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A m 24. Januar 1945, nachmittags um 16 Uhr, trafen sich die führenden Generäle der in Ostpreußen kämp- fenden 4. Armee im Hauptquartier ihres Oberbefehlshabers, General Friedrich Hoßbach. Die Armeeführung sah sich in einer dramatischen Krisensituation, da die Einkesselung der gesamten Armee – fast ein halbe Million Soldaten – unmittelbar bevorstand. Sowjetische Verbände hatten die deutschen Verteidigungsstellen durch- brochen und stürmten unaufhaltsam Rich- tung Ostsee. Nur noch wenige Stunden, werden. Einen Tag später, am 25. Januar 1945, gab der Militärführer deshalb eigen- ständig den Befehl zum Rückzug. Hitler reagierte voller Wut. Er setzte Hoßbach und dessen Vorgesetzten, den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mit- te, Georg-Hans Reinhardt, ab. Der „Füh- rer“ gab der 4. Armee den Befehl, sich in Ostpreußen „einzuigeln“, die Stellung zu halten und bis zum „letzten Mann“ zu kämpfen. Aus diesem Konflikt unter Strategen sti- lisierte Hoßbach später ein Heldenstück – und Ostpreußen mitsamt seinen Bewoh- nern würde vom Reich abgeschnitten sein. Hoßbach eröffnete seinen Generälen einen geheimen Plan, von dem nicht ein- mal Hitler Kenntnis hatte: Die 4. Armee sollte sich mit dem Durchbruch nach Wes- ten der Einkesselung entziehen, Ost- preußen aufgegeben werden. Da Hitler den Rückzug hinter die Weichsel katego- risch abgelehnt hatte, entschied Hoßbach, auf eigene Faust zu handeln. Die „Schlag- kraft“ seiner Armee sollte für den weite- ren Kampf westlich der Weichsel erhalten FLÜCHTLINGE IM OSTEN, WEHRMACHTKOLONNE (1945): „Runter von der Straße“ TOD ZWISCHEN DEN FRONTEN Weil die Wehrmachtführung versagte, mussten Hunderttausende Ostflüchtlinge in den letzten Kriegswochen sterben. Generäle gaben dem Kampf um den „Endsieg“ Vorrang vor der Evakuierung der ostpreußischen Zivilbevölkerung. VERSAGEN DER WEHRMACHT

VERSAGEN DER WEHRMACHT TOD ZWISCHEN DEN FRONTENprussia.online/Data/Book/to/tod-zwischen-den...Nemmersdorf Die sowjetische Offensive und deutsche Gegenangriffe im Januar 1945 Frontverlauf

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  • V E R S A G E N D E R W E H R M A C H T

    TOD ZWISCHEN DEN FRONTENWeil die Wehrmachtführung versagte, mussten Hunderttausende Ostflüchtlingein den letzten Kriegswochen sterben. Generäle gaben dem Kampf um den „Endsieg“Vorrang vor der Evakuierung der ostpreußischen Zivilbevölkerung.

    Am 24. Januar 1945, nachmittags um16 Uhr, trafen sich die führendenGeneräle der in Ostpreußen kämp-fenden 4. Armee im Hauptquartier ihresOberbefehlshabers, General FriedrichHoßbach. Die Armeeführung sah sich ineiner dramatischen Krisensituation, da dieEinkesselung der gesamten Armee – fastein halbe Million Soldaten – unmittelbarbevorstand. Sowjetische Verbände hattendie deutschen Verteidigungsstellen durch-brochen und stürmten unaufhaltsam Rich-tung Ostsee. Nur noch wenige Stunden,

    FLÜCHTLINGE IM OSTEN, WEHRMACHTKOLONNE (194

    und Ostpreußen mitsamt seinen Bewoh-nern würde vom Reich abgeschnitten sein.

    Hoßbach eröffnete seinen Generäleneinen geheimen Plan, von dem nicht ein-mal Hitler Kenntnis hatte: Die 4. Armeesollte sich mit dem Durchbruch nach Wes-ten der Einkesselung entziehen, Ost-preußen aufgegeben werden. Da Hitlerden Rückzug hinter die Weichsel katego-risch abgelehnt hatte, entschied Hoßbach,auf eigene Faust zu handeln. Die „Schlag-kraft“ seiner Armee sollte für den weite-ren Kampf westlich der Weichsel erhalten

    5): „Runter von der Straße“

    werden. Einen Tag später, am 25. Januar1945, gab der Militärführer deshalb eigen-ständig den Befehl zum Rückzug.

