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Verwaltungsgeschichte als Alltagsgeschichte Zum Finanzgebaren frühneuzeitlicher Amtsträger im Spannungsfeld zwischen Stabsdisziplinierung und Mitunternehmerschaft Von Stefan Brakensiek Die Thematik „Verwaltungsgeschichte als Alltagsgeschichte“ lässt sich verschieden auffassen: Man kann Akten der Verwaltung als Quellen für die Alltagsgeschichte der ländlichen und städtischen Bevölkerung heranziehen oder aber den Alltag der Verwal- tung selbst als soziale Praxis untersuchen, und so sei das Thema hier verstanden 1 . Es wird im Folgenden um alltägliche Verrichtungen des Verwaltungspersonals gehen, ei- nerseits um die vom Fürsten bzw. von den jeweiligen Vorgesetzten formulierten Ver- haltenserwartungen, andererseits um die erkennbaren Verhaltensweisen – und dies nicht etwa, um zu dem vorhersehbaren Ergebnis zu kommen, dass sich dabei eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit auftut, sondern um daraus systema- tische Schlussfolgerungen zu ziehen über den Charakter fürstenstaatlicher Adminis- tration in der Frühen Neuzeit. 1. Problemaufriss: Die zentrale Bedeutung lokaler Verwaltungspraxis Ein weites Spektrum unterschiedlichster Themen ließe sich auf diese Weise behan- deln, etwa Fragen nach der Normgebundenheit von Verwaltungshandeln oder nach der Relation von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Ein wichtiger Themenbereich wäre auch die Gestaltung des Kontakts zwischen dem Verwaltungspersonal einerseits und den von ihrem administrativen Handeln betroffenen Untertanen anderseits 2 . Eine derart umfassende Analyse ist an dieser Stelle freilich nicht intendiert, stattdessen soll exemplarisch die lokale 3 ökonomische Grundlage von frühneuzeitlichen Territorial- 1 Alf LÜDTKE, Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, in: Herrschaft als soziale Praxis. Histori- sche und sozialanthropologische Studien, hg. von DEMS. (VMPIG 91, Göttingen 1991) 9–63; Stefan BRAKENSIEK, Zur politischen Kultur im frühneuzeitlichen Europa. Essener Unikate 32 (2009) 9–22. 2 Vgl. dazu die folgenden neueren Sammelbände: Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse ei- nes dynamisch-kommunikativen Prozesses, hg. von Markus MEUMANN–Ralf PRÖVE (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 2, Münster 2004); Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsver- mittlung im alten Europa, hg. von Stefan BRAKENSIEK–Heide WUNDER (Köln–Weimar–Wien 2005); Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neu- zeit, hg. von Ronald G. ASCH–Dagmar FREIST (Köln–Weimar–Wien 2005). 3 Zum Lokalitätsbezug frühneuzeitlicher Verwaltung: André HOLENSTEIN, „Local-Untersu- chung“ und „Augenschein“. Reflexionen auf die Lokalität im Verwaltungsdenken und -handeln des Ancien Régime. Werkstatt Geschichte 16 (1997) 19–31. Lay_Herr.indd 270-271 01.09.10 15:17

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Verwaltungsgeschichte als AlltagsgeschichteZum Finanzgebaren frühneuzeitlicher Amtsträger im Spannungsfeld

zwischen Stabsdisziplinierung und Mitunternehmerschaft

Von Stefan Brakensiek

Die Thematik „Verwaltungsgeschichte als Alltagsgeschichte“ lässt sich verschieden auffassen: Man kann Akten der Verwaltung als Quellen für die Alltagsgeschichte der ländlichen und städtischen Bevölkerung heranziehen oder aber den Alltag der Verwal-tung selbst als soziale Praxis untersuchen, und so sei das Thema hier verstanden1. Es wird im Folgenden um alltägliche Verrichtungen des Verwaltungspersonals gehen, ei-nerseits um die vom Fürsten bzw. von den jeweiligen Vorgesetzten formulierten Ver-haltenserwartungen, andererseits um die erkennbaren Verhaltensweisen – und dies nicht etwa, um zu dem vorhersehbaren Ergebnis zu kommen, dass sich dabei eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit auftut, sondern um daraus systema-tische Schlussfolgerungen zu ziehen über den Charakter fürstenstaatlicher Adminis- tration in der Frühen Neuzeit.

1. Problemaufriss: Die zentrale Bedeutung lokaler Verwaltungspraxis

Ein weites Spektrum unterschiedlichster Themen ließe sich auf diese Weise behan-deln, etwa Fragen nach der Normgebundenheit von Verwaltungshandeln oder nach der Relation von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Ein wichtiger Themenbereich wäre auch die Gestaltung des Kontakts zwischen dem Verwaltungspersonal einerseits und den von ihrem administrativen Handeln betroffenen Untertanen anderseits2. Eine derart umfassende Analyse ist an dieser Stelle freilich nicht intendiert, stattdessen soll exemplarisch die lokale3 ökonomische Grundlage von frühneuzeitlichen Territorial-

1 Alf Lüdtke, Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, in: Herrschaft als soziale Praxis. Histori-sche und sozialanthropologische Studien, hg. von dems. (VMPIG 91, Göttingen 1991) 9–63; Stefan Brakensiek, Zur politischen Kultur im frühneuzeitlichen Europa. Essener Unikate 32 (2009) 9–22.

2 Vgl. dazu die folgenden neueren Sammelbände: Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse ei-nes dynamisch-kommunikativen Prozesses, hg. von Markus meumann–Ralf Pröve (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 2, Münster 2004); Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsver-mittlung im alten Europa, hg. von Stefan Brakensiek–Heide Wunder (Köln–Weimar–Wien 2005); Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neu-zeit, hg. von Ronald G. asch–Dagmar Freist (Köln–Weimar–Wien 2005).

3 Zum Lokalitätsbezug frühneuzeitlicher Verwaltung: André hoLenstein, „Local-Untersu-chung“ und „Augenschein“. Reflexionen auf die Lokalität im Verwaltungsdenken und -handeln des Ancien Régime. Werkstatt Geschichte 16 (1997) 19–31.

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verwaltungen im Zentrum der Überlegungen stehen, weil deren Untersuchung Hin-weise liefert auf dauerhafte Problemlagen frühmoderner Verwaltungspraxis: Es soll um die Planbarkeit von Domänen- und Steuereinnahmen gehen und um die Pro-bleme, die sich um die Besoldung und Kontrolle von Amtsträgern rankten, die mit der örtlichen Verwaltung, insbesondere mit der Erhebung von Steuern, Abgaben und Diensten betraut waren. Eine solche Zuspitzung erscheint deshalb sinnvoll, weil das wirtschaftliche Handeln der Amtsträgerschaft strukturprägend wirkte, sowohl für die interne Organisation administrativer Systeme, als auch für die Gestaltung der Interak-tionen mit der lokalen Umwelt dieser Systeme. Motiviert sind diese exemplarischen Überlegungen außerdem durch den Umstand, dass wir über die Einkommenssituation der frühneuzeitlichen Amtsträgerschaft – trotz einiger aktueller Regionalstudien4 – nicht sonderlich gut informiert sind5.

2. Lokale Verwaltungspraxis des 16. Jahrhunderts in der Landgrafschaft Hessen

Die herangezogenen Fallbeispiele stammen aus der lokalen Verwaltung der Land-grafschaft Hessen-Kassel; die Problemlagen und Lösungsversuche stellen sich freilich in anderen Fürstentümern des Alten Reichs6 und auch in den großen Herrschaften in

4 Christine van den heuveL, Beamtenschaft und Territorialstaat. Behördenentwicklung und So-zialstruktur der Beamtenschaft im Hochstift Osnabrück 1550–1800 (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen 24, Osnabrück 1984); Malte BischoFF, Die Amtleute Herzog Friedrichs III. von Schleswig-Holstein-Gottorf (1616–1659). Adelskarrieren und Absolutismus (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 105, Neumünster 1996); Michaela hohkamP, Herrschaft in der Herrschaft. Die vorderösterreichische Obervogtei Triberg von 1737 bis 1780 (VMPIG 142, Göttingen 1998); Stefan Brakensiek, Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750–1830) (Göttingen 1999); Thomas kLingeBieL, Ein Stand für sich? Lokale Amtsträger in der Frühen Neuzeit. Untersuchungen zur Staatsbildung und Gesellschaftsentwicklung im Hochstift Hildesheim und im älteren Fürstentum Wolfenbüttel (Veröf-fentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 207, Hannover 2002); Ursula LöFFLer, Dörfliche Amtsträger im Staatswerdungsprozess der Frühen Neuzeit. Die Vermittlung von Herrschaft auf dem Lande im Herzogtum Magdeburg, 17. und 18. Jahrhundert (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 8, Münster 2004); Christian hesse, Amtsträger der Fürsten im spätmittelalterlichen Reich. Die Funktionseliten der lokalen Verwaltung in Bayern-Landshut, Hessen, Sachsen und Württemberg, 1350–1515 (SchrRHKBAW 70, Göttingen 2005); Christian LiPPeLt, Ho-heitsträger und Wirtschaftsbetrieb. Die herzogliche Amtsverwaltung zur Zeit der Herzöge Heinrich der Jüngere, Julius und Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel 1547–1613 (Schriften zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 12, Hamburg 2009).

