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Gifte haben meist einen natürlichen Ur- sprung und sind dem Menschen seit jeher als ernste Bedrohung der Gesundheit be- kannt. Mit dem Begriff „Gift“ bzw. „Ver- giftung“ verbindet sich die unbestimm- te Vorstellung, dass ein lebensbedroh- liches gesundheitliches Risiko für den Menschen besteht. So werden Gifte im- mer noch mit der Vorstellung des Bösen, des Überirdischen und des Zaubers ver- bunden. Frauen wurde in diesem Zusam- menhang im Allgemeinen mehr Kompe- tenz als Männern zugeschrieben. Wahr- scheinlich kamen sie deshalb leicht in den Verruf, „Giftmörderinnen“ zu sein. Die- ses wissenschaftlich nicht zu begründen- de, negativ überzeichnete Bild fand seine öffentliche Verfestigung in den 1950er- Jahren, als einige spektakuläre Fälle von Schwermetallvergiftungen (Arsen, Thal- lium usw.) durch die Presse in der gesam- ten Welt verbreitet wurden. Falsche An- schuldigungen von Frauen als „Giftmör- derinnen“ waren historisch gesehen nur für kurze Zeit aktuell, weil der gerichts- feste Giftnachweis bei Morden Ende des 19. Jahrhunderts immer leichter durch die Flammenphotometrie möglich wurde. Alle diese Ereignisse und Umstände prägen bis in die heutige Zeit das Bild von Vergiftungen, die einen Teil des Unfallge- schehens in Deutschland ausmachen, be- sonders bei Kindern. Ein Teil der Vergif- tungen kommt auch durch Gewalteinwir- kung zustande (meist in Selbsttötungsab- sicht/Selbsttötung) und stellt in diesem Sinne keinen Unfall dar. Bereits Paracel- sus (1493–1541) und der Begründer der Toxikologie Mathieu Orfila (1787–1853) haben frühzeitig bei Vergiftungen stoffbe- dingte Dosis-Wirkungs-Beziehungen er- kannt und spezielle Aufnahmepfade und stoffbedingte Gesundheitsschäden be- schrieben [1], die es durch Prävention zu verhindern gilt. Im Vergleich zu anderen Erkrankun- gen und Gesundheitsbeeinträchtigungen werden Vergiftungsunfälle in Deutsch- land bisher nicht ausreichend zusam- menfassend dokumentiert und ausge- wertet. Sie sind daher weniger zugänglich für präventive Maßnahmen. Nachfolgend wird das Unfallgeschehen bei Vergiftun- gen – soweit Zahlen zur Verfügung stehen – dargestellt, es wird die Arbeit der Gift- informationszentren (GIZ) und der Do- kumentations- und Bewertungsstelle für Vergiftungen im Bundesinstitut für Risi- kobewertung (BfR-DocCenter) beschrie- ben und die Notwendigkeit eines regel- mäßigen nationalen Monitorings mit Be- richterstattung zum Vergiftungsgesche- hen in Deutschland aufgezeigt. Die Krankheit „Vergiftung“ als eigenständige Entität Krankheiten werden im medizinischen sowie im wissenschaftlichen Sinn meist unter funktionalen oder organspezifi- schen Gesichtspunkten eingeteilt, z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoff- wechselerkrankungen, Erkrankungen des Zentralnervensystems oder des Stütz- und Bewegungsapparates. In diesem Sin- ne müssen auch Vergiftungen als eigen- ständige Entität eines speziellen Krank- heitsgeschehens – je nach Wirkung des Giftes oftmals organübergreifend – an- gesehen werden. Doch gab es bisher kei- nen allgemein anerkannten wissenschaft- lichen Ansatz, Vergiftungen als medizi- nische Entität und eigenes Krankheitsge- schehen zu sehen und zu definieren. Eine Vergiftung (Intoxikation) wird allgemein als eine durch die Einwirkung bzw. Aufnahme toxischer Stoffe entste- hende Krankheit oder Schädigung als Folge der Wechselwirkung von körperei- genen mit körperfremden Strukturen an- gesehen [1]. Die grundlegende Definition einer Vergiftung geht auf Paracelsus zu- rück: „… alle ding sind gift und nichts ist ohn gift; allein die dosis macht das ein ding kein gift ist …“. Klugerweise hat Paracel- sus die „Vergiftungskrankheit-erzeugen- de Ursache“, das „ding“ nicht notwendi- gerweise mit einem Einzelstoff gleichge- stellt, sondern mit einem Begriff, der heu- te allgemein als „Noxe“ bezeichnet wird. Folgt man seiner Definition, werden „Ver- giftungskrankheiten“ erst oberhalb einer konkreten aufgenommenen Menge aus- gelöst. So hat er eine Grenzdosis gesehen, unter der ein gesunder Organismus kei- nen Schaden erleidet. Dieses Prinzip ist in die Arbeitsmedizin als Brückenmodell übernommen worden, bei dem der Orga- nismus wie bei einer Brücke wechselnden Lasten ausgesetzt ist. So reagiert auch der menschliche Körper, aber innerhalb eines „zulässigen“ – auch individuellen – Belas- tungsbereiches nimmt der Mensch nach Rückgang der Belastung keinen Schaden. So sind spezielle Stoffbezeichnungen wie „Giftstoff“ oder „Schadstoff“ wegen der Dosisabhängigkeit der Schadwirkungen wissenschaftlich gesehen nicht gerecht- fertigt. A. Hahn 1 · K. Begemann 1 · A. Stürer 2 1 Dokumentations- und Bewertungsstelle für Vergiftungen, Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), Berlin 2 Universitätsmedizin Mainz, Mainz Vergiftungen in Deutschland Krankheitsbegriff, Dokumentation und Einblicke in das Geschehen Bundesgesundheitsbl 2014 · 57:638–649 DOI 10.1007/s00103-014-1965-9 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 638 Leitthema | Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 6 · 2014

Vergiftungen in Deutschland; Cases of poisoning in Germany;

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Gifte haben meist einen natürlichen Ur-sprung und sind dem Menschen seit jeher als ernste Bedrohung der Gesundheit be-kannt. Mit dem Begriff „Gift“ bzw. „Ver-giftung“ verbindet sich die unbestimm-te Vorstellung, dass ein lebensbedroh-liches gesundheitliches Risiko für den Menschen besteht. So werden Gifte im-mer noch mit der Vorstellung des Bösen, des Überirdischen und des Zaubers ver-bunden. Frauen wurde in diesem Zusam-menhang im Allgemeinen mehr Kompe-tenz als Männern zugeschrieben. Wahr-scheinlich kamen sie deshalb leicht in den Verruf, „Giftmörderinnen“ zu sein. Die-ses wissenschaftlich nicht zu begründen-de, negativ überzeichnete Bild fand seine öffentliche Verfestigung in den 1950er-Jahren, als einige spektakuläre Fälle von Schwermetallvergiftungen (Arsen, Thal-lium usw.) durch die Presse in der gesam-ten Welt verbreitet wurden. Falsche An-schuldigungen von Frauen als „Giftmör-derinnen“ waren historisch gesehen nur für kurze Zeit aktuell, weil der gerichts-feste Giftnachweis bei Morden Ende des 19. Jahrhunderts immer leichter durch die Flammenphotometrie möglich wurde.

Alle diese Ereignisse und Umstände prägen bis in die heutige Zeit das Bild von Vergiftungen, die einen Teil des Unfallge-schehens in Deutschland ausmachen, be-sonders bei Kindern. Ein Teil der Vergif-tungen kommt auch durch Gewalteinwir-kung zustande (meist in Selbsttötungsab-sicht/Selbsttötung) und stellt in diesem Sinne keinen Unfall dar. Bereits Paracel-sus (1493–1541) und der Begründer der Toxikologie Mathieu Orfila (1787–1853) haben frühzeitig bei Vergiftungen stoffbe-

dingte Dosis-Wirkungs-Beziehungen er-kannt und spezielle Aufnahmepfade und stoffbedingte Gesundheitsschäden be-schrieben [1], die es durch Prävention zu verhindern gilt.

Im Vergleich zu anderen Erkrankun-gen und Gesundheitsbeeinträchtigungen werden Vergiftungsunfälle in Deutsch-land bisher nicht ausreichend zusam-menfassend dokumentiert und ausge-wertet. Sie sind daher weniger zugänglich für präventive Maßnahmen. Nachfolgend wird das Unfallgeschehen bei Vergiftun-gen – soweit Zahlen zur Verfügung stehen – dargestellt, es wird die Arbeit der Gift-informationszentren (GIZ) und der Do-kumentations- und Bewertungsstelle für Vergiftungen im Bundesinstitut für Risi-kobewertung (BfR-DocCenter) beschrie-ben und die Notwendigkeit eines regel-mäßigen nationalen Monitorings mit Be-richterstattung zum Vergiftungsgesche-hen in Deutschland aufgezeigt.

