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Verschollen auf der Räuberinsel

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Helen Perkins Band 12

Verschollen auf der Räuberinsel von Helen Perkins

Hier entscheidet sich dein Leben, Lady Annabell!

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Es war ein sonniger und noch milder Spätsommertag im Jahre 1805 gewesen, der sich nun mit einem malerischen Sonnenuntergang ver­abschiedete. Beinahe südländisch flammte der Himmel in Rot und Gold über den altehrwürdigen Mauern von Montagiu-Hall nahe Winchester, etwa fünfundzwanzig Meilen von London entfernt.

Der Stammsitz der Herzöge von Montagiu-Harrington wurde im Jahre 1601 von Duke Edmund erbaut und von seinem Sohn erweitert und vollendet. Ein Spätwerk der elisabethanischen Zeit, beeindruckte das Schloss durch schlichte Eleganz, verschwenderischen Umgang mit Material und außergewöhnliche Weitläufigkeit in Stil und Größe. Man hatte seinerzeit Handwerker aus vielen Ländern beschäftigt; die Säulen in der Eingangshalle waren das Produkt griechischer Baumeister, ver­goldeter Stuck aus Venetien glänzte in der Bildergalerie und einen der großen Salons schmückten flämische Meister. Das Schloss wurde von einer ganzen Batterie Bediensteter bewirtschaftet, auch wenn es mitt­lerweile nur noch der verwitweten Duchess und ihrem erwachsenen Sohn als Wohnstätte diente. Doch für die Herzöge von Montagiu war es undenkbar, woanders zu leben, zumal man seit Generationen an die Annehmlichkeiten gewöhnt war, die ein solch privilegiertes Wohnen mit sich brachte. Die Schlossanlage stand auf mehreren hundert Hek­tar fruchtbarem Land, das sich in unmittelbarer Nähe des Gebäudes als gepflegter Mix aus uralten Baumriesen, gemischt bepflanzten Bee­ten und Wasserspielen verschiedenster Form präsentierte, um im wei­teren Umfeld in Weiden und landwirtschaftliche bewirtschaftete Felder überzugehen. Der Blick vom Schlosshof ging weit in das liebliche Land, das weder Zäune noch Mauern einschränkten. Durch geschickt ange­legte Höhenunterschiede zwischen den einzelnen Landschaftsteilen entstanden natürlich wirkende Barrieren, die Schafe auf der Weide und Pferde auf der Koppel hielten und den Park vor allzu aufdringlichen Wildschweinen schützten. Die Duchess war zudem passionierte Gar­tenfreundin und beschäftigte einen Stab von einem halben Dutzend Gardeners, die ihre Ideen und Wünsche aufs Feinste und Geschmack­vollste in die Tat umsetzten.

Was sich dieser Tage im Schlosspark abspielte, fand wohl kaum die Zustimmung derer, die fürs Wachsen und Gedeihen verantwortlich

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waren. Vorbereitungen für den ersten Ball der kommenden Saison wurden getroffen. Und Herzogin Elisabeth bezog dazu mit Vorliebe auch einen Teil des Parks ein. Zumal dann, wenn das Wetter mitspielte und noch so schöne, milde Tage brachten wie in diesem Jahr. Der ers­te Ball der Herbstsaison auf Montagiu-Hall war das Ereignis in der ge­hobenen Gesellschaft dieser Tage, alles, was Rang und Namen hatte, wurde eingeladen. Nicht dabei zu sein, glich eine Herabwürdigung, der nur schwer zu ertragen war.

Die Herzogin war wie stets mit kühler Aufmerksamkeit bei der Sa­che. Nichts entging dem strengen Blick der überaus eleganten Dame Ende der Fünfzig, die, von eher zierlicher Gestalt, doch unübersehbar das Sagen hatte. Ihre Zofe, Milisett Roberts, folgte der Duchess wie ein schmaler, dunkler Schatten. Neben den puderigen Roben, für die ihre Herrin von jeher ein Faible hatte, weil sie ihr blondes Haar vorteil­haft zur Geltung brachten, wirkte das strenge Schwarz, in das sich die Zofe zu hüllen pflegte, als starker Kontrast. Roberts, wie die Herzogin sie kurz nannte, war hager und stets von einer übertrieben wirkenden Blässe, die ihre dunklen Augen noch mehr betonte. Sie schüchterte mit ihrer Erscheinung vor allem die Dienstmädchen ein, doch hinter ihrer strengen Miene verbarg sich ein kluger und duldsamer Mensch, der zu dienen gelernt hatte. Sie vergötterte ihre schöne Herrin und sie war stolz darauf, mit ihr in die Jahre gekommen zu sein. Dass Elisabeth ihr oft auch die innersten Gedanken anvertraute, erfüllte sie zudem mit der Gewissheit, etwas Besonderes zu sein. Und dieses Wissen umgab sie gleichsam mit einer Aura von Unnahbarkeit. Ihre Worte hatten im Personalzimmer Gewicht, niemand wagte ihr zu widersprechen. Und sie hätte alles - tatsächlich alles - für ihre Herrin getan.

Die Herzogin begutachtete eben einen Blumenschmuck, der ihr nicht wirklich zusagte. Sie gab dem Dienstmädchen, das die Arrange­ments verteilte, entsprechende Weisung und sagte dann zu ihrer Zofe: »Roberts, begleiten Sie mich. Ich möchte noch einen kurzen Gang durch den Park machen, bevor es dunkel wird.«

»Sehr wohl, Mylady.« Die hagere Frau hielt sich stets einen Schritt hinter ihrer Brotherrin. Nur auf Spaziergängen war es ihr erlaubt, zur Schlossherrin aufzuschließen.

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Als man sich ein wenig vom Trubel der Festvorbereitungen ent­fernt hatte, sinnierte Elisabeth: »Ich frage mich, ob die Gästeliste tat­sächlich vollständig ist. Haben wir denn auch wirklich niemanden ver­gessen?«

Roberts lächelte angedeutet. »Ihr habt ein zu gutes Herz, Mylady. Alle von Rang und Namen sind geladen. Niemand wurde vergessen und kann sich vor den Kopf gestoßen fühlen.«

Die Herzogin steuerte den kleinen Buchsgarten an, der wie ein La­byrinth angelegt war. Zwischen mannshohen grünen ›Mauern‹ öffne­ten sich nach wenigen Metern ein versteckt liegender Platz, wo eine Bank an einem plätschernden Springbrunnen zum Verweilen einlud. Elisabeth setzte sich und hob angedeutet die Schultern. »Roberts, Sie überschätzen mich. Ich hatte nicht das Wohl und Wehe meiner Gäste im Sinn, es ging mir vielmehr um meinen Sohn. Sie wissen, dass einige junge Damen anwesend sein werden, die als geeignete Partie Geralds Bekanntschaft machen sollen. Nun überlege ich, ob auch tatsächlich keine von Englands Rosen übersehen wurde, die mir vielleicht als Schwiegertochter zupass kommen könnte. Die Auswahl ist schließlich nicht unbeschränkt.«

Die Zofe förderte einen Zettel aus dem Ärmelaufschlag ihres Klei­des und las einige Namen vor, die Elisabeth mit sichtlichem Wohl­wollen hörte. Vor ihrem geistigen Auge zogen schöne und auch etwas blasse Jungmädchengesichter vorbei und brachten sie schließlich zu dem Schluss, dass schon ›etwas Geeignetes‹ für den jungen Herzog dabei sein würde. Eine Weile betrachtete sie das Wasserspiel im Be­cken, einen goldenen Fisch, der eine kleine Fontäne in die Höhe spie. Die Wassertropfen wirkten im Licht der tief stehenden Sonne wie flüs­siges Gold.

»Roberts, Sie wissen um meine Sorgen«, begann sie dann leise zu sprechen. »Ich bin keine Glucke, die alles daran setzt, ihren Sohn zu verkuppeln. Gerald ist ein Mann mit Prinzipien und starkem Willen. Er ist durchaus in der Lage, sein Leben selbst mit fester Hand zu leiten. Doch er hat sich unglücklicherweise auf den gleichen Weg wie sein seliger Vater begeben. Die Politik ist ihm leider sehr viel mehr als ein Steckenpferd, das die Langeweile vertreiben soll. Er setzt sich ein, sagt

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im Oberhaus offen seine Meinung und hat, auch wenn man es kaum aussprechen mag, einen Hang, den König zu brüskieren. Seine offene Opposition gegen Ihre Majestät ist ebenso gefährlich wie beunruhi­gend.«

Die Zofe senkte den Blick. »Hoheit werden sich gewiss nicht un­nütz in Gefahr begeben.«

»Wohl kaum, dazu ist mein Sohn zu vernünftig. Doch die Zeiten sind unruhig. Und die Zeichen mehren sich, dass es nur von Vorteil sein kann, sich aus allem Politischen heraus zu halten.«

»Ihr glaubt, nach seiner Vermählung wird Hoheit die Politik aufge­ben und als Herr von Montagiu zufrieden leben können?« Die Skepsis, die deutlich aus der Stimme der Bediensteten sprach, war der Her­zogin nur zu vertraut. Sie ahnte selbst, dass Gerald viel zu dickköpfig war, um sich aus allem zurückzuziehen und nur noch nach eigenem Gusto zu leben. Bereits sein Vater hatte sich stets einmischen müssen, witterte er irgendwo Ungerechtigkeit oder Fehlwirtschaft. Er hatte sich so lange mit dem König angelegt, bis er, seiner Ämter enthoben, ver­bittert und isoliert einem Herzleiden erlegen war. Elisabeth hatte sei­nerzeit alles versucht, um ihrem Mann neuen Lebensmut zu spenden. Doch es war ihr nicht gelungen. Der alte Herzog sah seine Lebensauf­gabe als gescheitert an und das hatte ihm im wahrsten Sinne des Wor­tes das Herz gebrochen.

Nun, da es um Gerald ging, ihren einzigen Sohn, wollte die Du­chess dies nicht noch einmal mitmachen. Sie sah keinen Sinn darin, sich für die Politik zu opfern, die so unwägbar war wie das Wetter im April und es einem nur mit Kummer und Sorgen lohnte, wenn man sich ihr zu intensiv widmete. Deshalb war Elisabeth of Montagiu auch fest entschlossen, ihren Sohn von diesem, wie sie meinte, falschen Weg abzubringen.

»Gerald weiß, dass er heiraten muss, es ist an der Zeit«, erklärte sie nun entschieden. »Und ich habe die vage Hoffnung, dass er sich nach seiner Vermählung für eine Weile unseren Besitzungen in Über­see widmen wird. Als Kolonialherr wäre er aus dem Schussfeld der Kö­nigstreuen und ich wüsste zumindest, dass ihm keine unmittelbare Gefahr droht.«

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Die Zofe nickte. »Das klingt sehr vernünftig, Mylady.« »Nun ja, mag sein. Doch es liegt jetzt an Gerald, wie er auf dieses

Ansinnen reagiert. Ich fürchte, ohne zwingenden Grund wird er Eng­land nicht verlassen wollen. Deshalb muss meine zukünftige Schwie­gertochter auf diesem Gebiet mit mir konform gehen. Erst wenn mein Sohn England verlassen hat, werde ich diese nagende Sorge, die mein Herz sehr beschwert, abschütteln können.« Sie warf einen Blick in die Runde, mittlerweile war die Sonne hinter dem Horizont versunken, die Buchshecken wirkten im grauen Abendlicht wie dunkle Mauern, bedrü­ckend und unfreundlich. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass der Duchess das Herz wieder einmal vor Sorge schwer war.

»Kommen Sie, Roberts, gehen wir zurück zum Haus. Bis morgen ist noch vieles zu arrangieren. Und ich hoffe, mein Sohn kommt bald aus London zurück.«

»Hoheit wird doch an dem Ball teilnehmen, nicht wahr?«, erkun­digte die Zofe sich, unsicher geworden. »Es wäre ja nicht das erste Mal, dass eine Debatte länger dauert als erwartet...«

Doch die Duchess lächelte viel sagend. »Gerald weiß, wie wichtig dieser Ball ist. Er wird ihn nicht versäumen, ganz gewiss nicht.«

Wie zur Bestätigung ihrer Worte näherte sich ihnen nun ein Diener und ließ die Herzogin wissen, dass ihr Sohn eben heimgekommen sei.

»Na sehen Sie, Roberts, auf Gerald ist Verlass«, schmunzelte sie zufrieden. »Ich werde ihn gleich begrüßen und noch einmal an seine Pflichten als Gastgeber erinnern...«

*

Gerald Duke of Montagiu war nicht eben bester Dinge, als er im Sturmschritt die Freitreppe nahm und gleich darauf die Schlosshalle betrat. Sofort fielen ihm die festlichen Dekorationen auf, die überall dezent platziert waren und sein markantes Gesicht verschloss sich noch mehr. Auch das noch, der Ball! Daran hatte der junge Herzog gar nicht mehr gedacht. Nun bereute er, nicht noch länger im Parlament geblieben zu sein. Einige Lords hatten noch heftig debattiert, doch es war lediglich um die Erhöhung der Luxussteuer gegangen und um die

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Frage, ob der König weiterhin von den Zahlungen ausgenommen blei­ben sollte. Auch wenn Gerald sich sonst keine Gelegenheit entgehen ließ, gegen Georg III zu opponieren, erschien ihm dieses Thema doch ein wenig fad. Im Vergleich zu dem ›drohenden‹ gesellschaftlichen Ereignis auf Montagiu-Hall war die Debatte andererseits wieder über­aus erstrebenswert...

Noch bevor der junge Hochadlige die Treppe zum ersten Stock nehmen konnte, erschien seine Mutter in Begleitung von Milisett Ro­berts. Sie lächelte erfreut und begrüßte ihn aufs herzlichste. Gerald erwiderte die Begrüßung nur pflichtschuldig, ebenso wie er der Du­chess dann in den Ballsaal folgte, um das Ergebnis der Vorbereitungen auf den morgigen Abend gebührend zu bewundern. Der junge Herzog war eine attraktive Erscheinung, groß und von kraftvoller, sportlicher Statur. Sein dunkles dichtes Haar umrahmte ein Antlitz von edler Männlichkeit, dem man die lange Ahnenreihe deutlich ansah. Beson­ders markant war das sehr maskuline Kinn, das einen anziehenden Kontrast zu den schmalen, aber sinnlichen Lippen darstellte. Die nach­denklichen und klugen grauen Augen aber zogen jeden sofort in sei­nen Bann. Sie vermochten ebenso zu zwingen wie zu bezaubern. An diesem Abend waren sie allerdings eher missmutig in die Welt gerich­tet.

»Es ist alles sehr schön gelungen, wie jedes Jahr«, versicherte er seiner Mutter nach einer Weile, allerdings auf eine Art, die weder über­zeugte noch überhaupt Interesse zeigte. Die Duchess bedachte ihren Sohn mit einem tadelnden Blick.

»Ich weiß, du hast den Kopf voll von Politik, willst die Welt verbes­sern, wenn nicht sogar retten«, spöttelte sie gutartig. »Aber der Ball zur Eröffnung der Herbstsaison ist für die gesamte gehobene Gesell­schaft dieses Landes ein besonderes Ereignis. Es wäre schön, könntest du nur einen Bruchteil der Begeisterung dafür aufbringen, die dir tro­ckene Debatten im Oberhaus entlocken. Mein lieber Junge, bei allem Verständnis, aber übers Wochenende möchte ich kein Wort mehr von Politik hören. Du wirst tanzen, dich amüsieren und du wirst mir nicht verheimlichen, sollte dein Herz beim Anblick einer der jungen Damen

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aus dem Takt geraten. Wir verstehen uns?« Sie lächelte ihm so un­nachahmlich nonchalant zu, dass er die Waffen streckte.

»Also schön, liebe Mama, ich will mein Bestes tun, mich zu amü­sieren«, versprach er mit einem Lächeln, das trotzdem noch immer ein wenig gequält ausfiel.

»Und was gibt es Neues aus London?«, fragte die Herzogin ihren Sohn beim gemeinsamen Dinner. »Ich hoffe, die Lage entspannt sich ein wenig. Der König sollte Ruhe geben und sich den schönen Dingen des Lebens widmen.«

Gerald lächelte schmal. »Ich fürchte, er sieht das anders. Gerüch­te besagen, dass er durch Bestechung weitere Abtrünnige hinter sich geschart hat, um seine Handlungsfreiheit nicht zu verlieren. Das Par­lament scheint für ihn nichts weiter als ein Puppentheater zu sein, in dem er nach Belieben an den Fäden zieht. Es ist eine Schande!«

Elisabeth hatte ihrem Sohn mit besorgter Miene zugehört, nun fragte sie nach: »Aber es gibt doch noch eine genügend große Gruppe Aufrechter, die sich nicht korrumpieren lässt, oder?«

Der Duke lachte verächtlich auf. »Pitt versucht, eine Opposition aufzubauen, doch ihm werden ständig Steine in den Weg gelegt. Män­ner, die sich nicht beirren lassen, sind rar. Und wer etwas auf seine Gesinnung hält, gerät zudem rasch in Gefahr. Erst vor wenigen Tagen ist Lord Cheltenham vor aller Augen verhaftet worden. Es heißt, er hat mit einem Schauprozess zu rechnen. Und jedem ist wohl klar, dass das Urteil bereits gefällt ist. Eine Schande!«

Die offenen Worte ihres Sohnes alarmierten Elisabeth. Wie es schien, waren ihre Sorgen um Gerald durchaus berechtigt. »Ich möch­te dich um etwas bitten, mein Junge«, sagte sie beim Dessert zögernd. »Du weißt, ich habe schon deinen Vater an die Politik verloren. Bitte, Gerald, sei vernünftig und wäge ab, bevor du dich ebenfalls in eine ausweglose Lage bringst.« Sie merkte, dass er widersprechen wollte und fügte entschieden hinzu: »Dies geschieht, wie du mir gerade er­zählt hast, schneller als gedacht. Du darfst nicht vergessen, dass du der Erbe des Titels und aller Besitztümer bist, die unsere Familie seit Jahrhunderten zu einer der ersten des Landes machen. Dies bedeutet Verantwortung. Ich habe gehofft, dass du dir durch Geburt und Erzie­

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hung stets dieser Verantwortung bewusst sein würdest. Doch begibst du dich für eine Sache in Gefahr, die nicht einmal die deine ist, so kann davon wohl kaum noch die Rede sein...«

Der Duke hatte seiner Mutter mit wachsendem Unmut zugehört, nun fühlte er sich bemüßigt, klarzustellen: »Es ist meine Sache, unser aller Sache, für die ich einstehe. Sollen wir das Land vielleicht einem Despoten überlassen, damit er nach Gutdünken schalten und walten kann, wie es ihm in den Sinn kommt? Verzeiht, Mama, aber das ist mir ein widerlicher Gedanke, den ich mit ganzer Kraft zu bekämpfen su­che!«

»Ich verstehe deine Beweggründe, Gerald«, gestand sie ihm dar­aufhin zu. »Aber es geht hier auch um höhere Interessen. Könige kommen und gehen, das Empire wird bleiben. Aber mit dir stirbt unser Name aus. Und das kann ich nicht hinnehmen!« Sie tupfte sich ver­schämt mit einem Spitzentuch über die Augen. »Dass ich deinen Vater so weit vor der Zeit hergeben musste, nagt noch immer an meinem Herzen. Erst wenn ich weiß, dass die Erbfolge gesichert ist, werde ich meinen Seelenfrieden wieder finden.«

»Also schön, ich möchte nicht, dass du leidest, liebste Mama«, versicherte der junge Mann nun besonnen. »Ich verspreche dir, keine unnötigen Risiken einzugehen und gut auf mich aufzupassen. Bist du nun zufrieden?«

Sie seufzte leise. »Ach, mein lieber Junge, ich wünschte, das Le­ben würde uns ein wenig mehr Freiheit lassen. Doch es ist leider nicht so. Wir stehen an dem Platz, der uns zugewiesen ist und dürfen nie­mals pflichtvergessen sein.«

»Ich weiß, liebe Mama, ich weiß.« Gerald lächelte angedeutet. »Du sollst dich nicht sorgen, es wird sich schon alles so fügen wie es uns vom Schicksal bestimmt ist.«

»Das kann ich nur hoffen«, kam es leise von der Duchess. Doch ein gewisser Zweifel blieb und nagte weiter an ihrem liebenden Mut­terherzen...

*

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Der Abend des Balls wischte alle trüben Gedanken fort. Bereits am späten Nachmittag erschienen die ersten Kutschen, eine lange Reihe von dunklen Gefährten, die meisten mit Wappen hochadliger Familien verziert, fand sich vor dem Stammsitz der Herzöge von Montagiu ein. Vornehme Herren im dunklen Abendanzug, schöne Damen in edlen Roben am Arm, schritten den Parcours durch die Halle und wurden allesamt mit freundlicher Zurückhaltung von Herzogin Elisabeth und ihrem Sohn begrüßt. Die Gastgeberin bestach in einer zartrosa Robe aus feinster Seide und Spitze, wozu sie überaus dezente Brillanten in einer ungewöhnlichen Farbe trug, die der des Kleides sehr nahe kam. Zierlich und hochelegant stand sie neben dem jungen Herzog, der auch im Abendstaat die beste Figur von allen anwesenden Herren machte. Manch schmachtender Blick aus hellen Mädchenaugen begeg­nete ihm bereits bei der Begrüßung der Gäste. Und später, nachdem Gerald nach alter Tradition mit seiner Mutter den Ball eröffnet hatte, wechselten die jungen Damen sich in den Armen des Duke in eifer­süchtiger Folge ab. Gerald genoss das luftleichte Spiel, es lenkte seine sonst so ernsten Gedanken in unbeschwerte Sphären und sorgte da­für, dass er die Ballnacht tatsächlich genoss.

Eines aber geschah nicht: Keines der schönen Mädchen weckte sein Interesse oder berührte sein Gefühl. Sie alle waren hübsch und wohl erzogen, doch auf eine kaum erträgliche Weise oberflächlich. Das war jedenfalls die Meinung des jungen Mannes, die er allerdings wohlweislich für sich behielt.

Als das Orchester eine Pause einlegte, traf Gerald mit einem Be­kannten zusammen, der ihn sogleich in ein angeregtes Gespräch ver­wickelte. Die Duchess registrierte es mit leiser Verärgerung.

Zunächst beobachtete sie nur, doch als die Musik wieder einsetzte und Gerald keine Anstalten machte, sich erneut ins Getümmel zu stür­zen, hielt sie es für geboten, einzugreifen.

»Mein lieber Junge, ich möchte dich gerne einer jungen Dame vorstellen«, sagte sie freundlich, aber bestimmt und hängte sich an den Arm ihres Sohnes, der ihr notgedrungen folgte. Allerdings war er sehr unwirsch.

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»Ich habe mich gerade überaus angeregt unterhalten«, erklärte er nachdrücklich. »Bitte, Mama, ich bin überzeugt, dass ich bereits mit allen anwesenden Damen getanzt habe...«

Elisabeth bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Du erinnerst dich offensichtlich nicht an dein Versprechen. Keine Politik an diesem Abend. Oder willst du mir etwa erzählen, dass du dich mit dem jungen Atwell über Botanik unterhalten hast?« Ihr Blick hielt den seinen noch immer fest, bis Gerald schließlich unwillig nachgab.

»Ich finde schon eine junge Dame, die darauf brennt, mit mir zu tanzen. Bitte bemühe dich nicht, Mama«, murmelte er ungehalten und steuerte auf eine Gruppe von Mädchen zu, die ihn alle beinahe an­dächtig musterten. Die Herzogin war zufrieden. Manchmal musste man dem Glück eben etwas nachhelfen...

In diesem Fall entpuppte sich die strenge Ermahnung jedoch als fruchtlos, denn Gerald tanzte zwar bis zum Morgengrauen, ließ am nächsten Tag aber kein Wort über die anwesenden jungen Damen fal­len. Selbst die gut gemeinsten goldenen Brücken, die seine Mutter ihm baute, blieben unbenutzt. Gerald zeigte sich unausgeschlafen und schlechter Laune und die Herzogin musste einsehen, dass ihre Pläne sich wohl doch nicht so rasch umsetzen ließen, wie sie im Stillen ge­hofft hatte...

*

»Lissy, wohin hast du die Kiste mit den Aufzeichnungen gestellt? Ich wollte sie heute durchsehen.« Lady Annabell Forsyth bedachte ihre Zofe mit einem strengen Blick. Lissy Podewell besaß einen wun­derbaren Geschmack, was Mode und Frisuren betraf, sie schaffte es stets, ihre Herrin im vorteilhaftesten Licht erscheinen zu lassen. Doch ein Sinn für Ordnung ging ihr völlig ab. Die kleine Brünette eilte nun herbei und machte ein ratloses Gesicht. »Das verstehe ich nicht, Myla­dy. Ich habe sie doch gestern vor den Sekretär gestellt...«

»Nun, wenn du sie hierher getan hast, wo ist sie dann? Sicher sind ihr über Nacht keine Beine gewachsen und sie ist auf und davon.« Lady Annabell seufzte leise und bekümmert. Es war nicht leicht für sie,

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den Nachlass ihres erst kürzlich verstorbenen Gatten zu ordnen. Viele Erinnerungen verbanden sich damit. Und die Traurigkeit beherrschte das Herz der jungen Lady. Doch es musste sein, schließlich ging ihr Leben weiter, wie man so schön sagte. Während Lissy sich noch Ge­danken über den Verbleib der Kiste mit den Aufzeichnungen von Sir Walter Forsyths letzter Forschungsreise nach Indien machte, trat die junge Lady ans Fenster des kleinen Salons und blickte nach draußen. Es war ein nebliger Herbstmorgen, der kleine Park gegenüber der Wohnung im vornehmen Londoner Stadtteil Mayfair schimmerte in den Farben der dritten Jahreszeit. Annabell dachte kurz an den Frühling zurück und wieder erfüllte Traurigkeit ihr Herz. Vor wenigen Monaten noch war Walter zu einer Reise aufgebrochen, die ihm neue Impulse und Aufschlüsse in seiner Forschungsarbeit hatte bringen sollen. Der anerkannte Altertumsforscher, der sich auf die frühen Wurzeln der altindischen Kultur spezialisiert hatte, war eine geachtete Kapazität gewesen. Seinen Lehrstuhl an der Universität von Oxford hatte er vor Jahren zugunsten privater Forschung aufgegeben. In Oxford hatte Sir Walter Annabell kennen gelernt, die dort in der Bibliothek beschäftigt gewesen war. Das junge Mädchen - gut dreißig Jahre jünger als der Wissenschaftler - war seinem Vater zur Hand gegangen, der als Biblio­thekar tätig war. Annabell war klug und wissbegierig, aber sie stamm­te aus einfachen Verhältnissen. Und eine universitäre Ausbildung war Frauen Anfang des neunzehnten Jahrhunderts noch längst nicht zu­gänglich. So hatte sie sich darauf beschränkt, auszuhelfen, wenn dem Vater die Arbeit in Stoßzeiten über den Kopf wuchs und heimlich für sich zu lesen und zu studieren, was sie so sehr interessierte. Der Pro­fessor war vom ersten Moment an von ihr fasziniert gewesen, von ih­rer Anmut und Schönheit, ihrer unkomplizierten Fröhlichkeit und dem ernsten, andächtigen Ausdruck ihrer seelenvollen Augen, wenn sie ihm lauschte, wie er von seiner Forschung sprach. Aus dem ungleichen Paar waren Liebende geworden und entgegen allen Regeln und Stan­desdünkeln hatte Sir Walter aus Annabell eine Lady und seine an­getraute Ehefrau gemacht. Nur wenige Jahre sollte ihr Glück dauern. Auch wenn der große Altersunterschied sie einander zunehmend ent­fremdet hatte und es schließlich dazu gekommen war, dass jeder sein

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eigenes Leben lebte; die Liebe zur Forschung hatte sie bis zuletzt ver­eint.

Heute machte Lady Annabell sich Vorwürfe, weil sie ihren Mann nicht auf seine letzte Forschungsreise begleitet hatte. Doch er hatte davon nichts wissen wollen, fand tausend Ausflüchte, führte das Klima auf, die lange Reise, all die Strapazen, die angeblich zuviel für eine zarte Frau waren. Dabei war der Professor selbst bereits kränkelnd, sein Herz zunehmend schwächer. Doch er ignorierte dies, wie alles, was nicht zu seiner Arbeit gehörte und deshalb keine wirkliche Be­deutung für ihn hatte.

