Raumfahrt bestellt sein?Schon um 2060 wird eine interstellare Raummis-sion starten – 2112 wird sie auf dem halben Weg zu Alpha Centauri sein, dann aber noch als unbe-mannte Roboter-Mission. Raumstationen und Sa-telliten werden den Mond, den Mars, den Saturn, den Jupiter und einige ihrer Monde umkreisen. Die interplanetare Kommunikation mittels des In-ternets beziehungsweise seines Nachfolgers wird die Planeten mit der Erde verbinden. Dafür wird Atomkraft vonnöten sein, da Solarenergie nicht ausreicht. Unser ganzes Verständnis vom Univer-sum wird ein anderes sein. Wir werden ziemlich genau wissen, was Dunkle Materie ist und woher sie kommt.

„AUCH IN 100 JAHREN WERDEN WIR NOCH NACH UNSEREM UTOPIA FRAGEN“

Wie wird die Menschheit mit einem solch krassen Fortschritt umgehen?Nicht der Fortschritt wird die Menschen beschäf-tigen. Zu Beginn des 22. Jahrhunderts hat die Erd erwärmung unseren Planeten nachhaltig ver-ändert. Bereits ab 2075 ist Massenmigration ein großes Problem. Frischwasser ist das neue Öl, die Entsalzung von Meerwasser dringend nötig. Die Ressourcenknappheit führt zu neuen Spannun-gen und zu schwerwiegenden Auseinanderset-zungen, vielleicht sogar zu Kriegen. Spätestens 2050 hat die Weltbevölkerung die Neun-Milliar-den-Grenze überschritten.

Was können wir machen, um diese Probleme zu vermeiden?Die Dystopie wird schwer abzuwenden sein, be-sonders wenn man an die Knappheit der natürli-chen Ressourcen denkt. Macht wird weiterhin die wichtigste Ressource sein.

Also befinden wir uns schon längst in einer Tra-gödie, deren Ende wir nicht abwenden können?Nein. Aber nur eine globalere Verteilung von Macht und Ressourcen kann diesen Entwicklungen entge-genwirken. Wir werden uns mit vielen technischen Themen auseinandersetzen müssen: Entsalzung,

Hydrokulturen, Wasser-Pipelines und Wasser-Pum-pen – dem Transport ganzer Infrastrukturen. Ein weiteres Problem werden die hohen Bevölkerungs-dichten in asiatischen Ländern sein. Ob wir eine Lö-sung dafür finden, muss sich noch zeigen. Unruhen dort könnten einen zusätzlichen Effekt auf Ressour-cenkonflikte haben. Wichtig ist, dass wir unsere De-mokratie effektiv gestalten. Oder es werden am Ende die Despoten sein, die ein Überleben garantieren.

Werden sich die Regierungsformen ändern?Wir werden eine globale Kultur haben. Wenn es gut läuft, dann werden wir nicht nur mehr über regionale Regierungsstrukturen, sondern auch eine Weltregierung haben.

Wie steht es um Religion und Ideologie?Religion wird immer noch existieren. Etwas, das die Menschheit die letzten 20.000 Jahre beglei-tet hat, wird in 100 Jahren nicht verschwinden. Auch bei der Ideologie wird es keine endgültige Antwort geben. Wir werden immer noch um die absolute Wahrheit streiten und über den Sinn des Lebens philosophieren.

Wie werden diese Debatten aussehen?Auch in 100 Jahren werden wir noch fragen: Was ist unser Utopia? Und die Antwort wird immer noch sein: Wir wissen es nicht.

ÜBERSETZUNG AUS DEM ENGLISCHEN

DAS GANZE GESPRÄCH FINDEN SIE AUF

www.theeuropean.de/vinton-cerf

VINTON „VINT“ CERF

www.theeuropean.de/vinton-cerf

DER INFORMATIKER (JG. 43) IST EINER DER VÄTER DES

INTERNETS UND DER E-MAIL. CERF WAR MASSGEBLICH

AN DER ENTWICKLUNG DES TCP/IP-PROTOKOLLS

BETEILIGT, WOFÜR ER MIT DEM TURING-PREIS AUSGE-

ZEICHNET WURDE – DEM NOBELPREIS FÜR INFORMA-

TIKER. SEIT SEPTEMBER 2005 IST CERF VIZEPRÄSIDENT

UND „CHIEF INTERNET EVANGELIST“ BEI GOOGLE. IN

DIESER ROLLE MACHT ER NEUE TECHNOLOGIEN ZUR

VERBESSERUNG DER GOOGLE-DIENSTE AUSFINDIG.