Die Krankheit „Vergiftung“ als eigenständige Entität

Krankheiten werden im medizinischen sowie im wissenschaftlichen Sinn meist unter funktionalen oder organspezifi-schen Gesichtspunkten eingeteilt, z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoff-wechselerkrankungen, Erkrankungen des Zentralnervensystems oder des Stütz- und Bewegungsapparates. In diesem Sin-ne müssen auch Vergiftungen als eigen-ständige Entität eines speziellen Krank-heitsgeschehens – je nach Wirkung des Giftes oftmals organübergreifend – an-gesehen werden. Doch gab es bisher kei-

nen allgemein anerkannten wissenschaft-lichen Ansatz, Vergiftungen als medizi-nische Entität und eigenes Krankheitsge-schehen zu sehen und zu definieren.

Eine Vergiftung (Intoxikation) wird allgemein als eine durch die Einwirkung bzw. Aufnahme toxischer Stoffe entste-hende Krankheit oder Schädigung als Folge der Wechselwirkung von körperei-genen mit körperfremden Strukturen an-gesehen [1]. Die grundlegende Definition einer Vergiftung geht auf Paracelsus zu-rück: „… alle ding sind gift und nichts ist ohn gift; allein die dosis macht das ein ding kein gift ist …“. Klugerweise hat Paracel-sus die „Vergiftungskrankheit-erzeugen-de Ursache“, das „ding“ nicht notwendi-gerweise mit einem Einzelstoff gleichge-stellt, sondern mit einem Begriff, der heu-te allgemein als „Noxe“ bezeichnet wird. Folgt man seiner Definition, werden „Ver-giftungskrankheiten“ erst oberhalb einer konkreten aufgenommenen Menge aus-gelöst. So hat er eine Grenzdosis gesehen, unter der ein gesunder Organismus kei-nen Schaden erleidet. Dieses Prinzip ist in die Arbeitsmedizin als Brückenmodell übernommen worden, bei dem der Orga-nismus wie bei einer Brücke wechselnden Lasten ausgesetzt ist. So reagiert auch der menschliche Körper, aber innerhalb eines „zulässigen“ – auch individuellen – Belas-tungsbereiches nimmt der Mensch nach Rückgang der Belastung keinen Schaden. So sind spezielle Stoffbezeichnungen wie „Giftstoff“ oder „Schadstoff“ wegen der Dosisabhängigkeit der Schadwirkungen wissenschaftlich gesehen nicht gerecht-fertigt.

A. Hahn1 · K. Begemann1 · A. Stürer2

1 Dokumentations- und Bewertungsstelle für Vergiftungen, Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR),

Berlin2Universitätsmedizin Mainz, Mainz

Vergiftungen in Deutschland

Krankheitsbegriff, Dokumentation und Einblicke in das Geschehen

Bundesgesundheitsbl 2014 · 57:638–649DOI 10.1007/s00103-014-1965-9© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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Leitthema

| Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 6 · 2014

Wissenschaftlich gesehen sollte der Begriff „Vergiftung“ deshalb nur adäquat und zurückhaltend verwendet werden, d. h. nur dann, wenn plausible und nach-vollziehbare gesundheitliche Beeinträch-tigungen im Sinne eines Krankheitsge-schehens aufgetreten sind.

Besondere Sorgfalt muss bei der Be-wertung von Fällen gelten, bei denen Ex-positionen mit geringsten Konzentrati-onen, wie z. B. im Umweltbereich, auf-treten, ebenso bei unerwünschten Pro-duktwirkungen oder adversen Effekten, z. B. bei chemischen Produkten des tägli-chen Bedarfs. Statt von Vergiftungen soll-te man von folgenlos verlaufenden Expo-sitionen ohne Symptome oder mit vorü-bergehender Symptomatik ohne Krank-heitswert sprechen: Expositionen allein führen nicht notwendigerweise zu ge-sundheitlichen Folgen.

Gesetzliche Regelungen zu Vergiftun-gen sind, da Noxen (Chemikalien, Medi-kamente, Haushaltsmittel, Pflanzen, Pilze, giftige Tiere, Stoffe in der Umwelt usw.) in allen Bereichen vorkommen können, verhältnismäßig spät eingeführt worden, und zwar erst 1990 mit dem Chemikali-engesetz (ChemG) in § 16e [2]. Die Ver-giftung mit ihrem speziellen Krankheits-geschehen wird dort als stoffbezogene Erkrankung definiert, wobei der Begriff „Stoff“ im juristischen Sinne als Einzel-stoff (chemisches Element und auch Ver-bindungen) definiert wird. Bei den aller-meisten Vergiftungsfällen handelt es sich nicht um Expositionen mit Einzelstoffen, sondern gegenüber Stoffgemischen, typi-scherweise mit einer speziellen, auch va-riablen oder komplexen Rezeptur. Das gilt auch bei Medikamenten, bei Expositionen durch Giftpflanzen, Giftpilze oder giftige Tiere, bei exogenen Giften aus Mikroor-ganismen oder bei Kontaminationen von Nahrungsmitteln und natürlich auch bei Expositionen durch die Umwelt im In-nen- und Außenraum.

Datenerfassung zu Vergiftungen in Deutschland

In Deutschland gibt es, wie in vielen an-deren Ländern der Welt, keine Institution, die zusammengefasste und repräsentati-ve Daten über das Vergiftungsgeschehen zur Verfügung stellen könnte, auch wenn

das Thema Vergiftungen beispielswei-se Bestandteil verschiedener Datenquel-len und einzelner Statistiken ist (Todes-ursachen- und Krankenhausstatistik des Statistischen Bundesamtes, Berichte der GIZ, Ärztliche Mitteilungen bei Vergif-tungen des BfR, Polizeiliche Kriminalsta-tistik, Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Kinder- und Erwachsenensur-vey des Robert Koch-Instituts usw.). Die Datensammlungen wurden in den ver-schiedenen Institutionen meist mit/unter ganz unterschiedlichen Zielen und As-pekten initiiert. Oft nicht standardisiert, wurden sie mit unterschiedlichen Doku-mentationsprotokollen begonnen und dann als relationale Datenbanken mit un-terschiedlichen Kategorisierungen, Indi-zierungen und Fragestellungen weiterge-führt. Damit sind vergleichbare oder zu-sammenhängende Auswertungen nicht in dem wünschenswerten Umfang möglich.

Zur Dokumentation von Vergiftungen beim Menschen und deren wissenschaftli-cher Bewertung und Auswertung wurden erste Kriterien, Definitionen und Stan-dardisierungen in den 1990er-Jahren von der European Association of Poison Cen-tres and Clinical Toxicologists (EAPCCT) [3] und vom International Programme of Chemical Safety (IPCS INTOX Program-me) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) [4] international eingeführt. Mit 2 Forschungsvorhaben des Bundesminis-teriums für Umwelt, Naturschutz und Re-aktorsicherheit (1994: Erfassung der Ver-giftungsfälle und Auswertungen EVA [5], 2006: Toxikologischer Dokumentations- und Informationsverbund TDI [6]) konn-ten in Deutschland wichtige Fortschritte zur Harmonisierung und Standardisie-rung von Daten zum Vergiftungsgesche-hen erzielt werden. Dabei wurde in ers-ter Linie die Datenqualität für gemeinsa-me Auswertungen von Vergiftungsdaten zwischen GIZ, dem BfR-DocCenter und Internationalen Institutionen, wie z. B. der EAPCCT, deutlich verbessert.

Auch wenn schon wichtige Fortschrit-te bei der Dokumentation, Erfassung und Bewertung von Vergiftungsfällen erzielt wurden und verschiedenenartige ande-re Datenquellen bestehen [7–10], gibt es aber gegenwärtig in Deutschland noch keine realistische Möglichkeit, eine fun-

dierte, umfassende und belastbare Statis-tik über Vergiftungsunfälle zu erstellen.

Giftinformationszentren

Erste GIZ sowie die entsprechende (Gift-)Kommission wurden in der Bundesrepu-blik Deutschland und in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ab etwa 1963 eingerichtet [11]. Vorbild waren die amerikanische „Poison Control Cen-ters“, die seit den 1950er-Jahren in den USA in nahezu allen Bundesstaaten eta-bliert wurden [6, 12, 13]. Mit der Einrich-tung der deutschen GIZ sind hoch spezi-alisierte medizinisch basierte Institutio-nen entstanden. Sie können Vergiftungen richtig einschätzen und mit ihren spezi-ellen Kenntnissen richtig behandeln. Sie bilden damit eine systematische Basis, um Vergiftungsdaten besser bündeln und be-werten zu können.

Die zurzeit 9 deutschen länderfinan-zierten GIZ beraten 24 h und 7 Tage in der Woche telefonisch bei Vergiftungs- und Verdachtsfällen. Kernkompetenzen der Zentren sind die Diagnostik, Thera-pie und Dokumentation von akuten Ver-giftungen. Laien, insbesondere Eltern, aber auch Ärztinnen und Ärzte in Kran-kenhäusern, im Notdienst und in Praxen sowie Behörden und Institutionen werden dabei auf hohem wissenschaftlichem Ni-veau beraten. Die Beratung erfolgt bei al-len Arten von Vergiftungen. Da die Bun-desländer aufgrund des Chemikalienge-setzes (ChemG) verpflichtet sind, Bera-tungsstellen einzurichten, gibt es Zent-ren, die in Kooperation mehrerer Bun-desländer betrieben werden. Seit Mit-te der 1990er-Jahre publizieren viele GIZ harmonisierte und standardisierte Jahres-berichte.