Als schließlich die Nachricht von Sir Walters Tod gekommen war, hatte Annabell trotz allem geweint und ihn betrauert, aus ehrlichem Herzen. Nun aber wollte sie von Liebe und Ehe nichts mehr wissen. Die vorschnelle Bindung an einen Mann, der ihr weniger Liebe denn Bildung zu bieten hatte und sie schließlich mit Mitte zwanzig zur Witwe gemacht hatte, wirkte nach. Sie ging nicht mehr aus, besuchte keine Gesellschaften und lebte überaus zurückgezogen in der schönen, gro­ßen Stadtwohnung, die Walter ihr neben Vermögen und dem guten Namen hinterlassen hatte. Die Einsamkeit in ihrem Herzen war oft quälend. Aber Annabell sagte sich, dass es besser sei, allein einsam zu sein, als zu zweit unglücklich. Und diese Weisheit half ihr meist. Zu­mindest ein wenig. Als sie sich nun vom Fenster abwandte, hatte Lissy die Kiste mitten im Zimmer auf den Boden gestellt. Mit Finderstolz ver­kündete die Zofe: »Eines der Dienstmädchen muss sie hinter den Ofen geschoben haben. Ganz so vergesslich bin ich also doch noch nicht.« Bei diesen Worten lächelte sie so verschmitzt, dass es Annabell ganz seltsam ums Herz wurde. Beinahe schien es ihr, als beneide sie in die­sem Moment ihre Zofe, diese kleine, quirlige Person, deren Welt so überschaubar und heimelig war. Lissy ging an ihrem freien Tag in den Park, fütterte die Tauben oder schäkerte mit dem Bobby, der hier re­gelmäßig Streife ging. Einsamkeit und Verbitterung schienen ihr so fremd wie der Mond der Sonne. Und ihr Lächeln, das wirkte einfach ansteckend.

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»Was habt Ihr denn, Mylady? Ist Euch nicht gut?«, fragte sie in die Gedanken der schönen jungen Frau mit dem honigblonden Haar und den tiefblauen Augen. »Ihr seid ganz blass.«

»Es ist nichts.« Sie lächelte schwach. »Dann werde ich mich mal an die Aufzeichnungen begeben...«

»Wenn Ihr mich fragt, solltet Ihr das nicht tun«, meinte die Zofe keck. »Betrachtet Euch doch mal im Spiegel. Ganz blass und traurig schaut Ihr aus. Und das kommt nur daher, weil Ihr gar nicht mehr ausgeht. Die Ballsaison hat doch begonnen. Und die schönen Roben warten nur darauf, von Euch getragen zu werden.«

»Ich weiß, du willst mich aufmuntern, Lissy, aber mir ist nicht nach Tanzen und Lachen. Ich möchte auch nicht ausgehen. Dazu ist es noch zu früh.«

Lissy zögerte kurz, dann sagte sie vorsichtig: »Ich will mich nicht einmischen, Mylady, ich weiß, das steht mir nicht zu. Aber der selige Herr ist nun bereits ein halbes Jahr unter der Erde. Und Ihr sitzt nur in diesem Salon, zwischen Erinnerungsstücken wie in einem Museum. Das ist nicht recht! Ihr seid doch noch so jung und habt das Leben vor Euch. Der selige Herr wäre Euch gewiss nicht böse, wenn Ihr es nun wieder genießt, zu leben.«

»Mag sein. Ich bin mir dessen sogar recht sicher«, pflichtete die junge Lady ihrer Zofe bei, die eifrig nickte. »Trotzdem bin ich nicht in der Stimmung, um auszugehen. Vielleicht später wieder, wenn die Trauer ein wenig gewichen ist.« Sie bemerkte den skeptischen Blick der kleinen Brünetten, die wohl ahnte, wie die Dinge wirklich standen. »Ich weiß, man hat viel geredet über Walter und mich. Es stimmt ja auch, dass wir sehr verschieden waren. Der große Altersunterschied, wir kamen aus ganz anderen gesellschaftlichen Schichten. Trotzdem war unsere Verbindung glücklich, soweit man das überhaupt sagen kann. Und meine Trauer, die ist bestimmt nicht gespielt.«

»Das glaubt auch niemand«, versicherte Lissy spontan. »Alle hier im Haushalt wissen, dass Ihr dem seligen Herren eine gute Frau wart. Und ich will mich auch nicht einmischen, es ist schließlich Eure Ent­scheidung, ob Ihr ausgeht oder lieber daheim bleibt. Es ist nur... ich sorge mich eben ein wenig um Euch.«

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Lady Annabell lächelte nachsichtig. »Das ist lieb von dir, Lissy. Ich weiß das zu schätzen. Und sobald ich wieder den Wunsch verspüre, mich in Gesellschaft zu begeben, wirst du auch die Erste sein, die es erfährt...«

*

Als Gerald Duke of Montagiu am Montagmorgen das Oberhaus betrat, war seine Laune noch immer nicht die Beste. Den ganzen Sonntag hatte er sich von seiner Mutter Vorwürfe anhören müssen, da er au­genscheinlich aus Prinzip alle Heiratskandidatinnen ablehnte, um Elisa­beth zu verärgern. Dabei war Gerald sich keiner Schuld bewusst. Er war nun mal ein ernsthafter Mensch, dem Halbheiten ebenso missfie­len wie geheuchelte Empfindungen. Bislang hatte kein weibliches We­sen es geschafft, sein Herz zu berühren. Und eh dies nicht geschah, dachte der junge Herzog gar nicht daran, sich zu binden. Eine Zweck­ehe lehnte er kategorisch ab. Allein seine Bemerkung: »Wenn ich hei­rate, dann aus Liebe«, hatte die Duchess sehr gegen ihn aufgebracht. Große Worte waren gefallen, wieder einmal hatte die Herzogin Pflicht und Schuldigkeit zitiert und schließlich hatte Gerald sich nur durch ei­nen langen Ritt über Land aus der Affäre ziehen können. Auf Dauer war dies allerdings keine Lösung.

Natürlich wusste der junge Hochadlige, dass mehr hinter dem Ver­halten seiner Mutter steckte als der Wunsch nach einer Schwiegertoch­ter und Enkelkindern. Elisabeth sorgte sich um ihren Sohn, sie fürchte­te, er könne sich politisch zu weit aus dem Fenster beugen und dafür einen zu hohen Preis zahlen müssen. Dabei war diese Befürchtung gar nicht so abwegig. Als Gerald einige seiner politischen Freunde traf, fiel ihm gleich die gedämpfte Stimmung der Earls und Lords auf. Und sei­ne Frage nach dem Grund wurde nur zögernd beantwortet.

Lord Atwell war es schließlich, der dem Freund reinen Wein ein­schenkte: »Cheltenham soll hingerichtet werden. Er sitzt bereits im Tower und wartet auf die Vollstreckung des Urteils.«

Der Duke erbleichte. »Was wirft man ihm denn vor, das eine solch harte Strafe rechtfertigen könnte?«, fragte er ungläubig. Schließlich

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kannten sie alle Lord Henrik Cheltenham als Patrioten der ersten Stun­de. Er hatte über Jahre zu König und Vaterland gestanden, sich erst von Georg distanziert, als dieser immer verschwenderischer und ex­zentrischer wurde und sich unübersehbar zum Despoten entwickelte, der seinem Land mehr schaden als nutzen konnte. Ihn nun in Ketten zu wissen, wie ein gemeiner Verbrecher, der im Morgengrauen die Axt des Henkers spüren sollte, jagte dem Herzog einen kalten Schauer über den Rücken und weckte zugleich seine glühende Empörung.

»Die Anklage war ebenso diffus wie das Urteil. Es ist die Rede von Landesverrat und Bereicherung. Doch wir alle wissen, was wirklich dahinter steckt«, entgegnete Atwell mit ernster Miene und gesenkter Stimme. Immer wieder schweifte sein Blick durch die Vorhalle des Par­lamentssaales, so, als wolle er eventuelle Lauscher oder Spione bereits an der Nase erkennen.

»Er hat sich zu oft mit dem König angelegt«, stellte der Earl of Brikham fest, ein wohlbeleibter Gentleman in den besten Jahren, des­sen besonnene Haltung in jeder noch so hitzigen Debatte zur Sach­lichkeit gemahnte. »Ich denke, wir sollten uns dies eine Lehre sein las­sen, meine Herren. Wahren wir Haltung, aber in dezenter Art und Wei­se.«

Gerald war da ganz anderer Meinung. »Man muss eine Protestno­te einreichen. Wir können doch nicht einfach zusehen bei diesem poli­tischen Mord«, forderte er hitzig.

»Hoheit, Ihr vergesst Euch«, mahnte Brikham. »Wir sind ja hier in öffentlichem Raum, nicht in unserem Debattierklub. Ein wenig Eurer angeborenen Zurückhaltung könnte nun nicht schaden.«

»Er hat recht, Gerald, Sie sollten sich mäßigen«, riet auch Atwell ihm. »Momentan haben besonders hier die Wände Ohren. Und wer im Tower sitzt, ist politisch ausgeschaltet. Das bleibt auf jeden Fall zu bedenken.«

»Gewiss stimmt, was Sie anfuhren, Peter«, gestand er dem Freund zu. »Aber wenn diese Hinrichtung ohne Protest über die Bühne gehen sollte, sind dem König Tür und Tor für jede nur denkbare Will­kür geöffnet. Das dürfen wir nicht zulassen. Ich werde sofort mit dem Premierminister sprechen.«

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Lord Atwell wollte den Herzog zurückhalten, doch dieser hatte be­reits den Earl of Chatham, genannt Pitt der Jüngere, im Kreise einiger seiner Parteigänger entdeckt und strebte nun auf ihn zu. Der Premier wollte eben das Unterhaus betreten und warf dem jungen Herzog ei­nen Blick zu, der zwischen Ablehnung und Überraschung schwankte. Gerald wusste, dass Pitt nicht nur gegen Verschwendung und über­höhte Steuern kämpfte, sondern auch einen bereits snobistisch zu nennenden Dünkel dem altehrwürdigen Hochadel gegenüber hatte. Doch in diesem Fall schien es geboten, persönliche Vorlieben und Ab­neigungen hintan zu stellen. Das war jedenfalls die Meinung des Duke, der den Premier nun mit ganz ernster Miene ansprach.

»Ich habe nicht viel Zeit«, stellte Pitt abweisend fest. Er war gut zehn Jahre älter als Gerald of Montagiu und stand in dem Ruf, lange in den Fußstapfen seines Vaters gewandelt zu sein, um es ebenfalls bis zum Premierminister zu bringen. Allerdings tat man gut daran, diese Behauptung in seiner Gegenwart nicht aufzustellen, denn er reagierte darauf überaus empfindlich.

»Es wird nicht lange dauern«, versetzte der junge Herzog knapp. »Es geht um Lord Cheltenham. Ich unterstelle, Sie wissen von dem Fall und kennen die näheren Umstände.«

Pitt nickte und trat ein wenig abseits hinter eine Säule, wo sie vor neugierigen Blicken einigermaßen geschützt waren.

»Es ist ein Skandal, der unser Land noch erschüttern wird«, be­hauptete er mit leiser Stimme. »Doch momentan sind mir die Hände gebunden, falls Ihr auf eine Reaktion meinerseits spekulieren solltet, Hoheit. Das Unterhaus wird schweigen.«

Geralds markante Miene verschloss sich. »Das hatte ich allerdings nicht erwartet. Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass Sie damit die Kö­nigstreuen aktiv unterstützen.«

Der Premier lächelte kalt. »Manchmal muss man eine Kröte schlu­cken, das war schon immer so in der Politik. Allerdings werden die Zeiten sich ändern. Und das ist absehbar. Der König sägt mit dieser Hinrichtung an seinem Thron und nimmt uns damit die Arbeit ab.«

»Ein schwacher Trost für Cheltenham, der sich nie etwas hat zu Schulden kommen lassen.« Der junge Herzog wollte sich abwenden,

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doch Pitt bat ihn, schon versöhnlicher: »Haltet ein wenig mit Eurer Meinung hinter dem Berg, Hoheit, denn Ihr könnt versichert sein, dass sie auch die unsere ist. Momentan bleibt uns leider nichts weiter, als abzuwarten.«

Gerald hielt davon gar nichts. Doch er machte sich auch nicht die Mühe, Pitt davon in Kenntnis zu setzen. Dieser Premier schien sein Fähnchen zunehmend in den stärker werdenden royalistischen Wind zu hängen. Und der Duke konnte nicht behaupten, dass ihm dies gefiel...

In der nun folgenden Sitzung des Oberhauses hielt Gerald eine Rede, die an Offenheit nichts zu wünschen übrig ließ und sogar mit dem Aufruf endete, direkt gegen ›den politischen Mord an einem un­bescholtenen Mann‹ zu protestieren. Er löste damit eine heftige Dis­kussion aus, die bis in die späten Abendstunden dauern sollte. Zu die­sem Zeitpunkt hatten einige Abgeordnete das Oberhaus bereits verlas­sen. Einer von ihnen, ein blasser Hinterbänkler, versorgte die Kö­nigstreuen mit Informationen, während ein anderer sich umgehend auf den Weg nach Montagiu-Hall machte.

*

Die Duchess hielt sich in einem der Salons auf, als ein Besucher ge­meldet wurde. Elisabeth betrachtete kurz die Karte, die der Butler ihr auf einem kleinen Silbertablett reichte und nickte dann. »Ich lasse bitten.« Sie wandte sich an ihre Zofe, die ihr bis dahin Gesellschaft geleistet hatte. »Roberts, lassen Sie mich bitte allein. Ich weiß nicht, mit welcher Absicht Lord Humphrey mich aufsucht, doch er muss gute Gründe dafür haben.«

Die Bedienstete verließ den Salon durch eine Seitentür, während Lord Humphrey Jones die Herzogin respektvoll begrüßte.

»Ich rechne es mir zur Ehre an, dass Ihr mich ohne vorherige An­meldung empfangt, meine liebe Freundin. Aber ich versichere Euch, gewichtige Gründe treiben mich nach Montagiu-Hall.«

Die Duchess bot dem Besucher Platz an und entgegnete: »Davon gehe ich aus, Lord Humphrey. Wir haben einander seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen.«

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»Seit der Beerdigung des seligen Herzogs«, murmelte der beleibte Landadlige, dessen Besitz sich unweit der herzoglichen Güter befand. »Ich bedauere seinen Verlust noch immer, denn er war mir ein wahrer Freund.«

Elisabeth nickte angedeutet. »Und wie geht es der Familie? Alle wohlauf?«

»Oh, es gibt immer Gründe zu klagen, doch deshalb bin ich nicht hier. Meine Frau zwickt das Rheuma, nun, wir werden nicht jünger. Die Töchter sind gut verheiratet, von dort kommen keine Klagen. Gewiss erinnert Ihr Euch noch an Hazel, unsere Jüngste. Sie war seinerzeit ein wenig in Euren Sohn verliebt. Leider fand er aber keinen Gefallen an ihr und sie heiratete einen für meinen Geschmack etwas zu puritani­schen Anwalt aus London. Doch sie scheint ihr Glück gefunden zu ha­ben und mir soll's recht sein.«

Die Herzogin lächelte schmal. »Gerald hatte wohl schon damals den Kopf voll mit Politik...«

»Wobei wir beim Thema wären.« Lord Humphreys pausbäckiges Gesicht nahm einen sehr ernsten Ausdruck an. »Es ist sonst nicht mei­ne Art, hinter dem Rücken anderer über sie zu reden. In diesem Falle jedoch halte ich es sogar für geboten. Denn es betrifft nicht nur die Reputation und Sicherheit, sondern sogar Leib und Leben eines jungen Parteifreundes, der sich heute im Parlament durch eine sehr gewagte Rede recht weit aus dem Fenster gebeugt hat...«

Elisabeth verlor an Farbe, denn sie ahnte, worauf ihr Besucher an­spielte. »Sie meinen Gerald, nicht wahr?«

Der Lord nickte. »Ja, leider, ich kann nicht umhin festzustellen, dass Euer Sohn sich heute recht unvorsichtig benahm. Seine Rede be­zog sich im Wesentlichen auf die Verurteilung eines Parteifreundes, die wir alle, mit Verlaub, empörend finden. Doch die momentane politische Lage lässt es einfach nicht zu, sich in dieser Art und Weise zu opponie­ren, wie Gerald es getan hat.«

Die Herzogin hielt es nicht mehr auf ihrem Platz. Sie stand auf und begann, unruhig im Raum hin und her zu gehen. Was sie bereits seit geraumer Zeit befürchtet hatte, schien nun einzutreffen. Und sie hatte kaum eine Möglichkeit, es zu verhindern.

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»Bitte, Lord Humphrey, berichten Sie mir genau, was geschehen ist. Steht es vielleicht im Zusammenhang mit der Verhaftung von Lord Cheltenham?«

Der Besucher nickte zustimmend. »Ihr seid gut informiert, wisst aber sicher noch nicht, dass der bedauernswerte Cheltenham derma­ßen beim König in Ungnade gefallen ist, dass man ihn im Tower ge­fangen hält, wo er darauf wartet, dem Henker zu begegnen.«

Die Duchess blieb abrupt stehen und starrte ungläubig auf den Gast nieder. »Er wird... hingerichtet? Mein Gott, was ist bloß aus unse­rem guten alten Britannien geworden?«

Humphrey Jones schnaufte verächtlich. »Es ist in die Hände eines Königs gefallen, der beizeiten nicht Herr seiner selbst zu sein scheint. Doch ich schweige lieber, denn die Sache ist bereits unangenehm ge­nug, ich möchte Euch nicht noch weiter beunruhigen. Mein Besuch geschah lediglich mit der Absicht, Euch zu bitten, etwas mäßigend auf Euren Sohn einzuwirken. Ich denke, im Sinne aller Parteifreunde zu sprechen, denn ich sage, wie hoch wir den jungen Herzog schätzen. Er ist für uns Freund und Gesinnungsgenosse. Doch es wird gefährlich, hütet er seine Zunge nicht besser und lernt ein wenig mehr von der hohen Kunst der Diplomatie...«

Elisabeth nickte, ihr schmales Gesicht war von Sorge und Beküm­mernis geprägt, als sie erwiderte: »Ich danke Ihnen sehr für Ihre of­fenen Worte, Lord Humphrey. Dass es bereits so steht, wusste ich nicht und bin froh, nun Gewissheit zu haben. Sie können also versi­chert sein, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, um Gerald zur Vernunft zu bringen. Er soll und darf sich nicht für eine so sinnlose Sache opfern!«

Als Gerald am späten Abend heimkam, erwartete ihn seine Mutter mit ernster Miene. Lord Humphrey hatte sich längst verabschiedet, seit einer ganzen Weile war die Herzogin mit unruhig pochendem Herzen durch die Räume gewandert und hatte der Ankunft ihres Sohnes ge­harrt. Als der junge Duke dann erschien, war seine Miene blass und verschlossen. Er wirkte nicht wie ein Mann, der gerade eine politische Heldentat vollbracht hatte. Sofort fragte die Mutter sich, was dies zu bedeuten hatte.

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»Du bist noch auf, Mama?«, wunderte er sich und bat den Butler, ihm einen Whisky zu bringen. »Ich bin sehr abgespannt und möchte gleich zu Bett gehen.«

»Ich bin auch müde«, entgegnete Elisabeth gereizt. »Ginge es nur nach mir, hätte ich mich längst zurückgezogen. Doch ich habe etwas Ernstes mit dir zu besprechen, das keinen Aufschub duldet. Bitte höre mir jetzt zu, ohne etwas einzuwenden. Wir können später noch das Für und Wider abwägen.« Sie warf ihrem Sohn, der sie konsterniert musterte, einen knappen Blick zu und fuhr fort: »Ich hatte heute Be­such von Lord Humphrey Jones. Wie du weißt, ist er ein alter Freund der Familie. Und aus eben diesem Grund sah er es als seine Pflicht an, mich zu warnen. Und zwar was deine politischen Extravaganzen an­geht.« Sie bemerkte, dass Gerald Miene sich verschloss und fuhr ent­schieden fort: »Ich bin wirklich sehr enttäuscht von dir, mein Junge. Erst gestern sprachen wir ausführlich über deine Verpflichtungen Titel und Erbe der Montagius gegenüber. Nun scheint es mir so, als seiest du wieder einmal völlig selbstvergessen für andere in die Breche ge­sprungen. Lord Humphrey sprach von einer gefährlich offenen Rede, die den König ebenso erzürnen wie noch weiter gegen dich aufbringen wird. Musste denn das wirklich sein?«

Der junge Herzog schüttelte unwillig den Kopf und behauptete: »Davon verstehst du nichts, Mama. Das sind politische Notwendigkei­ten, die aus der Situation heraus entstehen. Ich... konnte einfach nicht schweigen, als ich hörte, dass man Cheltenham wie einen ge­wöhnlichen Mörder hinrichten wird. Es ist empörend und unglaublich! Und ich werde auch weiterhin diese Meinung vertreten, denn Schwei­gen ist in diesem Fall gewiss kein Gold!«

Elisabeth schaute ihren Sohn bekümmert an. Ihre Stimme klang spröde, als sie fragte: »Und du nimmst damit billigend in Kauf, das gleiche Schicksal zu erleiden?«

Davon wollte Gerald aber nichts hören. »Unsinn! Ich weiß sehr ge­nau, wieweit ich gehen kann«, behauptete er nicht sehr überzeugend. »Liebe Mama, ich kann deine Besorgnis durchaus nachvollziehen. Aber ich habe mich für die Politik entschieden und du weißt, dass mir keine Halbheiten liegen. Gewiss, die Zeiten sich schwierig und unsicher. Aber

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waren sie das nicht immer? Kann das ein Grund sein, sich feige zu drücken und immer nur mit dem Strom zu schwimmen?«

»Wohl kaum. Und das verlangt auch niemand von dir, ich am al­lerwenigsten. Trotzdem bitte ich dich inständig, bei allem heiligen Zorn auch an deine Verpflichtung unserem Haus gegenüber zu denken. Oh­ne dich wird der Name Montagiu erlöschen. Und ich kann mir keinen traurigeren Lebensabend vorstellen als den einer einsamen alten Frau, die einst in dem Bewusstsein sterben wird, die Letzte dieser Familie gewesen zu sein.«

Ihre offenen Worte berührten den jungen Herzog seltsam. Obwohl er stets bemüht war, das Richtige zu tun, fühlte er sich nun doch schuldig. »Das wird gewiss nicht geschehen«, versicherte er mit Nach­druck. »Wie ich dir bereits versprochen habe, werde ich keine unnöti­gen Risiken eingehen. Unser Name schützt mich, denn schließlich sind wir mit dem König verwandt. Er wird es nicht wagen, die Hand gegen einen Montagiu zu erheben.«

»Ich kann nur hoffen, du behältst recht«, murmelte die Herzogin mit kummervollem Herzen. Doch zugleich ahnte sie, dass die Ängste, die sie um Gerald auszustehen hatte, noch lange nicht enden wür­den...

Der junge Duke zog sich wenig später in seine Räumlichkeiten zu­rück. Obwohl er die Müdigkeit eines langen Tages spürte, fand er doch keine Ruhe. Lange marschierte er auf und ab und dachte dabei über das nach, was seine Mutter ihm geraten hatte. Sollte er sich denn tat­sächlich aus der Politik zurückziehen, sich um nichts mehr kümmern als um die eigene Nase? Nein, das konnte er nicht! Auch wenn die Lage sich allmählich zuspitzte. Gerald dachte an die kurze Botschaft, die er in seiner Kutsche vorgefunden hatte. ›Seht Euch vor, der König hat überall Spitzel‹, hatte auf dem halb zerrissenen Stück Papier ge­standen. Zunächst hatte der Herzog an einen dummen Streich ge­glaubt. Doch nun, mit Abstand betrachtet, musste er die Worte wohl als das verstehen, was sie waren: Eine wohl gemeinte Warnung...

*

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Lady Annabell hatte in den vergangenen Tagen den gesamten wissen­schaftlichen Nachlass ihres verstorbenen Gatten geordnet und durch Boten nach Oxford bringen lassen. Der Direktor der Universität hatte ihr ein warmes Dankesschreiben gewidmet, worüber die junge Lady nur schmunzeln konnte. Sie wusste sehr gut, wie wertvoll Sir Walters Aufzeichnungen waren und dass sich nun ein anderer Wissenschaftler damit einen Namen machen konnte. Richtig war das wohl nicht, aber Lady Annabell hatte keine andere Wahl. Als Frau blieb ihr eine wissen­schaftliche Laufbahn verwehrt, obwohl sie durchaus in der Lage gewe­sen wäre, zumindest den Nachlass ihres Gatten auszuwerten und dar­aus professionelle Schlüsse zu ziehen. Schließlich hatte Sir Walter sie sehr viel gelehrt in den Jahren ihrer Ehe. Doch es hatte keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Die Schränke im Arbeitszimmer des Professors waren geleert und damit endete auch greifbar ein Kapi­tel im Leben der jungen Frau.

Noch fühlte Annabell sich nicht fähig, einfach alles beiseite zu schieben, was mit Sir Walter und der Vergangenheit zusammenhing. Und so beschloss sie, für eine Weile aufs Land zu fahren, in das kleine Dorf nahe Oxford, wo ihre Familie lebte. Lissy hielt dies für keine gute Idee, doch sie verkniff sich einen entsprechenden Kommentar. Als sie am Tag vor der Abreise durch den Park schlenderte und ›zufällig‹ Tom Taylor, den netten Bobby traf, beschwerte sie sich bei ihm über die anstehende Reise.

»Was ist denn das für ein Einfall, jetzt im Herbst aufs Land zu fah­ren, wo die Ballsaison begonnen hat? Ich fürchte, meine Herrin will sich immer noch vor dem Leben verstecken.«

»Du meinst wohl vor den Verehrern?«, fragte Tom, ein breit­schultriger, fescher Bursche mit einem kecken Schnauzbärtchen.

»Ach du immer mit deinen Einfallen!« Sie bedachte ihn mit einem koketten Augenaufschlag. »Mylady will von den Männern nichts mehr wissen, sie ist ja in Trauer.«

Der Streifenpolizist schmunzelte. Er kannte das Viertel und seine Bewohner gut, schließlich ging er schon einige Jahre hier auf Patrou­ille. Und in einer guten Gegend wie Mayfair zogen die Leute selten um.

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»Ich meine eher, der Professor war wie ein Vater für sie. Denk nur daran, wie viel älter er war. Da konnte doch gar nichts mehr passieren zwischen den beiden. Und jetzt sollte sie sich einen Jungen suchen, das ist meine Meinung. Ist nur normal und auch gesund.« Er zwickte sie in den Allerwertesten, fing sich dafür allerdings postwendend eine Backpfeife ein.

»Frecher Kerl!« Lissy schüttelte empört den Kopf. »Aber das magst du doch, gib's schon zu«, tat er ihr schön.

»Schließlich sind wir zwei uns gut, da beißt die Maus kein Faden ab. Und wenn du für eine Weile verreist bist, werde ich ganz einsam und verlassen sein.«

»Ja sicher. Darauf wette ich.« Sie hob abfällig die Schultern. »Wie dem auch sei, meine Herrin war doch zufrieden in ihrer Ehe. Und des­halb trauert sie noch, das ist normal. Es ärgert mich nur, dass wir jetzt verreisen.« Sie musterte ihn streng. »Wenn ich nicht auf dich achte, Tom Taylor, wirst du nur Unsinn treiben, das sehe ich schon kommen. Aber ich warne dich; höre ich, dass du mit einer anderen geflirtet hast, dann ist es ganz aus!«

Er hob gespielt entsetzt die Hände. »Nie und nimmer käme mir so ein Vertrauensbruch in den Sinn. Lass du nur deine Hände von den Burschen in Oxford. Ich kann nämlich auch sehr eifersüchtig sein, dass du es nur weißt!«

Sie lächelte verschmitzt. »Das werde ich mir merken...« Da Lissy ihren freien Nachmittag hatte, konnte Lady Annabell noch

in aller Ruhe die letzten Reisevorbereitungen treffen. Die Koffer waren bereits gepackt, doch sie wollte noch etwas erbauliche Lektüre aus­wählen und auch die Post durchsehen. Dabei fiel der jungen Lady eine Einladung zum Herbstball auf Montagiu-Hall in die Hände. Annabell überlegte kurz; die Eröffnung der Ballsaison auf dem Stammsitz der Fürstenfamilie lag bereits eine Weile zurück. Damals hatte sie nicht die geringste Neigung verspürt, daran teilzunehmen. Doch der Herbstball würde erst in einem Monat stattfinden. Bis dahin war sie gewiss wie­der in London. Und die Vorstellung, an einem großen Ballereignis teil­zunehmen, fing langsam wieder an, sie zu reizen. Die junge Lady be­schloss, noch nicht zuzusagen, sondern es sich erst gründlich durch

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den Kopf gehen zu lassen und eine Entscheidung zu treffen, wenn sie vom Land zurück war...

Annabell legte die Einladung beiseite und ging zur Büchervitrine. Sie wollte nach einem dicken Band über indische Mythologie greifen, als ein verschlossener Umschlag zwischen den Büchern her­ausrutschte. Die junge Frau schaute das Schreiben überrascht an. Wie kam dieser Brief denn in den Bücherschrank?