    Hitler reagierte voller Wut. Er setzteHoßbach und dessen Vorgesetzten, denOberbefehlshaber der Heeresgruppe Mit-te, Georg-Hans Reinhardt, ab. Der „Füh-rer“ gab der 4. Armee den Befehl, sich inOstpreußen „einzuigeln“, die Stellung zuhalten und bis zum „letzten Mann“ zukämpfen.

    Aus diesem Konflikt unter Strategen sti-lisierte Hoßbach später ein Heldenstück –

  • KRIEGSHERR HITLER, GENERÄLE (1942)*: Schluss mit der Räumung

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    mit sich selbst in einer Hauptrolle. In sei-nen 1951 erschienenen Erinnerungen „DieSchlacht um Ostpreußen“ behauptete derEx-General, er habe zusammen mit seinenSoldaten auch die gesamte ostpreußischeBevölkerung vor der Vernichtung rettenwollen. Seine Absicht sei gewesen, die Zi-vilisten im Schutz der 4. Armee nach Wes-ten mitzunehmen. Allein Hitler habe diesverhindert.

    Seither gilt Hoßbach als Ausnahme-general, als einer der wenigen, die Hitlerbeim „Endkampf“ 1945 noch Paroli bo-ten, als derjenige, der in Ostpreußen Zivilbevölkerung und Soldaten vor derRache der Roten Armee hatte bewah-ren wollen.

    Bei der Niederschrift seiner Erinnerun-gen hatte der Autor wohl kaum damit ge-rechnet, dass die Notizen seiner Aus-führungen vor der Armeeführung denKrieg überstehen und den Weg in die Ar-chive finden würden. Genau dies abergeschah, und mit der Legende vom Hel-dengeneral ist es seither vorbei.

    Hoßbach hatte sich nämlich damals, am24. Januar 1945, ganz anders geäußert, alser später glauben machen wollte: „Die Zi-vilbevölkerung muss zurückbleiben“, no-tierte er. „Das klingt grausam, ist aber lei-

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    der nicht zu ändern.“ Er wolle, wie er fürseine Führung aufschrieb, die ostpreußi-sche Bevölkerung im Stich lassen, um dieKampfkraft der 4. Armee zu „retten“.Hoßbach ging sogar noch weiter: Da dieflüchtenden Menschenmassen den Durch-bruch nach Westen zu behindern drohten,befahl er, „die Trecks müssen von derStraße runter“.

    Hunderttausende Ostpreußen flüchte-ten zu diesem Zeitpunkt bei Minus-graden zwischen 20 und 30 Grad vor der Roten Armee, Tausende erfroren, die-jenigen, die von sowjetischen Soldateneingeholt wurden, wurden Opfer grau-samer Ausschreitungen, die Frauen vonMassenvergewaltigungen. Derweil ließ die Wehrmachtführung vor Ort die Trecks von den Hauptstraßen räumen und auf schlechte Neben-straßen umleiten, die häufigwegen der Schneeverwehun-gen unpassierbar waren.

    Hoßbach war nicht derEinzige, der so rücksichtslosvorging. Auch sein benach-barter Kollege, General Wal-ter Weiß, Chef der 2. Ar-mee, in dessen Front-abschnitt die Verbände derRoten Armee den weiträu-migen Durchbruch zur Ost-see erzwingen konnten, hat-te schon am 20. Januar denBefehl erteilt, die Trecks„von den Hauptstraßen zuschieben“.

    Ostpreußen war kein Einzelfall – überallan der Front im Osten des Reichs, wo zwi-schen Januar 1945 und Mai 1945 erbitter-te Kämpfe tobten, blieb das Überlebender ostdeutschen Bevölkerung immer denmilitärischen Belangen untergeordnet. DieWehrmachtführung zeigte sich eisern ent-schlossen, den Krieg ungeachtet der täg-

    * Links von Hitler (mit Pelzkragen) Heinz Guderian.

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    S P I E G E L S P E C

    lich in die Tausende gehenden Opfer an -Zivilisten und Soldaten auf dem Reichs-gebiet fortzuführen.