In der seit 1985 existierenden Gesell-schaft für Klinische Toxikologie, einem Verbund der GIZ, des BfR-DocCenters und einzelner klinisch tätiger Toxiko-logen wurde seit dem Jahr 2003 eine in-tensive Vernetzung der 9 deutschen GIZ und des BfR-DocCenters etabliert und in 5 halbjährlich tagenden Arbeitsgrup-pen die Harmonisierung der Vergiftungs-dokumentation wesentlich vorangetrie-ben. Auch wurde das im Rahmen des TDI-Projektes [6] in großen Teilen er-stellte Kategorisierungssystem für Noxen

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in GIZ seit 2007 komplettiert und weiter-entwickelt. Im Rahmen einer ersten mul-tizentrischen retrospektiven Studie von 11 deutschsprachigen GIZ (einschließ-

lich Schweiz/Österreich) zur Beurteilung der korrosiven Wirkung von Wasch- und Reinigungsmitteln am Auge wurde das Potenzial der humantoxikologischen Da-

tensammlung in GIZ im Sinne des in der CLP-Verordnung [14] genannten „Expert Judgement“ gezeigt [15].

Zusammenfassung · Abstract

Bundesgesundheitsbl 2014 · 57:638–649 DOI 10.1007/s00103-014-1965-9© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

A. Hahn · K. Begemann · A. Stürer

Vergiftungen in Deutschland. Krankheitsbegriff, Dokumentation und Einblicke in das Geschehen

ZusammenfassungVergiftungen sind Teil des Unfallgeschehens in Deutschland, besonders bei Kindern. Ver-giftungen, die infolge von Selbsttötungsab-sichten (Suizide) oder Missbrauch (Abusus) zustande kommen, werden nicht zu den Un-fällen gerechnet. Im Vergleich zu anderen Er-krankungen und Unfällen wird die Zahl der Vergiftungsfälle nicht ausreichend doku-mentiert. Es gibt zurzeit keine Institution in Deutschland, die zusammengefasste, reprä-sentative und aussagekräftige Daten über das Vergiftungsgeschehen zur Verfügung stellen könnte. Bedingt durch die intensive wissenschaftliche Zusammenarbeit der län-derfinanzierten Giftinformationszentren (GIZ) und der Dokumentations- und Bewertungs-stelle für Vergiftungen im Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR-DocCenter), auch in internationaler Zusammenarbeit, sind bereits harmonisierte und standardisierte Elemen-te für eine Vergiftungsunfall-gerechte Do-kumentation und Berichterstattung erarbei-tet worden. Eine erste auf die Bundesrepublik

Deutschland bezogene Auswertung im Zeit-raum 2005 bis 2012 auf der Basis publizier-ter und aufbereiteter Zahlen zeigt folgende Ergebnisse: Bei ca. 230.000 Beratungsanru-fen im Jahr 2012 gab es ca. 207.000 Human-expositionen im Zusammenhang mit einem relevanten Kontakt mit verschiedenen No-xen. Es ist hier eine jährliche Zunahme von 3–5 % zu verzeichnen. Analysen für das Jahr 2011 in standardisiert aufbereiteten Teilmen-gen zeigen folgende Ergebnisse: ca. 39 % der Fälle betreffen Heilmittel (davon Arzneimit-tel human 99 %), ca. 26 % chemische/physi-kochemische Mittel (davon 46 % Reinigungs-, Putz- und Pflegemittel), ca. 14 % Bedarfs-mittel (davon Kosmetika 40 %) und ca. 10 % Pflanzen. Über 90 % betreffen akute und we-niger als 5 % chronische Vergiftungen. Bezo-gen auf die Schweregrade der Vergiftungen verliefen 44 % der Fälle asymptomatisch, in 30 % traten leichte, in 6 % mittlere und in 2 % schwere Symptome auf. Todesfälle sind sel-ten (< 0,1 %). Vergiftungsunfälle verursachen

den größten Teil der Fälle (67 %), an zweiter Stelle stehen Suizide (20 %), an dritter Stel-le missbräuchliche Anwendungen (Abusus) und gewerbliche Vergiftungen mit 4 %. Un-erwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) und Verwechslungen im Medizinbereich ma-chen 1 % der Fälle aus. Kinder im Alter von 1 bis 2 Jahren haben das größte Risiko. Ein Aus-schuss der BfR-Kommission „Bewertung von Vergiftungen“ hat bereits Vorschläge für ein nationales Monitoring zum Vergiftungsge-schehen in Deutschland entwickelt. Ein enga-giertes Ziel ist es, auch in Deutschland einen jährlichen Report ähnlich dem des US-ameri-kanischen Berichtes des National Poison Data System der American Association of Poison Control Centers (AAPCC) aufzustellen.

Schlüsselwörter Vergiftungsunfälle · Standardisierung und Harmonisierung von Daten · Nationales Monitoring zum Vergiftungsgeschehen · Vergiftungsregister

Cases of poisoning in Germany. Disease entity, documentation, and aspects of the event

AbstractCases of poisoning account for a distinct share of accidents in Germany, which is par-ticularly high for accidents involving children. Cases of poisoning resulting from suicidal in-tent or abuse are not counted as accidents. Compared to other cases of disease and acci-dents, the numerical documentation of cases of poisoning is inadequate. Presently, there is no institution in Germany that could make available representative and meaningful da-ta on the current state of poisoning. Owing to intensive scientific cooperation between the poison information centers (funded by the federal states) and the Poison and Prod-uct Documentation Center at the Federal In-stitute for Risk Assessment (BfR DocCenter) as well as to international cooperation, har-monized and standardized tools have been developed for the appropriate documenta-tion and reporting of procedures to account for poisoning accidents. The first evaluation for 2005–2012 based on published and pro-cessed figures for the Federal Republic of

Germany yielded the following results: Of ap-proximately 230,000 telephone inquiries re-ceived in 2012, about 207,000 involved expo-sure of humans to different noxae. An annu-al increase of 3–5 % was recorded. For 2011, analyses of subsets processed by means of standardized methods yielded the follow-ing results: Medicines were involved in about 39 % of the cases recorded (of these, medic-inal products for humans in 99 %); chemi-cal/physicochemical agents in about 26 % (of these, cleaning and maintenance products in 46 %); products of daily use in about 14 % (of these, cosmetics in 40 %); and plants in about 10 %. More than 90 % of cases were acute poisoning and less than 5 %, chronic poison-ing. Regarding the degree of severity of poi-soning, an asymptomatic course was report-ed for 44 % of the cases; minor manifesta-tions were experienced in 30 %, moderate ones in 6 %, and severe manifestations in 2 % of the cases recorded. Fatal cases were rare (< 0.1 %). The majority of cases (67 %) were

caused by poisoning accidents, followed by suicidal action (20 %), with abuse and indus-trial poisoning (4 %) in third position; 1 % of the cases of poisoning were attributed to ad-verse drug reactions (ADR) and mistaking a medicinal product for another one. Infants aged 1–2 years have the highest risk of poi-soning. A panel of the BfR Committee for the Assessment of Poisonings has already de-veloped proposals for a national monitoring scheme of poisoning incidents. The aim is to prepare annual reports similar to the report of the National Poison Data System (NPDS) maintained by the American Association of Poison Control Centers (AAPCC) in the USA.

KeywordsPoisoning accidents · Data standardization and harmonization · National monitoring scheme of poisoning incidents · Register of poisonings

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Ärztliche Mitteilungen bei Vergiftungen

Seit 1990 sind die behandelnden Ärzte be-reits bei begründetem Verdacht, gesetz-lich verpflichtet (§ 16e ChemG) der Do-kumentations- und Bewertungsstelle für Vergiftungen (BfR-DocCenter) Mitteilun-gen bei Vergiftungen nach Abschluss der Behandlung zukommen zu lassen. Diese Stelle wurde 1964 als Bestandteil der Nati-onalen Kommission „Erkennung und Be-handlung von Vergiftungen“ im damali-gen Bundesgesundheitsamt (BGA) ge-gründet. Sie ist zusammen mit der Nati-onalen Kommission jetzt Bestandteil des Bundesinstitutes für Risikobewertung. Auf gleicher gesetzlicher Grundlage (§ 16e ChemG) sind auch die GIZ verpflichtet, orientierende Hinweise zum Vergiftungs-geschehen zu geben.

Das BfR-DocCenter publiziert seit 1990 regelmäßig Jahresberichte zum Ver-giftungsgeschehen als sog. „Ärztliche Mit-teilungen bei Vergiftungen“ [16], die im Rahmen von Forschungsvorhaben und intensiver Zusammenarbeit mit den GIZ bereits über viele gemeinsame standardi-sierte und harmonisierte Elemente verfü-gen. Da sich die Ärztlichen Mitteilungen bei Vergiftungen, ebenso wie die Hinwei-se der GIZ, nur auf ein bestimmtes gesetz-liches Spektrum (chemische Stoffe und Produkte in Haushalt/Beruf, aber keine Medikamente, Speisen/Getränke, Tabak, Drogen usw.) beziehen, ist ihre Aussage-kraft in Bezug auf eine repräsentative Ver-giftungsstatistik für Deutschland z. T. ein-geschränkt.