5 Heiko Droste sei herzlich gedankt für die lebhaften Gespräche, auf die viele der hier vorgestell-ten Überlegungen zurückgehen. Vgl. Heiko droste, The postmaster’s economy around 1700, in: Postal services in the Swedish Empire in the Seventeenth Century, hg. von dems. (Stockholm 2010) ???–???.

6 Dietmar WiLLoWeit, Allgemeine Merkmale der Verwaltungsorganisation in den Territorien, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, hg. von Kurt G. A. Jeserich–Hans PohL–Georg-Christoph von unruh (Stuttgart 1983) 289–360; Wolfgang reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart (München 1999) 52–59; Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 10., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 11, Stuttgart 2006) 171–208.

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der Habsburgermonarchie7 ganz ähnlich dar. Darstellungen zur deutschen Verwal-tungsgeschichte zählen die Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert zu den Vorrei-tern des Staatsbildungsprozesses in den Territorien des Reiches8. Für dieses Urteil gibt es gute Gründe, denn während der langen Regentschaft von Landgraf Philipp „dem Großmütigen“ von 1518 bis 1567 wurden die Zentral- und Lokalbehörden ausgebaut und personell großzügig ausgestattet9. Es erfolgte die Ausdifferenzierung des Forst-, Domänen- und Steuerwesens. Im Zuge der Reformation wurde die territoriale Kir-chenverwaltung auf eine feste institutionelle Grundlage gestellt; nach zwei Generati-onen hatte man eine eigene Pfarrerschaft herangezogen10. Überdies unternahmen die Landgrafen und ihre Berater erkennbare Anstrengungen, Pfarrer, staatliche und kom-munale Amtsträger durch detaillierte Ordnungen sowie durch kirchliche und welt-liche Visitationen zu disziplinieren. Die Landgrafschaft Hessen gehörte zu den „wohl-administrierten“ kleinen und mittleren Reichsterritorien, die bereits frühzeitig auf eigenes lokales Verwaltungspersonal setzten, weniger auf delegierte Verwaltung durch

1 7 Die lokale und regionale Finanzverwaltung lag in den Ländern der böhmischen Krone, in den österreichischen Ländern und in Ungarn bis ins frühe 18. Jahrhundert in den Händen des Adels bzw. der Stände. Vgl. Peter George Muir dickson, Finance and government under Maria Theresia 1740–1780, 2 Bde. (Oxford 1987); Finanzen und Herrschaft. Materielle Grundlagen fürstlicher Politik in den habsburgischen Ländern und im Heiligen Römischen Reich im 16. Jahrhundert, hg. von Friedrich edeLmayer–Maximilian Lanzinner–Peter rauscher (VIÖG 38, Wien–München 2003); Stefan Bra-kensiek, Rekrutierung lokaler Herrschaftsvermittler unter wechselnden Vorzeichen: Die böhmische Herrschaft Neuhaus, das ungarische Komitat Szatmár und die Landgrafschaft Hessen-Kassel im Ver-gleich, in: Ergebene Diener ihrer Herren? (wie Anm. 2) 97–122; András vári, Ergebene Diener ihrer Herren. Wandel der Machtausübung im Komitatsleben und in der privaten Güterverwaltung im Un-garn des 18. Jahrhunderts, in: ebd. 203–231; Thomas WinkeLBauer, Nervus rerum Austriacarum. Zur Finanzgeschichte der Habsburgermonarchie um 1700, in: Die Habsburgermonarchie 1620 bis 1740. Leistungen und Grenzen des Absolutismusparadigmas, hg. von Petr maťa–Thomas WinkeLBauer (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 24, Stuttgart 2006) 179–216; Géza PáLFFy, Zentralisierung und Lokalverwaltung. Die Schwierigkeiten des Absolutismus in Ungarn von 1526 bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, in: ebd. 279–300; Petr maťa, Landstände und Landtage in den böhmischen und österreichischen Ländern (1620–1740). Von der Niedergangsgeschichte zur Interaktionsanalyse, in: ebd. 345–400.

18 Kurt düLFer, Fürst und Verwaltung. Grundzüge der hessischen Verwaltungsgeschichte im 16.–19. Jahrhundert. HessJbLG 3 (1953) 150–223; Hans PhiLiPPi, Die hessischen Territorien und ihre Nachbarn, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte 1 (wie Anm. 6) 637–658.

1 9 Karl E. demandt, Geschichte des Landes Hessen (Kassel 21972) 216–237; Volker Press, Land-graf Philipp der Großmütige von Hessen 1504–1567, in: Protestantische Profile, hg. von Klaus schoL-der–Dieter kLeinmann (Königstein im Taunus 1983) 60–77; Thomas A. Brady, Zwischen Gott und Mammon. Protestantische Politik und deutsche Reformation (Berlin 1996) 122–167; Stefan Braken-siek, Amtsträgerschaft und landgräfliches Regiment. Versuch einer Figurationsanalyse, in: Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen und seine Residenz Kassel, hg. von Heide Wunder–Christina vanJa–Berthold hinz (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 24,8, Marburg 2004) 137–150.

10 Manfred rudersdorF, Hessen, in: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, 4: Mittleres Deutschland, hg. von Anton schindLing–Walter ziegLer (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspal-tung 52, Münster 1992) 254–288; Luise schorn-schütte, Evangelische Geistlichkeit in der Frühneu-zeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft, dargestellt am Bei-spiel des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Landgrafschaft Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 62, Gütersloh 1996); Carsten keune, Die Durchsetzung der Reformation in den Territorien. Landesherrliche Maßnahmen auf dem Weg zum Territorialstaat in der Zeit von 1520 bis 1555 in dem Fürstentum Lüneburg und in der Land-grafschaft Hessen (Bonn 1999).

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städtische Magistrate, Ständeversammlungen und aristokratische Gutsadministra- tionen, wie sie in den großen zusammengesetzten Monarchien bis ins 18. Jahrhundert hinein vorherrschte11.

Dank der Darstellungen und Quelleneditionen von Ludwig Zimmermann und Franz Gundlach aus den 1930er Jahren und von Kersten Krüger aus den 1970er Jahren sind wir über die Grundlinien des Bürokratisierungsprozesses in Hessen im 16. Jahr-hundert vorzüglich informiert12. In dieser Zeit wurde auch die finanzielle Grundlage des Fürstentums energisch verbessert, zum einen durch Vergrößerung und intensivere Nutzung der Domänen und Forste, zum anderen durch die Einführung von dauerhaft erhobenen Steuern. Im Jahr 1532 wurde die Türkenhilfe nach kursächsischem Vorbild als kombinierte Einkommens-, Vermögens- und Kopfsteuer organisiert. Zur gleichen Zeit führte man die Tranksteuer ein. Die erste umfassende Steuerveranlagung der Bevölkerung erfolgte 1542; die Form der Vermögensbesteuerung war 1557 Gegen-stand einer grundsätzlichen Vereinbarung zwischen Landgraf und Ständen, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in Kraft blieb13. Das gesamte Staatsgebäude ruhte auf den Ämtern, etwa einhundert an der Zahl, in die das Land gegliedert war. Auf Amts-ebene waren Amtleute, Schultheißen, Rentschreiber und Förster tätig, die im unmit-telbaren Kontakt mit den Untertanen standen. Sie sollten die lokale Justiz handhaben, erforderliche Informationen beschaffen, Abgaben, Steuern und Dienste erheben und ganz allgemein die Anweisungen des Fürsten in die Tat umsetzen14.

3. Der „Ökonomische Staat“ des Landgrafen Wilhelm als Verwaltungsmonument

Vollendet wurde der Behördenausbau während der Regentschaft von Landgraf Wilhelm IV., der von 1567 bis 1592 über das größte hessische Teilfürstentum, die Landgrafschaft Hessen-Kassel, gebot. Wilhelm galt und gilt noch heute als ausgespro-

11 Otto hintze, Die Wurzeln der Kreisverfassung in den Ländern des nordöstlichen Deutschland, in: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte (Göttingen 1962) 186–215; Stefan Brakensiek, Neuere Forschungen zur Geschichte der Verwaltung und ihres Personals in den deutschen Staaten 1648–1848, in: Verwaltungseliten in Westeuropa (19./20. Jh.), hg. von Erk Volkmar heyen (JEV 17, Baden-Baden 2005) 297–326.

12 Franz gundLach, Die hessischen Zentralbehörden von 1247 bis 1604, 1: Darstellung (Marburg 1931); 2: Urkunden und Akten (Marburg 1932); 3: Dienerbuch (Marburg 1930); Ludwig zimmermann, Der ökonomische Staat Landgraf Wilhelms IV., 1: Der hessische Territorialstaat im Jahrhundert der Reformation (Marburg 1933); 2: Nach den Handschriften. Mit einer Schrifttafel (Marburg 1934); Kers- ten krüger, Der ökonomische Staat Landgraf Wilhelms IV., 3: Landbuch und Ämterbuch (Marburg 1977); ders., Finanzstaat Hessen 1500–1567. Staatsbildung im Übergang vom Domänenstaat zum Steuerstaat (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 24,5, Marburg 1980).