Ihre Verwunderung über den unerwarteten Fund steigerte sich noch, als sie ihren Namen auf dem Umschlag entdeckte. Er war in Sir Walters Schrift darauf geschrieben. Ein seltsames Gefühl beschlich Annabell. Wieso hatte Walter ihr einen Brief geschrieben und diesen dann so gut versteckt? Das ergab doch gar keinen Sinn. Sie öffnete den Umschlag vorsichtig, entnahm ihm ein Blatt, das eng beschrieben war und stellte fest, dass sie den Abschiedsbrief ihres Mannes in Hän­den hielt.

Liebste Anna, schrieb er, wenn du dies liest, werde ich nicht mehr bei Dir sein. Gewiss wunderst du dich, dass ich Dir schreibe, aber das hat schon seinen Sinn. Als du die Meine wurdest, machte mich dies stolz und glücklich. Ich bildete mir ein, Dir ein guter Gatte sein zu kön­nen. Doch bald musste ich eingehen, dass dies nicht der Fall war. Zu viele Lebensjahre trennten uns, ich kannte Deine Bedürfnisse schlecht und scheute davor zurück, mich vor Dir lächerlich zu machen. So ent­stand eine Distanz, die bald zur Entfremdung führte. Ich wollte dies nicht, konnte es aber auch nicht verhindern. Zumindest die Liebe zur Wissenschaft verband uns beide bis zuletzt. Ich hoffe sehr, Du behältst mich nicht in allzu schlechter Erinnerung. Und ich möchte Dich um etwas bitten: Genieße Dein Leben, denn Du bist ja noch so jung. Ich werde in Frieden ruhen in der Gewissheit, dass Du auf Erden noch einmal ein Glück gefunden hast. Dein Dich liebender Gatte Sir Walter Forsyth.

Annabell ließ den Brief sinken und wischte sich verschämt über die Augen. Walter musste gewusst haben, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Er war so umsichtig und rücksichtsvoll gewesen, ihr etwas vorzuspielen, so zu tun, als schätze er seinen Gesundheitszustand falsch ein und sei sicher, aus Indien zurückkehren zu können. Allein

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deshalb hatte er sie nicht mitnehmen wollen auf diese Reise. Und nun bat er sie auch noch, ein neues Glück zu finden, das Leben zu genie­ßen! Was war er doch für ein nobler Charakter. Erst im nachhinein konnte Annabell dies recht gewichten und empfand Trauer und Verlust nun doppelt stark. Bittere Tränen weinte sie noch einmal um den ver­blichenen Gatten, aber sie empfand auch eine gewisse Erleichterung in dem Wissen, dass Walter ihr alles Glück auf Erden wünschte. Er hatte sie besser verstanden, als ihr das je zu Bewusstsein gekommen war.

Als Lissy heimkam, fand sie ihre Herrin in Tränen aufgelöst. »Um Himmels willen, was ist geschehen?«, rief sie erschrocken.

»Doch keine schlechte Nachricht?« Annabell lächelte angedeutet. »Ach, nein, es ist nichts, Lissy. Ich

habe nur endlich begriffen, was für einen guten Gatten ich doch hatte und wie schwer es mir ist, ihn für immer verloren zu geben.«

Die Zofe seufzte leise. Sie hatte gehofft, dass die Lady endlich ihre Trauer überwunden hatte, doch dies schien noch immer nicht der Fall zu sein.

»Keine Angst, meine gute Lissy, ich werde nach Oxford reisen. Und danach besuche ich den Herbstball auf Montagiu-Hall. Ich glaube, es wird Zeit, dass ich mich wieder den Lebenden zuwende. Mein seli­ger Walter hätte es gewiss so gewollt.«

»Ihr besucht einen Ball, Mylady? Oh, dem Himmel sei dank!«, rief Lissy da aus tiefstem Herzen aus. »Ihr werdet es gewiss nicht bereu­en. Die Feste auf dem Stammschloss der Fürstenfamilie sind immer besonders glanzvoll.«

»Ich habe noch keines miterlebt«, gestand Lady Annabell ein. »A­ber das soll sich nun ändern...«

*

Knapp eine Woche später erlitt Herzogin Elisabeth einen Schwächean­fall. Der eilig herbeigerufene Arzt bescheinigte eine allgemeine Er­schöpfung und riet zu einem mehrwöchigen Aufenthalt in frischer See­luft. Wie der ›Zufall‹ es wollte, lag der Duchess seit geraumer Zeit die Einladung einer französischen Bekannten vor, deren Tochter Susanne

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im heiratsfähigen Alter war. Obwohl Gerald nicht die genauen Hinter­gründe dieser Reise kannte, erschien sie ihm doch verdächtig ›pas­send‹. Es wäre ihm jedoch nie in den Sinn gekommen, am Erschöp­fungszustand seiner Mutter zu zweifeln und es verstand sich von selbst, dass er sie auf das Schloss der Familie Neuville in der Bretagne begleitete.

Einzig Milisett Roberts war in die Pläne und Absichten ihrer Brot­herrin eingeweiht und achtete streng darauf, dass niemand die Wahr­heit erfuhr.

»Was denken Sie, Roberts, wird der Arzt schweigen, wenn mein Sohn ihn streng befragt?«, fragte die Duchess ihre Zofe am Tag vor der Abreise nach Frankreich. »Es wäre mir sehr leid, würde unser sorgsam zu recht gelegter Plan im letzten Moment noch scheitern.«

Roberts schüttelte leicht den Kopf. »Das geschieht gewiss nicht, Mylady. Hoheit zweifeln nicht an Eurem Schwächezustand. Und der Arzt unterliegt der Schweigepflicht. Sorgt Euch nicht, es wird schon alles gut gehen.«

»Ich hoffe sehr, Sie haben Recht. In den vergangenen Tagen hat sich die politische Lage beängstigend zugespitzt. Gerald muss für eine Weile aus der Schusslinie, denn er wird ja von sich aus doch nicht zur Vernunft finden. Und in Frankreich werden ihn andere Dinge von dem ablenken, was ihm nun allzu wichtig erscheint.«

»Ihr denkt daran, ihn mit der Prinzessin Neuville zu verheiraten?«, fragte die Zofe ein wenig überrascht.

Elisabeth lächelte angedeutet. »Susanne de Neuville wäre durch­aus eine passende Partie. Auch wenn sie Französin ist, hätte ich nichts gegen diese Verbindung, denn ich denke längst nicht mehr so snobis­tisch. Und eine Ehe mit einer Prinzessin vom Festland hätte zudem den Vorteil, dass Gerald für eine Weile in Frankreich bleiben könnte. Ach, Roberts, ich hoffe wirklich, dass dieses Mal der berühmte Funke über­springt, ohne den mein hoffnungslos romantisch veranlagter Sohn ja nicht vor den Traualtar treten will...«

Die Zofe schwieg, doch man sah ihrer Miene deutlich an, dass sie eher skeptisch war. Sie kannte den jungen Herzog und wusste, dass er nicht nur einen ausgeprägten Dickkopf hatte, sondern zudem auch

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recht allergisch auf die Verkupplungsversuche seiner wohlmeinenden Mutter reagierte. Fand er erst einmal heraus, was gespielt wurde, würde er gewiss im Handumdrehen die Fähre nach Portsmouth bestei­gen und Frankreich den Rücken kehren. Doch wenn man dafür sorgte, dass die kleine List der Herzogin unentdeckt blieb, konnte die Reise auf den Kontinent durchaus auch zum schönsten und besten Ergebnis führen...

Gerald kam an diesem Abend später als sonst aus London zurück und seine Miene war verschlossen. Als seine Mutter ihn fragte, was ge­schehen sei, wollte er ihr zunächst keine Auskunft geben. Schließlich erklärte er aber: »Cheltenham wird nicht der Letzte sein, der Georgs Willkür zum Opfer gefallen ist. Ich habe das kommen sehen, doch aus Parteiräson nicht weiter interveniert. Nun hat man Atwell auf dem Kie­ker. Ich mache mir große Sorgen um ihn.« Er warf seiner Mutter einen fragenden Blick zu. »Ist es in der Tat so nötig, dass wir ausgerechnet jetzt nach Frankreich reisen? Ich verlasse London nur äußerst un­gern.«

Für Elisabeth war dieser neuerliche Vorgang nur die Bestätigung ihrer Ängste. Und sie war fester denn je entschlossen, ihren Sohn aus solcherlei gefährlichen Intrigen fürs erste heraus zu halten. »Gerald, du weißt, ich belästige dich nicht gern. Doch ich bin auf deine Beglei­tung, deinen Schutz angewiesen, mein Junge. Und diese Reise ist wirklich wichtig für mich.«

»Ich verstehe.« Er lächelte angedeutet. »Verzeiht mir, Mama, ich habe nur an mich gedacht. Selbstverständlich geht deine Gesundheit vor. Wir reisen also wie besprochen.«

Die Herzogin atmete ein wenig auf. Auch wenn sie Mitleid mit Pe­ter Atwell hatte, den jungen Lord kannte und sich um ihn sorgte, so galt doch ihr erster Gedanke der Sicherheit und dem Wohlergehen ihres Sohnes. Und nachdem sich die Lage in London ganz offen­sichtlich immer mehr zuspitzte, schien es ihr unbedingt geraten, Gerald für ein paar Wochen aus allem herauszuhalten...

Zeitig am nächsten Morgen bestiegen die Herzogin und ihr Sohn eine Kutsche, die sie nach Portsmouth bringen sollte. Von dort aus fuhr eine Kanalfähre herüber nach St. Malo in Frankreich, wo die Rei­

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senden bereits erwartet wurden. Gerald gab sich einsilbig und ge­dankenverloren. Erst als man auf dem Wasser war, fragte seine Mutter ihn nach dem Grund.

»Ich hoffe, du lässt die politischen Sorgen nun für eine Weile ru­hen«, mahnte sie ihn mit ernster Miene. »Ich kann nicht gesund wer­den, wenn du mir so wenig beistehst.«

»Aber, Mama, man kann doch seine Gedanken nicht abstellen«, gab der junge Duke zu bedenken. »Du weißt, dass Peter Atwell ein gu­ter Freund von mir ist. War mir das Schicksal Lord Cheltenhams nicht einerlei, den ich lediglich einen Parteigenossen nannte, so kann es in diesem Falle nicht anders sein.«

»Du bist ein Mann mit Gewissen und Prinzipien, ich weiß«, ge­stand sie ihm zu. »Aber du kennst auch deine Verpflichtung mir ge­genüber, mein Junge. Bitte, steh mir nach Kräften bei, damit ich wie­der rasch genesen kann. Immerhin müssen wir pünktlich zum Herbst­ball wieder daheim sein. Und den möchte ich nicht vom Krankenbett aus feiern.« Sie bemerkte, dass er etwas einwenden wollte und fügte noch entschieden hinzu: »Unsere gesellschaftlichen Pflichten dürfen wir nicht vernachlässigen, Gerald. Ich weiß, du empfindest dies als lästig. Doch es gehört in unserer Position nun einmal dazu.«

»Ja, sicher, Mama«, murmelte er resigniert. Am frühen Nachmittag kam die kleine Reisegesellschaft in St. Malo

an, wo bereits eine Kutsche auf sie wartete. Als Gerald das Wappen der Familie Neuville bemerkte, wurde er allerdings misstrauisch. Er musterte seine Mutter von der Seite, die plötzlich besonders erschöpft und abgespannt wirkte, schwieg aber.

Der Stammsitz der Herzöge von Neuville lag gut fünf Meilen von St. Malo entfernt. In einer malerischen Bucht, hoch auf karstigen Fels­abbrüchen thronend, machte das Schloss im Stil von Ludwig XIV einen imposanten Eindruck. Die seeabgewandte Seite zeichnete sich durch einen barocken Parterregarten aus, der noch den Charme vergangener Jahrhunderte ausstrahlte.

Francine de Neuville, eine sehr kultivierte Dame mit dunklem Haar und seelenvollen Augen begrüßte die Gäste herzlich. Ihre Tochter Su­sanne war an ihrer Seite. Und Elisabeth registrierte erfreut, dass der

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Liebreiz der französischen Prinzessin den jungen Herzog nicht unbe­eindruckt ließ.

»Meine liebe Freundin, ich hörte mit Bedauern von Eurer Unpäss­lichkeit«, sagte die französische Herzogin freundlich zu ihrer Besu­cherin, während sie die Halle betraten. »Sicher wird es Euch in un­serem wunderbaren Klima bald besser gehen.«

»Das hoffe ich sehr«, entgegnete die Duchess und wechselte ei­nen kurzen Blick mit ihrer Zofe. »Das Beste wird wohl sein, ich ruhe mich zunächst ein wenig aus. Die Reise war doch anstrengend.« Elisa­beth hörte keinen Widerspruch. Francine de Neuville ließ es sich nicht nehmen, ihr persönlich ihre Zimmer zu zeigen und leistet ihr danach noch kurz Gesellschaft. So blieben Susanne und Gerald zwangsläufig allein zurück. Die französische Prinzessin zeigte sich deshalb nicht ver­legen; im Gegenteil. Sie war ein rechter Wirbelwind, hielt nichts von falscher Zurückhaltung und versicherte ihrem Besucher: »Ich freue mich wirklich sehr, Euch endlich einmal kennen zu lernen, Gerald. Mei­ne Mutter schwärmte bereits eine Weile von Euch. Wie es scheint, dient dieser Besuch der Ausführung einer kleinen Intrige zwischen Müttern.« Sie lächelte ihm entwaffnend zu.

Der junge Herzog konnte nicht umhin, sich einzugestehen, dass diese bildschöne Französin einen kaum zu beschreibenden Charme besaß. Nun wurde ihm auch klar, warum seine Mutter so dringend nach Frankreich hatte reisen müssen, um ihren Schwächezustand zu überwinden. Ein wenig ärgerte Gerald sich schon darüber, vor allem, wenn er daran dachte, wie dringend er nun in London gebraucht wur­de. Doch er wahrte die Form und erwiderte höflich: »Mir ist nichts der­artiges bekannt. Doch ich hoffe sehr, unser Kennen lernen wird sich in gelöster Atmosphäre gestalten. Nichts liegt mir so fern, als hier nach einer Braut zu suchen.«

»Vielleicht habt Ihr aber trotzdem schon eine gefunden«, scherzte die Prinzessin unbekümmert. »Kommt, ich zeige Euch das Schloss.« Sie bemerkte sein Zögern und versicherte: »Man wird uns kaum vor dem Abendessen vermissen...«

Der junge Herzog folgte ihr schließlich. Und es dauerte nicht lan­ge, bis er anfing, Susannes Gesellschaft zu genießen. Sie war witzig

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und gebildet und ließ jene etwas steife Zurückhaltung völlig vermissen, die englischen Damen oft zu Eigen war. In ihrer Nähe vergaß der Duke all seine Sorgen und fühlte sich ganz einfach wohl. Er konnte es kaum fassen, als Susanne ihn wissen ließ, dass man sich nun allmählich zum Abendessen umziehen müsse. »Ich dachte nicht, dass es schon so spät ist«, murmelte er konsterniert. Sie waren auf ihrem Rundgang im Schlosshof angekommen und Gerald bemerkte, dass die Sonne tat­sächlich bereits im Westen hinter dem Horizont versank. Es war ein milder Herbstabend, die Luft schmeckte nach Meersalz, Moos und wil­dem Thymian und machte Lust auf einen Spaziergang am Strand.

»Ihr seht aus, als ob Ihr Euch recht wohl fühlen würdet«, stellte die Prinzessin mit einem verschmitzten Lächeln fest. »Liegt das nun an mir oder an Schloss Neuville?«

Gerald, im Umgang mit jungen Damen nicht an soviel Direktheit gewöhnt, erwiderte ihr Lächeln angedeutet und meinte diplomatisch: »Wohl ein wenig an beidem...«

*

Einige Tage vergingen, die Gerald of Montagiu mit sichtlichem Vergnü­gen genoss. Der Herzog von Neuville kehrte aus Paris zurück, wo er in politischen Angelegenheiten unterwegs gewesen war und begrüßte die Gäste mit freundlicher Zurückhaltung. Der Duchess passte dieses Er­scheinen gar nicht. Nun hatte Gerald wieder einen Gesprächspartner in Sachen Politik und ließ sich viel zu leicht von seiner Tändelei mit der Prinzessin ablenken. Susanne gab sich alle Mühe, Geralds Aufmerk­samkeit zu erringen, war aber ihr Vater in der Nähe, sprachen die Her­ren lange und angeregt über die aktuelle politische Lage. Der französi­sche Hochadlige wusste zudem Bedenkliches von der Insel zu berich­ten.

»Man sagt, dass der König schwarze Listen führt, auf denen alle seine Gegner mit Namen vermerkt sind. Und wie es nach den politi­schen Urteilen der letzten Zeit weitergehen wird, ist demnach nicht schwer zu erraten«, merkte er eines Abends an. Die Herren hatten sich auf eine Zigarre und einen Kognak ins Kaminzimmer zurückgezo­

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gen, was Susanne gar nicht gefiel. Am liebsten hätte sie sich zu ihnen gesellt, um noch mehr Zeit mit dem jungen Duke verbringen zu kön­nen. Aber sie wusste natürlich, dass sich ein solches Verhalten ganz und gar nicht schickte. Ungeduldig lief sie vor den geschlossenen Tü­ren des Kaminzimmers auf und ab und wartete darauf, dass Gerald endlich wieder erschien.

»Ihr glaubt auch, dass England auf dem besten Weg ist, zu einer Diktatur zu verkommen, nicht wahr?«, merkte der gerade an, wor­aufhin Alexandre de Neuville angedeutet die Schultern hob und vor­sichtig erwiderte: »Der König war von jeher etwas exzentrisch. Doch was er sich nun leistet, geht eindeutig zu weit und steht gegen die Interessen des Landes ebenso wie gegen den gesunden Men­schenverstand.«

Gerald nickte. »Es ist schwer zu ertragen, was in meinem Land vor sich geht. Die Opposition wird mundtot gemacht, der Premier schweigt aus Prinzip und die letzten aufrechten Männer verschwinden hinter den meterdicken Mauern des Tower.«

»Der König müsste in seine Schranken verwiesen werden. Wozu gibt es in London ein Parlament?«

»Dazu wäre eine Mehrheit nötig, die über Parteigrenzen geht. Und die wird sich nicht finden lassen. Zumal die Lage unübersichtlich, die Gefahr, von Verrätern und Spitzeln ans Messer geliefert zu werden, groß ist«, hielt der junge Herzog seinem Gesprächspartner entgegen. »Ich fürchte, momentan lässt sich wirklich nur das Schlimmste verhin­dern. Und manchmal nicht einmal das.« Er lächelte bitter.

»Nur gut, dass Ihr eine so umsichtige Mutter habt, mein lieber Ge­rald«, merkte Alexandre de Neuville wohlwollend an. Und als Gerald ihn nur verständnislos musterte, fügte er erklärend hinzu: »Sie plant einen Besuch im Ausland genau zu dem Zeitpunkt, als Ihr besser dar­an getan habt, aus der Schusslinie zu gehen. Soweit ich informiert bin, habt Ihr selten ein Blatt vor den Mund genommen, wenn es darum gegangen ist, dem König den Spiegel vorzuhalten, nicht wahr?«

Gerald verlor ein wenig an Farbe, ließ sich aber nicht anmerken, wie sehr ihn die Worte seines Gastgebers trafen. Also hatte seine Mut­ter ihn doch hinters Licht geführt! Und alle hier schienen darüber in­

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formiert zu sein, bedachte man die Andeutungen, die auch die Prin­zessin hier und da hatte fallen lassen. Der junge Duke fühlte sich wie ein Narr und wäre am liebsten auf der Stelle abgereist. Doch er gab sich keine Blöße, führte das Gespräch mit dem französischen Hochad­ligen in aller Ruhe weiter und zog sich erst zurück, als ein Diener er­schien und meldete, dass in einer halben Stunde gespeist werden soll­te.

Kaum hatte er jedoch sein Gastzimmer betreten, da packte er rasch und entschlossen eine Reisetasche und klopfte wenig später an die Tür seiner Mutter. Die Duchess war erfreut, ihn zu sehen, vermute­te sie doch, dass er sie zum Diner abholen und dabei über Susanne reden wollte. Seine nun folgenden Worte waren allerdings eine herbe Enttäuschung für sie.

»Mama, du weißt, ich vertraue dir, solange ich denken kann. Heu­te musste ich allerdings erfahren, dass dieses Vertrauen missbraucht wurde. Deine angebliche Schwäche war nur ein Vorwand, um hierher zu reisen und mich von London fernzuhalten. Ich nehme dir das sehr übel. Verzeiht meinen rüden Ton, doch so empfinde ich ohne zu heu­cheln. Ich reise morgen früh ab!«

Elisabeth war sehr erschrocken, fing sich aber rasch wieder. »Wer hat dir dieses Märchen erzählt?«, verlangte sie zu erfahren. »Meine Schwäche war weder gespielt noch ein Vorwand für diese Reise. Wie kannst du deiner eigenen Mutter solch niedere Beweggründe unter­stellen? Ich fürchte, du beschäftigst dich bereits zu lange mit politi­schen Intrigen und beginnst schon selbst, in dieser Art und Weise zu denken«, warf sie ihm gekränkt vor.

»Mama, bitte! Ich kenne die Wahrheit«, kam es unwillig von dem jungen Mann. »Und dass ich hier mein Herz verlieren sollte, ist gewiss auch keine Einbildung von mir, oder?«

Die Herzogin zog es zunächst einmal vor, zu schweigen. Schließ­lich fragte sie vorsichtig: »Wäre es denn so abwegig, anzunehmen, dass Susanne und du euch... mögt?«

Gerald lächelte schmal. »Mama, du bist unverbesserlich. Ich schätze die Prinzessin sehr. Und die Zeit, die wir zusammen verbracht haben, war gewiss bezaubernd. Doch mir steht jetzt nicht der Sinn

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nach verliebtem Tändeln. Was Neuville mir erzählt hat, ist alarmierend. Ich muss nach London zurück, unter allen Umständen! Länger hier zu verweilen, würde ein schmähliches Bild von Feigheit zeichnen, das mir ganz und gar nicht entspricht.«

»Aber, Gerald, ich bitte dich, nur noch eine Woche! Dann reisen wir sowieso heim. Du kannst doch unsere Gastgeber nicht dermaßen vor den Kopf stoßen...«

»Bleibe du gerne noch hier, Mama, ich bitte sogar darum. Denn du musst dich ja erholen.« Eine leise Ironie sprach aus seinen Worten, wie Elisabeth gekränkt registrierte. »Ich muss zurück nach London, mache mir nun jeden Tag, den ich hier vertrödelt habe, selbst zum Vorwurf.«

»Ist das dein letztes Wort?« Die Herzogin wirkte ebenso erzürnt wie bekümmert. »Du reist einfach ab?«

»Ich muss, liebe Mama, ich muss! Und ich hoffe sehr, dass es noch nicht zu spät ist, um Atwell zu helfen.«

»Gerald!« Elisabeth musterte ihren Sohn überaus streng. »Du be­gibst dich in eine Gefahr, die unnötig ist, um Fesseln zu lösen, die dich nicht binden. Muss das sein?«

»Sie binden einen Freund. Und das macht für mich keinen Unter­schied«, hielt er ihr entschlossen entgegen und ging dann.

Die Duchess blieb bekümmert zurück. Als ihre Zofe erschien, um ihr beim Umkleiden zu helfen, murmelte sie: »Ich habe alles versucht, Roberts. Schließlich kann ich nicht vor meinem Sohn auf die Knie fallen und ihn bitten, zu bleiben...«

»Hoheit ist ein erwachsener Mann, Ihr könnt ihn nicht aufhalten, Mylady«, gab die Bedienstete zu bedenken.

Die Lady seufzte leise. »Sie wussten, dass es sinnlos wäre, nicht wahr? Warum haben Sie mir diese Reise dann nicht ausgeredet, Ro­berts?«

»Nun, Mylady, weil sich das nicht gehört. Und außerdem wäre es ja auch möglich gewesen, dass Hoheit sich in die schöne Prinzessin Susanne verliebt und einfach hier bleiben möchte...«

»Wir haben es uns so gewünscht«, sinnierte die Herzogin. »Aber solche Dinge fügen sich nie so, wie es sein soll. Ich fürchte, wir wer­

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den ebenfalls unsere Koffer packen müssen. Ein weiterer Aufenthalt auf Schloss Neuville hat wenig Sinn.«

*

Obwohl Gerald sich Mühe gab, seiner Mutter keine offenen Vorwürfe mehr zu machen, verlief die Heimreise nach England doch in gereizter Atmosphäre. Und dass der junge Herzog sich umgehend nach London begab, nahm seine Mutter ihm zudem übel. Allerdings mochte Gerald nun keine Rücksicht mehr auf derlei Empfindlichkeiten nehmen. Im Parlament wagte niemand, über Lord Atwell zu sprechen. Und der jun­ge Herzog musste zudem feststellen, dass einige weitere Mitglieder von Unter- und Oberhaus verschwunden waren. Die Lage hatte sich also während seiner Abwesenheit nicht entspannt; im Gegenteil. Alex­andre de Neuville hatte ihn nicht beschwindelt. Es ›brannte‹ in London und niemand schien den Mut zu besitzen, etwas dagegen zu tun. Nie­mand außer Gerald. Dieser sprach den Premier noch einmal auf das dringliche Problem an. Doch wieder bekam er nur Ausflüchte und Ver­tröstungen zu hören.

»Es schien, als ob Ihr Euch aus diesen unangenehmen Angelegen­heiten heraus halten wolltet, Hoheit«, stellte Pitt süffisant fest. »Oder wie anders war Eure Reise aufs Festland zu verstehen?« Er wartete keine Antwort ab, sondern fuhr unfreundlich fort: »Die Lage hat sich nicht geändert. Und uns sind noch immer die Hände gebunden. Ich kann also nur an Euer politisches Feingefühl appellieren und Euch bit­ten, mich in der Sache nicht noch einmal zu behelligen.«

»Sir, das ist keine befriedigende Antwort«, beschwerte Gerald sich aufgebracht.

Der Premier gab sich herablassend. »Eine andere kann ich Euch nicht geben.« Damit wandte er sich ab und ging einfach.

Der junge Herzog schäumte vor Wut. Da bedurfte es schon der felsenfesten Gemütsruhe des Earls of Brikham, um ihn wieder einiger­maßen zu beruhigen. Schließlich musste Gerald einsehen, dass er nichts erreichte, ging er weiterhin mit dem Kopf durch die Wand. At­well schien verhaftet, doch es war auch möglich, wie man ihm unter

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der Hand anvertraute, dass der junge Lord hatte fliehen können. Nie­mand kannte sein genaues Schicksal. Und in Anbetracht der Tatsache, dass es bereits gefährlich war, offen seine Meinung zu sagen, schien es auch niemanden zu interessieren.

Niedergeschlagen verließ der Herzog an diesem Tag das Parla­ment, als es von Big Ben her gerade erst halb sechs schlug. Er fragte sich, ob alles anders gekommen wäre, wenn er England nicht zu dieser fatalen Reise auf den Kontinent verlassen hätte. Gewiss hätte er Peter helfen können, ihm die Flucht ermöglichen. Doch nun war es zu spät, der Lord auf sich selbst und sein Glück angewiesen. Und das Land war voller Häscher und Spione...

Gerald wollte gerade in seine Kutsche steigen, als sich ihm ein un­scheinbarer Mann im einfachen Wams näherte. Er dachte spontan an einen Bettler, die im Regierungsviertel eher selten anzutreffen waren. Im nächsten Moment spürte er aber ein Stück Papier, das der Fremde ihm in die Hand gedrückt hatte. Und dann war er auch schon wieder im dichter werdenden Londoner Nebel verschwunden...

Der Duke stieg zunächst ein, bevor er den Zettel auseinanderfalte­te und las: Triff mich Nähe Guildhall gegen sechs. Bitte um Hilfe, P. Gerald lies sich die wenigen Worte kurz durch den Kopf gehen. Es schien offensichtlich, dass diese Nachricht von Lord Atwell stammte. Andererseits war es aber auch denkbar, dass man ihm hier eine Falle stellte. Schließlich hatte er sich mehr als einmal öffentlich gegen den König opponiert und stand gewiss ganz oben auf einer seiner schwar­zen Listen. Was also tun?