Statistisches Bundesamt

Das Statistische Bundesamt stellt für Deutschland nach dem Bundesstatistik-gesetz objektive, unabhängige und qua-litativ hochwertige statistische Informa-tionen für die verschiedenartigsten Zwe-cke bereit. Es verfügt aber über keine dif-ferenzierte Vergiftungsstatistik mit der das Vergiftungsgeschehen in Deutsch-land ausreichend dokumentiert oder ab-geschätzt werden könnte. Vergiftungen werden in der Statistik des Statistischen Bundesamtes nur als sog. „Akzidentel-le Vergiftungen mit schädlichen Substan-zen“ geführt und als Krankenhaus- bzw.

Todesursachenstatistik erfasst. Es besteht eine erhebliche Diskrepanz bei den Ver-giftungszahlen mit Todesfällen zwischen den GIZ [17] und dem Statistischen Bun-desamt [8–10].

Probleme – speziell zur Analyse von Vergiftungen – bereitet die Kategorisie-rung nach der ICD-Systematik, die be-reits mehrfach umgestellt worden ist (z. B. 1980–1997 ICD-9, ab 1998 dann ICD-10). Mit der Version ICD-10-WHO Version 2011 kann der Bereich der Vergiftungen etwas differenzierter erfasst werden, z. B. mit den Gruppen T36–T50: Vergiftun-gen durch Arzneimittel, Drogen und bio-logisch aktive Substanzen und den Grup-pen T51–T65: Toxische Wirkungen von vorwiegend nicht medizinisch verwende-ten Substanzen.

Die für Vergiftungen ungenügende ICD-Codierung ist aber nicht in der La-ge, ein halbwegs ausreichendes Bild des Vergiftungsgeschehens in Deutschland zu vermitteln [10]. Zusätzlich bestehen erhebliche Probleme bei der Feststellung der kausalen Todesursachen. In einer neu-eren Arbeit zum Vergiftungsgeschehen mit Kohlenmonoxid in Deutschland wird festgestellt, dass auch mithilfe des Statis-tischen Bundesamtes keine verlässlichen Zahlen über die sehr häufig vorkommen-den Kohlenmonoxidintoxikationen er-mittelt werden können [8].

Nationales Monitoring

Bedingt durch die intensive Zusammen-arbeit zwischen den länderfinanzierten GIZ und dem BfR-DocCenter seit Mitte der 1990er-Jahre entstehen immer mehr harmonisierte und standardisierte Ele-mente für eine vergiftungsunfallgerech-te Dokumentation und Berichterstat-tung, auch in internationaler Kooperati-on. Ein wichtiger Aspekt der gemeinsa-men Arbeit in der Nationalen Kommis-sion „Bewertung von Vergiftungen“ und in den Arbeitsgruppen der wissenschaft-lichen „Gesellschaft für Klinische Toxiko-logie e.V. (GfKT)“ ist, die Vergiftungsfäl-le auch für übergeordnete Auswertungen, für Früherkennungen und für Zwecke der Prävention zu nutzen. Eine wirkungs-volle Vernetzung der föderal betriebenen GIZ mit den gesetzlich vorgeschriebenen ärztlichen Meldungen bei Vergiftungen

in Form eines ständigen toxikologischen nationalen Monitorings konnte bisher aus politischen Gründen, besonders wegen der bestehenden Bund-Länder-Finanzie-rungsproblematik, nicht realisiert werden.

Der bedeutende gesundheitspolitische Wert eines nationalen Monitorings zum Vergiftungsgeschehen in Deutschland ist bisher nicht ausreichend erkannt worden. Dies gilt in erster Linie mit Blick auf ein spezielles Unfallmonitoring und die da-mit verbundenen Möglichkeiten der Prä-vention, besonders bei Kleinkindern und Kindern. Aufgrund der mangelnden Da-tenlage können die wirkliche Zahl, die Art der Vergiftungsunfälle, deren Schwere, die Indikationen zur Behandlung, die Wirk-samkeit von Therapien und deren Be-handlungskosten nicht ausreichend beur-teilt werden.

Erste Abschätzungen zu den Behand-lungskosten bei Vergiftungen aus dem Jahr 1991, nach denen durch die Arbeit der GIZ, durch ihre genaue Dokumenta-tion und die maßgerechte Therapie min-destens 5 Mio. EUR pro Jahr an Behand-lungskosten eingespart werden können [18], zeigen ein erhebliches Einsparungs-potenzial. Eine kompetente Vergiftungs-beratung und -behandlung kann die Zahl an Arztvorstellungen und Krankenhaus-aufnahmen verringern, Leid und Unsi-cherheit bei den Betroffenen/Angehö-rigen ersparen und bildet die Grundla-ge für eine zeitgemäße, adäquate und da-mit kostensparende Therapie. Ein fachge-rechtes regelmäßiges nationales Monito-ring könnte einen realistischen Überblick über die wirklichen Vergiftungsrisiken geben. Viele Hinweise zum Vergiftungs-geschehen, die z. T. nur stichprobenartig und nicht umfassend analysiert sind, kön-nen dann statistisch belegt werden. Erste Erfolg versprechende Hinweise sind:

1) Da von Kindern meist nur geringe Mengen einer Noxe aufgenommen wer-den, führen glücklicherweise nur weni-ge Fälle, die in den GIZ beraten oder in Kliniken behandelt werden, zu bedenk-lichen akuten oder bleibenden Schäden. Dies gilt insbesondere für die unbeabsich-tigten Einnahmen, die besser mit dem Be-griff „Ingestion“ bezeichnet werden müs-sen, also für die unbeabsichtigte Aufnah-me eines Stoffes im Sinne einer Verwechs-lung, Täuschung oder eines Unfalles. Ein

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Großteil dieser Fälle verläuft meist „asym-ptomatisch“ oder nur „leicht“. Bei diesen Fällen ist es aus fachlicher Sicht nicht ge-rechtfertigt, von Vergiftungen zu spre-chen. Nach Erkenntnissen aus den letz-ten 10 Jahren gilt dies aber wahrscheinlich nicht für ältere und verwirrte Menschen. Hier könnte sich – anders als bei Kindern – ein bisher nicht erkanntes erhöhtes Un-fallrisiko abzeichnen.

2) Vergiftungsfälle mit schweren oder sogar irreversiblen Gesundheitsschäden sind glücklicherweise rar. Das gilt auch bei vielen Produkten oder Stoffen, die in den Medien immer wieder zu einer überzeich-neten Darstellung kommen (Pestizide, In-sektizide, Pflanzenschutzmittel, Quecksil-ber, Blei, Dioxin usw.). Bei den meisten Vergiftungsunfällen tritt eine vollständi-ge Heilung auf.

Nur mit einem regelmäßig publizier-ten nationalen Monitoring können das Expositions- und Vergiftungsgeschehen mit ihrem Ausmaß und Trend durch va-lide Zahlen und mit Fakten belegt wer-den. So ist es bisher unmöglich, schnell in Medien publizierte Zahlen über Tote und schwere Vergiftungen, z. B. durch Pestizi-de, mit Ergebnissen aus dem Vergiftungs-geschehen in Deutschland zu vergleichen.

Mit regelmäßig erscheinenden tabel-larischen und kommentierten Berichten könnte ein nationales Monitoring eine dif-ferenzierte Einschätzung des Vergiftungs-geschehens ermöglichen. Die BfR-Kom-mission „Bewertung von Vergiftungen“ hat einen Ausschuss eingerichtet, der die Grundlagen, die Zusammenarbeit und die Finanzierung eines regelmäßigen nationa-len Monitorings zum Vergiftungsgesche-hen in Deutschland erarbeiten soll. Einer der wichtigsten Grundpfeiler ist dabei die sachgerechte, sorgfältige und adäquate Dokumentation in den GIZ, die eine ent-sprechende Personalausstattung erfordert.

Standardisierungs- und Harmonisierungsergebnisse

Exposition, Schweregrad und Kausalität bei Vergiftungen

Die Exposition im Sinne eines nega-tiv schädigenden Prozesses, der Schwe-regrad des Krankheitsverlaufes und der kausale Zusammenhang müssen – wie

auch bei jeder anderen Krankheit – stets nach objektiven Kriterien beurteilt wer-den. Bei Noxen, deren besondere Giftig-keit allgemein bekannt ist, wie Zyankali, Arsen, Phosphorsäureester, sowie primär ätzenden Substanzen wie starken Säuren und Laugen usw., die zu schweren Ge-sundheitsschäden und Todesfällen füh-ren, stellt dies kein wesentliches Problem dar. Erfahrungen aus vielen Vergiftungs-fällen zeigen, dass eine „Giftigkeit“, d. h. der Schweregrad der Gesundheitsstörung, meist dosisabhängig ist. Das zeigt sich auch bei Stoffen und Zubereitungen des täglichen Bedarfs:

Speisesalz (ca. 1 Teelöffel bei Klein-kindern), aspirierte Lampenöle und Grillanzünder (ca. 1–2 ml bei Kleinkin-dern), Nüsse – insbesondere Erdnüsse als Fremdkörper (auch Bruchstücke bei Kleinkindern) – können zu schweren Ge-sundheitsstörungen führen. Selbst große Mengen Wasser (3–4 l bei Erwachsenen) können, wenn sie innerhalb sehr kurzer Zeit getrunken und vollständig resorbiert werden, schwere Gesundheitsstörungen mit Krämpfen und Bewusstlosigkeit ver-ursachen. Derartige kausale Zusammen-hänge sind auch in der (Fach)-Öffentlich-keit bisher nicht ausreichend bekannt, las-sen sich aber durch sorgfältig recherchier-te und bewertete Kasuistiken bzw. Fallse-rien eindeutig belegen [16]. Exposition, Schweregrad (der Gesundheitsstörung) und Kausalität werden nach eindeutigen international akzeptierten Kriterien be-wertet [19, 20].