13 Bruno hiLdeBrandt, Die Vermögenssteuer und die Steuerverfassung in Althessen während des 16. und 17. Jahrhunderts und die aus der Vermögenssteuer Hessens hervorgegangene Grundsteuer. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 25 (1875) 299–304; Ludwig zimmermann, Zur Entste-hungsgeschichte der hessischen Landstände. Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landes-kunde 63 (1952) 66–82; Karl E. demandt, Die hessischen Landstände im Zeitalter des Frühabsolutis-mus. HessJbLG 15 (1965) 38–108; Kersten krüger, Entstehung und Ausbau des hessischen Steuerstaates vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Akten der Finanzverwaltung als frühneuzeitlicher Gesellschaftsspie-gel. HessJbLG 32 (1982) 103–125.

14 krüger, Finanzstaat Hessen (wie Anm. 12) 58–61. In Hessen zählte man im Jahr 1532 genau 102 Ämter; im Jahr 1565 waren es 103 Ämter.

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Vorräte des Niederfürstentums Hessen

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chen gelehrter, friedliebender und haushälterischer Fürst, der sich lebhaft für Mathe-matik, Astronomie, Gartenkunst, Landwirtschaft und Ökonomie interessierte15. Er versuchte, die Verwaltung seines Landes mit eben der mathematischen Präzision zu steuern, die er in der Bewegung der Sterne wahrnahm. Von seinen Amtsträgern ließ er binnen zwanzig Jahren den sogenannten „Ökonomischen Staat“ fertigen, eine detail-lierte statistische Bestandsaufnahme nicht nur der fürstlichen Domänen und Forsten, sondern auch der Wirtschaftskraft der Untertanen16.

Im „Ökonomischen Staat“ des Landgrafen Wilhelm hat man das beeindruckende Ergebnis hartnäckiger Verwaltungsarbeit vor sich. Dieser Überblick ist in mehreren vollständigen Handschriften überliefert. Darin werden die wirtschaftlichen Grundla-gen des hessischen Fürstenstaates festgehalten, und so ist dieses Werk eines auf Präzi-sion versessenen Fürsten in der historischen Forschung auch interpretiert worden: als die frühe Frucht rationalen Staatsdenkens und als das bewunderungswürdige Hilfs-mittel zur Steuerung eines frühmodernen Finanzstaates17. Weiter noch, die Forschung sah in Landgraf Wilhelm den Inbegriff des lutherischen Fürsten, der sein von Gott gegebenes Fürstenamt streng, weise und gerecht auszufüllen trachtete18. Das sei über-haupt nicht in Abrede gestellt; einige Irritationen bleiben gleichwohl.

Keine der überlieferten Handschriften weist größere Gebrauchsspuren auf. Offen-sichtlich waren sie nicht für den Einsatz im Verwaltungsalltag gedacht, ganz sicher nicht die Prachthandschrift (Abb. 1), in gestochen scharfer Frakturschrift auf Perga-ment geschrieben, in roten Samt eingebunden und mit silbernen Ornamenten beschla-gen. Hierbei handelte es sich um den wichtigsten Teil des politischen Testaments, das Landgraf Wilhelm seinem Sohn Moritz hinterließ. Entsprechend wurden die Hand-schriften bis ans Ende des Ancien Régime auch nicht in der Repositur der Rentkam-mer, sondern im fürstlichen Geheimarchiv aufbewahrt19.

Auch ein Blick auf die inhaltlichen Details des „Ökonomischen Staates“ ergibt irri- tierende Befunde (Abb. 2: Reproduktion des Anschlags des Amtes Trendelburg). Fein säuberlich werden in der Kopfzeile die erwarteten Einnahmen an Geld, Getreide und

15 zimmermann, Ökonomischer Staat 1 (wie Anm. 12) 8–17.16 Dokumentiert in ders., Ökonomischer Staat 2 (wie Anm. 12): enthält Lehenbuch, Forstbuch,

Dorfbuch, Überschüsse der Ämter, Verzeichnis der in den landgräflichen Mühlen gemästeten Schwei-ne, Anschlag der landgräflichen Schäfereien, Plan für den jährlichen Abschuss des Rot- und Schwarz-wildes, Anschlag der niederhessischen Land- und Wollenzölle, Anschlag des Ungeldes und Triftgeldes, Anschlag des Salzwerkes Sooden, Wirtschaftsplan für die Domänenländerei, Vergleichstafel der Getrei-demaße, Jahresertrag der Zehnten und des Eigengewächses, Anschlag der Landsteuer, Anschlag der Tranksteuer, Anschlag der Geldgefälle, Anschlag der Kosten für die Zentralverwaltung und Hofhal-tung, Hofordnung, Speisekarte der Hoftafel, Koch- und Speiseordnung der Hofküche, Anschlag des Jahresverbrauchs der Hofhaltung außerhalb der Residenz, Plan für den Einkauf von Lebensmitteln auf den Kassler Märkten, Kostgeld für Räte, Hofbeamte und Gesinde, Preistafel für das Bäckergewerbe, Preistafel für den Weinausschank, Münzbuch, Preistafel für Handwerksarbeiten, Preistafel der Frank-furter Frühjahrsmesse 1585 und Kriegsetat; krüger, Ökonomischer Staat 3 (wie Anm. 12), enthält mit Landbuch und Ämterbuch die zusammengefassten Informationen von Rentkammer und Fürst über die lokale Ebene der Ämter.

17 krüger, Ökonomischer Staat 3 (wie Anm. 12) 17–25.18 zimmermann, Ökonomischer Staat 1 (wie Anm. 12) 14–17.19 ders., Ökonomischer Staat 2 (wie Anm. 12) XXIV–XXVI. Abb. 1 aus: Sta MR, Best.

S[albücher] 1, fol. 75 (mit freundlicher Genehmigung des Staatsarchivs Marburg).

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Anschlag des Amtes Trendelburg

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anderen Naturalien aufgeführt; dem stehen die erzielten Einnahmen für die Jahre 1572 bis 1589 gegenüber. Diesem Zahlenwerk liegt zweifelsohne eine beeindruckende administrative Leistung zugrunde, allein wenn man bedenkt, welche Mühe die Erhe-bung und Verarbeitung der gewaltigen Datenmengen bereitet haben muss. Wozu aber dienten die erhobenen Informationen? Auffälligerweise wird das angestrebte Soll prak-tisch in keinem Jahr erreicht, und das stellte keine Besonderheit des Amtes Trendel-burg dar, sondern war in allen hessischen Ämtern der Fall. Landgraf Wilhelm war darüber hoch erzürnt, vermutete hinter diesem ständigen Defizit Machenschaften der rechnungsführenden Beamten oder dickschädelige Dummheit der Bauern, die sich einfach nicht in seine als richtig erkannten Vorstellungen von der vollkommenen Landwirtschaft fügen wollten. Rationalität? Oder realitätsblinde Normativität?

Offenbar beruhte der „Ökonomische Staat“ auf einer Verwaltungspraxis, die in der Tat vorbildlich organisiert und auf Abschöpfung von Überschüssen im Interesse fürst-licher Machtsteigerung ausgerichtet war. Denn die Prachthandschrift ging nicht auf eine situative Erhebung zurück, sondern auf der Auswertung der zuvor in allen Ämtern neu angelegten Salbücher und der laufenden Amtsrechnungen, die in pragmatischer Absicht geführt wurden, und die – nach allem, was wir wissen – ihre Zwecke glänzend erfüllten: Steigerung und Verstetigung von Steuern, Abgaben und Diensten bei Wah-rung der Billigkeit, das heißt: Belastung der Untertanen gemäß ihres Standes und Vermögens20.

Durch das Abschöpfungssoll in der Kopfzeile wurde der Domänenverwaltung eine Zielvorgabe gemacht, wohin sie es bei größtem Eifer angeblich bringen konnte. Und doch kündigte sich im „Ökonomischen Staat“ bereits ein Phänomen an, das bürokra-tischem Planen bis heute inhärent ist, das Planungsphantasma, die Unterordnung von stets irregulärer Alltagspraxis der Subjekte unter einen ordnenden Blick, der nicht nur machtpolitische oder ökonomische Ziele in den Blick nimmt, sondern der auch die ästhetischen Bedürfnisse des Planers befriedigt sehen will21. Es wird zu zeigen sein, dass dieses Monument aus Papier dem Betrachter eine Informiertheit vorgaukelte, die bis zu einem gewissen Grade unrealistisch blieb.