    Dennoch gelang es führenden Militärswie etwa Hitlers Generalstabschef HeinzGuderian, dem MarineoberbefehlshaberKarl Dönitz und Generälen wie Hoßbach,den Mythos aufzubauen, man habe denaussichtslosen Krieg 1945 auf dem eige-nen Territorium einzig und allein des-halb weitergeführt, weil man die ost-deutsche Bevölkerung vor der Rache der Roten Armee retten wollte. Alles wäre noch viel schlimmer geworden – sodas einmütige Rechtfertigungsmuster –hätten sie, die führenden Militärs, nichtverantwortungsvoll gehandelt. Schuld ander Katastrophe seien Hitler, der die Ost-front zu Gunsten der Ardennenoffensive

    im Westen geschwächt habe,und die Gauleiter, die dieRäumungsbefehle zu spätherausgegeben hätten.

    Belegt schien dies mit derDurchhaltestrategie von Gau-leitern wie Erich Koch (Ost-preußen), Albert Forster(Danzig-Westpreußen) oderKarl Hanke (Niederschle-sien), die nach Beginn dersowjetischen Winteroffensiveim Januar 1945 die Räu-mungsbefehle zurückgehal-ten hatten. Dies kann aberdie Wehrmachtführung nichtwirklich entlasten. Sie trugeine erhebliche Mitverant-

    wortung an der Katastrophe, die ab Ja-nuar 1945 über die ostdeutsche Bevölke-rung hereinbrach.

    Schon bei der Erstellung von Evakuie-rungsplänen im Herbst 1944 waren dieMilitärs – anders als später behauptet –keineswegs unbeteiligt. Gewiss, denGauleitern oblag die Organisierung vonEvakuierungsmaßnahmen, aber in dendafür eingesetzten Kommissionen saßen

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  • V E R S A G E N D E R W E H R M A C H T

    ZIVILISTEN BEIM BAU DES OSTWALLS (1944) indliches Bollwerk“

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    auch Vertreter der Wehrmachtstäbe vorOrt, die genau wussten, dass beim nächs-ten sowjetischen Großangriff, auf den sichdie Rote Armee über ein halbes Jahr vor-bereitet hatte, mit weiträumigen Durch-brüchen auf das östliche Reichsgebiet ge-rechnet werden musste.

    Nach den Gräueltaten von Rotarmistenim ostpreußischen Nemmersdorf im Ok-tober 1944 musste für die Zivilbevölkerungohnehin mit dem Schlimmsten gerechnetwerden. Dass dann in den Evakuierungs-plänen nur von der schrittweisen Räu-mung frontnaher Gebiete ausgegangenwurde, war ein leichtsinniges Vabanque-spiel sondergleichen.

    Auf der anderen Seite inszeniertenWehrmacht und Partei in der zweiten Jah-reshälfte 1944 im Osten einengigantischen Bluff. Hunderttau-sende Zivilisten wurden für denBau von Stellungen herangezo-gen, die von der Propaganda als„unüberwindliches Bollwerk“gegen die „bolschewistischeFlut aus dem Osten“ verbrämtwurden. Dabei wurde der mi-litärische Wert dieser Anlagenvon vielen – besonders von er-fahrenen Soldaten – in Fragegestellt: „Wenn schon der At-lantikwall nicht hält, wie erstdiese Erdwälle und Gräben“ –so der Kommentar eines Sol-daten, der sich im Januar 1945bewahrheiten sollte, als diesowjetischen Panzerdivisionenmühelos den „Ostwall“ durch-brachen.

    Als zwischen dem 12. und 15. Januar 1945 die Rote Armeezwischen Ostsee und Karpatenzum Angriff auf das Reichs-gebiet antrat, lösten derenweiträumige Vorstöße eine la-winenartige Fluchtbewegungder ostdeutschen Bevölkerungaus, die bis Ende Januar 1945auf etwa fünf Millionen Menschen an-schwoll. Wie wir aus vielen Erlebnisbe-richten wissen, sahen sich die Ostdeut-schen überall mit der gleichen Situationkonfrontiert: Sorgte zuerst der Durchzugvon Flüchtlingen für Unruhe, so wurde esschließlich durch den fluchtartigen Rück-zug von zerschlagenen Wehrmachtver-bänden, denen sich lokale Parteigrößenanschlossen, zur Gewissheit, dass die RoteArmee buchstäblich vor der Haustürstand.