Sehr viel schwieriger und nicht von einer eindeutigen Evidenz getragen ist die Bewertung bei den sog. „Umweltver-giftungen“, die in der Öffentlichkeit und in den Medien meist unkritisch – ohne Plausibilitätsüberlegungen – akzeptiert wird. Besonders chronischen Expositio-nen gegenüber Stoffen in niedriger Dosis wird meist ein großes Vergiftungspoten-zial zugeschrieben, wie z. B. den Dioxinen und Furanen, dem Pentachlorphenol, den polychlorierten Biphenylen und anderen Weichmachern. Vermeintliche Sympto-me bei Umweltvergiftungen müssen des-halb besonders sorgfältig von sehr häufig auftretenden, sog. Befindlichkeitsstörun-gen in der heutigen Leistungsgesellschaft abgegrenzt werden. Derartige Bewertun-gen können nur von Fachleuten auf der

Basis anerkannter Kriterien vorgenom-men werden.

Noxen und Art der Vergiftung

Noxen sollten nicht isoliert dargestellt werden, sondern in Form geeigneter Gruppen. Diese Gruppen haben entwe-der gemeinsame Eigenschaften, stellen ein gewisses Produktsortiment dar, unter-liegen einer gesetzlichen Definition oder haben ein natürliches Ordnungsprinzip. Mit den Ergebnissen von 2 Forschungs-vorhaben hat sich eine pragmatische Ka-tegorisierung durchgesetzt, die den not-wendigen Arbeitsaufwand begrenzt und die auch die Möglichkeit bietet, letztlich die Hersteller und Vertreiber in die Ka-tegorisierungsarbeit mit einzubinden. Als Grundlage für ein nationales Monitoring in Deutschland ist bereits eine Kategori-sierung erarbeitet worden, die eine Ein-teilung in den oberen Ebenen in 1) Be-darfsmittel, 2) chemische/physikochemi-sche Mittel, 3) Drogen (Rauschmittel), 4) Heilmittel, 5) Schutz- und Bekämpfungs-mittel gegen Mikroben und Schadorga-nismen, 6) Waffen und pyrotechnische Erzeugnisse und 7) natürliche Umwelt vornimmt [22].

Bei der Art der Vergiftung ist beson-ders zwischen den Begriffen „akute“ und „chronische Aufnahme“ eines Stoffes oder einer Noxe zu trennen. Eine aku-te Exposition ist eine einmalige Aufnah-me, eine chronische Exposition hingegen eine mehrfache Aufnahme, oft in unter-schiedlicher Höhe von meist geringsten Mengen über einen längeren Zeitraum. Im Gegensatz zur akuten Aufnahme ist die chronische Exposition in Bezug auf die aufgenommene Menge sehr schwierig zu quantifizieren. Ein Nachweis des auf-genommenen Stoffes ist nur in Ausnah-mefällen möglich. Bei der Ätiologie wer-den verschiedene Szenarien unterschie-den. Meist erfolgt die Exposition durch ein Unfallgeschehen. Unfälle können pri-vat oder gewerblich auftreten. Eine be-wusste und absichtliche Aufnahme von giftigen Substanzen geschieht bei Suizi-den (Selbsttötungen) und beim Abusus (Missbrauch). Ein wichtiger Aspekt sind unerwünschte Nebenwirkungen (adver-se-effects) bei bestimmungsgemäßem Gebrauch. Gerade in diesem Bereich, wie

642 | Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 6 · 2014

Leitthema

z. B. bei Medikamenten, kommt die wis-senschaftliche Aufarbeitung der auftre-tenden unerwünschten Wirkungen un-mittelbar der Verbesserung der Produkt-sicherheit zugute. Im Vergiftungsgesche-hen werden alle Symptome und Gesund-heitsstörungen, einschließlich Verätzun-gen, allergische Reaktionen, Sensibilisie-rungen und Aspiration von Fremdkör-pern, dokumentiert.

Ergebnisse: Zahlen für Deutschland

Da bisher keine ausreichenden harmoni-sierten und standardisierten Daten über das Vergiftungsgeschehen zur Verfügung stehen, können diesbezüglich bisher kei-ne flächendeckenden und systematischen Analysen erfolgen. Ausgewählte und spe-zielle Fragestellungen, wie z. B. nach dem Risiko der Gesundheitsgefährdung von Kleinkindern durch Lampenöle/Grill-anzünder, Salpetersäure-haltige Reini-ger, Imprägniersprays usw., waren bisher nur über arbeitsintensive Umfragen in den deutschen GIZ zu beantworten, die durch den derzeitigen knappen Personal-stand und die hohe Routine-Arbeitsbelas-tung nicht regelmäßig in adäquaten Zeit-räumen durchgeführt werden können.

Nachfolgend sind erstmalig für Deutschland zusammenhängende Zahlen zum Vergiftungsgeschehen auf Basis der bisher erreichten Standardisierung und Harmonisierung der Jahresberichte der deutschen GIZ und der Ärztlichen Mittei-

lungen bei Vergiftungen (§ 16e ChemG) zusammengestellt. Aufgrund der perso-nellen Kapazitäten, die in erster Linie auf die Giftberatung ausgelegt sind, ist der Stand der harmonisierten Erfassung, Ka-tegorisierung und Analysen für gemein-same Auswertungen zum Vergiftungsge-schehen in den Zentren noch uneinheit-lich und erfordert einen hohen Bearbei-tungs- und Nachbearbeitungsaufwand. Nur bestimmte Fragestellung können be-reits harmonisiert aus den Jahresberich-ten analysiert werden. Erfreulich ist, dass durch die intensive Zusammenarbeit der GIZ und des BfR-DocCenters seit 2005 ein erheblicher Fortschritt in der einheit-lichen Darstellung der Daten erzielt wer-den konnte.

Die nachfolgenden Auswertungen in Tabellen und Grafiken, die auf Basis der publizierten und aufbereiteten Zahlen einzelner Zentren erfolgen, zeigen aber schon jetzt exemplarisch die Möglichkei-ten und die Leistungsfähigkeit eines na-tionalen Monitorings zum Vergiftungsge-schehen in Deutschland auf. Welche der Institutionen zu den aggregierten Zahlen beigetragen haben, ist jeweils beschrieben. Statistische Abschätzungen bzw. Hoch-rechnungen können zurzeit noch nicht erfolgen und wurden lediglich an weni-gen Positionen in der . Tab. 1 vorgenom-men, um eine orientierende Auswertung über die Gesamtzahl der Beratungsfälle und der wirklichen Fälle mit Stoffkontakt (Humanexpositionen . Tab. 1) im Zeit-raum 2005 bis 2012 zu erhalten.

Beratungsfälle und Humanexpositionen bei Vergiftungen in Deutschland

Die 9 deutschen GIZ erhielten im Jahr 2012 im Rahmen ihrer täglichen Be-ratungstätigkeit zusammen rund 230.000 Anrufe. Zudem gehen im BfR pro Jahr etwa 4000 bis 5000 Vergif-tungsmeldungen gemäß § 16e ChemG ein (. Tab. 1). Die GIZ werden im Rah-men ihres 24-h-Beratungsdienstes zu al-len Situationen und Facetten des Vergif-tungsgeschehens angerufen und behan-deln z. T. Patienten auch direkt. Aus die-sem Grund wird bei der Dokumentation der Fälle notwendigerweise zwischen Be-ratungen und Humanexpositionen unter-schieden. Bei Humanexpositionen ist es möglicherweise oder wahrscheinlich bzw. nachweislich bei Personen zu einem Kontakt mit einem Stoff oder einer No-xe gekommen, während Beratungen auch rein präventive oder orientierende Anfra-gen ohne jegliche Exposition von Perso-nen beinhalten können. Diese Unter-scheidung muss bei den ärztlichen Mit-teilungen bei Vergiftungen nicht getrof-fen werden, da die Meldungen nach einer Behandlung und Feststellung von Vergif-tungen erfolgen. Diese Meldungen sind in ihrer Art und Form mit den Arztbe-richten aus Krankenhäusern vergleich-bar. Da die GIZ nicht für alle Jahre Daten zur Verfügung stellen konnten, wurden die „Leerstellen“ in der . Tab. 1 mittels Polynomanpassung („smooth.spline“-

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Tab. 1 Gesamtzahl der Beratungsfälle und Humanexpositionen gegenüber einem Stoff oder einer Noxe 2005–2012 [16, 17], alle 9 deutschen Giftinfor-mationszentren (GIZ) und Ärztliche Mitteilungen bei Vergiftungen § 16e (ChemG) (BfR-DocCenter)