Eine solche Datenerhebung war nur mit dem geballten Einsatz der Amtsträger-schaft zu bewältigen und ging über das administrative Alltagsgeschäft weit hinaus. Sobald der regierende Fürst dafür kein Interesse mehr aufbrachte, musste solch eine Erhebungs- und Systematisierungspraxis abbrechen. Das erwies sich während der Re-gentschaft des Nachfolgers von Wilhelm, Landgraf Moritz „des Gelehrten“, von 1592 bis 1627: Seit Beginn seiner Regierung wurden die Daten für den „Ökonomischen Staat“ nicht mehr aktualisiert22. Es existiert keine zentrale Anschlussüberlieferung, und auch die örtlichen Salbücher verloren ihren alltagspragmatischen Wert, weil Be-sitzveränderungen durch Verkauf, Erbe, Rodung und Wüstfallen nicht nachgetragen wurden23. Im Dreißigjährigen Krieg brach sogar die Führung der laufenden Amtspro-

20 ders., Ökonomischer Staat 1 (wie Anm. 12) 111–156. Abb. 2 aus: Sta MR, Best. S[albücher] 3, fol. 94vff.

21 James C. scott, Seeing like a state. How certain schemes to improve the human condition have failed (Yale agrarian studies, New Haven 1998).

22 Gerhard menk, Ein Regent zwischen dem Streben nach politischer Größe und wissenschaftli-cher Beherrschung des Politischen, in: Landgraf Moritz der Gelehrte. Ein Kalvinist zwischen Politik und Wissenschaft, hg. von dems. (Beiträge zur hessischen Geschichte 15, Marburg 2000) 7–78.

23 krüger, Ökonomischer Staat 3 (wie Anm. 12) 26.

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tokolle und Register zeitweise ab24. Dadurch entstand ein Durcheinander, das auch im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts nicht behoben werden konnte. Zwar beschloss die hessische Regierung im Jahr 1631, die alten Steuerregister zu rectificieren, ein wei-terer gleichlautender Befehl wurde 1651 erlassen, der aber genauso wenig realisiert wurde25.

Im Jahr 1680 entwickelte man einheitliche Bewertungsmaßstäbe für eine künftige Katastererhebung, erneut ohne praktische Relevanz. Erst 1735 wurde mit der Errich-tung eines Katasters Ernst gemacht, erstmals verbunden mit der vollständigen Vermes-sung, Kartierung und Bonitierung der gesamten Landgrafschaft. Vierzig Jahre benö- tigte man für dieses Unterfangen, das erst 1776 abgeschlossen werden konnte26. Noch diese im 18. Jahrhundert errichteten Kataster rekurrierten insofern auf die Salbücher des späten 16. Jahrhunderts, als sie stets nach den seither erfolgten Veränderungen fragten27. Verblüffenderweise hatte man sich die gesamten zweihundert Jahre hin-durch auf die alten Salbücher gestützt, nicht in dem Sinne, dass diese Verwaltungsmo-numente als zutreffende Beschreibung einer rechtlichen, ökonomischen und sozialen Wirklichkeit galten, wohl aber als normative Richtschnur: So gut geordnet hätte die Realität sein sollen, sie war es aber misslicherweise nicht.

4. Die systematisch angelegte Irregularität lokaler Verwaltungspraxis

Der Verwaltungsalltag in den hessischen Ämtern gestaltete sich demgegenüber nach anderen Rationalitäten und war damit aus der Perspektive der Zentrale stets „unordentlich“. Dafür waren zum Teil kontingente Faktoren verantwortlich, zum Bei-spiel unfähige und pflichtvergessene Amtsträger. Eine Alltagsgeschichte der Verwal-tung kann jedoch über Einzelfälle hinaus den systematisch angelegten Gründen für die „Unreinheit“ und die „Irregularität“ des Verwaltungshandelns auf die Spur kom-men. Dabei kann sie sich an den neueren Arbeiten zur Rechtspraxis orientieren, die den Blick dafür geschärft haben, dass im Verlauf eines Zeugenverhörs Aussagen in justiziable Sachverhalte überführt werden28. Dabei schafft die Protokollierung einer

24 StA MR, Best. S[albücher] weist zwischen 1598 und 1660 keine Neuaufnahmen auf. Untersu-chung der Amtsrechnungen des Amtes Grebenstein, in: StA MR, Best. Rechnungen II Grebenstein 16 (1560), 17 (1583), 8 (1537, 1559, 1642, 1663, 1685, 1691, 1692, 1694–97, 1709, 1715, 1720–21, 1756).

25 Annegret Wenz-hauBFLeisch, Die Rektifikation des landschaftlichen Steuerstocks in der Land-grafschaft Hessen-Kassel im 18. Jahrhundert. Mitteilungen des Vereins für hessische Geschichte und Lan-deskunde 22 (1991) 1–6.

26 dies., „... damit die Landes-Bürden hinfüro mit gleichen Schultern getragen werden“. Ziele und Durchführung der Rektifikation des landgrafschaftlichen Steuerstocks in der Landgrafschaft Hessen-Kassel im 18. Jahrhundert. HessJbLG 39 (1989) 151–203.

27 Vgl. Katastererhebung in der Stadt Grebenstein: StA MR, Best. Kataster B 1 Grebenstein.28 Stefan esders–Thomas scharFF, Die Untersuchung der Untersuchung. Methodische Überle-

gungen zum Studium rechtlicher Befragungs- und Weisungspraktiken in Mittelalter und früher Neu-zeit, in: Eid und Wahrheitssuche. Studien zu rechtlichen Befragungspraktiken in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von dens. (Gesellschaft, Kultur und Schrift 7, Frankfurt/M. 1999) 11–47; Wahrheit, Wis-sen, Erinnerung. Zeugenverhörprotokolle als Quellen für soziale Wissensbestände in der Frühen Neu-zeit, hg. von Ralf-Peter Fuchs–Winfried schuLze (Wirklichkeit und Wahrnehmung in der frühen Neuzeit 1,Münster 2002); Peter Becker, „Recht schreiben“. Disziplin, Sprachbeherrschung und Ver-nunft. Zur Kunst des Protokollierens im 18. und 19. Jahrhundert, in: Das Protokoll. Kulturelle Funk-tionen einer Textsorte, hg. von Michael niehaus–Hans-Walter schmidt-hannisa (Frankfurt/M. 2005) 49–76.

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Aussage eine zweite, eben eine justiziable Realität. In wie weit und auf welche Weise das in einem Verhör oder einer Verhandlung wirklich Gesagte Eingang findet in das Protokoll, bleibt uns in der Regel verborgen. Wir können allerdings durch die Unter-suchung von Spezifika und Inkongruenzen im Protokolltext mit aller Vorsicht auf Be-urteilungsschemata und systematische Blindflecken der Protokollführenden rück-schließen.

Jeder Verwaltungsakt, zum Beispiel die Quittierung einer Getreidelieferung durch die dazu ermächtigten Amtsträger an den pflichtigen Bauern, schafft auf ähnliche Weise eine solche zweite Realität, deren Bezug zum Akt des Ablieferns von Getreide sich ganz unterschiedlich darstellen kann. In der mustergültig organisierten Landgraf-schaft waren daran eine Vielzahl von Personen beteiligt: der Bauer, der seiner Abgabe-pflicht nachkam, der Fruchtmesser, der die Quantität ermittelte, der Rechnungsschrei-ber, der die Abgabe quittierte und in die Fruchtbodenregister eintrug, der Rentmeister, der diese laufenden Register in eine konsistente Amtsrechnung überführte, die er ge-genüber der Zentrale zu verantworten hatte, die Beamten in der zentralen Rentkam-merverwaltung, die diese Rechnungen prüften und schließlich dem Fürsten vorlegten. Bei der Herstellung der verschiedenen Repräsentationen der Ablieferungshandlung konnten jedesmal neue Bedeutungen zugeschrieben werden. Das kann den regulären Akten der Domänenverwaltung nur in Ausnahmefällen entnommen werden; die Ana-lyse von Rechnungsprüfungen, Visitations- und Untersuchungsakten liefert uns dage-gen Ansatzpunkte, um diese Bedeutungsverschiebungen nachzuvollziehen29. In sol-chen Untersuchungsakten werden häufiger Fragen thematisiert wie: Welche Qualität hatte das Getreide? War es trocken und sortenrein, enthielt es Verunreinigungen? Wurde beim Messen das geeichte Hohlmaß benutzt? Wurde das Getreide hinein ge-schüttet und regelkonform mit dem dafür vorgesehenen Streichholz abgestrichen? Oder wurde das Hohlmaß gerüttelt und danach weiteres Getreide aufgehäufelt? War die Quittung überhaupt von dem dazu autorisierten Amtsträger unterzeichnet wor-den? Wurden dafür illegale Gebühren genommen? Hingen die Eichordnung und die Sportelordnung auf dem Fruchtboden aus, so dass sich alle Anwesenden, Untertanen wie lokale Amtsträger, jederzeit darauf beziehen konnten30?

5. Skandalöse Misswirtschaft? Trendelburg 1567

Gesetzt den Fall, dass die lokalen Amtsträger in betrügerischer Absicht geheime Absprachen trafen, vermochten die Zentralbehörden diese Fragen allerdings kaum zu beantworten. Kersten Krüger hat 1975 einen instruktiven Aufsatz veröffentlicht31, der die Problemlage am Beispiel einer Amtsvisitation im Jahre 1567 beleuchtet. Landgraf Wilhelm IV. ordnete diese lokale Inspektion in seinem ersten Regierungsjahr an. Hin-tergrund war eine Anzeige des Amtmanns in Trendelburg, Otto Holsteiner, der den dortigen Rentschreiber namens Heinrich Hesse des Amtsmissbrauchs und der Verun-

29 Forschungsüberblick zu weltlichen Visitationen bei kLingeBieL, Ein Stand für sich? (wie Anm. 4) 99–140.

30 Kersten krüger, Politische Ämtervisitation unter Landgraf Wilhelm IV. HessJbLG 27 (1977) 1–36.

31 ders., Frühabsolutismus und Amtsverwaltung: Landgraf Wilhelm IV. inspiziert 1567 Amt und Eigenwirtschaft Trendelburg. HessJbLG 25 (1975) 117–147.