Gerald überlegte nicht lange; die Wahrscheinlichkeit, dass ein Freund Hilfe brauchte, wog schwerer, ganz egal, wie klein sie auch sein mochte. Allein die Vorstellung, dass Atwell vergeblich auf sein Eintreffen wartete, sich von allen verlassen glaubte und dadurch viel­leicht den letzten Funken Hoffnung einbüßte, ließ ihn handeln. Er wies den Kutscher an, zum Rathaus zu fahren und kam kurz vor sechs Uhr dort an. Der Nebel, der aus dem Flussbett stieg, hüllte allmählich die gesamte Stadt ein. Es wurde langsam dämmrig, zudem fiel feiner Nie­selregen. Die besten Voraussetzungen, um sich ungesehen zu bewe­gen. Gerald wartete kurz in der Kutsche, verschaffte sich zunächst ei­

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nen Überblick. Hier und da eilten Passanten vorbei, zumeist Bedien­stete des Rathauses, die ihrem wohl verdienten Feierabend entgegen strebten. Sonst war die Gegend wenig belebt. Große Bäume auf dem Vorplatz der Guildhall spendeten im Sommer Schatten, nun warfen sie allmählich ihr Laub ab, das bei jedem Schritt unter den Füßen raschel­te. Der junge Herzog hatte nicht den Eindruck, dass ihm jemand ge­folgt war. Wenn dies hier eine Falle war, dann hatte man sie hervorra­gend konzipiert. Noch einmal wog er das Für und Wider aber und ent­schied schließlich, dass er es wagen konnte, auszusteigen und sich nach Atwell umzusehen.

Er bedeutete dem Kutscher, zu warten und machte sich dann auf den Weg. Wie zufällig schlenderte er am Rathaus vorbei, blieb hier und da stehen und schaute sich um. Das wurde aber immer schwieriger wegen des zunehmenden Nebels. Als sich unvermittelt eine Hand auf Geralds Schulter legte, zuckte dieser deutlich zusammen. Er hatte kei­ne Schritte gehört, niemand in seiner Umgebung gesehen. Doch als er sich umdrehte, konnte er aufatmen, denn es war Peter Atwell, der vor ihm stand. Der junge Lord befand sich in einem desolaten Zustand. Seine sonst stets makellose Erscheinung hatte in den Tagen, die hinter ihm lagen, sehr gelitten. Sein dunkler Frack war verschmutzt, das Hemd am Ärmel aufgerissen, sein Haar hing wirr um den Kopf. Von all dem nahm Gerald aber nur unterbewusst Notiz. Was ihn sofort auffiel und sein Herz berührte, war der brennende Ausdruck der Furcht in den Augen seines Gegenübers. Er kannte Lord Peter von Kindesbeinen an, hatte mit ihm zusammen die Universität besucht. Die beiden jungen Herren verband eine ehrliche Freundschaft, die Höhen und Tiefen kannte. Doch so verzweifelt war der junge Atwell seinem Jugendfreund noch nie entgegengetreten.

»Kommen Sie, Peter, ich nehme Sie mit nach Montagiu«, sagte er spontan und legte dem anderen eine Hand auf die Schulter. Atwell schrak ein wenig zurück. Hektisch blickte er sich um und murmelte: »Ich will Sie nicht in Gefahr bringen, Gerald. Man hatte mich bereits verhaftet, doch es gelang mir, zu fliehen. Und ich möchte nicht, dass Sie nun auch noch in diese verdammte Sache hineingezogen werden.«

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Der Herzog schüttelte angedeutet den Kopf, während er den Freund mit sanftem Nachdruck Richtung Kutsche bugsierte. »Diese Sache ist ebenso die meine wie die Ihre, Peter. Glauben Sie denn im Ernst, ich wüsste nicht, was gespielt wird? Nun kommen Sie, auf Mon­tagiu sind Sie fürs erste sicher. Und dann können wir überlegen, was zu tun ist.«

Atwell zögerte noch immer. Schließlich gab er aber doch nach. Erst als er in der Kutsche saß und diese die Stadtgrenze von London unbehelligt passiert hatte, brach der junge Lord sein Schweigen. Seine sonst so ruhige, beherrschte Stimme zitterte, als er zugab: »Ich hatte schon fast alle Hoffnung fahren lassen. Als ich hörte, dass Sie das Land auf unbestimmte Zeit verlassen haben, Gerald, ahnte ich, was auf mich zukommt. Sie wissen, die wenigsten unserer Parteifreunde wagen es noch, offen ihre Meinung über das zu sagen, was vorgeht. Ich war wohl als einer derjenigen bekannt, die in Ihrem Dunstkreis standen. Bereits am Tag nach Ihrer Abreise wurde ich verhaftet, konn­te den Häschern aber durch Bestechung entkommen. Seither verste­cke ich mich wie ein Dieb in der Nacht. Als ich heute Ihre Kutsche vor dem Parlament sah, glaubte ich, zu träumen. Ich war... sehr erleich­tert. Doch ich habe auch ein schlechtes Gewissen.«

»Das müssen Sie nicht, Peter, wird sind doch Freunde«, erinnerte der Herzog ihn nachsichtig. »Da versteht es sich von selbst, dass man einander hilft und beisteht.«

Atwell atmete gepresst. »Meine Eltern kann und darf ich nicht be­helligen, zumal man bei ihnen wohl als erstes suchen würde...«

»Gewiss, dort wären Sie nicht sicher. Aber lassen Sie uns erst dar­über sprechen, wenn wir in Montagiu sind. Ich traue außerhalb der Mauern meines Stammsitzes mittlerweile niemandem mehr.«

»Und daran tun Sie gut, lieber Freund«, murmelte der junge Lord bekümmert. »Ich begreife nicht, wie die Dinge sich so rasch zum Schlechten wenden konnten. Nun scheint es mir beinahe, als sei nichts mehr zu retten...«

»So dürfen Sie nicht denken, Peter. Wenn wir aufgeben, ist unse­rem Land in der Tat nicht mehr zu helfen. Aber soweit soll es niemals

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kommen! Alle Männer von Ehre und Stand sind in diesen schweren Zeiten gefordert, gegen das Unrecht anzugehen.«

»Momentan erscheint es mir übermächtig«, gab Atwell müde zu. »Doch ich stehe in Ihrer Schuld, Gerald. Auf mich können Sie zählen, egal, wie es auch kommen mag...«

Der Herzog lächelte milde. »Ich weiß, Peter, ich weiß. Aber leider nimmt die Zahl der wackeren Kämpfer gegen das Unrecht mit jedem Tag mehr ab. Wir werden vielleicht bald allein da stehen.«

*

Herzogin Elisabeth stand hinter dem Fenster ihres Schlafzimmers und blickte gedankenverloren nach draußen in den nebligen Herbstmorgen. Zwei Wochen waren nun vergangen, seit sie aus Frankreich zurückge­kehrt war und sie wurde den Eindruck nicht los, dass hinter ihrem Rü­cken etwas vorging. Gerald gab sich ihr gegenüber verschlossen und einsilbig. Er schien von weitaus größerer innerer Unruhe erfasst als bei ihrer Rückkehr nach Montagiu-Hall. Jedes Mal, wenn sie ihn darauf ansprach, reagierte er barsch und abweisend. Als sie ihn am Vorabend an den Ball erinnert hatte, der am Wochenende anstand, war er ein­fach wortlos aufgestanden und aus dem Zimmer gegangen. Die Du­chess hatte sich dabei weniger über das ungehörige Verhalten ihres Sohnes geärgert, als es ihre zunehmende Sorge noch bestätigt hatte.

»Mylady, das Badewasser ist heiß«, meldete sich nun die Zofe von der Tür zum angrenzenden Badezimmer her.

»Roberts, kommen Sie doch mal einen Moment zu mir«, bat die Herzogin daraufhin, ohne auf ihre Worte einzugehen.

Als die Bedienstete neben ihre Herrin getreten war, fragte diese direkt: »Ist Ihnen zu Ohren gekommen, dass mein Sohn in Schwierig­keiten steckt? Haben Sie vielleicht irgendetwas erfahren, das ich wis­sen müsste?«

Die Zofe überlegte kurz, dann entgegnete sie: »Ich denke nicht. Obwohl... Aber das hat gewiss nichts mit Hoheit zu tun.«

Elisabeth bedachte ihr Gegenüber mit einem streng tadelnden Blick. »Sprechen Sie bitte aus, was Ihnen gerade in den Sinn gekom­

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men ist, Roberts. Ich werde dann entscheiden, ob es von Wichtigkeit ist oder nicht.«

»Nun ja... Gestern hörte ich zufällig, wie eines der Mädchen von einem Mann sprach, der angeblich im alten Turmzimmer hause. Ich habe mir keine weiteren Gedanken darüber gemacht, denn ich hielt es für eine dieser Spukgeschichten, mit denen die einfachen Gemüter sich ein wenig Farbe und Spannung in ihren Alltag zu holen trachten. Doch wo Ihr mich nun fragt, denke ich, es könnte durchaus auch etwas dran sein.«

»Sie denken an Lord Atwell, nicht wahr? Ich sprach vor Tagen mit Sir Humphrey Jones, der mich wissen ließ, dass das Schicksal des jun­gen Mannes ungeklärt scheint.«

»Aber, Mylady, Hoheit wird doch nicht... einen Gesuchten hier auf Montagiu-Hall verstecken?«

»Ich kann das nicht beurteilen. Eines scheint mir allerdings sicher: Lord Atwell ist ein Gentleman von Anstand und nobler Gesinnung. Was immer man ihm auch vorwerfen mag, es kann nicht der Wahrheit ent­sprechen. Sollte mein Sohn sich also dazu verstiegen haben, ihm zu helfen, kann ich das nicht verurteilen. Allerdings verurteile ich sein Schweigen mir gegenüber. Ich werde mit ihm sprechen müssen...«

»Und wenn Ihr Euch irrt?«, gab die Zofe zu bedenken. »Hoheit könnte gekränkt sein, weil Ihr ihm misstraut.«

Elisabeth lächelte schmal. »Das muss ich in Kauf nehmen. Und nun werde ich baden und Toilette machen, denn die Aussprache mit meinem Sohn kann nicht warten...«

Gerald hatte bereits einen strammen Ritt durchs Gelände hinter sich, als seine Mutter ihn im Frühstückszimmer antraf. Sie bemerkte, dass er blass und übernächtigt wirkte.

»Nun, mein lieber Junge, ich hoffe, du zürnst mir nicht mehr«, sagte sie begütigend. »Wenn es dir so vollkommen zuwider läuft, wer­de ich den Ball am Wochenende absagen. Ich möchte nicht, dass des­wegen zwischen uns eine beständige Verstimmung entsteht.«

Der junge Herzog bedachte seine Mutter mit einem irritierten Blick, denn so etwas hatte sie ihm bislang noch nie vorgeschlagen. Die Feste und Bälle auf dem Stammschloss der Herzöge von Montagiu

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waren stets fester Bestandteil des Jahreslaufes gewesen, an dem nie­mand je zu rütteln gewagt hätte.

»Ich bin nicht sonderlich erfreut, doch ich füge mich natürlich in deine Pläne, Mama, der Ball muss meinetwegen nicht verschoben wer­den«, erklärte er leicht befremdet.

»Ich hoffe, du sagst das nicht nur, um deine Ruhe zu haben.« »Gewiss nicht. Aber ich verstehe nicht ganz...« »Nun, Gerald, ich will offen sein. Seit wir aus Frankreich zurück

sind, verschließt du dein Herz vor mir. Dabei scheinst du schwere Sor­gen zu haben, wie deine allzu ernste Miene beweist.« Sie zögerte kurz, ehe sie fragte: »Kann es sein, dass der Mann im alten Turmzimmer etwas damit zu tun hat?«

Der Herzog wurde eine Spur blasser, er musterte seine Mutter so misstrauisch, wie dieses es noch nie erlebt hatte. Seine Reaktion schien ihre Vermutung zu bestätigen.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, behauptete er dann aber und wollte sich erheben.

Elisabeth bat: »Bleib. Ich möchte nun die Wahrheit erfahren, denn immerhin habe auch ich auf Montagiu-Hall gewisse Rechte. Seit einiger Zeit hältst du dich von London fern, was sonst nicht deine Art ist. Und du hast dich zum Geheimniskrämer mir gegenüber entwickelt. Gibt es denn wirklich kein Vertrauen mehr zwischen uns? Glaubst du, in mir deinen Feind zu sehen?«

»Bitte, Mama, frage nicht weiter. Ich sehe ganz sicher nicht mei­nen Feind in dir. Doch ich möchte nicht, dass du von Dingen erfährst, die auch dich in Gefahr bringen könnten.«

»Was soll das heißen? Ist die Lage so ernst?« Sie schaute ihn mit einem Blick an, der deutlich die Wahrheit einforderte. Gerald senkte die Lider und murmelte: »Peter Atwell wohnt im Turmzimmer. Er ist auf der Flucht vor den Häschern des Königs. Und ich konnte als sein Freund nicht die Hilfe verweigern.«

»Ich verstehe. Und wie soll es weitergehen? Er wird schwerlich den Rest seines Lebens in dieser schäbigen Klause verbringen wollen. Habt ihr Pläne gemacht?«

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Nun war der Herzog doch erstaunt. Nicht nur, dass seine Mutter kein Wort der Verärgerung hören ließ, sie schien spontan helfen zu wollen. Damit hatte er nicht gerechnet.

»Wir warten auf eine Gelegenheit, ihn außer Landes zu bringen. Doch eine einzelne Kutsche fällt auf. Und ich bin mir durchaus nicht im Klaren darüber, ob Montagiu-Hall nicht beobachtet wird.« Er überlegte kurz. »Der Ball wäre vielleicht die richtige Möglichkeit ihn von hier fort­zubringen und nach Portsmouth zu schaffen. Aber er birgt auch die Gefahr, gesehen zu werden...«

»Ich denke, das ist die beste Lösung«, pflichtete die Herzogin ih­rem Sohn nach einer Weile bei. »Es werden mehrere Hundert Men­schen im Haus sein. Das ist der rechte Zeitpunkt für eine Flucht. Hat Peter die Mittel, auf dem Kontinent unterzutauchen?«

»Mama, du machst dich allein mit deinen Worten zum Kompli­zen«, erinnerte Gerald sie konsterniert.

Doch sie lächelte nur vage. »Ich habe dir einmal vorgeworfen, dich für Dinge in Gefahr zu begeben, die dich eigentlich nichts ange­hen. Nun erlebe ich selbst, wie brennend der Wunsch zu helfen wer­den kann. Der junge Atwell ist kein Verbrecher. Und wir können es nicht zulassen, dass er wie einer behandelt wird.«

Gerald atmete tief durch. »Du hast Recht. Also beim Ball...«

*

Lady Annabell Forsyth begutachtete das Werk ihrer Zofe mit Wohlge­fallen. Lissy hatte sie wieder einmal wie eine Königin herausgeputzt. Das eierschalenfarbene Ballkleid aus feinster Seide unterstrich den zarten Teint der jungen Lady und brachte ihre schlanke, gut gewach­sene Figur äußerst vorteilhaft zur Geltung. Sie trug nur sehr dezenten Perlschmuck, zu den langen Abendhandschuhen einen farblich abge­stimmten Fächer und ein kleines Abendtäschchen. Die honigblonde Haarpracht war kunstvoll frisiert, ein paar vorwitzige Löckchen ringel­ten sich um den langen, schlanken Hals der Lady. Annabell konnte mit ihrer Erscheinung mehr als zufrieden sein. Als sie wenig später die Kutsche bestieg, die sie nach Montagiu-Hall bringen sollte, kamen ihr

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aber doch wieder Zweifel. War es nicht zu früh für ein solches Amü­sement? Würde das schlechte Gewissen sie nicht wieder überfallen? Als habe Lissy ihre Gedanken erahnt, sagte sie nun mit einem ver­schmitzten Lächeln: »Dieser Abend soll nur Euch allein gehören, Myla­dy. Amüsiert Euch, denn so hätte es der selige Herr gewollt.«

»Ja, du hast recht, Lissy«, erwiderte Annabell nachdenklich, dann aber lächelte auch sie und gab dem Kutscher Zeichen, loszufahren. Die Fahrt über Land dauerte gut eine Stunde. Es war längst dunkel, als Lady Annabell Montagiu-Hall erreichte. Trotzdem war der Anblick, der sich ihr bot, beeindruckend. Das Stammschloss der Herzöge, die nah mit dem Königshaus verwandt waren, erstrahlte in festlichem Glanz. Eine lange Reihe nobler Karossen stand vor dem Portal. Und aus dem Ballsaal klangen bereits beschwingte Walzermelodien an das Ohr der jungen Lady.

Die Herzogin hielt sich noch in der Halle auf, um ihre Gäste zu be­grüßen. An ihrer Seite stand ein junger Mann, den Annabell nicht kannte. Doch es schien klar, dass es sich um den Herzog handelte. Lady Annabell spürte, wie ihr Herz unruhig zu klopfen begann, als sie sich ihm näherte. Und als sich ihre Blicke trafen, was es ihr, als treffe sie ein Blitz aus heiterem Himmel. Natürlich ließ sie sich nichts an­merken, wechselte ein paar Worte mit der Herzogin und freute sich, dass diese Anteil an ihrem Schicksal nahm.

»Wir alle bedauern den frühen Tod Ihres Mannes, meine Liebe«, versicherte Elisabeth liebenswürdig. »Mit ihm verliert England einen großen Kopf.«

»Ja, Walter lebte nur für seine Wissenschaft«, entgegnete sie au­tomatisch. Zugleich fiel es ihr schwer, unbefangen zu bleiben, denn sie spürte Geralds Blick, der noch immer auf sie gerichtet war, beinahe körperlich. Annabell hatte nur den Wunsch, sich aus der unmittelbaren Nähe dieses allzu faszinierenden Mannes zu entfernen. Nie zuvor hatte sie spontan so empfunden. Und dieser Zustand erschien ihr ebenso beängstigend wie gefährlich. Leider bemerkte die Herzogin nichts von dem Aufruhr im Herzen der jungen Witwe, denn sie schlug nun vor: »Gerald, würdest du Lady Annabell zum Tanz führen?« Als ihr Sohn sich näherte, machte sie die beiden miteinander bekannt. Gerald bot

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Annabell den Arm, sie legte ihre Hand nur zögernd darauf. Zugleich schienen sich ihre Blicke zu verspinnen, die junge Lady hatte das Emp­finden, als könnten diese schönen Augen ihr bis auf den Grund ihrer Seele schauen. Mit unruhig pochendem Herzen schritt sie an der Seite des Herzogs in den Ballsaal. Alle Aufmerksamkeit richtete sich kurz auf das attraktive Paar und ein Raunen schien durch die Menge zu gehen.

Gerald nahm es nicht wahr. Alle seine Sinne waren auf die junge Schönheit an seiner Seite gerichtet. Nie zuvor hatte sein Herz sich so spontan einem Menschen zugewandt, wie er es gerade eben in der Halle erlebt hatte. Ob dies wohl die berühmte Liebe auf den ersten Blick war? Er mochte es nicht glauben, denn für solch romantische Ideen hatte der junge Politiker bislang keinen Sinn entwickelt. Und doch.... Er brauchte ja nur in Annabell Forsyths seelenvolle Augen zu blicken, um alles um sich herum zu vergessen und sich zu verlieren in dieser zauberhaften Anmut und unübertroffenen Schönheit.

Als die junge Lady dann in seinen Armen über die Tanzfläche schwebte, erfüllte ein beinahe euphorisches Glücksgefühl die Brust des jungen Duke. Annabell - sie war der Mensch, den er im Stillen immer gesucht, doch in keinem der nichts sagenden Mädchengesichter aller vergangener Bälle gefunden hatte. Ihre Augen, ihr Lächeln, sie war wie der Engel, der vom Himmel gestiegen kam, bloß um eines einzigen Menschen, um eines einzigen, großen Gefühls willen...

Es fiel dem Herzog etwas schwer, Konversation zu machen, wäh­rend seine Gefühle Kapriolen schlugen. Doch er bemühte sich, einen positiven Eindruck auf seine Tanzpartnerin zu machen, ohne zu ahnen, dass ihr Herz ebenso in Aufruhr war wie das seine.

Sie sprachen über Sir Walters Forschungsgebiet, auf dem Annabell sich gut auskannte, über den Ball, gesellschaftliche Neuigkeiten und die anstehende Fuchsjagd. Und dabei führten ihre Augen mit Blicken eine ganz andere Unterhaltung.

Als die Musiker eine Pause einlegten, führte Gerald Annabell in den Wintergarten, der sich dem Ballsaal anschloss. Es war nun zu kalt, um im Park spazieren zu gehen, wie man es bei der Saisoneröffnung zu tun pflegte. Doch das große Glashaus mit all seinen exotischen Pflanzen war ein durchaus annehmbarer Ersatz. Weitere Paare hatten

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diesen Ort aufgesucht, um sich nach dem Tanz zu erfrischen und ein wenig ungestört zu sein. Schweigen senkte sich zwischen den Herzog und seine Begleiterin und Gerald empfand eine Befangenheit, die ihm bislang fremd gewesen war. Er rückte Annabell einen der verspielten Korbsessel und nahm zwei Gläser Champagner vom Tablett eines Die­ners, der sich unauffällig genähert hatte.

»Wollt Ihr Euch nicht zu mir setzen, Hoheit?«, fragte die junge Lady und lächelte ihm verhalten zu.

»Wenn es Euch genehm ist«, erwiderte er steif. Sein Blick schweifte über die Umgebung, in der es plötzlich seltsam still gewor­den war.

Annabell schien das Gleiche zu denken wie Gerald, denn sie merk­te nun mit einem verschmitzten Lächeln an: »Wie es scheint, stehen wir im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses.«

»Ich hoffe, das ist Euch nicht unangenehm, Lady Annabell. Doch es ist wohl eine Binsenweisheit, dass ein solcher Ball stets auch als Quell von neuen Gerüchten und Klatsch dient.«

Sie winkte ab. »Ich gebe nichts auf Klatsch. Es ist mein erster Ball seit dem Tod meines Mannes. Und als Sir Walter noch lebte, nahmen wir ebenfalls nicht sehr rege am gesellschaftlichen Leben teil. Mein verstorbener Mann lebte nur seiner Wissenschaft.«

»Er muss sich sehr glücklich geschätzt haben, eine Gefährtin wie Euch an seiner Seite zu wissen«, mutmaßte Gerald spontan. Als Anna­bell errötete, murmelte er jedoch: »Verzeiht, ich wollte Euch nicht in Verlegenheit bringen.«

»Oh, es gibt nichts zu verzeihen. Eine Witwe hört nicht sehr oft solche Komplimente.«

»Ihr, eine Witwe?« Der Herzog schüttelte ungläubig den Kopf. »Das will und kann ich kaum glauben.«

»Nun, es entspricht aber den Tatsachen. Als ich heiratete, war ich sehr jung, nicht einmal großjährig.«

»Und Prof. Forsyth war Euer Mentor? So, wie Ihr über seine For­schungsarbeit gesprochen habt, scheint es mir, Ihr wart seine fleißigs­te Schülerin.«

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Die junge Lady lächelte verschämt. »Ihr müsst wissen, Hoheit, ich stamme aus einfachen Verhältnissen. Nie und nimmer hätte es mir zugestanden, nach Bildung zu fragen. Doch ich war stets neugierig. Mein Vater stand der Bibliothek in Oxford vor. Ich konnte ihn über­reden, mich als Hilfe anzunehmen, wenn gar zu viel zu tun war, zum neuen Unterrichtsbeginn oder vor den Ferien. Dann stand ich zwischen den langen, langen Reihen voller Bücher und stellte mir vor, wie schön es sein müsste, all dies zu lesen. Eines nach dem anderen.«

Er hatte ihr fasziniert zugehört, nun fragte er: »Gewiss habt Ihr ei­nige gelesen, nicht wahr?«

Sie lachte. »Oh ja. Doch stets heimlich. Und vieles konnte ich nicht verstehen, da haperte es einfach an der Schulbildung. Sir Walter brachte mir all das später nah. Ich verdanke ihm viel, er war ein sehr geduldiger Lehrer für mich.«

»Doch war er auch mehr?« Der Herzog legte seine Rechte auf die der jungen Dame und suchte ihren Blick. »Lady Annabell, Ihr mögt mich für verrückt halten! Doch als ich Euch eben in der Halle das erste Mal sah, da war es mir, als wisse mein Herz schon sehr lange von Euch. Habt Ihr das nicht auch gespürt?«

Sie errötete heftig, entzog ihm ihre Hand und murmelte verwirrt: »Ich weiß nicht, was Ihr meint, Hoheit. Und ich muss Euch zudem er­suchen, mich nicht so in Verlegenheit zu bringen.«

»Verzeiht!« Er stand auf, ging ein paar Schritte und kehrte schließlich fast zögernd zu ihr zurück. Sein Blick suchte den ihren, als er ihr gestand: »Ich verstehe mich ja selbst nicht. Doch nie zuvor empfand ich so für einen anderen Menschen. Darf ich Euch wenigstens wieder sehen, gestattet Ihr es mir? Denn ich muss nun leider schei­den, wichtige Geschäfte berufen mich ab.«

Sie war ebenso überrascht wie enttäuscht. »Zu so später Stunde? Ich verstehe nicht recht...«

»Seid versichert, es ist nichts Unrechtes. Doch ich habe einem Freund einen Dienst versprochen, von dem Leib und Leben abhängen. Vergebt mir, wenn ich Euch einfach allein lasse. Und gestattet mir, Euch am Sonntag aufzusuchen!«

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Sie überlegte kurz. Eigentlich schickte es sich nicht, dieses Ansin­nen zu bejahen. Lady Annabell war noch in Trauer und konnte keinen Herrenbesuch empfangen, ohne ins Gerede zu kommen. Zudem durfte sie ihrem eigenen Herzen nicht trauen, das sich in der Nähe des jun­gen Herzogs zu überaus unvernünftigen Kapriolen verstiegen hatte. Und dennoch... Blickte sie in seine ernsten, klaren Augen, die ebenso sanft wie innig um ihre Gunst baten, blieb ihr keine Wahl.

»Ich erwarte Euch zum Tee«, beschied sie ihn mit einem feinen Lächeln. »Doch bitte, zieht keine falschen Schlüsse daraus, Hoheit. Noch stehe ich im Trauerjahr.«

»Ich danke Euch und respektiere all Eure Wünsche.« Er verneigte sich tief, küsste ihr galant die Rechte und verließ dann rasch den Win­tergarten. Lady Annabell blieb überaus verwirrt und aufgewühlt zu­rück. Ein leises Gefühl der Sehnsucht schlich sich in ihr Herz und zugleich ertappte sie sich bei dem Wunsch, der Sonntag möge schnel­ler als sonst anbrechen...

*

Die Herzogin saß bereits am Frühstückstisch, als ihr Sohn am nächsten Morgen erschien. Ihr Blick war eine Frage, die er mit einem knappen Nicken beantwortete.

»Er ist also in Sicherheit«, murmelte Elisabeth aufatmend. »Ich bin froh; um seinet- wie um deinetwillen.«

»Ich werde nachher nach London fahren. Lady Annabell lud mich zum Tee ein«, berichtete Gerald wie nebenbei.

Seine Mutter horchte allerdings sofort auf. Ihr war nicht entgan­gen, dass ihr Sohn sich ungewöhnlich gut mit der jungen Witwe ver­standen hatte. Doch sie konnte nicht behaupten, damit einverstanden zu sein. Deshalb mahnte sie den Duke nun: »Du solltest es bei diesem einen Besuch bewenden lassen, mein Junge, damit kein falscher Ein­druck entsteht.«

»Ich verstehe nicht ganz«, behauptete er unwillig. »Lady Annabell ist eine respektable Person...«

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»Aber keine in Frage kommende Partie. Sie ist verwitwet und stammt selbst aus sehr kleinen Verhältnissen.« Die Duchess warf ih­rem Gegenüber einen strengen Blick zu. »Du solltest nicht einmal in diese Richtung denken, Gerald, denn das verbietet sich ganz von selbst.«

»Wie du meinst, Mama.« Er schwieg, denn er sah es als müßig an, seiner Mutter nun in dieser Sache zu widersprechen. Doch er war fest entschlossen, Annabell nicht nur einmal zu besuchen. Dafür bedeutete sie ihm bereits nach der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft viel zuviel...

Als der Herzog eine Weile später Montagiu-Hall verließ, schaute seine Mutter ihm mit nachdenklicher Miene hinterher. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass die Bekanntschaft mit Lady Annabell noch Fol­gen für Gerald zeitigen sollte, die ihr alles andere als gleichgültig sein konnten.