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In der öffentlichen Debatte über die Beschneidung bei Jungs frage ich mich, ob ich ganz kurz das Thema auf die lediglich prozentual vorhandene Majorität, ansonsten aber allgemein als Minorität anerkannte und be-liebte Gruppe der Frauen und Mädchen all over the world len-ken dürfte – also nur, wenn es niemanden stört oder in seinem Stolz verletzt. Schweigen? Ich nehme das mal als ein Ja. Danke schön.

Die Fakten sind zügig zu-sammengefasst: Millionen Frauen sind beschnitten, zu-meist in arabischen und afrikanischen Ländern. Jedes Jahr kommen zwei Millionen dazu. Es gibt verschiedene Me-thoden der Beschneidung, bis zur Infibulation. Zumeist vor-genommen unter Bäumen, in Savannen, am Rand von Dör-fern, unter Zuhilfenahme von Rasierklingen, Kalebassen, Ritu-alen und Dornen.

Woher dies kommt, fragt man sich, fragte ich mich, als ich vor über zwölf Jahren begann, mich damit zu beschäftigen.

Nahe liegend taucht in des Abendländers Gewissen und Herablassung die Frage auf: Ist es Religion? Darauf ist leicht zu

antworten. Nein, weder bei Christen noch bei

Muslimen noch bei Hindus steht Etwaiges in den heiligen Texten geschrieben.

Wie soll man berichten über eine Tradition?

Eine Tradition, von der man aus-gehen kann, dass sie seit über 2.000 Jahren existiert. Vielleicht war auch Nofretete beschnit-ten, und weiter zurück geht es nach Schwarzafrika, in die Wie-ge der Welt. Ein Kontinent, in dem es ein Dorf braucht, um ein Kind groß zu ziehen, weil es Gemeinschaft gibt und unmittel-bare Zuneigung zu den kleinsten Dorfbewohnern, zu mutigen starken Müttern, die voll Liebe, voll Liebe zu ihren Mädchen eine Tradition praktizieren, damit ihre Tochter oder ihre Töchter eine Zukunft haben, ein Leben, einen Ehemann, eine Gemeinschaft.

Faszinierend, wie Traditionen sich halten, nicht nur in afri-kanischen Gefilden; wie man festhält, fast von Sinnen, wie man konserviert und beschützt, was Tradition ist. Koste es, was es wolle.

Es wäre zu leicht zu sa-gen: welch grausame Mütter oder welch despotische Män-ner, denn das wäre glatte Lüge. Es ist das Sich-halten-an, das Bestimmt-werden-von. An und von etwas, das größer ist als man selbst: einer Tradition. Die widerspruchslos und rückwärts-gewandt fortgesetzt wird, der man unter Umständen die Ver-antwortlichkeit für sein eigenes Leben bereitwillig in die Hand legen mag.

Ich durfte bezeugen, wie im ersten Land Westafrikas – im Senegal – im Laufe der letzten 15 Jahre ein Sinneswandel, eine Bewusstseinsveränderung statt-fand. Atemberaubend. Wie das Durchdringen einer Tradition,

Warum redet eigentlich niemand über die Beschneidung von Frauen? Eine absurd grausame Tradition. Zeit, durchzulüften wie im Senegal.

die Todesgefahr birgt und kaputte Leben, kaputte Frauen, kaputte Geschlechtsteile produ-ziert, selbige Tradition nicht nur überwand und in großen Dekla-rationen abschaffte (in nun mehr als 4.700 von circa 5.000 Dör-fern), sondern darüber hinaus die involvierten Menschen inspi-rierte und stärkte.

Ich sage es ganz offen: Ich bin kein Fan von Tradition und werde darüber nachden-ken, welche Art der Tradition nicht behaftet ist mit Angst oder Klaustrophobie, Uniformität oder ungelüftetem Wohnzimmer.