    Die meisten entschieden sich zurFlucht. Dass die sich zu einer alle Dimen-sionen sprengenden Katastrophe ent-wickelte, schrieben viele Flüchtlinge demVersagen der Parteifunktionäre zu: Über-all wurden die Evakuierungsbefehle ent-weder zu spät oder aber überhaupt nichterteilt. Die Niederlage der Wehrmachtwurde dagegen eher als schicksalhaftes

    DEUTSCHE„Unüberw

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    Ereignis gegenüber einem weit überlege-nen Gegner wahrgenommen.

    Die Gauleiter in Ostdeutschland warenEnde Januar 1945 weitgehend entmach-tet. Die Rote Armee hatte große Teile derOstgaue erobert, Parteistellen und Behör-den hatten sich aufgelöst – und so warendie Gauleiter jetzt auf die Wehrmachtbe-fehlshaber angewiesen, die noch letzteReste ihres früheren Herrschaftsgebieteshielten. Nach dem Krieg wurde von denGenerälen gern behauptet, die Gauleiterhätten entgegen Forderungen der Wehr-macht weiträumige Evakuierungen ver-weigert, verschwiegen wurde aber, dassdie Militärs nur daran interessiert waren,frontnahe Gebiete in einer Tiefe bis zu 30Kilometer evakuieren zu lassen.

    Weiträumigere Evakuierungen warennämlich nicht erwünscht, da sie dann dierückwärtigen Nachschubwege der Wehr-macht zu behindern drohten. So kam esvor, dass etwa in Schlesien oder in Ost-preußen auf Drängen der Militärs Räu-mungsbefehle sogar hinausgezögert wor-den, weil die Beeinträchtigung militäri-scher Aktionen befürchtet wurde.

    Als sich in der zweiten Januarhälfte1945 das Ausmaß der Flüchtlingskatastro-phe abzeichnete, begann sich in der deut-schen Führung – Wehrmacht und Partei –die Auffassung durchzusetzen, dass mitder „Räumung Schluss gemacht werdenmuss“ – so etwa Goebbels in seinem Ta-gebuch. Flüchtlinge aus den von der Ro-ten Armee besetzten Gebieten solltennoch untergebracht werden; vorbeugendeEvakuierungen sollte es dann aber nichtmehr geben.

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    Am 28./29. Januar 1945 erging deshalbein Befehl des Chefs des Oberkommandosder Wehrmacht (OKW), Wilhelm Keitel,an die Spitzen von Armee und Partei, derfür die Zukunft „jede weitere Räumungs-oder Auflockerungsmaßnahme“ unter-sagte. Nur noch ein 30 Kilometer breiterFrontstreifen in Niederschlesien sollte eva-kuiert werden.

    SS-Führer Heinrich Himmler, frisch er-nannt als Oberbefehlshaber der Heeres-gruppe Weichsel, tönte: „Wir organisierendie Verteidigung und nicht das Davon-laufen.“ Rüstungsminister Albert Speerschien ganz dieser Meinung: Auf sein Be-treiben hin sollten Rüstungsbetriebe imOsten so lange weiterarbeiten, bis die Be-legschaft „durch den Feind herausge-schossen“ würde. Deshalb wurde in Ober-schlesien ein erheblicher Teil der Arbei-terschaft von der Roten Armee überrollt.

    In den folgenden Monaten ließen diesowjetischen Vorstöße in Pommern, Nie-derschlesien, Danzig und Ostpreußen dieFlüchtlingszahlen um weitere Millionenansteigen – und es wiederholte sich ge-nau das Gleiche wie im Januar 1945: Al-lein die Stoßrichtung der sowjetischenVorstöße bestimmte die Fluchtwege.Wenn noch Räumungsbefehle erteilt wur-den, dann kamen diese kurzfristig und da-mit oft zu spät. Da die deutsche Führungnicht bereit war, den Krieg und somit dasMassensterben im Osten zu beenden, po-tenzierte sich das Elend bis Mai 1945.

    An den großen Menschenverlusten un-ter der ostdeutschen Zivilbevölkerung hatten die katastrophalen Transportbe-dingungen einen erheblichen Anteil – seies, dass die Flüchtlinge wegen der unzu-reichenden Transportmittel unter denmörderischen Witterungsbedingungenums Leben kamen, sei es aber auch, dasssie nicht mehr rechtzeitig fliehen konntenund von der Front eingeholt wurden.