»Es heißt, sie haben sich auf dem Ball sehr gut verstanden. Und im Wintergarten noch besser«, hörte sie die Zofe nun aus dem Hinter­grund sagen. Elisabeth wandte sich von dem großen bleiverglasten Fenster im Esszimmer ab und warf ihr einen fragenden Blick zu. »Sie verbreiten neuerdings Klatsch, Roberts? Das war doch bislang nicht ihre Art...«

»Ich wiederhole nur, was ich hörte«, rechtfertigte sie sich und kam etwas näher. »Lady Forsyth ist eine Schönheit, die alle Männer zu bezaubern versteht.«

»Mag sein. Doch es ist etwas anderes, etwas viel Gefährlicheres«, sinnierte die Herzogin. »Gerald ist bereits jungen Damen von größe­rem Liebreiz begegnet. Nie drückte er den Wunsch aus, eine von ihnen näher kennen zu lernen. Selbst die Prinzessin Neuville schaffte es nicht, ihn von einer politischen Debatte mit ihrem Vater fernzuhalten.«

»Was denkt Ihr, Mylady? Was könnte Hoheit so sehr an dieser Frau fesseln? Immerhin steht sie noch im Trauerjahr, was doch Zu­rückhaltung an sich verlangt.«

»Nun, ich weiß es nicht genau. Doch ich fürchte, Gerald hat in Annabell Forsyth sein romantisches Ideal gefunden. Und dagegen et­was zu unternehmen, wird sich mehr als schwierig gestalten.«

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Der Duke ahnte zwar, was seiner Mutter durch den Sinn ging -schließlich kannte er ihre Einstellung sehr genau - doch es kümmerte ihn momentan herzlich wenig. Was ihm jedoch Sorge bereitete, waren die beiden Reiter, die ihm seit Montagiu-Hall folgten. Zunächst hatte er noch an einen Zufall geglaubt. Doch je länger die Unbekannten ihm im stets gleichen Abstand folgten, desto seltsamer erschien ihm dies. Er wies den Kutscher schließlich an zu halten, stieg aus und ging auf die Reiter zu, die ebenfalls stehen geblieben waren. Als er sich ihnen je­doch näherte, gaben sie ihren Pferden die Sporen und verschwanden in die entgegen gesetzte Richtung.

Nachdenklich kehrte der Herzog zu seiner Kutsche zurück. Was mochte das zu bedeuten haben? Soames, der Kutscher, fragte: »Wa­ren das die Gleichen wie letzte Nacht?« Und als Gerald ihn nur ver­ständnislos musterte, erklärte er: »Als wir nach Portsmouth fuhren, sind mir zwei Reiter aufgefallen, die uns im eben gleichen Abstand folgten wie diese beiden.«

»Sicher nur ein Zufall«, murmelte der Duke und stieg wieder ein. Er mochte mit dem Kutscher nicht über diese Dinge sprechen, vor al­lem aber wollte er seine Bestürzung nicht zeigen. Wenn diese beiden Unbekannten ihnen bereits am Vorabend auf den Fersen gewesen wa­ren, hatten sie Peter Atwells Flucht beobachtet. Ein ungutes Gefühl schlich sich in Geralds Magen und er fragte sich, ob der Freund wohl tatsächlich in Sicherheit war oder ob ihm vielleicht nur scheinbar die Flucht gelungen war. In nachdenklicher Stimmung erreichte er Lon­don, machte einen Umweg über das Parlament, traf dort aber am Sonntagnachmittag niemanden mehr an. Einzig im nahen Debattier­klub saßen einige Lords bei Pfeife und Whisky. Der Earl of Brikham begrüßte den jungen Herzog freundlich und wollte ihn sogleich zu ei­ner Partie Whist überreden. Doch danach stand Gerald überhaupt nicht der Sinn.

»Fühlen Sie sich in letzter Zeit verfolgt, Brikham?«, fragte er gera­deheraus. »Sind Ihnen zwei Reiter aufgefallen, die sich an Ihre Fersen geheftet haben?«

Der Earl machte eine so verständnislose Miene, dass sich eine Antwort bereits erübrigte. Auch kein anderer der Anwesenden schien

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etwas mit Geralds Fragen anfangen zu können. Schließlich verließ er den Klub unverrichteter Dinge und fuhr nach Mayfair, um seinen - nun etwas verspäteten - Besuch bei Lady Annabell zu machen. Sie zeigte sich nicht verstimmt, sondern schien sich im Gegenteil über sein Er­scheinen zu freuen. Einzig seine verschlossene Miene gefiel ihr nicht.

»Was habt Ihr nur, Hoheit? Wenn ich Euch anschaue, fürchte ich um meine Reputation als Gastgeberin«, stellte sie bekümmert fest, als sie bei Tee und Gebäck im Salon saßen.

Gerald besann sich auf seine Manieren und versicherte: »Ich ge­nieße diesen Besuch sehr. Leider gehen mir viele andere Dinge durch den Kopf und lenken mich zu sehr ab. Vielleicht wäre es besser, ich verabschiede mich, eh ich Euch mit meiner Unaufmerksamkeit zu sehr gegen mich aufbringe.«

»Das würde ich Euch allerdings übel nehmen«, erwiderte Annabell tadelnd. »Könnt Ihr mir nicht sagen, was Euch bedrückt? Gestern spracht Ihr von einer Seelenverwandtschaft, die auch ich sogleich spürte. Mag sein, es ist gegen Konvention und Anstand, doch ich wür­de Euch Euer Vertrauen niemals schlecht vergelten. Und umgekehrt sehe ich es ebenso. Ihr, Hoheit, wart vom ersten Augenblick an eine vertraute Seele für mich. Und ich denke, ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage, dass auch mein Herz Euch schon lange gekannt hat.«

Gerald hatte ihr aufmerksam zugehört. Er schwieg eine Weile, schließlich lächelte er angedeutet, drückte ihre schmale Rechte kurz und versicherte ihr: »Es ist besser, Ihr wisst nichts von dem, was mein Herz beschwert. Doch ich danke Euch für Eure Offenheit und will sie mit Gleichem vergelten. Erlaubt Ihr mir, Eure Nähe sehr bald wieder zu suchen?«

»Gewiss.« Sie senkte errötend den Blick, hielt seine Hand aber noch einen Moment lang fest. »Es würde mir viel bedeuten...«

»Ich danke Euch, von Herzen.« Der Kuss, den er auf ihre schmale Rechte hauchte, war weniger galant als gefühlvoll. Und als Gerald be­reits gegangen war, meinte Annabell, noch immer seine Lippen auf ihrer Haut zu spüren...

»Ein wunderbarer Mann«, stellte Lissy am Abend mit verhaltener Begeisterung fest, als sie ihrer Herrin beim Auskleiden half.

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»Von wem sprichst du, Lissy?«, wollte die junge Lady wissen. »Vielleicht von dem netten Bobby, der hier seine Runden dreht?«

»Ach, Unsinn, von dem doch nicht!« Die Zofe kicherte albern. »Der ist ganz passabel. Aber doch nicht wunderbar! Nein, ich meine den jungen Herzog. Eine imposante Erscheinung, sehr attraktiv. Und ich glaube fast, er ist in Euch verliebt!«

»Nun ist es aber gut, Übermut!« Annabell bedachte die kleine Brü­nette mit einem strafenden Blick. »Der Duke of Montagiu ist mir erst gestern Abend zum ersten Mal begegnet.«

»Na und? Liebe auf den ersten Blick. Das soll es wirklich geben, Mylady. Ich hab's in einem Roman gelesen, da...«

»Ja, sicher. Du solltest deine Nase in ein ordentliches Buch ste­cken, Lissy, nicht in solche Schmöker, die nichts anderes sind als Mär­chenbücher.«

»Aber es stimmt trotzdem«, beharrte die Zofe vorlaut. »Der Her­zog ist der lebende Beweis. Und gewiss wird er schon sehr bald wieder hierher kommen, um seine Aufwartung zu machen...«

»Das genügt.« Lady Annabell legte sich nieder. »Ich möchte nun schlafen und brauche dich heute nicht mehr.«

»Gute Nacht!« Lissy schmunzelte frech. »Und süße Träume, Myla­dy.« Sie machte sich rasch davon, bevor sie noch eine Ermahnung zu hören bekam. Annabell konnte nur den Kopf schütteln. Manchmal war ihre Zofe tatsächlich so vorlaut wie ein kleines Mädchen. Doch was sie sagte, ja, das hatte meist Hand und Fuß. Mit einem leisen Seufzer schmiegte die Lady sich in die weichen Kissen. O ja, Gerald of Mon­tagiu hatte großen Eindruck auf sie gemacht, das konnte man nicht bestreiten. Es war, wie er es ausgedrückt hatte: Vom ersten Moment an war eine besondere Vertrautheit zwischen ihnen gewesen, so, als existierte tatsächlich eine Art Seelenverwandtschaft zwischen ihnen. Aber war denn das möglich?

Die Lady dachte an das Kennen lernen mit Sir Walter zurück. Es hatte lange gedauert, bis sie Vertrauen zu ihm geschöpft hatte. Und in manchem war er ihr immer fremd geblieben. Doch zwischen ihr und dem jungen Herzog war es anders; ganz anders.

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Annabell empfand plötzlich eine unbestimmte Angst. Sie wusste sehr wenig von diesem Mann, nur, dass er aus einer der ersten Famili­en des Landes stammte und auch ein bekannter Politiker mit Sitz im Oberhaus war. Doch was, wenn es sich nun bei ihm um einen Char­meur und Herzensdieb handelte? Sie war einsam und verletzlich, ein leichtes Opfer für einen Mann dieser Couleur. War das möglich... Bei­nahe unwirsch schob Annabell einen solchen Gedanken von sich. Sie musste nur in Geralds ehrliche Augen sehen, um zu wissen, dass er ihr nie ein Arg zufügen würde. Sie vertraute ihm, denn sie glaubte, ihn zu kennen. Und sie spürte, dass ihr Herz sich ihm bereits zugewandt hat­te, auch wenn es dafür in mehr als einer Hinsicht noch viel zu früh zu sein schien...

*

Der junge Herzog von Montagiu unternahm sehr zeitig am nächsten Morgen einen strammen Ritt durchs Gelände, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Es war weniger sein Besuch bei Lady Annabell, der ihn verwirrt hatte, als vielmehr die beiden mysteriösen Reiter, die Soames auch auf der Rückfahrt nach Montagiu-Hall in der Ferne aus­gemacht hatte. Wie es schien, beobachteten diese beiden Kerle ihn schon seit geraumer Zeit, ohne dass Gerald es bemerkt hätte. Nun waren sie zwar etwas vorsichtiger, hielten mehr Abstand. Doch sie schienen durch einen festen Auftrag gebunden, der es ihnen un­möglich machte, ihr Unterfangen aufzugeben. Der Duke fragte sich, was dies zu bedeuten hatte. Eigentlich gab es nur eine schlüssige Ant­wort: Die Spione standen in Diensten des Königs und sollten Material gegen den jungen Edelmann sammeln. Wieder kam ihm die Frage in den Sinn, ob Peter Atwells Flucht tatsächlich gelungen war. Oder hatte er dem Freund mit seiner Hilfe vielleicht sogar einen schlechten Dienst erwiesen? Plötzlich schien alles unklar. Gerald hätte sich gerne mit jemandem beraten, doch er wusste nicht, an wen er sich wenden soll­te. Seine Mutter wollte er damit nicht behelligen, zumal ihm klar war, dass sie sich nur noch größere Sorgen um ihn machen würde. Lady Annabell vertraute er, obwohl sie einander erst so kurz kannten. Aber

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er wollte und konnte sie nicht zur Mitwisserin in einer Angelegenheit machen, die schließlich auch für sie gefährlich werden konnte. So blieb ihm nichts weiter, als abzuwarten und wachsam zu sein. Als der Her­zog dann das Frühstückszimmer betrat, war seine Mutter bereits zuge­gen. Die Hausherrin wirkte sehr ungehalten, wie Gerald leicht irritiert feststellte. Er war sich keiner Verfehlung bewusst, sollte allerdings umgehend erfahren, was die Herzogin ihm zum Vorwurf machte.

»Da du mir gestern Abend konsequent aus dem Weg gegangen bist, hoffe ich, dass wir zumindest jetzt ein ernstes Wort miteinander reden können, mein Junge«, sagte sie unduldsam. »Oder spricht viel­leicht wieder etwas dagegen?«

»Ich wüsste nicht, was. Allerdings ist mir auch nicht ganz klar, worüber du mit mir reden möchtest, Mama«, entgegnete Gerald freundlich.

»Du weißt es ganz genau.« Elisabeths Miene verfinsterte sich be­drohlich. »Diese Person...«

»Bitte?« Der junge Herzog gab sich begriffsstutzig. »Du hast gestern beinahe den ganzen Abend in ihrer Gesellschaft

verbracht, nachdem lediglich von einer Einladung zum Tee die Rede war«, stellte sie vorwurfsvoll fest. »Gerald, es liegt mir fern, mich in dein Leben zu mischen...«

»... aber du tust es trotzdem«, kam es lapidar von dem jungen Hochadligen. »Bitte, Mama, ich möchte davon nichts hören. Ich kenne deine Meinung und Einstellung Lady Annabell gegenüber. Doch diese wird nichts daran ändern, dass sie mir viel bedeutet und ich sie auf jeden Fall wieder sehen will. Ganz egal, wie du dazu stehst.«

Elisabeth schluckte. Das war deutlich! Wie es schien, musste sie umgehend handeln, um ihren Sohn vor einer Dummheit zu bewahren. Diese Person, die sich recht glaubhaft den Anstrich einer bedauerns­werten Witwe gegeben hatte, schien es faustdick hinter den Ohren zu haben. Wie anders war es sonst zu erklären, dass sie Gerald in so kur­zer Zeit dermaßen den Kopf verdrehen konnte?

»Du hast also vor, gesellschaftlichen Kontakt zu dieser Frau zu pflegen? Das überrascht mich nun wirklich. Die Tochter eines Biblio­thekars, die sich blutjung an einen älteren Professor herangemacht

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hat, nun... Ich kann nicht finden, dass eine solche Frau der rechte Umgang für dich ist. Doch es ist dein Leben, deine Entscheidung.«

»Wie du ganz richtig bemerkt hast«, kam es grimmig von dem jungen Mann, dem sie harten Worte seiner Mutter zuwider gingen.

»Eines sollte dir jedoch von Anfang an klar sein, Gerald: Eine Frau wie Annabell Forsyth wird niemals als Herrin von Montagiu-Hall Einzug halten. Das ist absolut undenkbar und indiskutabel. Wie du also planen magst; berücksichtige bitte diese Tatsache.«

Man sah Gerald deutlich an, dass er eine heftige Erwiderung auf der Zunge hatte. Seine markante Miene rötete sich vor Zorn, doch er schaffte es schließlich, seine Fassung wiederzuerlangen und kühl zu erwidern: »Da du bereits in größeren Dimensionen denkst, möchte ich dazu nur eines sagen: Sollte ich beabsichtigen, Annabell zu heiraten, wovon noch lange nicht die Rede sein kann, so werde ich dies tun. Wie du eben so passend bemerkt hast: Ich bin mein freier Herr und kann meine eigenen Entscheidungen treffen.«

»Gerald, das ist indiskutabel!« »Mag sein, aber es ist meine Meinung. Und nun entschuldige mich

bitte, Mama, ich muss ins Parlament.« Die Herzogin blieb in größter Verärgerung zurück. Und während

der junge Mann bereits auf dem Weg nach London war, überlegte sie noch immer, wie sie es anstellen konnte, Gerald seine Flausen im Be­zug auf diese unmögliche Person auszutreiben. Ein kluger Einfall wollte sich aber nicht einstellen...

Im Parlament herrschte eine seltsam gespannte Atmosphäre. Ge­rald versuchte mehrfach, den Grund dafür herauszufinden, doch es wollte ihm nicht gelingen. Einzig der Earl of Brikham schien seine un­erschütterliche Ruhe nicht verloren zu haben, er scherzte: »Nun, Ho­heit, seid Ihr Eure heimlichen Begleiter denn los geworden?«

Gerald ging nicht auf die Worte ein, er bemerkte eine Gruppe von Lords, die in ein angeregtes Gespräch vertieft schienen, sich aber so leise unterhielten, dass nichts zu verstehen war. Der junge Herzog näherte sich ihnen und hörte, wie einer gerade anmerkte: »Es wäre eine gefährliche Sache, doch gelänge es, könnte unser Land endlich aufatmen.«

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Man bemerkte Gerald, Lord Wessex nickte ihm zu und fragte: »Seid Ihr verschwiegen, Hoheit, könnt ein Geheimnis wahren, bis es keines mehr ist? So bleibt. Doch nur, wenn Ihr nach dem Herzen auch ein Patriot seid.«

»Beides möchte ich nicht abstreiten«, entgegnete der Ange­sprochene vorsichtig. »Allerdings erscheint es mir fraglich, ob alle in dieser Runde dies ebenfalls ohne Zögern behaupten können.«

Wessex, ein entfernter Verwandter des Königshauses, lächelte schmal. »Seid unbesorgt, Ihr befindet Euch unter Männern, die dem Üblen, das unser Land heimgesucht hat, endlich Paroli bieten wollen. Schließt Euch uns an, so wollen wir es wagen. Doch es muss auch ohne Eure Hilfe gehen.«

Der junge Herzog musste nicht lange überlegen. »Ich habe nur darauf gewartet, dass sich wieder eine solche Stimme erhebt. Ihr könnt auf mich zählen, Sir.«

Der Graf blickte in die Runde und sah dabei nur Zustimmung. »Nun gut, wir schätzen uns glücklich, Euch in unserer Mitte zu wissen. Heute Abend treffen wir uns im Debattierklub. Seid pünktlich, Hoheit, gleich nach dem Ende der Parlamentsdebatten. Es gibt viel zu bespre­chen und die Zeit wird allmählich knapp.«

»Ich werde da sein«, versprach der Duke. »Ihr könnt auf mich zählen, dafür stehe ich mit meinem Wort ein...«

*

Lady Annabell wartete ungeduldig darauf, dass der junge Herzog sich wieder bei ihr meldete. Einige Tage vergingen, in denen nichts ge­schah und allmählich wurde ihr das Herz schwer. Sie glaubte bereits, sich in Gerald of Montagiu geirrt zu haben, als er eines Abends an ihre Tür klopfte, ihr ein atemberaubend schönes Bouquet roter Rosen über­reichte und bat: »Verzeiht mir, dass ich Euch zu dieser Stunde und unangemeldet aufsuche, Lady Annabell. Doch wichtige Geschäfte be­anspruchten für eine Weile meine gesamte Aufmerksamkeit und ließen mich nicht daran denken, Besuche zu machen.«

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Sie lächelte nachsichtig. »Es gibt nichts zu verzeihen. Ich freue mich sehr, Euch zu sehen, Hoheit. Und ich danke für die wunderbaren Blumen.«

Er folgte ihr in den Salon, wo er sich bereits ein wenig heimisch fühlte und fragte: »Würdet Ihr mir die Freude machen, das Wochen­ende auf Montagiu-Hall zu verbringen? Mir läge viel daran, ein wenig mehr Zeit mit Euch zu haben. Und nächste Woche steht bereits die Fuchsjagd an, was wieder ein Haus voller Gäste bedeutet, die es ei­nem unmöglich machen, ungestört zu sein.«

Lady Annabell bot ihrem Gast Platz an, nachdem sie dem Dienst­mädchen geklingelt und um Tee und Gebäck gebeten hatte. Sie schau­te Gerald eine Weile wortlos an, bis dieser wissen wollte: »Verstimmt Euch meine Einladung, so ziehe ich sie zurück. Oder quält Euch viel­leicht ein Kummer, den ich lindern kann?«

Da lächelte sie angedeutet und gestand: »Ich habe Euch nur an­sehen mögen, um sicher zu sein, dass ich nicht träume. Denn Euer Besuch, nun, ich habe ihn sehr herbeigesehnt.«

Gerald nahm ihre Rechte und drückte sie sanft. Sein Blick sagte ihr, wie er empfand, aber noch wagte er nicht, es auszusprechen. »Ich bin auch sehr froh, hier sein zu können. Und wie steht es, wollt Ihr meine Einladung annehmen, Lady Annabell?«

»Ich komme gerne. Montagiu-Hall ist ein imposanter Besitz. Und ich bin schon ein wenig neugierig darauf, dies alles im hellen Tages­licht zu sehen.«

»Vielleicht sogar vom Pferderücken aus?« Sie lächelte. »Sehr gerne. Oh, ich habe lange nicht mehr auf ei­

nem Pferd gesessen. Doch als Kind liebte ich es.« »So hattet Ihr in Eurer frühen Jugend dazu Gelegenheit?«, fragte

der Herzog ein wenig überrascht. Lady Annabell schmunzelte. »Ich weiß, man erzählt sich wenig

Schmeichelhaftes über meine Herkunft. Doch ganz so arg, wie es heißt, war meine Kindheit nicht. Mein Vater ist ein gebildeter Mann, auch wenn er weder Titel noch Vermögen besitzt. Er gab viel darauf, uns Kinder an alles heran zu führen, was im Leben wichtig werden

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könnte. Dazu gehörte eine gewisse Bücherbildung ebenso wie Manie­ren und gesellschaftliche Kontakte.«

»Ich habe Euch vom ersten Moment an für eine kultivierte Frau gehalten«, unterstrich Gerald anerkennend.

»Leider teilt nicht jeder Eure Meinung, Hoheit. Ich fürchte, allen voran gehörte die Herzogin zu den Zweiflern, die mich in einer ganz anderen Schicht ansiedeln und es nur widerwillig hinnehmen, dass ich durch meinen verstorbenen Mann gewisse Privilegien genieße.« Sie lächelte, als sie merkte, dass er ihr widersprechen wollte. »Ich mache das niemandem zum Vorwurf. Und manchmal erscheint es mir selbst ein wenig wie Hochstapelei, das Leben, das ich nun führe. Als ich kürz­lich meine Eltern in Oxford besuchte, wurde mir wieder vor Augen ge­führt, dass ich doch nicht viel mehr als ein einfaches Mädchen vom Lande bin...«

»Ihr solltet nicht tiefstapeln, Mylady, denn das entspricht nicht der Wahrheit«, mahnte Gerald sie sanft. »Und nun wollen wir nicht mehr über Herkunft und gesellschaftliche Verpflichtungen sprechen. Ich freue mich, Euch auf Montagiu-Hall zu sehen. Dieser Besuch soll etwas Besonderes werden. Und niemand darf ihn stören oder Euch in irgend­einer Weise zu nahe treten. Dafür stehe ich ein!«

Lady Annabell sehnte den Samstag herbei und zugleich empfand sie eine drängende Unruhe, die ihr Herz befallen hatte. Sie ahnte, dass der junge Herzog ihr bereits viel mehr bedeutete als gut für sie sein konnte. Nun ganze zwei Tage in seiner Gesellschaft zu verbringen, würde ihre aufgewühlten Gefühle auf eine harte Probe stellen. Sie nahm sich vor, auf Distanz zu bleiben, aber sie ahnte auch, dass ihr dies nicht eben leicht fallen würde. Gerald hatte ihr Herz berührt und obwohl Annabell sich nach dem Tod ihres Mannes nicht so rasch wie­der hatte verlieben wollen, war es doch geschehen, dieser Tatsache konnte sie kaum noch ausweichen. Lissy, ihre Zofe, sah das Ganze nicht so kompliziert.

»Wenn das Trauerjahr vorbei ist, werdet Ihr vielleicht ganz nach Montagiu-Hall umsiedeln wollen, Mylady«, mutmaßte sie, während sie eine kleine Reisetasche fürs Wochenende richtete. »Als junge Her­zogin...«

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Lady Annabell bedachte die kleine Brünette mit einem strengen Blick. »Solchen romantischen Unsinn möchte ich nicht noch einmal von dir hören, Lissy. Oder aber ich werde allein nach Winchester fahren.«

»Entschuldigt, Mylady, es soll nicht wieder vorkommen«, ver­sprach diese und schaute ihre Brotherrin bewundernd an. Im mauve­farbenen Reisekleid mit passendem Mantel und Hut wirkte die junge Frau äußerst elegant.

»Ob ich damit wohl einen guten Eindruck machen werden?«, frag­te die hübsche Lady mehr sich selbst, während sie sich prüfend vor dem Spiegel drehte.

»Ihr seht wunderschön aus«, versicherte Lissy. »Mag sein. Doch die Herzogin stellt hohe Ansprüche, denen ich

sowieso nicht gerecht werden kann. Da ist es eigentlich einerlei, wie ich mich kleide.«

»Das verstehe ich nicht«, musste die Zofe zugeben. Lady Annabell lächelte schmal. »Ist nicht wichtig. Wir sollten nun

aufbrechen, ich möchte in Montagiu-Hall sein, bevor es dunkel wird.« Während die junge Frau wenig später zusammen mit ihrer Zofe

den Weg nach Winchester antrat, befand sich Herzogin Elisabeth in zunehmender Sorge. Gerald hatte am Morgen das Haus verlassen, um, wie er sagte, etwas zu erledigen, was nicht mehr als eine Stunde in Anspruch nehmen würde. Nun war er bereits den ganzen Tag fort, der sich mittlerweile dem Abend zuneigte.

»Soll ich einen Boten nach London schicken?«, bot Milisett Roberts ihrer Herrin nun an, da diese sich gar nicht mehr vom Fenster lösen konnte und mit größter Besorgnis in die neblige Dämmerung starrte, die langsam das Land zu bedecken begann.

Die Duchess schüttelte den Kopf. »Das hätte wenig Sinn. Was immer Gerald aufgehalten hat, uns bleibt nichts weiter als abzuwar­ten.« Sie atmete schwer. »Ich hatte gehofft, es gäbe eine unverfängli­che Erklärung für sein Ausbleiben.« Sie wandte sich vom Fenster ab. »Doch nun muss ich sehen, dass sein Gast bereits eintrifft, während von meinem Sohn keine Spur zu finden ist. Das bedeutet, er war auch nicht bei Lady Annabell...« Sie verließ den Salon und sagte zu ihrer Zofe, die ihr folgte: »Kümmern Sie sich bitte um Lady Forsyth. Sie wird

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das Wochenende hier verbringen. Eigentlich ist sie der Gast meines Sohnes, doch solange Gerald nicht hier ist, übernehmen Sie das, Ro­berts.«

»Sehr wohl, Mylady.« Annabell war alles andere als erfreut über den kühlen Empfang

auf Montagiu-Hall. Die Tatsache, dass weder Gerald noch seine Mutter sich um sie kümmerten, sondern lediglich eine Bedienstete dafür ab­gestellt hatten, ärgerte sie so sehr, dass sie am liebsten sofort wieder zurück nach London gefahren wäre.

Die Zofe der Herzogin erklärte allerdings: »Hoheit sind noch nicht aus London zurück, weshalb die Duchess Sie bittet, sich noch ein we­nig zu gedulden. Sobald Ihr Gastgeber eintrifft, wird er gewiss seinen Pflichten Ihnen gegenüber nachkommen.«

Lady Annabell bedankte sich knapp und fragte dann Lissy, als sie allein waren: »Was mag das zu bedeuten haben? Weshalb ist der Her­zog nach London gefahren, obwohl er mich doch fürs Wochenende eingeladen hat? Das ergibt keinen Sinn.«

»Sicher hatte er noch geschäftlich dort zu tun und kommt umge­hend heim«, meinte die Zofe überzeugt. »Er ist ein Gentleman und würde Euch niemals unnötig warten lassen, davon bin ich überzeugt. Wartet nur ab, gleich wird seine Kutsche eintreffen!«

Annabell lächelte verhalten. Sie wusste, dass Lissy ihr Mut machen wollte, doch sie spürte zugleich, dass es vielleicht ein Fehler gewesen war, diese Einladung fürs Wochenende anzunehmen. Während der Herzog nicht einmal zuhause war, sah seine Mutter es offensichtlich weder als nötig noch angemessen an, sie überhaupt zu empfangen...

Eine ganze Weile hielt die junge Lady sich in den Räumen auf, die Milisett Roberts ihr zugewiesen hatte. Es wurde immer später, der A­bend kam, längst hatte sich Dunkelheit über das Land gesenkt. Eine schwer zu beschreibende Unruhe hatte Annabells Herz erfasst. Sie konnte sich nicht erklären, was hier geschah. Doch zugleich ahnte sie, dass etwas nicht stimmte, nicht stimmen konnte. Sonst wäre Gerald längst bei ihr. Ob ihm wohl etwas zugestoßen war? Sie wusste, dass er sich politisch nicht zurücknahm, auch schon gegen den König Partei

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ergriffen hatte. In diesen unruhigen Zeiten konnte das gefährlich wer­den...

Die junge Lady, die unruhig im Raum auf und ab geschritten war, blieb abrupt stehen. Sie hatte etwas gehört, spähte nach draußen in die Dunkelheit und erkannte nun einen Reiter, der rasch absaß und zum Haus strebte. Was hatte das zu bedeuten? Kurz wartete Annabell, dann beschloss sie, den Dingen selbst auf den Grund zu gehen. Wenn die Herzogin es nicht für nötig hielt, sie aufzuklären, musste sie eben auf eigene Faust herausfinden, was geschehen war.