Zentrum Beratungen Humanexpositionen

Jahre Jahre

2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012

Berlin GIZ 35.669 37.705 39.452 40.875 43.011 43.036 44.411a 45.380a 34.030 34.030 37.425 37.909 39.978 40.393 42.308a 43.741a

Bonn GIZ 27.954 27.238 27.760 28.183 30.300 30.063 33.165 32.328 23.227 22.187 22.439 23.596 25.655 24.819 27.660 26.722

Erfurt GIZ 18.208 18.127 19.567 19.804 20.726 21.013 20.583 21.774 15.102 15.065 16.154 16.028 16.841 17.061 16.883 18.233

Freiburg GIZ 19.538 20.223 20.511 21.189 22.128 22.041 21.879 22.232 18.046 18.010 18.178 18.573 19.442 19.197 19.638 19.963

Göttingen GIZ 30.554 30.353 32.039 31.281 34.851 35.871 35.446 36.364 27.952 27.086 28.867 27.656 30.318 31.423 31.154 32.422

Homburg GIZ 1420 1340 1239a 1183 1349 1404 1457 1446 1272 1193 1207a 1205a 1213 955 1330 1259

Mainz GIZ 25.546 26.014 30.801 30.841 31.918 30.977 32.444 34.620 23.349 23.871 26.113 28.415 29.296 28.584 27.514 29.237

München GIZ 31.685 33.023 34.321 31.661 31.340 33892 34.489 34.424a 29.878 29.633 27.323 29.940 29.015 31.506 31.134 31.878a

Nürnberg GIZ 1836 1616a

BfR-DocCenter 5082 4551 4093 4210 3493 3939 4008 4694

Summe 190.574 194.023 205.690 205.017 215.623 218.297 223.874 228.651 177.938 175.626 181.799 187.532 195.251 197.877 201.629 206.963aZahlen geschätzt (aus der Entwicklung der letzten 10 Jahre) mittels Polynomanpassung („smooth.spline“ Funktion im Software-Paket R, Version 2.15.0)

Funktion im Software-Paket R. Version 2.15.0) geschätzt. Mangels Daten konnte dies nicht für das GIZ Nürnberg erfolgen. Hier fehlen auch orientierende Zahlen zur Ermittlung der Humanexpositionen.

Zur Abschätzung der möglichen „Vergiftungsfälle“ (mit allen Noxen) in Deutschland liefert die jährliche Sum-me der Humanexpositionen in . Tab. 1 eine gute Maßzahl. Unter der Annahme, dass Humanexpositionen im GIZ Nürn-berg dem gleichen Prozentsatz unterlie-gen wie bei den 8 anderen Zentren (me-an = 88 %), kann dann für das Jahr 2012 eine Zahl von ca. 206.900 Humanexposi-tionen angenommen werden. Da es sich bei der Dokumentation von Vergiftun-gen um ein Spontanmeldesystem handelt, muss auch eine Dunkelziffer berücksich-tigt werden, deren Größenordnung auf-grund des gegenwärtigen Zahlenmate-rials wissenschaftlich nicht belegt werden kann. Versuche, z. B. in der BfR-Kom-mission „Bewertung von Vergiftungen“ mit Ergebnissen des Forschungsvorha-bens EVA [5], zu einer Abschätzung der Dunkelziffer für das Vergiftungsgesche-hen zu kommen, haben bisher zu keinen konkreten wissenschaftlichen Ergebnis-sen geführt. Nur einzelne produktbezoge-ne Abschätzungen, wie z. B. bei Lampe-nöl/Grillanzünder-Aspirationen, bei Fäl-len mit Salpetersäure-Ingestionen usw., könnten auf eine Dunkelziffer mit dem

Faktor 5 bis 10 hinweisen [10]. Diese Er-gebnisse dürfen jedoch nicht ohne weite-re wissenschaftliche Prüfungen auf das ge-samte Vergiftungsgeschehen in Deutsch-land übertragen werden.

Bisherige Erfahrungen zeigen, dass bei den GIZ die Gesamtzahl der doku-mentierten Humanexpositionen um et-wa 3–5 % pro Jahr steigt [17]. Die Grün-de hierfür sind bisher nicht ausreichend untersucht worden. Möglicherweise zeigt sich aber hier kein Anstieg von Vergif-tungsunfällen, vielmehr deutet vieles da-rauf hin, dass die kompetente ärztliche Leistung der GIZ immer mehr in An-spruch genommen wird und damit ein Teil der Fälle aus dem Bereich der Dun-kelziffer zur wissenschaftlichen Doku-mentation gebracht werden kann.

Die nachfolgenden Ergebnisse zur Humanexposition in Deutschland kön-nen aus daten- und arbeitstechnischen Gründen nur auf bestimmte Jahre bzw. auf Daten aus einzelnen deutschen GIZ und aus dem BfR-DocCenter bezogen werden. Das Datenmaterial ist insgesamt noch unvollständig, die Ergebnisse sollen aber in erster Linie als qualitative Orien-tierung dienen.

Toxikologische Gruppen

Einen Überblick über die toxikologischen Gruppen bei Humanexpositionen bezo-

gen auf das Jahr 2011 gibt die . Abb. 1. Hier wurden die Daten von 6 deutschen GIZ (Berlin, Bonn, Freiburg, Göttingen, Homburg, Mainz) und die Ärztlichen Mitteilungen bei Vergiftungen standardi-siert ausgewertet. Bezogen auf insgesamt 153.612 Humanexpositionen (. Tab. 1), bei denen die toxikologischen Gruppen ausgewertet werden konnten (ca. 76 % der geschätzten Gesamthumanexpositio-nen im Jahr 2011), stellt sich folgende Rei-henfolge dar:

An erster Stelle stehen Heilmittel mit 39 % (davon Arzneimittel human 99 %), dann folgen chemische/physikochemi-sche Mittel mit 26 % (davon Reinigungs-, Putz- und Pflegemittel 46 %). An dritter und vierter Stelle schließen sich Bedarfs-mittel mit 14 % (davon Kosmetika 40 %) und Pflanzen mit 10 % an. Schutz- und Bekämpfungsmittel gegen Mikroben und Schadorganismen machen 2 % aus, Tiere und Pilze jeweils 1 %.

Eindeutige Daten zur Auswertung über den Typ der Vergiftungen (akut, chronisch) konnten im Jahr 2011 nur in 2 GIZ (Mainz, Homburg) und bei den ärztlichen Mitteilungen bei Vergiftun-gen erhoben werden. Bei den insgesamt 33.538 Humanexpositionen, die für eine Auswertung zum Typ der Vergiftung zur Verfügung standen (ca. 17 % der insge-samt 203.245 Fälle), kann lediglich die Aussage getroffen werden, dass nach

644 | Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 6 · 2014

Leitthema

Schutz- und Bekämpfungsmittelgegen Mikroben und

Schadorganismen2%

Wa�en0%

Erzeugnisse - nicht klassi�ziert3%

P�anzen10%

Pilze1%

Unbekanntes2%

Tiere1%

Bedarfsmittel14%

Reste und Lasten der Zivilisation

1%

Natürliche Umwelt - Sonstiges0%

Chemische/physikochemischeMittel 26%

Drogen1%

Heilmittel39%

Abb. 1 9 Humanexposi-tionen gegenüber einem Stoff oder einer Noxe in Deutschland (toxikologi-sche Gruppen), Jahr 2011, Ergebnisse: 6 deutsche Gift-informationszentren (Ber-lin*, Bonn, Freiburg, Göt-tingen, Homburg, Mainz) und Ärztliche Mitteilun-gen bei Vergiftungen § 16e (ChemG) (BfR-DocCenter). (*Daten aus 2010)

allgemeiner bestätigter Erfahrung der Hauptanteil der Fälle am Vergiftungsge-schehen akute Fälle sind. Der Anteil der akuten Fälle liegt meist bei deutlich über 90 %, Anfragen zu chronischen Expositio-nen liegen bei unter 5 %.

Schweregrade der Gesundheitsstörung

Einen Überblick über die Schweregra-de der Gesundheitsstörung nach Hu-

manexposition für das Jahr 2011 gibt die . Abb.  2. Hier wurden die Daten von 5 GIZ und die ärztlichen Mitteilungen bei Vergiftungen standardisiert ausgewertet. Bezogen auf insgesamt 152.282 Human-expositionen (. Tab. 1), bei denen die Schweregrade ausgewertet wurden (ca. 75 % der geschätzten Gesamthumanex-positionen im Jahr 2011), stellt sich fol-gende Reihenfolge dar: Die meisten Fälle (44 %) verliefen asymptomatisch, in 30 % der Fälle traten nur leichte, in 6 % mittle-

re und in 2 % schwere Symptome auf. To-desfälle sind insgesamt selten (< 0,1 %).