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treuung bezichtigte. Den strukturellen Hintergrund dieses Vorwurfs bildete der Um-stand, dass die adligen Amtleute im 16. Jahrhundert meist am Kasseler Hof weilten, während die Amtsgeschäfte vor Ort von bürgerlichen Rentschreibern und Amtschult-heißen wahrgenommen wurden. Daraus ergab sich eine systematisch angelegte Kon-kurrenz um Autorität und Einkünfte, die im Einzelfall in Rivalität umschlagen konn-te. Die Anklagepunkte gegen Hesse waren die üblichen: illegale Aneignung von fürstlichen Ländereien, private Nutzung von bäuerlichen Frondiensten, Naturalein-künften und Nutzungsrechten, die eigentlich dem Landesherrn zustanden, Veruntreu-ung von Zehnten und Geldabgaben, die dann durch Unregelmäßigkeiten in der Rech-nungsführung vertuscht wurden, eigenmächtige Verhängung von Bußen, die in die eigene Tasche wanderten, Missbrauch der Amtsstellung im Zusammenhang mit Grundstücks- und Kreditgeschäften32.

Die Anzeige löste eine penible Untersuchung der inkriminierten Sachverhalte durch zwei landesherrliche Kommissare und schließlich sogar durch den Landgrafen höchstselbst aus. Der Rentschreiber wurde vorsichtshalber inhaftiert. Man vernahm nicht nur das örtliche Amtspersonal, sondern auch hunderte von Zeugen aus Stadt und Amt Trendelburg. In Anbetracht der Schwere der Anschuldigungen war das Ergebnis der Untersuchung kläglich. Die Vorwürfe der Veruntreuung und der Korruption konnten nicht belegt werden, erwiesen wurde lediglich, dass Rentschreiber Hesse von illegalen Rodungen im landesherrlichen Wald profitiert hatte. Es stellte sich freilich heraus, dass der Klage führende Amtmann Holsteiner ihn dabei noch übertroffen hat-te. Die privaten Geld- und Grundstücksgeschäfte des Rentschreibers wurden von den beteiligten Geschäftspartnern – allesamt Einwohner des Amtes – als völlig korrekt beurteilt. Auch die wesentlich hinter den Erwartungen zurück bleibenden Getreide- abgaben der Bauern konnte Heinrich Hesse plausibel begründen. Der Vater des regie-renden Fürsten, Landgraf Philipp selbst, hatte mehrfach Remissionen wegen Miss- ernten bewilligt. Der inhaftierte Rentschreiber brillierte in seinem Rechtfertigungs-schreiben mit exakten Kenntnissen über die Ertragsfähigkeit bestimmter Ackerlagen in seinem Amt – lokales Wissen eines örtlichen Amtsträgers, das er dem simplifizie-renden Vereinheitlichungsdenken der Zentralverwaltung entgegensetzte. Eigentlich hätte Landgraf Wilhelm den Rentschreiber auf der Stelle rehabilitieren müssen. Statt-dessen forderte er pauschal 4.000 Gulden als Gegenleistung für die Entlassung aus der Haft und die Einstellung des Verfahrens. Schließlich habe Heinrich Hesse mehrere Tausend Gulden in Hildesheim deponiert, und die könnten ja nur aus Veruntreu-ungen stammen. Hesse bestritt jegliches Vermögen im Ausland. Er könne, wenn er all sein Hab und Gut veräußere, im Höchstfall einige hundert Gulden zahlen. Schließlich einigte man sich auf 1.000 Gulden; Hesse schwor Urfehde und erklärte sich bereit, künftig ein anderes Amt zu übernehmen. Vier Jahre später findet man ihn als Rent-schreiber der hessischen Herrschaft Plesse; in Trendelburg besaß er nach Ausweis des Salbuchs von 1580 noch immer ein großes Meiergut.

Es stellt sich die Frage, wie dieser doch einigermaßen erstaunliche Vorgang zu deuten ist. Woher nahm Landgraf Wilhelm sein Wissen über das Vermögen und die Verfehlungen des Rentschreibers? Vermutlich hatte er überhaupt keine konkreten An-haltspunkte dafür, sonst wären sie in den ausführlichen Untersuchungsakten mit Si-cherheit enthalten. Offenbar vertraute er schlicht auf das soziale Wissen seiner Zeit.

32 StA MR, Best. 40d (Hessische Kammer, Nachträge) Paket 440.

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Schon sein Vater, Landgraf Philipp, war völlig selbstverständlich davon ausgegangen, dass seine lokalen Amtsträger derart wohlhabend waren, dass er sie im Fall eines Not-standes finanziell heranziehen konnte. So nahm er während des Schmalkaldischen Kriegs bei seinen Amtleuten und Rentschreibern Zwangsanleihen auf, über deren Rückzahlung nichts bekannt ist33. Es handelte sich wohl um unfreiwillige Gaben der Amtsträger an ihren Fürsten, die von allen Beteiligten als verlorene Zuschüsse angese-hen wurden. Damit dokumentierten die Diener des Fürsten – vermutlich zähneknir-schend – ihre Gemeinwohlorientierung und ihre Loyalität gegenüber dem fürstlichen Herrn.

6. Topik der Beamtenkritik

Dass der Wohlstand der lokalen Amtsträger auf dem Missbrauch ihrer Ämter be-ruhte, war ein Gemeinplatz und gehörte zur Topik der Beamtenkritik im 16. Jahrhun-dert und weit darüber hinaus34. Im hessischen Falle kann man das der Biographie des Landgrafen Philipp aus der Feder des Chronisten Wigand Lauze35 entnehmen, die Wilhelm IV. übrigens genauestens kannte36. Lauze knüpfte seine Betrachtungen an ein Ausschreiben, das Landgraf Philipp erlassen hatte. Dem Fürsten war berichtet wor-den, dass seine Untertanen von einigen Beamten durch Abforderung außerordent-licher Frondienste so beschwert würden, dass sie die schuldigen Dienste und Abgaben nicht mehr leisten könnten. Daraufhin erließ er ein Mandat, dass den Beamten künf-tig nur die herkömmlichen Amtsgebühren entrichtet werden sollten. Wenn etwas da-rüber hinaus gefordert werde, sollten sich die Untertanen beim Landgrafen beschwe-ren, der Abhilfe versprach. Lauze lobte diese Verordnung in den höchsten Tönen, denn es gehörte seiner Meinung nach zu den vornehmsten Pflichten der von Gott einge- setzten Obrigkeit, mit eigenen vnd nicht frembden oder geluhen augen dorauff zusehen, Das Ire vnderthanen bei gleichem vnd Rechtem gehandhabet, vnd das sonderlich durch Ire vndersetzte Amptknechte, mit derselben gutern nichts stracks Ires gefallens vnd wie Saew mit einem bettel sack pflegen vmbzugehen, gehandelt werde37.

Glaubt man Lauze, dann gewährte Philipp seinen Beamten großzügigen Unter-halt. Diese bekämen Geld, Getreide, Vieh, Brennholz, Wein, Bier und erstklassiges Tuch zur Kleidung. Außerdem erhielten sie vom Fürsten Wohnhaus, Äcker, Wiesen und Gärten gestellt, die dann von den Untertanen bestellt werden müssten38. Die Ge-bühren für Amtshandlungen trügen schier unglaubliche Summen ein. Einige Beamte nähmen bis zu 300 Gulden im Jahr ein, obwohl ihre etatmäßige Besoldung lediglich

33 krüger, Finanzstaat Hessen (wie Anm. 12) 107–108, 225–232. Zur Praxis in Braunschweig-Wolfenbüttel im 16./17. Jh. vgl. LiPPeLt, Hoheitsträger und Wirtschaftsbetrieb (wie Anm. 4) 207–212.

34 Michael stoLLeis, Grundzüge der Beamtenethik 1550–1650, in: Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, hg. von Roman schnur (Berlin 1986) 273–326; Erk Volkmar heyen, Pastorale Beamtenethik 1650–1700. Amtstugenden in lutherischen Regentenpredigten. HZ 280 (2005) 345–380.

35 Wigand Lauze, Leben und Thaten des Durchlauchtigsten Fursten und Herren Philippi Magna-nimi Landgraffen zu Hessen (Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde Suppl. 2/2, Kassel 1847).

36 zimmermann, Ökonomischer Staat 1 (wie Anm. 12) 56–59.37 Lauze, Leben und Thaten (wie Anm. 35) 407.38 Ebd. 407f.