Lady Annabell verließ das Gastzimmer und schritt einen langen Gang entlang, der zur Freitreppe führte. Sie wollte nach unten, in die Halle gelangen, als sie den Reiter bemerkte, die sich dort aufhielt. Er sprach zu Duchess Elisabeth, die leichenblass geworden war und sich auf ihre Zofe stützen musste. Annabell konnte nichts von dem verste­hen, was er sagte. Doch dass er schlechte Neuigkeiten brachte, schien völlig klar. Im ersten Impuls wollte sie nach unten laufen, um ebenfalls zu erfahren, was geschehen war. Dann aber wartete sie doch lieber, bis der Reiter wieder fort war. Als sie schließlich die Treppe hinunter schritt, kam ihr Lissy entgegen. Sie war sehr aufgeregt, konnte kaum reden: »Der Herzog ist verhaftet worden! Es heißt, er habe sich an einer Verschwörung gegen den König beteiligt. Er und einige andere Politiker sind in den Tower von London gebracht worden. Wie ist das denn nur möglich, Mylady?«

Annabell brauchte ein paar Augenblicke, um zu begreifen, was sie da gerade gehört hatte. Es schien ihr, als greife eine kalte Hand nach ihrem Herzen. Zugleich wurde ihr beinahe schmerzlich bewusst, wie viel Gerald of Montagiu ihr bedeutete. Sie liebte ihn! Und ihn nun in solch schrecklicher Lage zu wissen, das versetzte sie in größte Angst, ja Panik.

»Was wollt Ihr tun, Mylady?«, hörte sie Lissy wie aus weiter Ferne fragen. »Bleiben wir denn hier?«

»Ich muss mit der Herzogin sprechen«, entschied sie schließlich und strebte die Treppe hinunter. Lissy schaute ihrer Brotherrin mit gemischten Gefühlen nach. Der kühle Empfang auf Montagiu-Hall hat­te eigentlich schon für sich gesprochen. Hatte die Herzogin nun auch

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noch so schlimmen Kummer, würde sie Lady Annabell kaum empfan­gen. Wie es schien, stand dieser Besuch unter keinem guten Stern...

*

Die Herzogin brauchte nicht lange, um sich zu fangen. Hohe Geburt und strengste Erziehung hatten ihr von klein auf die Kraft verliehen, sich niemals gehen zu lassen, in jeder Lage und sei sie auch noch so bedrückend, Haltung zu bewahren. Die schaffte sie auch jetzt, obwohl dafür ihre gesamte Willensstärke nötig war. Immerhin war es genauso gekommen, wie Elisabeth befürchtet hatte. Und sie hatte es nicht ver­hindern können...

Ein Klopfen an der Tür ließ die Duchess unfreundlich fragen: »Wer ist da? Ich will nicht gestört werden.« Und als Lady Annabell gleich darauf erschien, wurde ihre Miene vollkommen abweisend. »Mylady, Ihr seid der Gast meines Sohnes, mir wäre es nicht eingefallen, Euch zu einem solch privaten Besuch in dieses Haus einzuladen. Nun, da uns Kummer quält, muss ich Euch ersuchen, Distanz zu wahren, um des Anstandes willen!«

»Bitte, Lady Elisabeth, schickt mich nicht so fort«, bat Annabell daraufhin gequält. »Ich hörte schlimme Dinge. Ist es wahr, dass man Euren Sohn gefangen nahm wie einen Verbrecher? Ich kann und will es nicht glauben...«

»Geht«, war alles, was die Herzogin darauf antwortete. Sie wand­te sich ab und schien darauf zu warten, dass ihr Gegenüber dieser Aufforderung Folge leistete. Im ersten Impuls wollte die junge Frau dies auch tun. Nie zuvor war sie sich so fehl am Platze vorgekommen und zugleich so unerwünscht. Doch dann erwachte der Trotz in ihr. Sie dachte an Gerald und spürte den Mut, sich gegen die stolze Herzogin zu stellen.

»Lady Elisabeth, ich weiß, Ihr lehnt mich ab. Und es ist nun nicht der Zeitpunkt, über bigotte Vorurteile zu streiten. Euer Sohn bedeutet mir sehr viel. Und sein Schicksal kann mich nicht unberührt lassen. Deshalb bitte und flehe ich um eine Erklärung! Ihr könnt, Ihr dürft mir diese nicht verwehren!«

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Elisabeth drehte sich wieder um, betrachtete die junge Frau eine Weile stumm und stellte schließlich abfällig fest: »Ich bin nun nicht mehr darüber erstaunt, dass Ihr, aus einfachsten Verhältnissen kom­mend, einen so großen Schritt von einer Klasse in die übernächste tun konntet. Eure Unverfrorenheit übertrifft beinahe noch Eure Manieren­losigkeit. Dass mein Sohn Euch etwas bedeutet, ist wohl klar. Ihr plant gewiss schon den nächsten Teil Eures Aufstieges. Doch damit wird es nun Essig sein. Ich werde zu verhindern wissen, dass mein Sohn sich weiterhin mit Euch abgibt, Lady. Und falls Ihr Euch nicht endlich ent­schließen könnt, zu gehen, werde ich den Butler bemühen müssen.« Ohne auf eine weitere Reaktion zu warten, verließ die Herzogin den Salon. Milisett Roberts, die sich während der Auseinandersetzung im Hintergrund gehalten hatte, wartete nun, bis ihre Brotherrin gegangen war, dann trat sie vor und wandte sich an Annabell, die ebenso ver­stört wie verängstigt war.

»Verzeiht der Herzogin, doch ihr Herz ist nun sehr schwer. Was Ihr hörtet, ist wahr. Hoheit haben sich wohl auf unvernünftige Dinge eingelassen, die nun zu einer Verhaftung führten. Doch Ihr solltet nicht zu sehr um Hoheit fürchten. Die Familie Montagiu ist nah mit dem Kö­nigshaus verwandt, ihm wird kein Leid geschehen. Das Klügste wäre, Ihr reist zurück nach London. Denn unter den gegebenen Umständen wird die Herzogin Euch kaum noch ein zweites Mal empfangen...«

»Ich reise sofort ab«, entschied Lady Annabell. »Doch nicht heute Abend, es ist schon spät, das Wetter schlecht«,

gab die Zofe zu bedenken. Aber Annabell wollte keine Sekunde länger in einem Haus bleiben,

in dem sie dermaßen beleidigt worden war. Zudem hoffte sie, gleich am nächsten Morgen zu Gerald vorgelassen zu werden. Sie musste ihn einfach sehen, musste wissen, dass es ihm gut ging. Bis dahin konnte sie keine Ruhe finden...

Die Herzogin hielt ihren Gast nicht auf. Als Lady Annabells Kutsche sich entfernte, atmete sie im Gegenteil auf und murmelte: »Gott sei Dank, dieses schamlose Weib ist fort. Ich werde dafür sorgen, dass sie Montagiu-Hall nie wieder betritt!«

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»Wie wollt Ihr nun vorgehen, Mylady?«, fragte die Zofe unsicher. »Hoheit können doch nicht wie ein gemeiner Verbrecher in Haft blei­ben.« Sie war bei dieser Vorstellung ganz blass geworden. Die Du­chess erklärte: »Ich habe bereits Boten zu Lord Humphrey Jones ge­schickt. Wie Sie wissen, vertritt er unsere Familie auch als Rechtsbei­stand. Ich rechne noch heute Abend mit seinem Besuch.«

»Wenn man nur genau wüsste, was geschehen ist«, murmelte die Bedienstete mit schmalen Lippen. »So ein Unglück aber auch...«

»Nehmen Sie sich zusammen, Roberts«, forderte Elisabeth streng. »Jammern bringt nun gar nichts ein. Was ich mehrfach zu verhindern getrachtet habe, ist leider eingetreten. Und wir müssen zusehen, wie wir das Ärgste abwenden.«

»Ihr wollt sagen, das Leben von Hoheit könnte in Gefahr sein?« Nun war es vollends um die Fassung der Zofe geschehen. Sie presste ein Spitzentüchlein vor ihren Mund und wandte sich ab.

Die Herzogin erwiderte sachlich: »Es ist durchaus möglich. Denkt man an die vorangegangenen politischen Urteile, so erscheint es sogar wahrscheinlich. Doch soweit werde ich es gar nicht erst kommen las­sen. Wir werden versuchen, Gerald aus dieser unsäglichen Angelegen­heit unbeschadet herauszuhelfen. Und danach, das schwöre ich Ihnen, Roberts, bei allem, was mir heilig ist, wird mein Sohn keinen Fuß mehr in dieses verwünschte Parlament setzen!«

*

Sehr zeitig am nächsten Morgen machte Lady Annabell sich bereits auf den Weg zum Tower. Während die Herzogin und Sir Humphrey schon ihre Strategie zur Befreiung des jungen Duke erarbeitet hatten, lag eine schlaflose Nacht hinter Annabell. Die Angst um den geliebten Mann hatte sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Und als der Morgen mit einer blassen, nebelverhangenen Sonne die Nacht endlich vertrieben hatte, wollte sie nicht länger warten. Die Ungewissheit machte ihr mehr zu schaffen als alles andere. Ganz allein fuhr Lady Annabell zum Tower, sie hatte die Begleitung durch ihre Zofe abgelehnt, denn sie wusste nicht, inwiefern diese auch noch in Gefahr geraten konnte. Die

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Lage war unübersichtlich und unsicher. Doch Annabell musste Gerald sehen, vorher konnte sie nicht zur Ruhe kommen.

Nachdem die junge Lady ihr Begehr vorgetragen hatte, musste sie zunächst einmal lange warten. Schließlich wurde sie zum Sheriff ge­bracht, der sie misstrauisch beäugte und wissen wollte: »Was hat eine ehrbare Witwe mit diesen schändlichen Vaterlandsverrätern zu schaf­fen? Ich fürchte, Ihr begebt Euch in schlechte Gesellschaft, Lady An­nabell!«

»Der Herzog von Montagiu ist alles andere als ein ehrloser Mensch, wie Ihr ihn gerade beschrieben habt, Sire!«, hielt sie ihm tap­fer und mit fester Stimme entgegen. »Ich bin nicht beschlagen genug in politischen Fragen, um seine Verhaftung mit Worten als falsch zu belegen. Doch mein Herz sagt mir, dass ein Mann wie er nicht hier sein dürfte. Und wenn er nun schon in diesen Mauern schmachten muss, so gewährt ihm zumindest die einfachsten menschlichen Rechte wie den Besuch eines Menschen, der sich um ihn sorgt!«

»Gut gesprochen. In Euch steckt wohl ein MiP?«, spöttelte der Sheriff von London. Er war ein kleiner, untersetzter Mann mit Stirn­glatze, dessen helle Augen unangenehm kalt waren. »Nun gut, ich gewähre Euch diese Bitte. Aber Ihr könnt nicht mit dem Gefangenen allein sein, ich werde Euch begleiten. Und der Besuch darf zudem nicht länger als eine Viertelstunde dauern. Immerhin ist es reine Freund­lichkeit von mir, denn Ihr, Mylady, seid nicht einmal mit dem Delin­quenten verwandt...«

Obwohl Annabell die Bedingungen des Sheriffs als ehrabschnei­dend betrachtete, fügte sie sich doch, denn sie sah es bereits als klei­nes Wunder an, dass man ihr doch noch gestatten würde, Gerald zu sehen und sich von seiner körperlichen Unversehrtheit überzeugen zu können. Also nickte sie und folgte dem Gesetzeshüter, der sie durch lange Gänge, über schmale Treppen und fensterlose Durchgänge in einen winzigen Raum führte, der weder Möblierung noch Tageslicht aufwies. Die junge Lady schrak zurück, denn dieser Ort erschien ihr beinahe wie der Vorhof zur Hölle.

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Der Sheriff lächelte schmal. »Es ist kein schöner Platz und eignet sich nicht für die Augen einer Lady. Doch Ihr bestandet darauf, herzu­kommen...«

»Ich möchte den Herzog sehen«, beharrte Annabell mit fester Stimme und eben solchem Willen.

Der Polizist nickte knapp und verschwand durch eine schmale Tür, die die Besucherin noch gar nicht bemerkt hatte. Es dauerte eine Wei­le, in der Annabell ganz allein war, bis der Gesetzeshüter wieder auf­tauchte. Die bedrückende Stille in den dicken Mauern empfand sie als besonders unangenehm. Es war, als sei dieser Ort ganz und gar von der Außenwelt abgeschnitten, als habe der Mensch, der hier schmach­ten musste, das Recht verwirkt, noch am Leben teilzunehmen...

Endlich kehrte der Sheriff zurück, in seiner Begleitung befand sich Gerald of Montagiu. Annabell erschrak zutiefst, als sie den jungen Du­ke erblickte. Er war blass und übernächtigt. In seinem markanten Ge­sicht zeichneten sich die Schrecknisse ab, die er wohl durchlitten hatte. Insgesamt wirkte der Herzog wie ein Mensch, der, unvermittelt aus seinem normalen Leben gerissen, in eine Hölle gestoßen worden war, aus der es für ihn kein Entkommen zu geben schien. Annabell musste sich sehr zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie bedachte den Sheriff mit einem fragenden Blick, dieser seufzte leise und verließ dann doch den Raum. Zumindest ein wenig Zeit allein gönnte er den beiden Menschen, die sich nun nur anstarrten und of­fensichtlich nicht fassen konnten, was geschehen war. Gerald senkte als Erster den Blick. Er schien sich vor der Besucherin zu schämen, doch diese dachte gar nicht in eine solche Richtung. Sie war noch im­mer verstört, aber zumindest erleichtert, dass der geliebte Mann über­haupt noch am Leben war...

»Gerald, ich habe mich so sehr um Euch gesorgt!« Sie fiel ihm in die Arme, er fing sie auf, hielt sie jedoch auf Distanz. In seinen klaren Augen lag noch immer ein Ausdruck von schmerzlicher Qual, den An­nabell nicht zu deuten wusste.

»Ihr hättet nicht herkommen dürfen, Annabell«, murmelte er be­kümmert. »Es ist nicht nötig, dass Ihr mich so seht...«

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Sie meinte, sich verhört zu haben. »Mein Gott, Gerald, wie kann man nur so stur sein! Ich habe mir die schlimmsten Dinge ausgemalt. Doch Ihr lebt und das ist alles, was ich wissen wollte!« Wieder schmiegte sie sich an ihn und dieses Mal stieß er sie nicht von sich. Im Gegenteil. Liebevoll hielt er sie am Schlag seines Herzens und ver­sicherte ihr: »Ich habe an Euch gedacht in meiner düsteren Zelle. Doch ich hätte nicht zu hoffen gewagt, Euch wieder zu sehen...«

Sie schaute ihn erschrocken an. »Was wollt Ihr damit sagen? Was ist überhaupt geschehen? Ich begreife das alles nicht. Als ich nach Montagiu-Hall kam, wart Ihr nicht da. Eure Mutter behandelte mich sehr abweisend. Hätte meine Zofe nicht durch Zufall von dem Gerücht erfahren, ich wüsste noch immer nichts.«

»Es ist kein Gerücht. Es gab einen Anschlag auf das Leben des Königs. Er misslang. Und in seiner Folge wurde unser Kreis verhaftet«, gab der Duke offen zu. »Ihr könnt es vermutlich nicht begreifen, süße Annabell. Und ich will Euch nicht mit langatmigen Erklärungen aufhal­ten. Doch was mein Schicksal betrifft, so scheint es besiegelt. Man wird uns noch heute vor den Schnellrichter stellen, ich bin aber über­zeugt, dass die Urteile bereits geschrieben sind.«

»Mein Gott, nein!« Nun füllten sich die Augen der jungen Lady doch mit Tränen, es war um ihre Fassung geschehen. »Das darf nicht sein, ich will alles tun...«

»Aber, Annabell, es gibt keinen Ausweg.« Gerald streichelte mit einem traurigen Lächeln ihre Wange. »Was wir getan haben, wird von vielen verurteilt werden. Doch es geschah aus Liebe zu England. Und keiner ist unter den anderen, der sein Schicksal jetzt nicht tapfer an­nimmt.«

»Aber, Gerald, Ihr müsst kämpfen! Die Welt soll erfahren, warum dies geschah. Denn Ihr müsst leben. Ich... liebe Euch doch!«

Der junge Hochadlige betrachtete das ebenso schöne wie verzwei­felte Gesicht der jungen Frau mit inniger Zuneigung. Dann zog er An­nabell noch einmal in seine Arme und küsste sie so zärtlich, dass für zwei liebende Herzen die Welt um sie herum versank. Gerald spürte, wie die Bitterkeit aus seinem Herzen wich. Auch wenn er vielleicht nicht mehr lange zu leben hatte, so war ihm in diesem wunderbaren

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Moment doch etwas Einmaliges widerfahren: Er war der großen, der wahren Liebe begegnet, die man nur einmal im Leben finden konnte...

Erst das neuerliche Aufrauchen des Sheriffs beendete die innige Zweisamkeit abrupt. Gerald wurde aus Annabells Armen gerissen und gleich darauf schloss sich die Tür, durch die er den kleinen, fensterlo­sen Raum betreten hatte, wieder hinter ihm. Die junge Lady aber hat­te das Empfinden, als ende auch ihr Leben hier und jetzt. Tiefste Ver­zweiflung hatte von ihrem Herzen Besitz ergriffen, kein Sinn schien mehr in einem Dasein zu liegen, das ihr das schönste, das edelste aller menschlichen Gefühle versagte: Die Liebe zu einem Mann, der ihr alles sein konnte und doch niemals sein sollte...

*

Tatsächlich erreichten weder die Interventionen der Herzogin, noch die Eingaben und Anträge des Anwalts der Montagius etwas. Bereits am nächsten Tag wurden die Verschwörer gegen den König dem Gericht vorgeführt und ohne lange Anhörung von Argument und Ge­genargument verurteilt. Lord Wessex, der als Rädelsführer angesehen wurde, sollte den Tod durch die Axt des Henkers finden. Seine Mit­verschwörer aber wurden zu lebenslanger Haft in der Strafkolonie von Sydney in Australien verurteilt...

Während die Attentäter die Urteile mit gefasster Miene aufnah­men, brach Lady Annabell zusammen, als sie hörte, was der Richter entschieden hatte. Ohne lange zu zögern versuchte sie noch einmal, mit dem Sheriff zu reden. Sie wollte Gerald wenigstens sehen, bevor er nach Australien gebracht wurde, was einem Todesurteil gleichkam. Die Strafkolonie war berüchtigt, niemand war jemals von dort zurückge­kehrt. Ein Wiedersehen würde es also nicht geben. Doch man ließ sie nicht vor, überall, wohin sie sich auch wandte, hörte sie nur abschlägi­ge Antworten.

Schließlich, als Annabell nicht mehr ein noch aus wusste, schlug Lissy ihr vor, sich an die Herzogin zu wenden.

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»Wenn jemand etwas weiß, dann sie. Ihr solltet es einfach versu­chen, Mylady. Es heißt doch auch: In der Not frisst der Teufel Flie­gen...«

Die junge Frau lächelte schwach. Sie war überzeugt, dass sie von Elisabeth of Montagiu nichts erwarten konnte. Doch Lissy hatte Recht; wenn sie nicht alles nur Denkbare unternahm, würde sie sich später gewiss ewig Vorwürfe machen. Also fuhr sie kurz entschlossen nach Montagiu-Hall und wurde tatsächlich empfangen. Die Duchess trat ihr kühl und stolz wie stets entgegen, aber Annabell musste nur in ihre Augen blicken, um zu wissen, dass die Vorgänge der letzten Tage ihr schrecklich zugesetzt hatten.

»Lady Forsyth, ich hörte, Ihr habt meinen Sohn im Gefängnis be­sucht«, sagte Elisabeth, nachdem sie ihrem Gast Platz angeboten hat­te. »Wie ging es ihm? Hatte er sehr zu leiden? Ich hatte leider nicht mehr die Gelegenheit, ihn zu sehen.«

»Oh, Mylady, das tut mir leid«, murmelte die junge Frau betrof­fen. »Gerald ist sehr tapfer. Er schien sich vor mir zu schämen, denn er sagte, ich solle ihn nicht in seiner jetzigen Lage sehen.« Sie musste schlucken, schmeckte schon wieder Tränen. »Ich... habe alles ver­sucht, ihm zu helfen. Doch es scheint unmöglich. Deshalb bin ich hier. Ihr, Mylady, seid eine Dame mit Einfluss. Könnt Ihr nichts tun, um Geralds Verschiffung nach Australien zu verhindern? Es muss doch einen Weg geben...«

Die Duchess seufzte leise. »Es ist bereits alles in die Wege gelei­tet. Und es hätte Hoffnung gegeben, wären nicht neue Fakten zutage getreten, die jede Hoffnung zerstören müssen.«

»Neue Fakten? Ich verstehe nicht...« »Nun, zum einen ist der König unnachgiebig. Ich war gestern

selbst in London und sprach mit ihrer Majestät. Man sinnt im Palast auf Rache, denn nie zuvor, bei aller Unzufriedenheit, wurde ein Anschlag auf das Leben des Königs gewagt. Dieser glaubt nun, ein Exempel statuieren zu müssen. Dass man nur Wessex dem Beil des Henkers zuführt, sieht der König bereits als Gnade an. Zumal Lord Peter Atwell, ein Freund meines Sohnes, dem dieser bei seiner Flucht vor der Ver­haftung half, nun ebenfalls ergriffen und abgeurteilt worden ist. All

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dies wirft ein schlechtes Licht auf Gerald, das kaum durch seine bishe­rige Unbescholtenheit oder die Tatsache seiner hohen Geburt gemil­dert werden kann. So sehr es mich auch grämt, doch es scheint keinen Ausweg zu geben.«

»Das kann und will ich nicht glauben!« Lady Annabell hielt nichts mehr auf ihrem Platz. Unruhig marschierte sie im Salon auf und ab, die Hände zu Fäusten geballt. Die Herzogin beobachtete sie schweigend. Auch wenn sie nach wie vor der Meinung war, dass diese Person nicht als Partie für ihren einzigen Sohn und Erben des Titels in Frage kam, konnte sie doch nicht umhin, zuzugeben, dass Lady Annabell eine auf­rechte und entschlossene junge Frau war, deren noble Gesinnung ihre niedere Geburt beinahe hätte wettmachen können. Aber eben nur bei­nahe...

»Wann wird das Schiff mit den Verurteilten England verlassen?«, fragte sie schließlich und blieb abrupt stehen. »Könnt Ihr mir das sa­gen, Lady Elisabeth?«

»Soviel ich weiß, bereits morgen in aller Frühe von Portsmouth aus. Die Passage über den Atlantik soll beinahe ein halbes Jahr dau­ern. Doch was wollt Ihr unternehmen? Es gibt keinen Weg, die Abfahrt des Seglers zu verhindern. Und Ihr dürft Euch nicht schuldig machen, Ihr seid nur eine schwache Frau.«

»Gewiss. Doch ich werde meinen Herzen folgen«, entschied Anna­bell mit einem seltsamen Unterton in der Stimme, der die Herzogin aufhorchen ließ.

»Wie ist das zu verstehen?« Die Duchess erhob sich nun ebenfalls und maß ihren Gast mit strengen Augen. »Lady Annabell, ich kann Euch nur warnen. Was geschehen ist, ist für uns alle tragisch. Ihr ver­liert einen Menschen, der Euch viel bedeutet, ich aber verliere meinen einzigen Sohn, den Erben des Namens Montagiu. Das ist bitter. Doch es gibt Dinge im Leben, mit denen man sich abfinden muss.«

»Mag sein. Allerdings finde ich mich nicht damit ab, dass Gerald am anderen Ende der Welt einem frühen Tod durch Entkräftung ent­gegensehen soll, während ich hier sitze und mein Leben so fortführe, als sei nichts geschehen. Das kann niemand von mir erwarten!«

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»Was habt Ihr vor, Lady Annabell?«, wollte die Herzogin noch einmal wissen, erhielt aber auch dieses Mal keine offene Antwort. Und als die Besucherin sich wenig später verabschiedete, ohne noch einmal davon gesprochen zu haben, das Schicksal des jungen Herzogs doch noch zu wenden, war Elisabeth überzeugt, dass diese etwas im Schilde führte. Doch was?

Lady Annabell aber eilte nach London. Sie hatte viel zu tun, wollte sie rechtzeitig am nächsten Morgen an Bord des Schiffes sein, das dann zu großer Fahrt aufbrach. Als die junge Lady heimkam und sofort anfing, selbst zu packen, wurde ihre Zofe natürlich misstrauisch. »Ihr wollt nach Australien«, hielt Lissy ihr haarscharf entgegen. »Ich kann's mir nicht anders erklären. Aber wie soll das gehen? Ich hörte, dass eine Passage bis ans andere Ende der Welt sehr kostspielig ist...«

»Ich könnte es mir vielleicht leisten«, erwiderte Annabell mit ei­nem schmalen Lächeln. »Aber das ist nicht nötig, denn ich werde auch so hinkommen.«

»Ihr wollt... als blinder Passagier?« Lissy blieb der Mund offen stehen. »Das glaube ich einfach nicht! Auf einem Schiff mit Sträf­lingen, das so lange unterwegs ist, wollt Ihr Euch verstecken? Ich fürchte, Mylady, ich muss an Eurem Verstand zweifeln.«

»Das nehme ich dir nicht übel, Lissy, denn ich tue es ja selbst.« Annabell setzte sich neben die halb gepackte Reisetasche und seufzte schwer. Mit einem Mal war aller Tatendrang von ihr abgefallen, sie sah sehr müde aus, mutlos und einsam. Doch als sie weiter sprach, klang ihre Stimme trotzdem entschlossen. »Ich muss es tun, verstehst du nicht? Dieses Schiff ist für mich die einzige Möglichkeit, nach Australien zu gelangen. Hier in England hält das Leben für mich nichts mehr von Reiz bereit. Wenn ich aber in dieses unbekannte Land reise, dann habe ich vielleicht irgendwann die Möglichkeit, mit dem Mann, den ich liebe, zusammen sein zu können. Das wird hier niemals der Fall sein. Und deshalb hält mich in England nichts mehr. Verstehst du, was ich mei­ne?«

»Gewiss.« Lissy schmunzelte. »Ich habe Euch ja von Anfang an gesagt, dass der junge Herzog ein besonderer Mann ist, der Euch ein­mal viel bedeuten wird. Und genauso ist es gekommen...«

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»Sicher.« Die junge Lady schmunzelte. »Du wirst mir fehlen, klei­ne naseweise Lissy.«

»Aber ich komme doch mit!«, entgegnete diese im Brustton der Überzeugung. Und als ihre Brotherrin widersprechen wollte, erklärte sie mit Nachdruck: »Ihr könnt das nicht allein schaffen, unmöglich! Aber wenn ich Euch begleite, bestehen bessere Chancen. Ich bin flink und geschickt, werde Essen organisieren, dafür sorgen, dass uns nie­mand entdeckt...«

Annabell musterte ihre Zofe mit skeptischer Miene. Im Grunde ge­nommen fürchtete sie sich sehr davor, diese Reise ins Ungewisse an­treten zu müssen. Natürlich wäre es ihr weitaus lieber gewesen, Lissy bei sich zu haben. Aber durfte sie die junge Frau solchen Gefahren aussetzen für ein Unterfangen, das nicht das Ihre war? Eigentlich war das nicht richtig, war moralisch nicht zu rechtfertigen. Aber Lissy hatte ihren eigenen Kopf.

»Ich komme auf jeden Fall mit! Ihr könnt es mir verbieten, dann kündige ich und reise als Privatperson nach Australien!«

»Lissy, nun hör mir mal zu«, bat Lady Annabell daraufhin streng. »Was ich vorhabe, ist vielleicht falsch. Auf jeden Fall ist es aber ver­boten, illegal und sehr gefährlich. Ich kann und will es nicht verant­worten, dich da hinein zu ziehen. Also bitte, versprich mir, vernünftig zu sein und...«

»Ich komme mit«, war alles, was die Zofe dazu sagte. »Mein Ent­schluss steht fest und ist unumstößlich!«

*

Gerald of Montagiu und Lord Peter Atwell waren einander erst am Morgen des Transports nach Portsmouth wieder begegnet. Der Pro­zess gegen den Jugendfreund des Herzogs hatte separat und unter strenger Geheimhaltung stattgefunden. Umso erschütterter war der Duke, als Atwell plötzlich vor ihm stand und ihm stumm die Hand drückte.

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»Wieso sind Sie hier, Peter? Ich glaubte sie längst auf dem Konti­nent in Sicherheit. Was ist geschehen?«, fragte der junge Edelmann bedrückt.

»Meine Flucht schien gelungen. Doch in Frankreich wurde ich be­reits erwartet«, erwiderte Atwell lapidar. »Scheinbar hatte der König seine Spitzel überall verteilt.«

Gerald musste an die beiden Reiter denken, die ihn beobachtet hatten und Zorn erfüllte sein Herz. »Ich fürchte, die Spitzel waren mir auf den Fersen. Ich habe Ihnen einen schlechten Dienst erwiesen mit meiner Hilfe, die keine war«, murmelte er.