    Wie am Beispiel Ostpreußens gezeigt,hatte die Wehrmacht von Anfang an ih-re Transportprioritäten gegenüber denFlüchtlingen durchgesetzt. Wohl war aufBetreiben Martin Bormanns am 2. Februar1945 ein Befehl Hitlers an die Heeres-gruppen im Osten ergangen, dass der „ge-samte leer zurücklaufende Transportraum… zur Mitnahme von Flüchtlingen – inerster Linie von Frauen und Kindern –auszunutzen“ sei. Doch konnte von ei-nem planmäßigen Abtransport keine Redesein, da bei Wehrmachtfahrzeugen nursporadisch Leerraum zur Verfügung stand.Schon Mitte Februar wurde die Weisungmit der Begründung zurückgezogen, dassSoldaten auf diese Weise versuchen wür-den, sich vor der Front zu „drücken“.

    Die Wehrmacht ließ nicht nur die gutausgebauten Hauptstraßen für Treckssperren, sondern nahm auch die Eisen-bahnkapazitäten für sich in Beschlag. Sostand für die Menschenmassen, welchedie Bahnhöfe stürmten, viel zu wenig

  • MARINE-BEFEHLSHABER DÖNITZ, EVAKUIERTE AUF DER OSTSEE (MAI 1945): Rettung durch den Einsatz örtlicher Kommandeure

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    Transportraum zur Verfügung. Bezeugtist auch, dass Zivilisten zurückbleibenmussten, weil Soldaten die „letzten Züge“stürmten. Oft wurden Züge mit Flücht-lingen auf Nebengleisen abgestellt, wodiese in eisiger Kälte tagelang ausharrenmussten, weil militärische Transporte Vor-rang hatten. Es gibt zahlreiche erschüt-ternde Berichte, dass sich Frauen mitihren Kindern bei Eiseskälte zu Fuß aufden Weg machten – und dies oft genugnicht überlebt haben.

    Ungeachtet dessen konnte die Wehr-machtführung im März 1945 weiterhinihren alles dominierenden Anspruch auf Verkehrssystem und Transportmitteldurchsetzen. Speer, inzwischen von Hitlerauch mit der Leitung der Eisenbahn be-traut, gab in einem Befehl an führendeStellen im Reich bekannt, dass für alleTransporte „ausschließlich ihr unmittel-barer Wert für die Kriegführung“ aus-schlaggebend sei. Ausdrücklich hieß es,Flüchtlingstransporte erfolgen nur dann,wenn „wirklich ungenutzter Leerraum zurVerfügung steht“.

    Kein Ausweg für Flüchtlinge

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    Die sowjetische Offensive unddeutsche Gegenangriffeim Januar 1945

    Frontverlauf am 13. Januar Frontverlauf am 26. Januar Angriffe der sowjetischen TruDeutsche Gegenangriffe

    Im Kriegstagebuch des OKW steht hier-zu der lakonische Kommentar: „Es gibtpraktisch keine Flüchtlingszüge mehr.“Hauptvehikel für Millionen Ostdeutschewar und blieb deshalb die gefahrvolle undverlustreiche Flucht per Treck.

    Bis Januar 1945 hatte es keinerlei Plänegegeben, Zivilisten per Schiff über die Ost-see zu evakuieren. Das Problem wurdeschnell akut, als die ostpreußische Bevöl-kerung – bedingt durch die Abschnürungvom Reich – Ende Januar 1945 RichtungOstsee und über das Eis des Haffs und dieNehrung in den Danziger oder in den Kö-nigsberger Raum flüchtete. Der Abtrans-port von Flüchtlingen über die Ostsee warnun unausweichlich. Er wurde nach 1945als „größte Rettungsaktion“ der Ge-schichte gefeiert, für die der Marinechefund Nachfolger Hitlers, Großadmiral Wal-ter Dönitz, für sich persönlich die Urhe-berschaft beanspruchte.