KATJA RIEMANN

www.theeuropean.de/katja-riemann

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KOLUMNE — ODER SO …

SCHNITTSTELLETRADITION

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Page 16: Utopia The European 4-2012

Noch heißt Demokratie für die meisten: freie und faire Wahlen. Parlamente. Herr-schaft des Volkes. Die vielen bestimmen die wenigen, die sie regieren. Legitime Re-präsentation. Es steigt aber die Zahl derer, die sagen: Demokratie ist Transparenz und Partizipation.

Transparenz meint jetzt nicht mehr nur das Wissen um demokratische Strukturen, wie beispielsweise eines ordentlich ausgeschriebenen Verfahrens, sondern auch ihr Verstehen. Natürlich lief der Prozess, der zu Stuttgart 21 geführt hat, nach verbind-lichen Regeln ab. Es gab ein faires Verfahren im Sinne des demokratischen Rechts-staats. Aber viele Bürger haben diese Prozesse nicht mehr verstanden. So sprachen die Regierenden und die Regierten aneinander vorbei.

Strukturen, die nicht verstanden werden können, verlieren ihre Legitimation, auch wenn sie legal sind. Um sich beteiligen, partizipieren zu können, ist dieses Verständ-nis aber unerlässlich. Ein Wahlrecht, das die wenigsten Deutschen erklären können, verleidet die Lust, an der Demokratie teilzuhaben. Der Buchstabe der Partizipation wird erfüllt, die Strukturen sind sauber, aber von Begeisterung keine Spur.

Mancher sagt, die Bürger hätten nie mitmachen wollen. Das stimmt nicht. Jede Zeit prägt ihre Konventionen aus, die dann kodifiziert werden. Jetzt beginnt die Zeit, in der wir die Demokratie weiterentwickeln. Demokratie meint hier nicht nur Herr-schaftsform, sondern im umfassenden Sinn Lebensweise. Deswegen trifft der Wille zur Veränderung, die Unwucht des Nicht-mehr-verstehen-Könnens, nicht nur die par-lamentarische Facette der Demokratie. Wir wollen weder im Wahllokal noch im Su-permarkt noch auf der Kirchenbank oder dem Kinosessel von PR-Experten, Berater-Artisten und Seelenfängern manipuliert und getäuscht werden.

In allen Bereichen unseres Lebens prägen wir neue Konventionen aus. Wir leben in einer Schwellenzeit, einer Zeit des Übergangs, in der für die einen das Alte noch Teil des Selbst- und Lebensvollzugs ist, für die anderen schon nicht mehr. Das hat Stuttgart 21 gezeigt.

Dieses Nebeneinander erklärt das Auftreten der Piratenpartei ebenso wie die For-derungen nach Reformen aus dem Inneren der katholischen Kirche. Alle, die diese Spannung spüren, treibt die Sorge um oder die Sorge an: Wie geht es mit dem Demo-kratischen weiter? Um, weil die einen sein Ende fürchten. An, weil die anderen das Kommende gestalten wollen. Das große Nachdenken und Entwerfen hat begonnen.

In allen Themen dieses Heftes ist diese große Frage nach der Zukunft des Demo-kratischen spürbar. Es ist nicht so, dass wir die Themen so komponiert und zusam-mengestellt hätten, dass diese Leitfrage dabei herauskommen musste. Es hat sich so ergeben. Uns hat dieses Nachdenken mit unseren Autoren und Interviewpartnern in-spiriert. Wir hoffen, Ihnen geht es genauso.

IHR

ALEXANDER GÖRLACH

DER PROMOVIERTE THEOLOGE UND LINGUIST (JG. 1976) IST GRÜNDER, HERAUSGEBER

UND CHEFREDAKTEUR VON „THE EUROPEAN“. ZUVOR WAR GÖRLACH FÜR DAS ZDF, DIE

„FAZ“, DIE „SZ“ UND „DIE WELT“ TÄTIG SOWIE ONLINE-RESSORTLEITER DES POLITIKMAGA-

ZINS „CICERO“. ER IST REGELMÄSSIG BEI N24 ALS EXPERTE ZU SEHEN. GÖRLACH HAT MEHRERE

LEHRAUFTRÄGE ZU DIGITALEM WANDEL, U. A. AN DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN.

www.theeuropean.de/alexander-goerlach

ALEX ANDERPL ATZ

the european 161editorial