»Reden Sie sich nichts ein, Gerald, es musste so kommen. Die Stimmung im Land ist so aufgeheizt, dass der kleinste Funke genügt, um eine Explosion auszulösen. Der König weiß dies ganz genau und sucht mit ungerechtfertigten Verhaftungen alle zum Schweigen zu bringen, die Kritik an ihm üben.«

»Ich wünschte, ich könnte so ruhig bleiben wie Sie, Peter«, seufz­te der junge Herzog. »Doch wenn ich an meine Mutter denke, daran, was sie durchzumachen hat, wird mir ganz seltsam ums Herz. Und da ist auch eine Frau, die ich zurücklasse...«

»Eine Frau? Es ist also tatsächlich einem weiblichen Wesen gelun­gen, Euer Herz zu erringen? Das müsst Ihr mir näher erläutern.« Er blickte aufs Meer hinaus, denn mittlerweile hatten sie das Sträf­lingsschiff betreten. »Wir haben viel Zeit zum Reden.«

Am späten Vormittag legte die ›Mist of Dover‹ ab und segelte westwärts. Der Kapitän und die Mannschaft waren grobe Gesellen, die sich in nichts von der Begleitmannschaft unterschieden. Die Wächter machten sich einen Spaß daraus, die Häftlinge mit rauen Späßen auf den Arm zu nehmen und züchtigten streng, wenn einer sich beschwer­te. Gerald und Peter hielten sich im Hintergrund. Sie legten es nicht auf Streit an, wussten sich aber auch zu behaupten. Tage vergingen, deren Eintönigkeit durch nichts unterbrochen wurde. Der Himmel, das Meer, das war alles, was die Sträflinge zu Gesicht bekamen. Je weiter südlich die Route sie führte, desto brennender wurde die Sonnenglut. Nach einer Weile setzte der Kapitän Sträflinge ein, um die Stärke der Mannschaft zu verbessern. Der junge Herzog und sein Freund hatten

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sich einiges bei den Seeleuten abgeschaut und lernten rasch, wie man Segel setzte, feste Knoten schlug oder gegen den Wind steuerte. Oft arbeiteten sie den ganzen Tag und waren dann abends zu müde, um auch nur noch ein Wort zu wechseln. Trotzdem blieb die Situation für beide ziemlich unbefriedigend und kaum erträglich. Allein die Gewiss­heit, England nie wieder zu sehen, nagte an ihren Herzen und setzte ihnen zu.

Wochen vergingen, wurden zu Monaten. Beinahe ein halbes Jahr war die ›Mist of Dover‹ unterwegs, als man im Indischen Ozean das Westaustralische Becken erreichte. Nun kam die Insel der Verbrecher, wie man Australien im Empire nannte, in Sichtweite. Der junge Duke und Peter Atwell standen am Bug des Seglers und schauten stumm auf die sonnenverbrannte Küste, die völlig menschenleer war. Das Gefühl, das die beiden Männer beherrschte, war schwer zu beschreiben. Beide dachten sie an ihre Lieben daheim und das Heimweh schnitt ihnen ins Herz. Doch auch die Aussicht, den Rest ihres Lebens in dieser gottver­lassenen Einöde verbringen zu müssen, machte ihnen sehr zu schaf­fen...

Der Kapitän trieb die Sträflinge an, sich zu beeilen. Nun, da Land in Sicht war, wollten alle Seeleute herunter von den schwankenden Planken, die für Monate ihr einziges Daheim gewesen waren. Auch wenn Australien dünn besiedelt und nur an den Küsten von Weißen erobert worden war, gab es doch auch hier Häfen und billige Spe­lunken, in denen man für eine süße Weile alle Mühsal und Plage der zurückliegenden Zeit vergessen konnte.

Die Sträflinge aber erwartete ein anderes Schicksal. Nachdem die ›Mist of Dover‹ geankert hatte, wurden Beiboote zu Wasser gelassen, um sie an Land zu bringen. Die Bewacher achteten besonders streng darauf, dass keiner ausscherte. Und als ein blasser Jüngling es doch versuchte, landete er mit einer Kugel im Rücken tot im Meer. Das war den anderen ein bitteres Beispiel.

»Ich wünschte, ich hätte das Schicksal von Wessex teilen kön­nen«, murmelte Lord Atwell, während sie sich in fast unerträglicher Sonnenglut dem Festland näherten. »Hier sein Leben zu beschließen, das sollte keinem Menschen zugemutet werden.«

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Der junge Herzog schwieg. Doch auch sein Herz war schwer und voller Bitterkeit. Während die Sträflinge an Land gebracht wurden, krochen Lady Annabell und ihre Zofe aus ihrem Versteck im Bauch des Schiffes. Die junge Lady konnte es kaum fassen, dass ihre beschwerli­che Odyssee nun endlich zum Ziel geführt hatte. Monate in einer klei­nen Kammer, mit nur einer winzigen Luke, durch die kaum Frischluft drang, das war die Hölle gewesen. Annabell hatte all ihre innere Stärke aufbringen müssen, um nicht die Nerven zu verlieren und an Deck zu laufen. Wenn sie kurz davor stand, hatte Lissy sie stets zurückgehal­ten. Im nachhinein war Annabell doch froh, die kleine Brünette bei sich zu haben. Ihr unerschütterlicher Durchhaltewille, ihr Galgenhumor und nicht zuletzt ihre Fingerfertigkeit, wenn es darum ging, heimlich das Essen aus der Kombüse zu stehlen, hatte der Lady letztlich das Leben gerettet. Einzig der Küchenjunge tat ihr leid. Im Glauben, dass der dürre Junge die Lebensmittel gestohlen hatte, die den blinden Passa­gieren als heimliche Wegzehrung dienen mussten, hatte er eine Menge Prügel vom jähzornigen Koch einstecken müssen.

»Wir können es jetzt wagen«, flüsterte Lissy ihrer Brotherrin zu. Sie hatte die ganze Zeit aus der winzigen Luke gespäht und dabei be­obachten können, wie auch die Seeleute das Schiff verließen. Einzig eine Notbesetzung musste bleiben, doch die bestand nur aus einer Handvoll Männern.

»Wie kommen wir an Land?«, fragte Annabell ihre Begleiterin lei­se. »Wir können doch kein Boot nehmen. Und die Küste ist noch ein ganzes Stück entfernt...«

Lissy dachte ganz kurz nach, dann entschied sie: »Wir müssen schwimmen!« Sie merkte, dass die Lady widersprechen wollte und fügte ganz entschieden hinzu: »Einen anderen Weg sehe ich wirklich nicht.«

»Und wenn es hier gefährliche Raubfische gibt?« »Was sollen wir denn sonst tun?« Lissy war ratlos. Da deutete Lady Annabell auf ein Beiboot, das noch an Bord war.

»Wir warten, bis es dunkel ist. Dann nehmen wir das Beiboot. Ich ge­he nicht in dieses Wasser, ohne zu wissen, was dort auf mich lauert.« Sie hatte so entschieden gesprochen, dass ihre Begleiterin sich fügte.

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»Nun gut, wir haben eine Ewigkeit in diesem stinkenden Loch ver­bracht. Da werden wir auch noch die paar Stunden, bis es dunkel wird...« Lissy verstummte, denn unvermittelt waren ganz in ihrer Nähe Stimmen laut geworden. Und im nächsten Moment wurde die schmale Tür zu ihrer Kammer mit einem Ruck aufgerissen.

Annabell schrie erschrocken auf und wich zurück. Der Koch stand vor ihnen, ein Hackbeil in der Rechten. Und hinter seinem fetten Rü­cken erschien nun der schmächtige Küchenjunge.

»Da siehst du, Smithers, ich hab nicht geklaut!«, triumphierte der knochige Junge. »Das sind blinde Passagiere!«

»Na wartet, ihr Täubchen, dafür werdet ihr mir büßen«, knurrte der Smutje und wollte gleich mit dem Beil auf die beiden wehrlosen Frauen losgehen. Das gefiel dem Küchenjungen allerdings nicht. Er zerrte den Fetten zurück und schrie: »Hör auf damit, das kannste nicht machen! Wir bringen sie zum Kapitän.«

»Der ist an Land. Und ich werde den Ladys jetzt den Hintern ver­sohlen«, brummte der Fette, ließ das Beil fallen und näherte sich Lissy mit einem schmierigen Grinsen. Die Zofe reagierte blitzschnell; sie ver­setzte dem Koch einen äußerst schmerzhaften Tritt in empfindliche Regionen, packte Lady Annabell, die wie gelähmt war vor Schreck, an der Hand und eilte an dem verblüfften Küchenjungen vorbei nach o­ben. Kaum zwei Minuten später sprangen die beiden Frauen über Bord. Annabell schimpfte und prustete, doch dann schwamm sie tap­fer. Das Wasser war warm, trotzdem erfrischend. Und so klar, dass man einen gefährlichen Raubfisch bereits aus weiter Entfernung hätte ausmachen können. Doch keine Gefahr näherte sich den Schwimme­rinnen, die schließlich völlig erschöpft und begleitet von dem wütenden Grölen der zurückgelassenen Seeleute auf der ›Mist of Dover‹ das ret­tende Ufer erreichten.

Eine Weile blieben sie beide nach Luft ringend liegen, dann aber raffte Lissy sich auf, half ihrer Herrin auf die Füße und erklärte: »Wir haben es tatsächlich geschafft, Mylady. Dies hier ist Australien. Ich hätte nicht geglaubt, dass wir hier jemals lebend ankommen würden!«

Annabell lächelte schmal. »Du hast Recht, ich habe auch nicht mehr daran geglaubt. Doch es ist erreicht. Nun komm, wir wollen eine

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Ansiedlung suchen. In diesen stinkenden Lumpen können wir uns nir­gendwo sehen lassen...«

»Aber wir haben kein Geld«, warf Lissy ein, jubelte jedoch ver­halten, als ihre Brotherrin ein kleines Portefeuille aus ihrem Strumpf­band zauberte.

»Damit kommen wir fürs Erste aus«, meinte sie zuversichtlich und schaute sich skeptisch an der felsigen, menschenleeren Küste um. »Doch wir müssen zunächst einmal so etwas wie eine Stadt oder zu­mindest ein Dorf finden. Und ich werde den Eindruck nicht los, dass sich dies gar nicht so einfach gestalten wird...«

*

Nathan Holbrooke, der Direktor des Gefangenenlagers ›No Hope‹ in der Nähe der kleinen Siedlung Sydney, war ein gnadenloser Mann. Er begrüßte die neu Ankommenden mit einer Rede, die nichts an Deut­lichkeit vermissen ließ. Dabei wies er auch auf die hohen Zäune aus Maschendraht hin, auf den Schießbefehl der Wärter und auf die drako­nischen Strafen, die beim kleinsten Vergehen verhängt wurden. »Auch wenn dieses Lager nur Abschaum beherbergt, werde ich doch Ord­nung unter diesen Subjekten halten!«, rief er mit fanatischem Blick in die Menge der Anwesenden. Duke Gerald musste sich sehr beherr­schen, um nicht sofort negativ aufzufallen. Doch er hätte diesem bel­lenden Köter gerne seine Grenzen gezeigt. Allerdings ahnte er auch, dass dies wenig Sinn hatte. Die Gesetze in ›No Hope‹ waren die des Dschungels. Der Stärkere herrschte, der Schwächere musste sich du­cken. Es gab hier tatsächlich ›keine Hoffnung‹...

Die ersten Tage wurden für den jungen Herzog und seinen Freund zu einer noch viel schlimmeren Strapaze als die lange Seereise. Noch vor Sonnenaufgang wurden die Häftlinge auf ihren Lagern auf dem blanken Boden mit Fußtritten und Stößen von Gewehrkolben geweckt. Zu essen gab es kaum etwas; nur schimmliges Brot und verschmutztes Wasser. Einige der neuen Häftlinge erkrankten schnell, zwei starben, noch ehe die erste Woche sich dem Ende zuneigte. Die harte Arbeit in der unerträglichen Sonnenglut, das Bebauen und Transportieren von

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Steinen für den Bau von Straßen mit bloßen Händen tat das Seine da­zu, dass ein Teil der Häftlinge nicht übermäßig lange in ›No Hope‹ blieb, zumindest nicht als Lebende. Mehr als einmal sah Gerald schreckliche Brutalitäten und Ungerechtigkeiten, die ihm die Haare zu Berge stehen ließen. Doch jedes Mal, wenn er revoltieren wollte, mahnte Atwell ihn zur Besonnenheit. Allmählich aber stumpften auch dem Herzog die Sinne ab. Mit jedem Tag, der verging, hatte er mehr das Empfinden, nur einen bösen Traum zu erleben, der irgendwann von selbst enden würde, ohne dass er etwas dazu beitrug.

Beinahe ein Monat ging auf diese Weise vorbei. Eines Morgens, die Häftlinge hatten sich bereits aufgestellt, um aus dem Lager zur Arbeit zu marschieren, erschien unerwartet Holbrooke. Sonst hielt er sich stets in seinem Büro auf und legte keinen Wert auf näheren Kon­takt zu den Gefangenen. Nun stolzierte er wie ein kleiner Feldherr durch die Reihen der Gepeinigten, blieb schließlich vor Gerald of Mon­tagiu stehen. Ein spöttisches Lächeln zuckte unter seinem kecken Schnauz, als er erklärte: »Hoheit haben Besuch! In meinem Büro. Bit­te, folgt mir!« Er lachte meckernd, versetzte Gerald, der nicht reagier­te, einen Tritt und schubste den um zwei Kopf Größeren dann vor sich her. »Ein bisschen Tempo! Und der Rest, nicht einschlafen, sondern arbeiten! Der Tag ist noch jung.«

Peter Atwell folgte dem Freund mit den Augen. Er fürchtete schon, ihn niemals wieder zu sehen und hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Doch dann setzte sich die Reihe der Gefangenen bereits in Bewegung und marschierte aus dem Lager.

Der junge Herzog wusste kaum, wie ihm geschah. Er taumelte auf die Baracke zu, in der sich Holbrookes Büro befand und wollte eine Frage stellen, doch der Gefängnisdirektor erklärte bereits: »Es ist ei­gentlich verboten, hier Damenbesuch zu empfangen. Aber in deinem Fall machen wir eine Ausnahme, Montagiu. Schließlich kommt nicht jeden Tag eine Ehefrau vorbei, um ihren Gatten zu besuchen.« Er lä­chelte schmierig. »Ich bin kein Unmensch, das nicht. Auch ich habe ein Herz, das schlägt. Aber bilde dir keine Schwachheiten ein! Ich blei­be in der Nähe...«

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Gerald betrat die Baracke, während Holbrooke zurückblieb. Hier drinnen war es stickig warm, doch im Vergleich zur Sonnenglut drau­ßen direkt angenehm. Der junge Herzog wusste nicht, was er von all dem halten sollte. Seine Gattin besuchte ihn? Er hatte sich darüber freuen können, durchaus, es gab nur einen kleinen Schönheitsfehler: Er war ja nicht verheiratet! Zögernd ging er auf die Tür zu, die zu Hol­brookes Büro führte. Dort erkannte er tatsächlich eine Dame. Sie war fein gekleidet und drehte ihm den Rücken zu. Doch sie hatte seinen festen Schritt gehört, erhob sich und wandte ihm nun das Gesicht zu. Gerald erstarrte. Für ein paar Augenblicke meinte er, die Zeit stehe still. Dann aber rief die junge Dame: »Gerald, ich bin so froh, dich zu sehen!« Und im nächsten Moment lag sie weinend in seinen Armen.

»Annabell, wie... ist das möglich? Wo kommst du her? Ich be­greife das nicht. Was tust du hier?«

Sie blickte zu ihm auf, ihre Augen schwammen in Tränen, doch sie strahlte so glücklich, dass es eine wahre Pracht war. Der junge Mann umschloss sie da ganz fest mit beiden Armen und küsste sie zärtlich. Für eine kurze Weile versank die Welt um zwei Liebende, die sich so sehr nacheinander gesehnt hatten.

Als Gerald die geliebte Frau endlich freigab, erzählte sie: »Ich konnte den Gedanken, dich niemals wieder zu sehen, nicht ertragen. Ich habe alles versucht, war beim Sheriff in London, habe auch mit deiner Mutter gesprochen. Doch niemand vermochte, die Abfahrt des Schiffes zu verhindern. Da entschloss ich mich, es dir gleichzutun...«

»Du warst auch auf dem Schiff? Aber wie...« Er wirkte unendlich verblüfft. »Wie ist denn das möglich gewesen?«

Nun stahl sich ein verschmitztes Lächeln um ihren schönen Mund und sie gestand: »Ich bin als blinder Passagier gereist. Zusammen mit meiner Zofe. Es war alles andere als schön. Und als wir Australien be­reits erreicht hatten, stöberte uns der Koch auf und wollte mit dem Hackbeil auf uns losgehen, weil wir uns heimlich in seiner Küche be­dient hatten. Doch wir konnten fliehen und erreichten die Küste -schwimmend...«

»Mein Gott, Annabell, du siehst mich sprachlos!« Gerald konnte kaum glauben, was er da hörte. Und zugleich wurde ihm bewusst,

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dass er die Frau seines Herzens hoffnungslos unterschätzt hatte. Hieß es nicht, Liebe versetze Berge? In diesem Fall schien dies tatsächlich so gewesen zu sein. Der junge Herzog konnte die schöne Lady nur staunend und wortlos betrachten.

»Nun, dann wirst du dich gleich noch mehr wundern«, versicherte sie ihm. »Ich habe mich mit Lissy zusammen in einer kleinen Pension in Sydney eingemietet. Es dauerte eine Weile, die örtlichen Gege­benheiten zu erforschen. Doch nun habe ich erfahren, dass es hier seit kurzem einen englischen Gouverneur gibt. Und ich habe morgen einen Termin bei diesem Herrn!«

»Aber, Annabell, was versprichst du dir davon?«, wollte Gerald ratlos wissen. »Du kannst nichts erreichen, denn meine Verurteilung ist rechtskräftig.«

»Sagst du. Ich habe aber schon einen Advokaten aufgesucht und ihm den Fall geschildert: Er riet mir, mich an den Gouverneur zu wen­den. Die Urteile, die im Zusammenhang mit diesem angeblichen Atten­tat gefällt wurden, sind alles andere als gerecht. Und wie es scheint, hat man hier durchaus eine andere Meinung zu dem, was in London entschieden wurde.« Sie suchte seinen Blick. »Ach, Gerald, stell dir vor Du wirst vielleicht bald frei sein! Ich will alles dafür tun, alles! Und dann werden wir uns nie wieder trennen...«

Er lächelte müde. »Ich wünschte, ich könnte daran glauben, süße Annabell. Doch was ich in den letzten Wochen erlebt habe, lässt mich an jeglicher Gerechtigkeit zweifeln. Und ich fürchte zudem, du machst dir falsche Hoffnungen. Ein Advokat redet dir die Dinge schön, um sein Honorar zu kassieren. Und der Gouverneur wird gewiss nicht gegen den König urteilen.«

Die junge Lady musterte ihr Gegenüber irritiert. »Gerald, was ist nur los mit dir? So kenne ich dich gar nicht. Du bist ja ganz... resi­gniert. Das darfst du nicht sein, ich bitte dich! Denke doch nur an dei­ne arme Mutter in England. Auch sie wird gewiss alles versuchen, dir zu helfen und deine Freilassung zu erreichen. Du weißt, wie schnell die politischen Verhältnisse sich heutzutage ändern können. Und wenn der König vielleicht abdankt...«

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»Soweit solltest du wirklich nicht denken«, riet er ihr lapidar. »Ich möchte ja an einen guten Ausgang glauben. Doch ich fürchte, ich kann es nicht mehr.«

Annabell erhob sich mit einem Ruck und blickte erbost auf den jungen Mann nieder. Ihre tiefblauen Augen schienen wütende Blitze auf ihn abzuschießen, als sie feststellte: »Glaubst du vielleicht, ich ha­be all die vielen Strapazen auf mich genommen, bin hierher ge­kommen, habe alles hinter mir gelassen, um dann zu sehen, wie du aufgibst? Das lasse ich nicht zu! Morgen werde ich den Gouverneur aufsuchen. Und dann sehen wir weiter.« Sie wollte gehen, doch Gerald hielt sie auf. Er suchte ihren Blick und bat: »Verzeih mir, Annabell, ich habe mich gehen lassen. Doch hättest du all das miterlebt, was ich gesehen habe...«

»Ich verstehe dich ja«, versicherte sie ihm mitfühlend. »Aber es wird bald vorbei sein. Du wirst frei kommen, davon bin ich ganz fest überzeugt!«

Er lächelte schmal; wenn Annabell ihm so nah war, dann mochte er beinahe alles glauben, was ihm doch unmöglich erschien. Bevor sie ging, schenkte der junge Mann seiner Liebsten noch einen langen, in­nigen Kuss. Kaum war Annabell aber fort, erschien Holbrooke wieder. Er betrachtete den Häftling abfällig und beteuerte: »Noch kein Mann hat ›No Hope‹ lebend verlassen. Und du solltest dir nicht einbilden, dass du der Erste sein wirst, Montagiu. Das werde ich zu verhindern wissen...«

Der junge Herzog zeigte keine offene Gefühlsregung, als er ent­gegnete: »Es gibt immer ein erstes Mal, Sir.«

»Du bildest dir also allen Ernstes ein, der Gouverneur könnte dich begnadigen?« Der Gefängnisdirektor lachte abfällig. »Das wird niemals geschehen! Ein Mann, der den König töten wollte, verdient es nicht zu leben, viel weniger, frei zu sein.«

»Es gibt verschiedene Meinungen zu diesem Thema.« »Mag sein.« Holbrooke lächelte maliziös. »Doch hier gilt nur eine

Meinung: meine. Und ich sage dir: Du wirst mein Gefängnis nicht ver­lassen. Jedenfalls nicht lebend!«

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*

Lady Annabell kehrte mit gemischten Gefühlen in die kleine Pension zurück, wo sie zusammen mit Lizzy ein enges Zimmer bewohnte. Sie hatte mit Absicht auf jeden Luxus verzichtet, um möglichst lange mit ihrem Geld auszukommen. Die Zofe erwartete ihre Brotherrin bereits ungeduldig.

»Nun, wie ist es gegangen? Habt Ihr ihn gesehen?«, fragte sie so­fort, nachdem Annabell den Raum betreten hatte.

»Ja, ich durfte Gerald besuchen. Doch es scheint ihm nicht gut zu gehen...«

»Natürlich, er muss wie ein Sklave schuften. Man erzählt sich schlimme Dinge über dieses Gefangenenlager«, warf die kleine Brü­nette ein. »Doch wenn er erst frei ist, wird er sich rasch erholen, war­tet nur ab, Mylady!«

»Nein, nein, das meine ich nicht«, widersprach diese. »Gerald scheint resigniert zu haben. Meine Worte konnten ihn kaum überzeu­gen. Zudem schien ihm die Aussicht auf seine Freiheit kaum mehr et­was zu bedeuten. Ich fürchte, es ist schon zu spät...«

»Aber er lebt doch! Und wenn er erfährt, dass Eure Bemühungen von Erfolg gekrönt sind, wird er auch wieder neuen Mut schöpfen, davon bin ich überzeugt«, versicherte Lissy mit Nachdruck.

»Wenn sie von Erfolg gekrönt werden«, murmelte Annabell be­kümmert. »Ich fürchte mich nun beinahe, den Gouverneur aufzusu­chen. Mr. Clay, der Advokat, machte mir Mut. Doch Geralds Worte waren so bedrückend, so... niederschmetternd.«

»Ihr dürft den Mut nicht sinken lassen, nur dann könnt Ihr etwas erreichen«, versuchte Lissy, ihre Brotherrin aufzumuntern. »Wenn Ihr wollt, komme ich morgen mit. Ich fürchte mich nämlich nicht vor dem Gouverneur!«

Nun musste die junge Lady doch schmunzeln. »Nein, das wird nicht nötig sein. Ich schaffe es schon allein«, versicherte sie.

Zeitig am nächsten Morgen verließ Lady Annabell also die kleine Pension und machte sich auf den Weg zum Haus des Gouverneurs. Es war eines der wenigen, das aus Ziegelsteinen gebaut worden war. Mit

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der breiten Veranda und dem Schindeldach wirkte es jedoch weniger wie eine Residenz, machte vielmehr den Eindruck eines freundlichen Landhauses. Da die Besucherin sich bereits angemeldet hatte, wurde sie gleich vorgelassen.

Der Gouverneur, ein alter, schmaler Mann mit weißem Haar und klugen, hellen Augen bot ihr freundlich Platz an und fragte zunächst: »Kann ich Euch vielleicht etwas anbieten, Lady Forsyth? Ich muss ehr­lich zugeben, dass Eure Anwesenheit hier mich in großes Erstaunen versetzt hat. Ich kannte Euren verstorbenen Gatten flüchtig und hatte Hochachtung vor ihm.«

»Walter war ein anerkannter Wissenschaftler, dessen Namen auch heute noch einen guten Klang in Fachkreisen hat«, erwiderte sie sach­lich. »Doch es gibt nun einen anderen Mann in meinem Leben. Und um seinetwillen bin ich hier.«

»Ihr sprecht vom jungen Herzog Montagiu«, schlussfolgerte der Gouverneur. »Der Fall ist mir bekannt. Ich muss sagen, ich sehe ihn als sonderlich tragisch an. Zumal die Urteile, die seinerzeit gegen die Verschwörer ergangen sind, kaum einer juristischen Prüfung stand­halten würden, dessen bin ich sicher.« Er bemerkte, dass Annabell etwas einwenden wollte und fügte seinen Worten noch hinzu: »Doch wie dem auch sei, sie sind rechtskräftig. Und ich sehe nicht, wie ich daran etwas ändern sollte.«

»Nun, soweit mir bekannt ist, vertretet Ihr hier die englische Kro­ne. Und es kann doch nicht im Sinne des Empires sein, dass ein solch haarsträubendes Fehlurteil unangefochten bleibt!«

Der Gouverneur lächelte fein. »Ihr argumentiert klug, Mylady. Ginge es nur nach mir, so würde ich die Häftlinge umgehend auf freien Fuß setzen. Doch ich fürchte, durch eine solche Maßnahme wäre we­nig gewonnen. Noch ehe der Herzog Australien verlassen könnte, wür­de ein neuer Gouverneur an meine Stelle treten und die Urteile wieder vollstrecken. Zudem wird Holbrooke die Gefangenen nicht freigeben. Er ist wie ein kleiner Herrscher, der seine Untertanen fest im Griff hat...«

»Ihr wollt mir damit also sagen, dass nichts getan, nichts erreicht werden kann? Das will und kann ich nicht glauben!«

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»Bekäme ich Weisung aus England, würde die Sache gewiss an­ders beschieden. Doch ohne eine Handhabe, fürchte ich, kann ich Euch beim besten Willen nicht weiterhelfen, Mylady.«

Lady Annabell seufzte leise, doch dann wirkte sie entschlossener denn je. »Nun gut, ich werde umgehend Depesche nach England sen­den. Ich nehme es nicht hin, dass nichts geschieht...«

Während Annabell ohne Erfolg versuchte, beim Gouverneur in Sydney etwas zu erreichen, blieb die Herzogin von Montagiu ebenfalls nicht untätig. Nachdem Gerald das Land verlassen hatte, war auch in Lady Elisabeth der Kampfgeist erwacht. Sie setzte sich zunächst noch einmal mit dem König in Verbindung, doch dieser schmetterte ihr An­sinnen mit großer Geste und den Worten: »Wer die Hand gegen mich erhebt, hat das Recht, hier zu leben, verwirkt. Ich sage es Euch deut­lich, Mylady: Es wird keine Heimkehr für Euren Sohn geben, dafür hat er zu schwer gefehlt!«

Die Duchess ließ sich allerdings nicht so leicht entmutigen. »Ich werde mich an den Premierminister wenden«, entschied sie

nach dem wenig erfolgreichen Besuch bei Hofe. »Schätze ich die politi­sche Lage korrekt ein, so ist's nur noch eine Frage der Zeit, bis er die Befugnisse des Königs beschneiden wird. Und eine Begnadigung der Männer, die doch auf seiner Seite stehen, könnte ihm dabei sehr von Nutzen sein.«

Milisett Roberts hatte ihrer Brotherrin aufmerksam zugehört. Nun gab sie allerdings zu bedenken: »Das ist ein gefährliches Spiel. Ich misstraue den politischen Ränken, die zurzeit in London geschmiedet werden. Und ich möchte nicht erleben, dass man auch Euch noch den Prozess macht, Mylady...«

Die Herzogin winkte ab. »Sie übertreiben, Roberts. Ein Gespräch unter vier Augen kann niemandem zum Verhängnis werden. Und es ist unabdingbar, dass ich endlich etwas erreiche. Wenn ich daran denke, wie sehr mein armer Sohn auf dieser Verbrecherinsel zu leiden hat, bricht es mir fast das Herz.«

»So nehmt wenigstens Sir Humphrey zu Eurer Unterstützung und Sicherheit mit Euch«, bat die Zofe. Doch auch davon wollte die Her­zogin nichts wissen. Sie sah es als das Beste an, allein mit Pitt zu spre­

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chen und so vielleicht auch unter der Hand eine Vereinbarung zu tref­fen, die Gerald endlich die Freiheit bringen würde...