    In dieses Bild passt allerdings nicht, dassDönitz und Hitler Ende Januar 1945 ver-einbart hatten, dass auch die Flüchtlings-transporte über See nur „insoweit durch-

    50 km

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    geführt werden können, als die Heran-führung von Kampftruppen … nicht dar-unter leidet“. Alles wurde getan, um denKampf der in den Kesseln von Kurland,Ostpreußen und Danzig auf Hitlers Be-fehl in aussichtsloser Position stehendenVerbände zu ermöglichen. Deshalb stau-ten sich in den Hafenstädten der östlichenOstsee Menschenmassen.

    So wurden aus Ostpreußen zwar Hun-derttausende mit Schiffen abtransportiert,allerdings nur in den Danziger Raum, wokaum Schiffe, geschweige denn Züge fürdie Weiterfahrt nach Westen zur Verfü-gung standen. Es wurden deshalb Trecksin Richtung Pommern zusammengestellt.Abertausende holte dann Anfang Märzdie Rote Armee in Pommern ein; einemTeil gelang es noch, in den Danziger Raumzurückzuflüchten, der jetzt vom Reich ab-geschnitten und zum militärischen Kesselgeworden war. Als die Rote Armee am 13.März den Großangriff auf den DanzigerKessel begann, erreichte die Katastropheihren Höhepunkt.

    Dokumente aus den Akten der im Dan-ziger Raum stehenden 2. Armee zeigenwie in einem Brennglas das Dilemma derostdeutschen Bevölkerung, die seit Januar1945 zwischen die Fronten von Roter Ar-mee und Wehrmacht geraten war. So heißtes in einem Besprechungsprotokoll beimStab der 2. Armee etwa: „Im Brückenkopfbefinden sich rund zwei Millionen Men-schen … Bedauerlicherweise wurde dieBevölkerung zuerst nach Westen und dannwieder nach Osten abtransportiert. DasElend ist teilweise unglaublich, weil dieBevölkerung von der sich absetzendenTruppe im Einvernehmen mit der Gaulei-tung rücksichtslos von der Straße gedrängtwerden muss und liegen bleibt.“

    Am 26. März 1945 schickte der Ober-befehlshaber der 2. Armee, Weiß, viel zuspät einen Hilferuf an Dönitz: „48000 Ver-wundete, zusammen mit Hunderttausen-den Zivilisten bei Tag und Nacht feind-lichem Artilleriefeuer und Bombenhagel

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  • ROTARMISTEN IM EROBERTEN KÖNIGSBERG: Häuserkämpfe „bis zum letzten Atemzug“

    EUR, VOLKSSTURM: Perfide Aktion

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    V E R S A G E N D E R W E H R M A C H T

    hilflos ausgeliefert. Schickt Schiffe, Aus-rüstung und Fahrzeuge!“ Dönitz gab sei-ne Antwort am 31. März, als er die Dring-lichkeitsstufen für die Verteilung der knap-pen Brennstoffvorräte für Schiffe festleg-te: Alle militärischen Bewegungen behiel-ten Vorrang, der Transport von Flüchtlin-gen kam an zweitletzter Stelle, geradenoch vor der Fischerei.

    Bei einer Festlegung auf andere Prio-ritäten hätten im Frühjahr 1945 wohl alleFlüchtlinge einschließlich der in den Kes-seln stehenden Soldaten über See evaku-iert werden können, doch war dies – ent-gegen der Rechtfertigung nach 1945 – nichtZiel der Kriegführung gewesen. Dass den-noch etwa 800000 bis 900000 Flüchtlingeund 350000 verwundete Soldaten in dieHäfen der westlichen Ostsee abtranspor-tiert wurden, war dem Einsatz der lokalenMarinestellen zu verdanken, die zum Teilim Widerspruch zur Befehlsgebung vonDönitz handelten.

    Beim „Endkampf 1945“ auf demReichsgebiet führten Hitler und Wehr-macht Krieg ohne Rücksichtnahme auf dieZivilbevölkerung. An keiner Stelle im Te-legrammverkehr oder bei den Bespre-chungen zwischen Führerhauptquartierund Frontstäben ist das nach 1945 so gernherangezogene Ar-gument zu finden,die Front sei zu hal-ten, um die Bevölke-rung in Sicherheit zubringen. Im Gegen-teil: Viele Befehlemachen deutlich,wie skrupellos dasmassenhafte Sterbenvon Zivilisten inKauf genommenwurde.