Seit etwa 1980 gibt es in der BfR-Kom-mission „Bewertung von Vergiftungen“ Überlegungen, neben der Bewertung von Einzelstoffen oder Noxen auch Risiken innerhalb bestimmter Produktgruppen [11], wie z. B. bei ätzenden Reinigungs-mitteln, mit einer spezifischen Kennzahl oder einer entsprechenden toxikologisch bezogenen Ratio auszuwerten. Ein der-artiger systematischer Ansatz kann sich nur mit standardisierten Daten und gro-ßen Fallzahlen verwirklichen lassen. Ein „relatives Risiko“ lässt sich Schweregrad-bezogen über den Anteil von Fällen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Vergleich zur Gesamtzahl der Fälle mit Humanexpositionen beschreiben. Da die Aussagekraft einer derartigen relati-ven Risikobeschreibung wesentlich von der repräsentativen Gesamtzahl der Fälle bestimmt wird, wären die Daten aus den Humanexpositionen der Vergiftungsfäl-le in Deutschland eine gute und geeignete Datenbasis für eine systematische Risiko-schätzung. Eine auf den Menschen bezo-gene relative und von Tierversuchen un-abhängige toxikologische Risikobewer-tung könnte dann systematisch innerhalb bestimmter Produktgruppen oder No-xenkategorien folgendermaßen ausge-wertet werden:

Ein derartiger toxikologisch begründe-ter und standardisiert Schweregrad-be-zogener Risikofaktor (ToxRiskRatio), der dann für Typ, Art, Ätiologie der Vergif-tung usw. indiziert werden kann, wäre so-wohl für die Prävention (gesundheitspoli-tische Maßnahmen) wichtig als auch zur Verbesserung der Produktsicherheit bei Herstellern und Vertreibern (responsible care). Ein derartiges Instrument erscheint geeignet und notwendig. Es sollte frühzei-tig erprobt und sinnvoll über Korrektur-faktoren justiert werden, da z. B. Fälle mit mittlerer und schwerer Gesundheitsbe-einträchtigung (z. B. bei den Ärztlichen Mitteilungen bei Vergiftungen [9]) wahr-

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Relatives gesundheitliches Risikopro Produktgruppe

Anzahl F lle mittel schwerAnzahl F lle gesamt

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schwer2%

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asymptomatisch44%

leicht30%

mittel6%

unbekannt18%

Abb. 2 9 Humanex-positionen gegen-über einem Stoff oder einer Noxe in Deutsch-land (Schweregra-de), Jahr 2011, 5 deut-sche Giftinforma-tionszentren (Berlin*, Bonn, Freiburg, Göttin-gen, Mainz) und Ärzt-liche Mitteilungen bei Vergiftungen § 16e (ChemG) (BfR-DocCen-ter). (*Daten aus 2010)

akzidentell67%

Abusus4%

unbekannt3%

Arzneimittel-Nebenwirkung1%

iatrogen1%

Giftbeibringung0%gewerblich

4%

Umwelt<0,1%

Suizid20%

Abb. 3 8 Humanexpositionen gegenüber einem Stoff oder einer Noxe in Deutschland (Ätiologie Ge-samtüberblick), Jahr 2011, 7 deutsche Giftinformationszentren (Berlin*, Bonn, Freiburg, Göttingen, Homburg, Mainz, München) und Ärztliche Mitteilungen bei Vergiftungen § 16e (ChemG) (BfR-DocCen-ter). (*Daten aus 2010)

scheinlich öfter dokumentiert werden als Fälle mit leichter Gesundheitsstörung.

Ätiologie

Die Gesamtverteilung bei der Ätiologie (ursächlicher Grund) von Humanexposi-tionen für das Jahr 2011 zeigt die . Abb. 3. Hier konnten die Daten von 7 deutschen GIZ (Berlin, Bonn, Freiburg, Göttingen, Homburg, Mainz, München) und die Ärztlichen Mitteilungen bei Vergiftungen standardisiert ausgewertet werden. Bezo-gen auf die insgesamt 184.746 Humanex-positionen (. Tab. 1), bei denen eine Ätio-logie angegeben wurde (ca. 91 % der ge-schätzten Gesamthumanexpositionen), stellt sich folgende Reihenfolge dar: Ver-giftungsunfälle (akzidentelle Vergiftun-gen) verursachen den größten Anteil al-ler Intoxikationen (67 %). An zweiter Stel-le folgen mit 20 % die Suizide. Die miss-bräuchliche Verwendung (Abusus) von Stoffen und die gewerblichen Vergiftun-gen liegen mit jeweils 4 % an dritter Stel-le, unerwünschte Arzneimittelwirkungen (Nebenwirkungen) und Verwechslun-gen im Medizinbereich (iatrogene Ver-giftungen) werden in jeweils 1 % der Fäl-le dokumentiert. Zu den Giftbeibringun-gen und Gesundheitsbeeinträchtigungen aus dem Umweltbereich stehen aus den oben genannten 7 Zentren keine in aus-reichenden Daten zur Verfügung. Mit einer groben Schätzung kann aber ange-nommen werden, dass (Gift-)Beibringun-gen (ca. < 0,5 %) und Gesundheitsbeein-trächtigungen aus dem Umweltbereich (ca. < 0,1 %) nur einen sehr kleinen Teil der Humanexpositionen ausmachen.

Altersbezogene Auswertungen

Altersbezogene Auswertungen sind zum jetzigen Zeitpunkt nur punktuell und mit großem Aufwand möglich. Exemp-larisch zeigen die . Abb.  4 und 5 Daten aus dem GIZ Mainz aus dem Jahr 2011. Die Auswertung bezieht sich auf lediglich 27.514 Humanexpositionen (. Tab.  1) und damit nur auf ca. 14 % der geschätz-ten Gesamthumanexpositionen im Jahr 2011. Sie ist also nur eine grobe Orientie-rung. Deutlich wird aber in beiden Abbil-dungen die altersbezogene Ätiologie der Fälle. Kinder im Alter zwischen 1 und

2 Jahren sind mit Blick auf Vergiftungs-unfälle besonders gefährdet. Der Anteil von Suiziden bzw. von Abusus steigt ab dem Alter von 14 Jahren sehr stark an. Derartige Auswertungen liefern, beson-ders wenn sie jährlich flächendeckend durchgeführt werden können, sehr wich-tige Daten. Sie zeigen wesentliche Mög-lichkeiten der Intervention und Präven-tion auf, insbesondere da sie bis auf die Produktebene heruntergebrochen wer-den können. Welche Möglichkeiten aus-sagekräftige Basisdaten enthalten, zeigt exemplarisch die . Tab. 2, die in einem zukünftigen nationalen Monitoring jähr-lich erzeugt und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden könnte.

Eine derartige Tabelle kann derzeit nur exemplarisch erstellt werden. Für das Jahr 2011 wurden die Zahlen von den 2 deutschen GIZ Göttingen und Mainz und den Ärztlichen Mitteilungen bei Vergif-tungen zusammengestellt. Die Auswer-tung bezieht sich auf 62.676 Humanex-positionen (. Tab. 1) und damit nur auf ca. 31 % der geschätzten Gesamthuman-expositionen im Jahr 2011. Sie kann so-mit nur als Orientierung angesehen wer-den. Ein den Tabellen zugrunde liegen-des, bereits sehr differenziert ausgearbei-tetes Kategoriesystem (TKS: TDI-Katego-rie-System) lässt auch Auswertungen mit aussagekräftigen Subgruppen zu [21, 22]. Es wären damit prinzipiell bereits jetzt altersbezogene Auswertungen bis auf die Namenebene von Produkten mög-lich. Solche Auswertungen sind aber sehr arbeitsintensiv, sodass hierfür die perso-nellen Voraussetzungen geschaffen wer-den müssten.

Diskussion

Fundierte Aussagen über das Vergif-tungsgeschehen in Deutschland auf Basis der Beratungen in den GIZ und der Daten bei den Ärztlichen Mitteilungen bei Ver-giftungen sind nur dann möglich, wenn die Einzelfälle nach bewährten, wissen-schaftlich anerkannten Grundsätzen be-urteilt werden. Wie es die Arbeiten an den ersten flächendeckenden Auswertungen zum Vergiftungsgeschehen in Deutsch-land zeigen, sind die Möglichkeiten für systematische Auswertungen zum Teil schon gegeben.

Die Grundlagen zur Dokumenta-tion und zur EDV-gerechten Erfas-sung der Daten wurden in Deutschland in 2 Forschungsvorhaben des Bundes-ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (EVA [5], TDI [6]) erarbeitet. Basis hierfür waren auch die internationalen Definitionen der EAPCCT, des WHO IPCS-INTOX-Pro-gramms und des National Poison Data Systems (NPDS) der American Associa-tion of Poison Control Centers (AAPCC) [23]. Zusätzlich wurden auch die Krite-rien zur Erfassung von unerwünschten Wirkungen bei Medikamenten (UAW) des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und die Hin-weise zur gesundheitlichen Risikobewer-tung des BfR berücksichtigt.

Dieser bisher noch nicht abgeschlos-sene Prozess wird von Arbeitsgruppen der Gesellschaft für Klinische Toxikolo-gie e.V. (GfKT) [24], der Nationalen BfR-Kommission „Bewertung von Vergiftun-gen“ und in einem ständigen Austausch mit der EAPCCT bereits im europäischen Kontext fortgeführt.