Der Premierminister empfing Lady Elisabeth zwar, gab sich ihr ge­genüber allerdings sehr distanziert. Die politische Lage in England war noch längst nicht so, wie Pitt sie sich gewünscht hätte. Und er war nun einmal kein Mann, der ohne Zögern Risiken einging. Der Machterhalt und das Wohl Englands standen bei all seinen Entscheidungen im Vor­dergrund.

»Ihr wisst, Mylady, das ich seinerzeit gegen die allzu rasche Abur­teilung der Attentäter war«, unterstrich er zunächst gravitätisch. »Und wie es scheint, erweist sich meine Haltung nun als richtig. Denn es wird allmählich deutlich, dass nur einer – Lord Wessex - sich der ge­samten Tragweite dessen bewusst war, was dort geschehen ist.«

»Wie ist das zu verstehen, Sir? Bitte werden Sie deutlicher«, for­derte die Duchess ungeduldig. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Pitt im Begriff stand, ihr endlich die wahren Hintergründe dieser unseligen Affäre deutlich zu machen.

Doch der Premier ließ sich Zeit. »Das sind geheime Informationen. Im Grunde genommen darf ich sie nicht weitergeben«, behauptete er wichtigtuerisch.

»Sir, ich bitte Sie! Es geht hier um das Leben meines Sohnes«, unterstrich die Duchess ungehalten. »Ich war von jeher dagegen, dass Gerald sein Leben für einen politischen Schachzug aufs Spiel setzt. Was nun geschehen ist, erschien zunächst unabänderlich. Doch wenn Sie mir nun sagen, es gibt Hoffnung, so bitte ich Sie, sprechen Sie endlich!«

»Lord Wessex ließ einen unterschriebenen Abschiedsbrief zurück. Ich kam über nicht benannte Umwege zu dem Schreiben, das einen erschütternden Inhalt hat. Der Lord bezichtigt darin sich selbst, den Tod des Tyrannen geplant und den Anschlag auf das Leben des Königs ausgeführt zu haben. Die Gruppe Sympathisanten, die ihn begleitete, war weniger entschlossen und sich nicht im Klaren über die weit rei­chenden Konsequenzen ihrer Handlungsweise. Wessex nimmt in dem Brief alle Schuld auf sich. Damit sind de facto die Urteile gegen seine Mitverschwörer wirkungslos.«

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»Aber wenn ein solches Schreiben existiert, müsst Ihr es dem Kö­nig vorlegen!«, drängte die Herzogin. »Es würde Freiheit für alle Ge­schmähten bedeuten und auch Heimkehr...«

Der Premierminister lächelte angedeutet. »Ich fürchte, Ihr über­blickt die aktuelle politische Lage nicht wirklich, Lady Elisabeth. Der König ist unbeliebter denn je. Seit dem Attentat auf sein Leben wüten seine Spitzel und Schergen unter den Freigeistern des Landes und bringen die Menschen immer weiter gegen sich auf. Nun, da der König mit seiner eigenwilligen Haltung auch noch unsere Kolonialpolitik in Frage stellt, wird sehr bald eine Änderung vollzogen werden müssen, um England vor den Auswirkungen von Georges Unvernunft zu bewah­ren.«

»Und was bedeutet dies?« »Der König muss sich aus der Tagespolitik heraushalten und zur

konstitutionellen Tradition seiner Vorgänger zurückkehren. Ob freiwillig oder unter einem gewissen Druck, das sei dahingestellt.«

»Nun, wenn es sich so verhält, wie Sie andeuten, Sir, stehe ich nicht an, in aller Form um die Rehabilitation meines Sohnes zu bitten. Sind Sie ein Mann von Ehre, wie ich annehme, so können Sie die Un­gerechtigkeiten eines vergreisten Monarchen nicht für die Zukunft fest schreiben wollen.«

»Das ist auch nicht meine Absicht. Doch...« Lady Elisabeth fasste den Premier streng ins Auge. »Sie werden

doch wohl Farbe bekennen, jetzt, da die Würfel gefallen sind!« Pitt wurde eine Spur blasser. Doch er fühlte sich an der Ehre ge­

packt und wollte keinen Rückzieher mehr machen. »Ich sende noch heute eine Depesche nach Sydney. Die zu Unrecht Verurteilten sollen freigelassen werden. Dafür, Mylady, stehe ich mit meinem Wort ein!«

Die Herzogin erhob sich daraufhin und nickte dem Politiker ange­deutet zu. Ihre Miene blieb allerdings verschlossen, als sie erklärte: »Die Geschichte wird es Ihnen danken, Sir und Sie als einen der weni­gen feiern, die Unrecht in Recht gewandelt haben.«

»Ich hoffe sehr, Ihr werdet im nachhinein recht behalten«, ent­gegnete der Premierminister mit einem schmalen Lächeln. »Auch wenn wir beide dies wohl nicht mehr erleben werden...«

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*

Während die Depesche des Premierministers von England ihren langen Weg um die halbe Welt antrat, vergingen die Tage im Gefan­genenlager ›No Hope‹ in schauerlicher Gleichförmigkeit. Der junge Herzog erhielt noch einige Male Besuch von Lady Annabell. Und als sie ihm den Vorschlag machte, sich in aller Stille trauen zu lassen, hätte er beinahe zugestimmt. Doch dann starb Peter Atwell durch den brutalen Schlag eines angetrunkenen Wächters und Gerald of Montagiu verfiel in tiefe, depressive Lethargie. So sehr Annabell sich auch bemühte, es gelang ihr einfach nicht, dem geliebten Mann neuen Lebensmut zu vermitteln. Bald war sie selbst völlig niedergeschlagen und mochte kaum noch daran glauben, dass sich etwas zum Besseren wenden könnte.

In dieser schweren Phase erwies sich Lissy wieder einmal als Fels in der Brandung. Sie stand ihrer Herrin bei, wie man es sich nur wün­schen konnte und schließlich rüttelte eine schlechte Nachricht die Lady wieder auf. Nathan Holbrooke schickte einen seiner Männer zur Pensi­on, um Annabell mitzuteilen, dass ihr ›Ehegemahl‹ mit einem Fieber daniederliege. Sofort machte sie sich auf den Weg zum Lager und fand Gerald in sehr schlechter Verfassung vor. In weiser Voraussicht hatte Annabell einen Arzt mitgebracht, doch es kostete sie einiges an Über­redungskunst, damit dieser den Kranken versorgen durfte. Holbrooke hielt dies nämlich schlichtweg für überflüssig.

»Ich ließ Euch rufen, Mylady, damit Ihr Abschied nehmen könnt. Mit diesem dort wird es bald vorbei sein«, urteilte er wegwerfend. »Und es ist nur Verschwendung ärztlicher Kunst, ihn noch behandeln zu wollen.«

»Wie könnt Ihr bloß so abwertend über ein Menschenleben spre­chen, Sir?«, rief Annabell daraufhin erbost. »Gerald wird behandelt, dafür sorge ich. Und wenn ich mich selbst hier einquartieren muss, um ihn zu versorgen.«

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Holbrooke, dem so etwas scheinbar noch nicht widerfahren war, murmelte giftig: »Närrisches Weibsbild« und entfernte sich dann mit verkniffener Miene.

Der Arzt untersuchte den Kranken eingehend und kam schließlich zu der Diagnose: »Er leidet unter völliger Erschöpfung und Unter­ernährung. Aber das ist hier ja nichts Besonderes. Was mir Sorgen macht, ist das hohe Fieber. Es könnte ein Nervenfieber sein, das durch übergroßen seelischen Druck entstehen kann.«

»Und wie werden Sie ihn behandeln, Doktor?« »Nun, Mylady, es tut mir leid, das sagen zu müssen. Doch für eine

solche Erkrankung gibt es keine spezielle Medizin. Ich rate in diesen Fällen zu Ruhe, viel Schlaf und guter Ernährung. Doch ob es Euch ge­lingen wird, unter diesen Umständen hier dem Kranken solche Voraus­setzungen zu schaffen, wage ich zu bezweifeln.«

»Es soll und muss mir gelingen, Sir. Ich danke Euch für Euren Rat«, erwiderte Annabell entschlossen. Dann ging sie hinüber zu Hol­brookes Baracke und verlangte: »Ihr müsst mir den Kranken über­lassen, Sir. Ich nehme ihn mit in die Pension und pflege ihn gesund. Unter den Umständen hier kann das nicht gelingen. Wenn Ihr es ver­langt, schickt mir eine Wache, die dafür Sorge trägt, dass er Euch nicht abhanden kommt. Verweigert mir allerdings nicht das Recht, meinen Gatten gesund zu pflegen. Es ist Menschenrecht, auch auf dieser von Gott verlassenen Insel!«

Der Gefängnisdirektor musterte die junge Lady hinterhältig. »Ihr glaubt doch nicht allen Ernstes, dass ich das erlaube? Kein Gefangener darf das Lager verlassen. Es sei denn, mit den Füßen voran!«

»Schön, wie Ihr wollt. So werde ich jeden Tag herkommen, um meinen Mann zu pflegen. Allerdings werdet Ihr dann wohl einige Schwierigkeiten haben, die Männer hier auf Dauer im Zaum zu hal­ten...«

»Mylady! Ihr wagt es, mir zu drohen?« Holbrooke starrte Annabell zornig an. »Verschwindet, aber schnell! Bevor ich mich vergesse und auch, dass Ihr eine Lady seid...«

Annabell wollte gerade zu einer passenden Erwiderung ansetzen, als ein Bursche erschien und die Ankunft des Gouverneurs meldete.

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Der Direktor war alles andere als erfreut über diesen Besuch, bat ihn dann aber doch unwillig herein.

Der Gouverneur lächelte, als er die junge Lady begrüßte. Dann stellte er fest: »Es ist gut, dass Ihr hier seid, Lady Forsyth. So erfahrt Ihr aus erster Hand die gute Nachricht: Heute erhielt ich vom Pre­mierminister von England, namentlich dem Earl of Chatham, genannt Pitt der Jüngere, eine Depesche, die besagt, dass alle Attentäter um den verschiedenen Lord Wessex mit sofortiger Wirkung zu begnadigen und aus der Haft zu entlassen sind.«

Ein paar Momente herrschte atemloses Schweigen, denn mur­melte Annabell: »Oh Gott, meine Gebete wurden erhört. Und dabei ist es wirklich höchste Zeit, denn der Duke ist sehr krank...«

Holbrooke hatte die ganze Zeit mit schmalen Augen zugehört. Nun stellte er fest: »Ihr seid Lady Forsyth? Demnach ist Montagiu gar nicht Euer Ehegemahl. Das heißt, Ihr habt mich betrogen, Euch hier einge­schlichen... Aber das dulde ich nicht länger. In meinem Lager herr­schen Zucht und Ordnung, etwas anderes ist unmöglich! Los, raus, alle beide! Verschwinden Sie!«

»Sir, ich darf doch sehr bitten«, echauffierte der Gouverneur sich. »Sie werden die Gefangenen freigeben und...«

»Gar nichts werde ich! Dieser Fetzen Papier ist für mich nicht bin­dend! Hier habe ich das Sagen. Kein Gefangener verlässt ›No Hope‹! Nur über meine Leiche!«

Lady Annabell starrte den Gefängnisdirektor entgeistert an. »Das ist nicht Euer Ernst, Sir, ich...« Sie verstummte, denn Holbrooke hatte eine Pistole gezogen und richtete sie nun ohne Zögern auf seine bei­den Besucher. Seine Miene bewies, dass es ihm bitterernst war. Dieser Mann war ein Fanatiker. Wie es schien, war er tatsächlich zu allem fähig...

»Kommen Sie, Lady Forsyth, das hat doch keinen Sinn. Sie sehen, dieser Mann ist von Sinnen.«

Nur widerwillig folgte Annabell dem Gouverneur. Sie sah es als I­ronie des Schicksals an, dass sie Gerald trotz der Begnadigung nun nicht helfen konnte. Es fiel ihr unendlich schwer, zu gehen.

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»Was soll denn nun werden? Ihr könnt die zu Unrecht Gefangenen doch nicht diesem Mann überlassen«, beschwerte sie sich, nachdem sie gemeinsam das Lager verlassen hatten.

»Das habe ich auch nicht vor«, versicherte der Engländer mit Nachdruck. »Wir kehren zurück. Mit Soldaten.«

»Soldaten? Ich sah hier nirgends eine Kaserne«, warf sie ein. »Die gibt es auch nicht. Ihr dürft nicht vergessen, dass dies hier

ein unerschlossenes Land ist. Wir sind noch nicht weit vorgedrungen und vieles, was in unserem Mutterland zum Standart gehört, existiert hier nicht. Doch mit dem Segler, der die Depesche brachte, kamen auch Soldaten. Man sandte sie zur Verbesserung der allgemeinen Si­cherheit.« Der Gouverneur lächelte. »Nun können sie uns dabei helfen, die Ordnung in ›No Hope‹ wieder herzustellen. Ich werde nämlich den Verdacht nicht los, dass dieser Holbrooke sich selbst und seine Stel­lung hier maßlos überschätzt. Es wird also Zeit, dass er einmal in die Schranken gewiesen wird und das habe ich vor.«

*

Nathan Holbrooke war zwar ein größenwahnsinniger Choleriker, doch er war nicht dumm und ahnte, dass der Gouverneur diese An­gelegenheit nicht einfach auf sich beruhen lassen würde. Eine Lösung musste her und zwar schnell. Denn der Gefängnisdirektor war nicht gewillt, seine Gefangenen einfach freizulassen. Er meinte, dass dies ein schlechtes Vorbild abgeben und leicht zu einer Revolte führen kön­ne. Was er nicht wusste, war, dass sich bereits Soldaten im Anmarsch auf ›No Hope‹ befanden, während er sich der Krankenbaracke näher­te. Montagiu sollte als Erster dran glauben, dann war er diese ver­rückte Lady los. Und auch die anderen Verschwörer, die noch am Le­ben waren, würden das Lager nicht verlassen. Dafür sorgte er schon...

Holbrooke betrat die Krankenbaracke, die nur ein besserer Bret­terverschlag war und beugte sich über den jungen Herzog, der schlief. Sein Fieber war noch immer sehr hoch, doch sein Schlaf etwas ruhiger geworden. Ein irres, heimtückisches Glitzern zeigte sich in den Augen des Direktors, als er seine Hände um Geralds Hals legte und zudrück­

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te. Zuerst erfolgte keine Reaktion und der Mörder glaubte sich bereits leicht am Ziel. Dann aber schlug der Kranke die Augen auf - und im nächsten Moment begann er sich zu wehren. Körperlich war Holbrooke dem Duke weit unterlegen, doch was seine Hinterhältigkeit betraf, da machte ihm niemand etwas vor. Wieselflink befreite er sich aus dem Griff des Kranken, dessen Kräfte bereits wieder erlahmten und zog noch in der Bewegung ein Messer. Er wollte sich erneut auf sein Opfer stürzen, als draußen Schüsse und Rufe laut wurden. Holbrooke küm­merte sich nicht darum. Er nahm es nur unterbewusst wahr, denn er war wie im Rausch. Um jeden Preis wollte er den verhassten Herzog töten, der sich ihm einfach nicht hatte unterordnen wollen. Er hob den Arm, die Klinge blitzte in seiner Hand - und im nächsten Moment krachte ein Schuss aus einem Vorderlader. Der Direktor riss die Augen weit auf, sein Mund formte lautlose Worte, während er langsam nach vorne kippte und neben dem Fiebernden auf der Erde liegen blieb. Das Messer war seiner Hand entglitten und lag im Staub neben dem Toten.

Der Soldat trat zur Seite, so dass Lady Annabell den Verschlag einsehen konnte. Der Anblick des Toten war schrecklich für sie, doch sie blieb tapfer, kümmerte sich nur um Gerald, den der Angriff noch zusätzlich geschwächt hatte. Rasch eilte sie zu ihm, wischte über sein Gesicht und nannte ihn immer wieder beim Namen. Doch er delirierte, erkannte sie nicht.

»Wir bringen ihn zu unserem Arzt«, schlug der Soldat vor. »Der kann ihm gewiss helfen.«

Nach kurzem Zögern war Lady Annabell einverstanden. Nachdem Gerald auf eine Trage gelegt worden war, blieb sie an seiner Seite. Während des ganzen Transports zur Pension hielt sie seine Hand und hoffte, dass er dies spürte und es ihm zumindest ein wenig half in sei­nem bemitleidenswerten Zustand...

Der Militärarzt diagnostizierte ein Fieber, wie es in diesem Teil der australischen Küste häufig vorkam und das von einer bestimmten Art Mücken übertragen wurde. Er verabreichte dem Kranken eine Medizin, die das Fieber sinken ließ und gab Annabell dann genau Anweisungen, wie sie Gerald zu pflegen hatte.

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»Es ist eine hartnäckige Krankheit. Sie brauchen viel Geduld, My­lady«, ließ er sie noch wissen, bevor er ging.

»Ob er wohl wieder gesund wird?«, sinnierte Lissy und musterte den Fiebernden scheu. »Denkt Ihr wirklich, wir können ihn richtig pfle­gen? Das sieht so ernst aus...«

»Natürlich. Ich übernehme das, du kannst mir zur Hand gehen, Lissy.« Lady Annabell lächelte angedeutet. »Das Schlimmste liegt nun hinter uns. Wenn Gerald erst wieder gesund ist, kehren wir endlich heim nach England...«

*

Die optimistischen Worte von Lady Annabell sollten sich allerdings als verfrüht erweisen. Der junge Herzog hatte noch eine ganze Weile mit seiner Erkrankung zu kämpfen. Und als das Fieber endlich sank, fühlte Gerald of Montagiu sich noch lange matt und abgeschlagen. Er musste sich sehr schonen und es dauerte beinahe ein halbes Jahr, bis er wie­der einigermaßen zu Kräften kam und an eine Heimreise denken konn­te.

In diesen Monaten kümmerte Annabell sich liebevoll um den Mann, dem ihr Herz gehörte. Und Gerald wurde bewusst, dass diese junge Lady die Frau seines Lebens war. Noch ehe man zu der langen Heimreise nach England aufbrach, vermählte der Pfarrer in Sydney die Liebenden in einer sehr einfachen und recht schmucklosen Zeremonie. Lissy fungierte als Trauzeugin und weinte ergriffen, als der Geistliche den Herzog und die Lady zu Mann und Frau erklärte. Dann aber muss­te man sich sputen, denn der Segler, der vor der Küste lag, wollte bei günstigen Winden gen England aufbrechen.

In der Zwischenzeit hatten die Mithäftlinge des Duke Australien bereits verlassen. Ein neuer Direktor hatte das Sträflingslager über­nommen, doch sein Regiment schien sich nur in wenig von dem seines Vorgängers zu unterscheiden...

Der Gouverneur ließ es sich nicht nehmen, das frisch vermählte Paar herzlich zu verabschieden.

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»Ihr könnt Euch glücklich schätzen, eine solche Lady die Eure zu nennen, Hoheit«, meinte er anerkennend. »Was diese junge Dame alles auf sich genommen hat, um Euch zu helfen und Euer Leben zu retten, ist schon aller Ehre wert.«

Gerald konnte dem nur zustimmen. »Ich bin auch sehr stolz auf meine Gemahlin«, versicherte er. »Als ich damals von England fort gebracht wurde, hätte ich es mir nicht einmal träumen lassen, dass es ein Wiedersehen für uns geben könnte. Dass ich nun sogar die Freiheit wieder erlangt habe, erscheint mir manchmal noch wie ein Wunder.«

»Kein Wunder«, zwinkerte der Gouverneur, »nur Gerechtigkeit.« An Bord der ›Atlantic Cruise‹ hieß es dann endgültig Abschied

nehmen von der Insel am Ende der Welt, auf der dem jungen Herzog soviel Schweres widerfahren war. Einen Moment verharrte Gerald schweigend und blickte auf die Küste zurück, von der man sich nun langsam entfernte. Seine Gedanken waren wieder bei jenem Tag, als er hier angekommen war, Seite an Seite mit Peter Atwell, dem Ju­gendfreund, der auf der Räuberinsel seine letzte Ruhe gefunden hatte. Bitterkeit erfüllte Geralds Herz und er ahnte, dass er Peters Eltern die schlimme Nachricht persönlich würde überbringen müssen. Das war der einzige Dienst, den er dem Freund noch erweisen konnte...

Als eine schmale Hand sich in seine stahl, schob der Herzog die schweren Gedanken beiseite und lächelte seiner schönen, jungen Frau liebevoll zu. Annabell war erblüht wie eine Rose, die Erfüllung ihres Lebensglücks hatte sie restlos zufrieden gemacht. Sie schien zu spü­ren, wie es ihrem Gemahl ums Herz war, denn sie schwieg, war ein­fach bei ihm und spendete ihm so den Trost und die Anteilnahme, die er nun brauchte.

Die Seereise verlief angenehmer als zuvor, doch auch dieses Mal gab es kleine Abenteuer zu überstehen. So einen schweren Sturm bei Kap Horn, den missglückten Angriff von Piraten vor Spanien und einen Mastbruch bei heftigem Gewitter. Letztlich erreichte man aber die eng­lische Küste wohl behalten.

Hatten Annabell und Gerald ihr junges Glück bislang in vollen Zü­gen genossen, so musste der Edelmann feststellen, dass seine Ehefrau immer stiller und in sich gekehrter wurde, je näher man dem Ziel kam.

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Er fragte sich, was sie wohl bedrückte, doch sie wollte es ihm nicht sagen.

»Ich fürchte, die Herzogin wird mich nicht eben mit offenen Ar­men empfangen«, gestand sie Lissy eines Tages mit bekümmerter Miene ein. »Sie wird mich nicht als Schwiegertochter anerkennen. Denke nur daran, wie kalt und abweisend sie sich gegeben hat.«

»Aber die Lage hat sich doch nun geändert«, gab Lissy zu be­denken. »Ihr seid die Frau des Herzogs. Und daran gibt es nichts zu deuteln. Eure Schwiegermutter muss Euch anerkennen.«

Annabell lächelte schwach. »Schön wäre es. Aber ich glaube nicht daran. Und was unsere Vermählung angeht, auch diese wird die Her­zogin nicht akzeptieren. Denn schließlich geschah sie nicht in Eng­land.«

Die Zofe wurde nachdenklich. Endlich meinte sie aber leichthin: »Ihr habt eine Urkunde. Das reicht. Und wenn die Herzogin diese nicht für echt hält oder sich sonst was ausdenkt, dann kümmert Euch ein­fach nicht darum!«

»Du bist gut. Ich werde mit ihr auskommen müssen auf Montagiu-Hall. Schließlich ist sie dort die Herrin.« Annabell seufzte bekümmert auf. »Ach, ich fürchte mich richtig vor diesem Wiedersehen und wünschte, ich könnte dem ausweichen.«

»Aber das könnt Ihr doch! Zieht nach Mayfair. Und Euer Gemahl hat es dort auch nicht weit bis zum Parlament...«

»Ach, Lissy, welch ein Gedanke!« Die junge Lady konnte nur noch den Kopf schütteln. »Ich wünschte, es wäre so einfach.«

Als die ›Atlantic Cruise‹ im Hafen von Plymouth einlief, erwartete die erschöpften Reisenden dort ein großer Bahnhof. Das halbe Par­lament hatte sich versammelt, an seiner Spitze der Premier, um den jungen Herzog in England willkommen zu heißen und sich noch einmal öffentlich für die Schmach zu entschuldigen, die ihm angetan worden war.

Lady Annabell bemerkte, dass ihrem Mann dies unangenehm war. Da fragte sie ihn vorsichtig: »Sag, Gerald, fühlst du dich schuldig? Wir haben nie darüber gesprochen, doch entspricht es tatsächlich der

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Wahrheit, dass Lord Wessex allein für den Anschlag verantwortlich zeichnete?«

Der junge Herzog bedachte seine Frau mit einem sehr ernsten Blick, als er erwiderte: »Alle Verschwörer haben versprochen, niemals darüber zu sprechen. Wir hatten ein gemeinsames Ziel, wollten es zu­sammen erreichen oder untergehen. Doch es ist wahr; was Wessex vor seinem Tod beichtete, entspricht den Tatsachen.«

»So bist du unschuldig in Haft gegangen? Warum?« »Nun, es ist schwer zu erklären. Vor allem vor den praktischen

Augen einer Frau muss es kindisch klingen. Doch es war eine Frage der Ehre für uns alle.«

Lady Annabell lächelte mild und nachsichtig. »Nun komm, Liebs­ter, lassen wir den Premier nicht warten...«

Der Earl of Chatham begrüßte den Herzog mit ungewöhnlicher Freundlichkeit. Er bat ihn und seine Gattin, in seiner Kutsche nach London zu fahren und brachte auf dem Weg rasch die Sprache aufs Politische.

»Ihr werdet feststellen, Hoheit, dass sich in diesem Lande wäh­rend Eurer Abwesenheit einiges zum Guten gewandt hat. Der König überlässt nun wieder dem Parlament die Politik. Meine Bemühungen, die Kolonialmacht zu festigen, fruchten allmählich. Und ich gehe ge­zielt und ohne Rücksicht gegen den Filz vor, der sich überall breit ge­macht hat.«

»Das klingt sehr lobenswert, so es sich nicht um Selbstgefälligkeit handelt«, urteilte der Duke mit leiser Ironie. Er hatte nicht Pitts zö­gerliche Haltung vergessen, als es um die Verhaftung von Peter Atwell und anderen Parteifreunden gegangen war.

»Ihr habt Vorbehalte, die ich Euch nicht übel nehme«, erwiderte der Premier versöhnlich. »Denn ich wüsste es sehr zu schätzen, Euch wieder im Parlament zu sehen. Mit Männern wie Euch, Hoheit, bauen wir ein neues England, dessen man sich wieder wird rühmen können und dessen Bürger stolz sein sollen, zum Empire zu gehören. Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, ein Ministeramt in meiner Regierung zu ü­bernehmen?«

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Lady Annabell, die bislang schweigend zugehört hatte, bedachte ihren Gatten mit einem fragenden Blick. Sie wusste, dass er eigentlich nichts mehr von der Politik wissen wollte. Doch ein solches Angebot, das der Premierminister zudem persönlich unterbreitete, war gewiss des Nachdenkens würdig.

Allerdings hatte sich an Geralds Haltung nichts geändert, wie seine Gemahlin gleich darauf feststellen konnte. Freundlich aber bestimmt wies er Pitt ab. »Ihr Begehr ehrt mich, Sir, doch ich muss es ablehnen. Nach allem, was ich durch litten habe um der Politik willen, nicht zu­letzt aber bei all den Sorgen, die ich meiner geliebten Frau und auch meiner Mutter damit bereitet habe, will ich mich nun als Privatier nur den Pflichten widmen, die Name und Titel mir auferlegen. Ich denke, ich habe der Krone des Königs ausführlich gedient, nun soll nur noch die Krone im Wappen der Montagius mein Leitstern sein.«

Pitt nickte mit bekümmerter Miene. »Sehr bedauerlich, Hoheit, wirklich sehr bedauerlich. Dann bleibt mir wohl nur noch, Euch Glück zu wünschen. Und Zufriedenheit, denn sie ist das Fundament, auf dem ein schönes Leben fußen kann.«

Die Worte des Premiers gingen Lady Annabell noch eine ganze Weile durch den Sinn. Und als sie Montagiu-Hall schließlich erreichten, sagte sie zu Gerald: »Ich möchte unser Glück bewahren, Liebster. Wir haben hart genug darum gekämpft. Aber falls deine Mutter mich nicht als deine Frau akzeptieren will...«

»Davon kann keine Rede sein. Du bist nun die junge Herzogin und hast vor meiner Mutter nicht mehr das Knie zu beugen«, erinnerte er sie mit Nachdruck. »Ihr seid einander ebenbürtig. Und ich hoffe sehr, du wirst dies ebenso wenig vergessen wie meine Mutter es sollte.«

Tatsächlich hatte Lady Elisabeth bereits durch eine Depesche von der Gesundung und Vermählung ihres Sohnes erfahren. Die Be­grüßung auf dem Stammsitz der Herzöge von Montagiu verlief mit sel­tener Herzlichkeit. Milisett Roberts konnte feststellen, dass ihre Brot­herrin im überschwänglichen Glücksgefühl auch Nachsicht der neuen Schwiegertochter gegenüber walten ließ. Wie man sich weiterhin ver­tragen würde, musste allerdings erst die Zukunft zeigen. Doch die Zofe war überzeugt, dass die alte Herzogin dieser außergewöhnlichen Lie­

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besgeschichte Tribut zollen und die Wahl ihres Sohnes schließlich ak­zeptieren konnte. Und damit, so meinte Milisett Roberts, sollten sich letztlich alle zufrieden geben. Nur ein Haar fand sie dann doch in der Suppe: Es war diese unmögliche kleine Brünette, die Lady Annabell als Zofe diente. Hatte die Lady sich denn nicht eine Bedienstete mit etwas mehr Stil und Lebensart aussuchen können?

Ende

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