    WEHRMACHTINSTRUKT

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    So hieß es etwa im Oberkommandodes Heeres, dass Panzersperren bei Vorstößen sowjetischer Verbände zuschließen seien, da „vom Feind überhol-te Ziviltrecks ohnehin der Vernichtunganheim fielen“. Die Befehlsgebung fürden Fall, dass Trecks die Wehrmacht be-hinderten, war überall an der Ostfronteindeutig: „Trecks müssen von denStraßen runter.“

    Besonders perfide war, dass Feldjäger-und Polizeieinheiten die Trecks nach Män-nern zwischen 16 und 60 Jahren durch-suchten. Selbst an der Haffstraße in Ost-preußen, wo sich im Januar/Februar 1945grauenhafte Szenen abspielten und vieleFlüchtlinge umkamen, wurde noch eine„schärfste lückenlose Kontrolle der Zi-viltrecks“ durchgeführt. HalbwüchsigeJungen und ältere Männer wurden ausden Trecks herausgeholt und in Volks-sturmeinheiten „gepresst“.

    Wie skrupellos die Wehrmachtführungagierte, zeigt sich auch bei den „End-kämpfen“ in den von Hitler zu Festungenerklärten Städten. So ging Königsberg, wosich im April 1945 noch immer 70000 Zi-vilisten und 50000 Soldaten aufhielten, ineinem Inferno unter. Tausende kamen um.Der Befehlshaber, General Otto Lasch, ka-

    pitulierte allerdings erst, alsdie Rote Armee das gesamteStadtgebiet erobert hatte undvor dessen Bunker stand. Hit-ler, der wütend war, dassLasch nicht den „Ehrentod“gesucht hatte, ließ ihn in Ab-wesenheit zum Tode verur-teilen. Lasch kam das spätersogar noch zupass: umso wir-kungsvoller konnte er sich inseinen Memoiren als verant-wortungsbewussten Militärpräsentieren, der mit Rück-sicht auf die Leiden von Be-völkerung und Soldaten ka-pituliert und noch Schlimme-res verhindert habe.

    In Breslau, das von der Ro-ten Armee drei Monate langbelagert wurde, kapituliertedie dortige Militärführungerst am 6. Mai – als die Stadtzerstört und etwa 40 000 Zivilisten umgekommen wa-ren. Auch in anderen Städ-

    ten wie Elbing, Pillau, Danzig, Gotenha-fen/Gdingen oder Posen wurden Hun-derttausende grauenhaften Straßen- undHäuserkämpfen ausgesetzt, da die Wehr-machtführung alles daran setzte, HitlersGrundsatzbefehl zu exekutieren – denkompromisslosen Kampf bis zum „letztenAtemzug“.

    Stellten die Reste der zerschlagenenWehrmachtverbände den Kampf ein,nahm das Leiden der Zivilbevölkerungseinen Fortgang, weil sie den Rache- undVergewaltigungsexzessen von Sowjetsol-daten ausgesetzt wurden. Die Ausschrei-tungen der Roten Armee hatten ein rie-siges Ausmaß angenommen, dem diesowjetische Militärführung nur mühsamEinhalt gebieten konnte.

    Durch dieses Trauma, das Millionen Ost-deutsche noch Jahrzehnte quälte, wurdeverdrängt, dass sie auch unter eigenen Sol-daten zu leiden hatten: Bei sowjetischenDurchbrüchen flüchteten nicht nur die Be-völkerung, sondern auch die Wehrmacht-verbände, die oft die von den Straßen ge-drängten Trecks ihrem Schicksal überlie-ßen. Und es plünderten nicht nur Rotarmis-ten, sondern auch deutsche Soldaten – einMassenphänomen, wie viele erhaltene Be-schwerden, Berichte und Befehle zeigen.

    Schon im Herbst 1944 waren aus eva-kuierten frontnahen Gebieten zuhauf Kla-gen über Plünderungen gekommen. AbJanuar 1945 stiegen die Plünderungen ex-ponentiell an. Aufgefangene Soldatenrechtfertigten sich damit, dass diese ver-lassenen Gebiete ohnehin verloren seien– womit sie nicht einmal Unrecht hatten.