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auf 20 oder 30 Gulden angeschlagen sei39. Die geizigen Beamten seien zur allgemeinen Verwunderung einige tausend Gulden schwer, obwohl jeder wisse, dass sie von Haus aus nicht reich seien. Ihre hochmütigen Frauen schmückten sich mit gulden Hawen, ketten, ringen, Sammat, Damasken, vnd allerlej art von andrem seydenwerck und stol-zierten einher wie die adligen Damen. Die Mittel dafür stammten von der arbeit, blut und schweiß deiner armen vnterthanen40.

Lauze behauptete, dass die Anordnungen der vorgesetzten Behörden die Beamten wenig kümmerten. Angeblich führten sie diese nur insoweit aus, als das in ihrem Inte-resse liege. Sie seien aber versiert darin, den Schein zu wahren. Ein ganzer Tross von Helfershelfern sorge für die Abwicklung ihrer unlauteren Geschäfte41. Diese Aufblä-hung des Verwaltungsapparates werde damit begründet, dass die Geschäfte von Tag zu Tag größer werden. Wo früher ein Amptman oder Renthmeister, Schultheiß oder Land-knecht gewesen, vnd seient dennocht dieselben Empter trewlich verwaltet worden, da am-tierten jetzt zugleich ein Renthmeister, Rentschreiber, halber Rentschreiber, Schultheiß, Affter Schultheiß, zwene oder drej Landknechte, zwene oder drej zolner, kornmesser, Burg-graven und andere mehr42.

Die Baufronen seien unerträglich geworden. Die Beamten bauten die herrlichsten Privatpaläste, kauften alles Land auf, das sie bekommen könnten, und die Untertanen müssten es dann bestellen. So komme es, dass die Bauern manchmal in der Woche kaum einen Tag für sich selbst arbeiten könnten. Die Verarmung des Bauernstandes sei die notwendige Folge43. Warum aber machte niemand von seinem Beschwerderecht beim Fürsten Gebrauch? Weil alle Schikanen fürchteten und durch die Zuträger der Beamten dauernd überwacht würden. Deshalb heuchle jeder den Beamten ins Gesicht und gebe alles, was verlangt werde. Finde sich aber einmal jemand, der den Mut zur Beschwerde habe, so wüssten die Beamten in ihrem Gegenbericht die Sache so zu dre-hen, dass der Bittsteller im Gefängnis lande44.

Die topische Beamtenkritik des Wigand Lauze wurde in gleichermaßen moralisch-didaktischer wie sozial-konservativer Absicht verfasst. Sie verweist darauf, dass die Zu-gehörigkeit zur Amtsträgerschaft der entstehenden Fürstenstaaten, diesen mit Zwangs-mitteln versehenen neuartigen „Abschöpfungsmaschinen“, so bedeutende Chancen zur persönlichen Bereicherung bereitstellte, dass die Stabilität der Ständeordnung ge-fährdet erschien45. Dem sollte nach Ansicht vieler Zeitgenossen mit Nachdruck entge-gengewirkt werden.

39 Ebd. 408f.40 Ebd. 410.41 Ebd. 412.42 Ebd. 413.43 Ebd. 414.44 Ebd. 415–418.45 Winfried schuLze, Die ständische Gesellschaft des 16./17. Jahrhunderts als Problem von Statik

und Dynamik, in: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, hg. von dems. (Schriften des Histori-schen Kollegs, Kolloquien 12, München 1988) 1–17.

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7. Stabsdisziplinierung durch Normproduktion?

Die Lektüre der detaillierten Normproduktion in der Landgrafschaft Hessen46 wie in anderen Reichsterritorien47 vermittelt den Eindruck, dass die Fürsten und ihre Zen-tralverwaltungen die gesamte frühe Neuzeit hindurch diesem Appell folgten und ener- gische Anstrengungen unternahmen, Amtsmissbrauch und Vorteilsnahme zu verhü-ten. Dabei bildete die Kontrolle des Wirtschaftsverhaltens der lokalen Amtsträger einen Brennpunkt der Disziplinierungsanstrengungen. Man bemühte sich, das herr-schaftliche Personal vom Wirtschaftsleben seines Sprengels möglichst fernzuhalten, weil sich andernfalls sein finanzielles Gebaren nur unter großen Schwierigkeiten kon-trollieren ließ und ein Missbrauch der amtlichen Stellung immer zu befürchten stand. Zudem war es ein zeitgenössischer Allgemeinplatz, dass Handwerk, Handel und Wu-cher mit dem Ansehen obrigkeitlicher Amtsträger unvereinbar seien. Was dem Adel recht war, sollte den ebenso privilegierten fürstlichen Dienern billig sein. Sämtliche finanziellen Transaktionen bargen die Gefahr von Amtsmissbrauch, Bestechung und Hinterziehung. Selbst legale Geldgeschäfte konnten solcherart anrüchig werden, dass sie das Ansehen des lokalen Amtsträgers und damit das Prestige der gesamten Obrig-keit beschädigten. Deshalb war es den Amtleuten bereits seit Mitte des 16. Jahrhun-derts verboten, Geld auf Pfand an Personen zu verleihen, die in ihrem Amtsbezirk wohnten48. Zudem ergingen Verordnungen, die den Beamten den besonders lukra-tiven Wollhandel untersagten49. Im 17. und frühen 18. Jahrhundert dehnte man das Verbot für fürstliche Amtsträger, sich kaufmännisch zu betätigen, auf weitere Bereiche aus, im Jahr 1635 auf den Viehhandel50, 1682 auf den Ausschank von Wein51 und im selben Jahr auf die gewerbsmäßige Ausnutzung der sogenannten Mastfreiheit52. Seither hatten die Amtleute und Rentmeister beim Forstamt ihren individuellen Haushaltsbe-darf anzumelden und durften nur noch die entsprechende Anzahl Schweine zur herbstlichen Eichelmast in die Wälder treiben lassen. Wiederholte Verordnungen schärften den lokalen Amtsträgern in den Jahren 1732, 1734, 1749 und 1760 unter

46 Stefan Brakensiek, Die Herausbildung des Beamtenrechts in Hessen-Kassel bis zum Staats-dienstgesetz von 1831. HessJbLG 48 (1998) 105–146.

47 Repertorium der Policeyordnungen der frühen Neuzeit, 1: Deutsches Reich und geistliche Kur-fürstentümer (Kurmainz, Kurköln, Kurtrier), hg. von Karl härter (Frankfurt/M. 1996); 2: Branden-burg, Preußen mit Nebenterritorien (Kleve-Mark, Magdeburg und Halberstadt), hg. von dems. (Frankfurt/M. 1998); 3: Wittelsbachische Territorien (Kurpfalz, Bayern, Pfalz-Neuburg, Pfalz-Sulz-bach, Jülich-Berg, Pfalz-Zweibrücken), hg. von Lothar schiLLing–Gerhard schuck (Frankfurt/M. 1999); 4: Baden und Württemberg, hg. von Achim LandWehr (Frankfurt/M. 2001).

48 Fürstliches Ausschreiben vom 13. Januar 1545 an die Beamten, dass sie von den Untertanen ohne höhere Erlaubnis weder Güter kaufen, noch sich verpfänden lassen sollen, in: Sammlung fürstlich hessischer Landesordnungen und Ausschreiben 1 (1337–1627), hg. von Christoph Ludwig kLeinschmid (Kassel 1767) 141.

49 Verbot des Wollhandels in der Reformations-Ordnung in Polizei- und Gewerb-Sachen vom Jahre 1534, in: ebd. 63.

50 Verbot des Viehhandels, bei Verlust des Dienstes, nach § 9 der Verordnung vom 20. Juni 1635, in: Sammlung fürstlich hessischer Landesordnungen und Ausschreiben 2 (1627–1670), hg. von Christoph Ludwig kLeinschmid (Kassel 1770) 69.

51 Zum Verbot des Weinausschanks siehe § 35 der Rentkammerordnung vom 1. März 1682, in: Sammlung fürstlich hessischer Landesordnungen und Ausschreiben 3 (1671–1729), hg. von Christoph Ludwig kLeinschmid (Kassel 1777) 197.

52 Maßnahmen gegen den gewerblichen Missbrauch der Mastfreiheit finden sich in der Verordnung vom 1. Dezember 1682, in: ebd. 219 und 231–232.

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Androhung der Kassation ein, dass sie keinerlei Getreidehandel treiben dürften53. Al-lerdings erlaubte man ihnen seit 1737 wieder, sich an der Zehnt-Vermalterung zu be-teiligen, was ihnen seit 1713 verboten gewesen war54. Wie das Ersteigern von größeren Mengen Zehntkorns attraktiv sein sollte, ohne dass anschließend mit dem Getreide gehandelt werden durfte, bleibt ein Geheimnis der hessischen Landgrafen. Überhaupt lässt die häufige Wiederholung der Verbote erahnen, wie es um deren Wirkung bestellt war.