Die bisherigen Ergebnisse können schon in Teilen für Dokumentationen, Jahresberichte und Publikationen ge-nutzt werden. Wesentliche Elemente sind dabei die Harmonisierung, Standardisie-rung und Kategorisierung der verant-wortlichen Ursachen (Noxen), der auf-genommenen Mengen (Exposition), der Unfallereignisse (Ätiologie), der Sympto-me, die im Zusammenhang mit der Ex-position auftreten, des Schweregrades der Erkrankung und – was besonders wich-tig ist – der wissenschaftlichen und stan-dardisierten Beurteilung des Kausalzu-sammenhangs zwischen Exposition und Symptomatik.

Die Beurteilung des Kausalzusam-menhangs stellt den Schlüssel für ein re-gelrechtes Monitoring des Vergiftungs-geschehens dar und erfordert die Quali-tät eines „Expert-Judgements“. In jedem Einzelfall ist zu prüfen, ob ein kausaler Zusammenhang zwischen einer nach-vollziehbaren Exposition und dem Auf-treten von zeitlich und räumlich zuzu-ordnenden Symptomen vorliegt. Zur Be-urteilung des Schweregrades der Vergif-tungserkrankung und des Kausalzusam-menhanges liegen mit dem „Poison Se-

646 | Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 6 · 2014

Leitthema

647Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 6 · 2014 |

Tab.

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verity Score“ [19] und dem „Three level and matrix modell“ [20] bereits interna-tional publizierte und anerkannte Vorge-hensweisen vor.

Die Beurteilung der stoffbezogenen Symptomatik, die oft schwer einzuschät-zen und sehr uncharakteristisch ist, setzt ein hohes Maß an fundierter praktisch-toxikologischer Erfahrung voraus, ins-besondere bei chronischen Expositionen. Für die Auswertungen werden die Fälle meist 3 eindeutigen Kategoriengruppen zugeordnet: 1) „kein Zusammenhang“, 2) „Zusammenhang vorhanden“ mit den Kriterien: a) „möglich“ (kann nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden), b) „wahrscheinlich“ oder c) „sicher“ und 3) „nicht beurteilbar“.

Wesentlich bei Fällen beim Menschen ist, dass diese – im Gegensatz zur Bewer-tung von Tierversuchen – im Sinne eines Risikos für das Auftreten von gesund-heitlichen Beeinträchtigungen ausgewer-tet werden. Theoretische Abschätzungen ausschließlich anhand der sog. inhärenten Toxizität sollten aus wissenschaftlichen Gründen nicht die alleinige Basis für eine toxikologische Stoffbewertung sein. Die inhärente Toxizität stellt die theoretisch innewohnende, maximal wirkende Toxi-zität dar, die in der Realität nur orientie-renden Charakter haben kann.

Im Vergiftungsgeschehen beim Men-schen wird aber die wirklich aufgetretene Wirkung der Noxen festgestellt. Die kli-nisch toxikologische Erfahrung zeigt im-

mer wieder, dass sich die inhärente To-xizität nicht im theoretischen Maße ent-faltet. Die bisherigen Bewertungen und Auswertungen zum Vergiftungsgesche-hen geben Hinweise darauf, dass es zum Teil erhebliche Unterschiede zu entspre-chenden Daten aus Tierversuchen gibt. Bei manchen Fallanalysen (z. B. bei Par-affinen, ätzenden Substanzen) stellt sich sogar die Frage, inwieweit die Daten aus Tierversuchen wirklich auf den Men-schen übertragbar sind [10]. Es ist offen-sichtlich nicht immer sinnvoll, tiertoxi-kologische Daten für eine Risikobewer-tung beim Menschen „hochzurechnen“. Hier würde ein regelmäßiges, systemati-sches und standardisiertes nationales Mo-nitoring des Vergiftungsgeschehens in Deutschland eine kontinuierliche wissen-schaftliche Datenbasis schaffen, die unter anderem Hinweise gibt auf 1) realistische toxische Risiken beim Menschen, 2) die wirklichen Unfallursachen, den Schwere-grad und den Verlauf von Vergiftungsfäl-len, 3) wirksame Ansätze für die Präven-tion und ihre Effektivität und 4) die rele-vanten unerwünschten Wirkungen (ad-verse effects) von chemischen Produkten, Medikamenten etc.

Fazit

Die vorstehenden Ergebnisse geben ers-te systematische Hinweise auf das Ver-giftungsgeschehen in Deutschland und weisen auf die Notwendigkeit eines flä-chendeckenden nationalen Monitorings hin. Mit der entsprechenden personellen Ausstattung ist es möglich, das Vergif-tungsgeschehen in Deutschland mit den bestehenden qualifizierten Institutionen – wie den GIZ und dem BfR-DocCenter – zu dokumentieren und die diesbezügli-chen Daten verfügbar zu machen.Die Grundlagen wurden – auch in inter-nationaler Hinsicht – in vielfacher Wei-se gelegt. Mit systematisch erzeugbaren standardisierten Daten wird es möglich sein, eine auf den Mensch bezogene toxi-kologische Risikobewertung (ToxRiscRa-tio) nach verschiedenen Gesichtspunkten bis auf die Ebene von Produktgruppen, prinzipiell sogar bis auf die Ebene der Re-zepturbestandteile durchzuführen. An-satzweise wurde dieses Verfahren be-

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LeitthemaA

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Abb. 5 8 Humanexpositionen gegenüber einem Stoff oder einer Noxe in Deutschland (Ätiologie Her-anwachsende, Erwachsene und Ältere), Jahresbericht 2011, Giftinformationszentrum Mainz

reits 2000 sehr erfolgreich zur Erstellung der ersten öffentlichen „Liste der Giftigen Pflanzen“ durchgeführt [25]. Diese Liste wird zurzeit auf Basis einer größeren Fall-zahl, meist bei Kindern, mit den Elemen-ten der standardisierten und harmoni-sierten Bewertung von Vergiftungsfällen validiert und wird, ebenso wie die ers-te Liste, zu weiteren wesentlich neuen Ri-siko-bezogenen Erkenntnissen über die Giftigkeit von Pflanzen beitragen.Voraussetzung für das Verfügbarma-chen regelmäßiger Zahlen, eine geeigne-te Früherkennung, gezielte Präventions-maßnahmen und wissenschaftliche Ant-worten wäre die Einrichtung eines stän-digen nationalen Monitorings zum Ver-giftungsgeschehen. Nur so kann aus kli-nisch toxikologischer Sicht das Vergif-tungsrisiko für den Menschen fortlau-fend sachgerecht bewertet, eine frühzei-tige Prävention begonnen und deren Ef-fekt beurteilt werden. Die Erkenntnis-se aus den Vergiftungsfällen beim Men-schen könnten unmittelbar zur Einlei-tung gesundheitspolitischer Präventi-ons- oder weitergehender Maßnahmen genutzt werden. Die technischen und datenverarbeitungsmäßigen Vorausset-zungen hierfür bestehen bereits, auch sind die konzeptionellen Arbeiten an den weitergehenden, auch international ver-einbarten Standardisierungen und Defi-nitionen weit vorangeschritten.In Deutschland gibt es eine weitgehen-de systematische Erfassung von un-erwünschten Nebenwirkungen von Arz-neimitteln (Pharmakovigilanz), jedoch keine flächendeckende systematische Erfassung und Bewertung der Vergif-tungsunfälle am Menschen (Toxikovigi-lanz). Jedoch besteht hierfür unter Pub-lic-Health-Aspekten ein dringender Be-darf. Der Ausschuss der BfR-Kommission „Bewertung von Vergiftungen“ hat für ein nationales Monitoring bereits Vor-schläge entwickelt, deren Umsetzung im Sinne einer nachhaltigen Verbundfinan-zierung diskutiert werden kann. Ein en-gagiertes Ziel ist es hier, einen jährlichen Report ähnlich dem des US-amerikani-schen Berichtes des National Poison Data System (NPDS) der American Association of Poison Control Centers (AAPCC) anzu-bieten [26].

Korrespondenzadresse

Dr. Dr. A. HahnDokumentations- und Bewertungsstelle für Vergiftungen, Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) Max-Dorn-Str. 8–10, 10589 [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt. A. Hahn, K. Begemann und A. Stürer geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

Literatur

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2. Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen (Chemikaliengesetz-ChemG). (2013) Chemika-liengesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3498, 3991). http://www.gesetze-im-internet.de/chemg/BJNR017180980.html

3. European Association of Poison Centres and Clini-cal Toxicologists (EAPCCT) http://www.eapcct.org/

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8. Fege A (2013) Analyse statistischer Daten von schwerwiegenden Kohlenmonoxid-Intoxikation mit und ohne Todesfolge in Deutschland seit 1998. Studienarbeit, Universität Leipzig

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10. Hahn A (2013) Regulatorisch-toxikologische Maß-nahmen zur Minimierung von Verbraucherrisiken in Deutschland und Europa am Beispiel von Lun-genschäden durch dünnflüssige Lampenöle auf Petroleum- und Paraffinbasis. Dissertation, Techni-sche Universität, Berlin

11. Christen HJ (1982) Zur Epidemiologie von Vergif-tungen im Kindesalter. Dissertation, Medizinische Hochschule, Lübeck

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