    Zahlreiche Disziplinierungsbefehle wa-ren die Folge: „Aus der Bevölkerung kom-men in steigendem Maße Klagen, dassHäuser, die von ihren Bewohnern verlas-sen wurden, durch deutsche Soldaten ge-

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  • „Das Elend ist unglaublich, weil die Bevölkerung von derTruppe rücksichtslos von der Straße gedrängt wird.“

    plündert und das Hab und Gut der armenMenschen gestohlen oder zerstört wurde… Wer plündert, ist unverzüglich zu er-schießen“ – so etwa Himmler in einemBefehl vom Februar 1945.

    Demgegenüber schildern Erlebnisbe-richte allerdings auch, dass Truppenan-gehörige in Eigeninitiative Flüchtlinge ver-pflegten oder mitnahmen, vielfach Hilfeleisteten und Leben retteten. Aufzeich-nungen von Soldaten sprechen von dem„herzzerreißenden Elend“ der Flüchtlin-ge und der Erfahrung von Ohnmacht,nicht genug Hilfe leisten zu können.

    Tatsächlich waren die Handlungsspiel-räume durch eine Befehlsgebung von obenbegrenzt, die letztlich auf Flüchtlinge kei-ne Rücksicht nahm, auch wenn die Wehr-macht Suppenküchen einrichtete und Ver-pflegung austeilte. In militärischen Kri-sensituationen wurde auf die Zivilistenkeine Rücksicht genommen.

    Die geradezu apokalyptischen Erfah-rungen bei den Endkämpfen im Ostenließen die Stimmung der Soldaten auf denNullpunkt herabsinken. Vielfache Berich-te über den „defätistischen Landsergeist“und der rapide anwachsende Durchhalte-terror der Wehrmachtführung gegenüberden Soldaten zeigen, dass die Masse derSoldaten längst nicht mehr an die End-siegparolen glaubte. Dennoch: Anders alsim Westen, wo Verbände die Waffen

    streckten, kämpften die Soldaten im Ostenverbissen weiter, aus Verzweiflung in einerals ausweglos empfundenen Lage, ausAngst vor der russischen Kriegsgefangen-schaft, der Rache vor der Roten Armee –und viele durchaus auch um die Fluchtder Ostdeutschen zu ermöglichen.

    Das Flüchtlingselend war tatsächlich –ganz im Sinne der eigenen Führung – fürviele Wehrmachtsoldaten ein zentraler Be-

    weggrund für die Kampfmotivation. Inder Propaganda und in den Aufrufen derOberbefehlshaber an ihre Truppen wurdeihnen schließlich auch permanent derGlaube eingeimpft, sie würden kämpfen,um die Bevölkerung vor den „bolsche-wistischen Bestien zu schützen“. Dass inden internen Befehlen die Zivilbevölke-rung als Störfaktor behandelt wurde,konnten sie nicht wissen.

    Hätte die Wehrmachtführung den Kriegim Osten – wie nach 1945 behauptet –tatsächlich geführt, um die Zivilbevölke-rung zu retten, dann hätte alles diesem

    Ziel untergeordnet werden müssen. Demwar aber nicht so: Es wurde nicht Krieggeführt, um Frauen und Kinder zu schüt-zen, sondern um Hitlers ideologische Hal-tebefehle durchzusetzen, den kompro-misslosen Kampf um „Sieg oder Unter-gang“, dem vom Führer anvisierten Un-tergang in „geschichtlicher Größe“.

    Im Falle einer frühzeitigen Kapitulationwäre es anfangs sicherlich ebenfalls zu Aus-schreitungen der Roten Armee gekommen,doch hätte die sowjetische Führung dieswohl bald unterbunden. Dafür spricht, dassab Februar 1945 Disziplinierungsbefehleerlassen wurden, weil die kämpfendenFrontverbände außer Kontrolle gerieten.

    Tatsächlich waren diese Ausschreitun-gen jedoch aus Sicht sowjetischer Militär-führer sogar kontraproduktiv: Nicht zu-letzt ihretwegen kämpften die deutschenVerbände verbissen weiter und ignoriertenalle Kapitulationsangebote. Immense Ver-lusten auf beiden Seiten waren die Folge.Nicht von ungefähr hatte das Ostheer beiden Endkämpfen die größten Verlustewährend des Krieges – zwischen Januarund Mai 1945 fast eine Million.

    In der gleichen Zeit starben Hundert-tausende aus der im Stich gelassenen ost-deutschen Zivilbevölkerung.

    Heinrich Schwendemann,Dozent am Historischen Seminar

    der Universität Freiburg