Durch die unausweichlich enge Einbindung der Amtleute und Rentmeister in den Wirtschaftsalltag ihres Amtes und Dienstorts ergaben sich nämlich zwangsläufig Situ-ationen, in denen es nicht einfach war, die Grenze zwischen erlaubtem Freundschafts-dienst unter Nachbarn und anrüchiger Schmieralie unter Spießgesellen auszumachen. Deshalb verdichtete sich im 17. und 18. Jahrhundert das Normengeflecht um die loka-len Amtsträger der Landgrafen immer mehr, bis schließlich jeder materielle Austausch mit den Amtsuntertanen entweder ganz verboten oder doch wesentlich eingeschränkt war. Es sei ein kleiner Ausschnitt der einschlägigen Verordnungen aufgelistet: Die Sportelordnung von 1656 sah Amtsentsetzung als Strafe für lokale Amtsträger vor, die von Untertanen private Dienste verlangten55. Auch die Gebührenordnung für die Un-tergerichte von 1749 bedrohte Amtleute, die Bittfuhren oder Handdienste begehrten, sich ihr Vieh von Untertanen durchfüttern oder sich bei Hochzeiten oder Kindstaufen von Amtsuntergebenen Getränke oder Speisen aufdrängen ließen, mit harten Strafen, bis zum Verlust ihres Dienstes56.

Weil die Landgrafen vermeiden wollten, dass die Amtleute unangreifbare lokale Macht erwarben, verboten sie ihnen bereits im 16. Jahrhundert das Aufkaufen von landesherrlichen Domänen bzw. von Bauerngütern, die der Herrschaft dienstbar wa-ren57. Auf diese Weise verschloss sich den lokalen Amtsträgern ein bedeutender Teil des Bodenmarktes. Noch im 18. Jahrhundert wurden die zunächst globalen Vorschrif-ten zum Grunderwerb der Ortsbeamtenschaft immer näher spezifiziert, um mögliche Kollisionen zwischen ihrem Privatinteresse und den ökonomischen und rechtlichen Interessen ihrer Amtsuntergebenen zu vermeiden. Im Jahr 1710 verbot der Landgraf seinen Amtleuten, bei Versteigerungen von Häusern und Gütern in ihrem Gerichts-sprengel mitzubieten58. 1732 trat eine weitere Verschärfung ein, wonach kein lokaler

53 Verordnungen von 1732, 1734 und 1749 bei Ulrich Friedrich koPP, Handbuch zur Kenntnis der Hessen-Casselischen Landes-Verfassung und Rechte 1 (Kassel 1796) 485; Regierungsausschreiben vom 20. März 1760 an alle Beamte, sich mit keinem Frucht- oder Fourageaufkauf zu befassen, in: StA MR, Best. 5 (Geheimer Rat) 5386 (1760).

54 Zur sog. Zehntvermalterung vgl. Gnädigster Befehl vom 14. August 1713, in: Hessische Landes-ordnungen 3 (wie Anm. 51) 729 und § 30 der Zehnt-Ordnung vom 16. Juli 1737, in: Sammlung fürstlich hessischer Landesordnungen und Ausschreiben 4 (1730–1751), hg. von Christian Gerhard aPeLL (Kassel 1782) 468.

55 § 34 der Sportelordnung vom 16. Mai 1656, in: Hessische Landesordnungen 2 (wie Anm. 50) 316.56 § 43 der Verordnung vom 11. Februar 1749, die bei den Untergerichten und anderen Unterbehör-

den zulässigen Gebühren betreffend, in: Neue Sammlung fürstl. hessischer Landesordnungen und Aus-schreiben, welche bis zum Ende des Octobers 1806 für die älteren Gebietsteile Kurhessens ergangen sind, hg. von Elard Johannes kuLenkamP (Kassel 1828) 3, 20.

57 Fürstliche Ausschreiben vom 10. Oktober 1553 und vom 26. Juni 1555, in: Hessische Landesord-nungen 1 (wie Anm. 48) 156 und 159.

58 Regierungsausschreiben vom 7. Februar 1710 wegen unstatthaften Ankaufs konfiszierter oder ge-richtlich versteigerter beweglicher oder unbeweglicher Güter von Seiten der Beamten, in: Hessische Landes-ordnungen 4 (wie Anm. 54) 183.

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Amtsträger in seinem Sprengel mehr als ein Haus mit Garten an sich bringen dürfe, und im selben Jahr untersagte man ihnen auch die Übernahme herrschaftlicher Do-mänenpachtungen59.

8. Testfälle aus dem lokalen Verwaltungsalltag um 1800

Drei unterschiedlich gelagerte Fallbeispiele ganz vom Ende der Epoche belegen, wie unvollkommen diese Gebote und Verbote durchzusetzen waren. Begonnen sei mit dem Fall des Rentmeisters Kümmel im Amt Wetter bei Marburg, der im Jahr 1801 den Versuch unternahm, durch Strohleute ein Rittergut zu erwerben. Daran suchten ihn die Pächter des Gutes zu hindern, die wohl eine Kündigung ihrer Verträge be-fürchteten, indem sie Anzeige beim Landgrafen erstatteten. Die Untersuchung der Angelegenheit erbrachte, dass die Ehefrau des Rentmeisters bereits in den Jahren zuvor großzügige Ankäufe von Grundstücken und Häusern im Amt Wetter getätigt hatte, mit Billigung der regionalen Regierung in Marburg, aber ohne Dispens aus der Kasse-ler Zentralverwaltung. Um das Ansehen der Provinzialbehörde nicht zu beschädigen, wurden deren Genehmigungen zwar nachträglich bestätigt, der aktuell anstehende Kauf des Rittergutes jedoch verhindert und für die Zukunft die Ehefrauen der Beam-ten in das Immobilienkaufverbot einbezogen60. Die Räte der landgräflichen Verwal-tung in Marburg – selbst meist Besitzer von Gütern in der Landgrafschaft Hessen – empfanden das Kaufverbot offenbar als unbillige Härte gegenüber der lokalen Amtsträgerschaft, die dadurch vom Grundbesitz als Quelle besonderen sozialen Pre-stiges und Grundlage lokaler Autorität ausgeschlossen wurde.

Eine weitere Untersuchungsakte aus den Jahren 1807/08 zeigt auf einem ganz an-deren Feld, dass sich bestimmte Problemlagen im Verlauf der Frühneuzeit offenbar nicht wesentlich verändert hatten. In weiten Teilen Hessens kam es nach der Beset-zung des Landes durch die napoleonischen Truppen zu legitimistischen Aufständen, in denen sich auch der Zorn gegen lokale Amtsträger entlud, die mit dem neuen Regime kollaborierten, die außerdem im Ruf drakonischer Härte standen oder von denen be-kannt war, dass sie sich auf Kosten der Untertanen bereicherten. Ermutigt durch das herrschende Machtvakuum beklagten sich auch die Vorsteher der Landgemeinden im Amt Wolfhagen über den dortigen Amtmann und Rentmeister Carl Jacob Dithmar. Die folgende Aussage lässt erkennen, mit welchen Praktiken auch im frühen 19. Jahr-hundert noch bedeutende Gewinne einzuheimsen waren: Ist bei dem Einmessen der fritzlarischen Zehnthafer, welche der Amtmann Dithmar im Jahr 1805 für gnädigste Herrschaft hat ausdreschen lassen, so betrügerisch verfahren worden, daß das eingemessene Quantum nur in 36 Viertel weniger 4 Metzen bestanden hat […] wohingegen dieses näm-liche Quantum mit 47 Viertel hinwiederum ausgemessen worden ist […] so daß gnädigste Herrschaft bei dem Einmessen um 11 Viertel vervorteilt worden ist. Nach der Aussage des

59 Landesherrliches Ausschreiben vom 19. März 1732, wonach ein Beamter in seinem Amtsbezirke außer einem Hause und Garten keine Güter ankaufen soll, in: ebd. 116. Die Verordnung droht den Verlust des Kaufgeldes und weitere Bestrafung an. Kein Beamter soll befugt sein, eine herrschaftliche Pachtung zu übernehmen: Verordnung vom 24. August 1732, in: ebd. 175.

60 StA MR, Best. 5 (Geheimer Rat) 4869: Fürstliches Ausschreiben vom 19. März 1732, dass kein Beamter mehr als ein Haus sowie Gärten bzw. Ländereien an sich bringen soll, ihre Ausdehnung auf deren Ehefrauen, Dispensationen davon (1732–1807), hier fol. 202–234.

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3. Zeugen, und welchem auch der Fruchtmesser Hundertmark wenigstens zu widerspre-chen nicht vermag, ist der Denunziat [d.h. der beschuldigte Amtmann und Rentmeister Dithmar] derozeit selbst in die Scheune gekommen und hat seinem Fruchtmesser und Amtsdiener mit lauter Stimme angeredet: „Messer, Messer, das sage ich ihm, meß’ er so, daß ich nicht zum armen Mann werde“61. In einem von der Landwirtschaft geprägten Terri-torium wie Hessen konnten mit dem Getreidehandel die lukrativsten Geschäfte ge-macht werden, speziell mit Hafer in Kriegszeiten, dem strategischen „Treibstoff“ für jede Truppenbewegung.

Die Aktivitäten des Carl Jacob Dithmar waren zweifelsohne kriminell. Aber selbst weitgehend legal agierende Amtsträger nutzten ihre lokale Stellung unter stillschwei-gender Umgehung zahlreicher Normen, um ihren Wohlstand zu mehren und ihre Machtposition dauerhaft zu verankern. Wie das vonstatten ging, dazu enthält die reichhaltige Überlieferung der Amtmannsfamilie Biskamp besonders instruktive Hin-weise. Eine Bestallungsurkunde vom 7. Dezember 179162, mit der Friedrich Elard Bis-kamp (1765–1809) zum Amtschultheißen und Rentmeister des landesherrlichen Ge-richts Jesberg bestellt wurde, gibt einen Überblick über die typischen Amtspflichten und die regulären Einkünfte eines lokalen Amtsträgers in Hessen. Biskamp hatte die Oberhoheit des Landgrafen zu wahren, die Protokolle und Rechnungen des Amtes ordnungsgemäß zu führen, insbesondere die Hypothekensachen zu betreuen, Maße und Gewichte zu kontrollieren, die bäuerlichen Abgaben, Renten, Zinsen und Zehn-ten einzunehmen, die Getreidespeicher zu überprüfen, die Wahrung der Landesord-nungen zu garantieren, die Dienste der Untertanen einzuteilen, Akzise und Licent zu erheben, die örtlichen Forstbedienten zu kontrollieren, die Rügegerichte in sämtlichen Gemeinden zweimal jährlich abzuhalten, die Vorwerke zu beaufsichtigen und zweimal wöchentlich an den Amtstagen Gericht zu halten, wobei er ein besonderes Augenmerk auf Depositensachen, Vormundschaftsangelegenheiten und die Exekution von Ent-scheidungen der Zentralbehörden richten sollte.

Die Wahrnehmung dieser äußerst anspruchsvollen, ja kaum zu bewältigenden Fül-le von Aufgaben sollte folgendermaßen vergütet werden: Als Barbesoldung standen Friedrich Elard Biskamp 287 Reichstaler zu. Diese recht bescheidenen monetarisierten Einkünfte wurden durch Naturalien ergänzt: 14 Doppelzentner (dz) Roggen, 13 dz Hafer, 3 dz Gerste, etwa 55 Kubikmeter Buchenscheitholz, die Mast für zwei Schwei-ne, die mietfreie Amtswohnung im Jesberger Schloss und die freie Nutzung eines Gar-tens. Außerdem standen ihm Sporteln gemäß Sportelordnung und Akzidentalien, also Sonderbezahlung von regelmäßig wiederkehrenden, besonders aufwändigen Amtsver-richtungen zu. Das ist ziemlich unübersichtlich, denn der Wert der einzelnen Bestand-teile dieser legalen Amtseinkünfte lässt sich nur schwer einschätzen. Glücklicherweise gibt uns eine weitere Quelle nähere Auskunft. Hessen-Kassel zählte nach der preu-ßischen Niederlage bei Jena zur Verfügungsmasse für die Rheinbundpläne Napoleons. Dieser schlug das untergegangene Kurfürstentum dem für seinen jüngsten Bruder Jé-

61 StA MR, Best. 17 II (Regierung Kassel) 3077: Acta, die während der französischen Okkupation im hessischen Lande zu Wolfhagen entstandenen Unruhen und die Entfernung des dasigen Beamten (1806–1807), darin: Bericht des Advocatus fisci Hofgerichtsrat Bode an die Regierung Kassel, Kassel, den 24. Februar 1807, fol. 29r–49v.

62 StA MR, Best. 5 (Geheimer Rat) 5040: Die Bestallung des gewesenen Amtsassessors Biskamp zum Justiz- und Rentereibeamten nach Jesberg (1792).

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Page 10: Verwaltungsgeschichte als Alltagsgeschichtehg0090/pdfe/Brakensiek...Verwaltungsgeschichte als Alltagsgeschichte Zum Finanzgebaren frühneuzeitlicher Amtsträger im Spannungsfeld zwischen

rôme geschaffenen Königreich Westphalen zu63. Im März 1808 befragte die neue Zen-tralverwaltung die alten hessischen Amtsträger über ihre bisherigen Einkünfte. Da dies den Maßstab für ihre künftigen Besoldungsansprüche abgab, waren die Amtsträ-ger ausnahmsweise geneigt, ihr Diensteinkommen nicht kleinzureden. Friedrich Elard Biskamp berichtete, er erhalte eine feste Barbesoldung in Höhe von 320 Talern, die freie Wohnung und den Garten im Wert von 30 Talern. Der Wert der Naturalbesol-dung summiere sich auf 150 Taler, Sporteln und Akzidentalien auf etwa 480 Taler. In der Summe bezog er demnach 980 Taler jährlich64. Dass es sich hierbei um eine be-achtliche Besoldung handelte, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass zur gleichen Zeit ein Geheimer Regierungsrat oder ein Oberappellationsrat in Kassel etwa gleich viel verdiente65.

Friedrich Elard Biskamp stammte aus einer der wohlhabendsten Beamtenfamilien in der hessischen Provinz, ihm gehörten ein Haus und etliche Grundstücke in der be-nachbarten Stadt Treysa, seiner Frau Zehnten und bäuerliche Abgaben im Amt Vacha, hinzu kamen erkleckliche Kapitalanlagen66. Bereits sein Vater, Georg Elard Biskamp, hatte von 1760 bis 1792 der Justiz und der Verwaltung im benachbarten Amt Treysa vorgestanden67. Während seiner Amtszeit hatte er sein Vermögen von 9.500 Talern auf 16.650 Taler vermehrt68. Weil es in Treysa kein Amtshaus gab, erwarb er ein Haus und eine Reihe von Grundstücken an seinem Dienstort. Hauptsächlich betrieb er jedoch Kreditgeschäfte, wobei er Bauern und Stadtbürgern innerhalb seines unmittelbaren Umfeldes Summen im Umfang von 25 bis höchstens 400 Talern lieh. Georg Elard Biskamp setzte sich in zahlreichen Fällen über das Verbot hinweg, Geld an Amtsunter-gebene zu verleihen, zum Teil dadurch, dass er einen landesherrlichen Dispens er-wirkte, zum überwiegenden Teil, indem er seinen Sohn Friedrich Elard als Strohmann vorschob69. Da er die Gerichtsprotokolle und die Grund- und Hypothekenbücher in seinem Amtsbezirk führte, war er über die Bonität der Kreditnehmer bestens im Bilde, ein Informationsvorsprung, den er gegenüber jedem anderen Gläubiger genoss. Mehr noch: Durch die strategische Form der Kreditvergabe festigte Biskamp seine Stellung im Amtsbezirk, denn unter seinen Schuldnern befanden sich viele Unterbediente, der

63 Arthur kLeinschmidt, Geschichte des Königreichs Westfalen (Gotha 1893); Helmut Berding, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807–1813 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 7, Göttingen 1973); König Lustik!? Jérôme Bonaparte und der Modellstaat Königreich Westphalen, hg. von Maike Bartsch (München 2008); Fremdherrschaft und Freiheit. Das Königreich Westphalen als napoleonischer Modellstaat, hg. von Jens FLemming (Kassel 2009).

64 StA MR, Best. 77a (Werra-Departement) 128.65 Vgl. Kammerbesoldungsetat, in: StA MR, Best. 5 (Geheimer Rat) 14997.66 StA MR, Best. 5 (Geheimer Rat) 4869, fol. 20–32.67 StA MR, Best. K[opiare] 169 und 178.68 StA MR, Best. 340 (Familienarchive) Biskamp 1: Erbverteilungsrezess über des verstorbenen

Herrn Metropolitans Elard Biskamp zu Ziegenhain nachgelassenes Vermögen (1762); Biskamp 4: Erb-vergleich zwischen den Geschwistern Biskamp über das Erbe des zu Treysa verstorbenen Rats und Amt-manns Georg Elard Biskamp und seiner zu Nassenerfurt verstorbenen Ehegattin Wilhelmine, geborene Briede, vom 17. April 1812. Dieses Vermögen setzte sich im Jahr 1762 folgendermaßen zusammen: Im-mobilienbesitz: 4.387 Rt. (26,4 %), Getreiderenten: 450 Rt. (2,7 %), Staatsobligationen 330 Rt. (2,0 %), Kommunalobligationen 400 Rt. (2,4 %), Kredite an Adlige: 300 Rt. (1,8 %), Kredite an Stadtbürger: 1.620 Rt. (9,7 %), Kredite an Bauern: 3.307 Rt. (19,9 %), Kredite an Verwandte: 753 Rt. (4,5 %), Dotalgelder für die Töchter: 2.800 Rt. (16,8 %), Ausbildungskosten der Söhne: 2.300 Rt (13,8 %).

69 StA MR, Best. 340 (Familienarchive) Biskamp 1 und 4.

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Stadtdiener von Treysa beispielsweise und zahlreiche Dorfvorsteher. Biskamp war nämlich auf die regelmäßige Zahlung von Zinsen und Tilgung nicht angewiesen und setzte deren Stundung als variables Instrument zur Belohnung von Wohlverhalten ein. Als lokaler Vertreter der Obrigkeit verfügte er zugleich über das nötige Drohpotential, um unwillkommenes Verhalten durch rücksichtsloses Eintreiben von Zahlungsrück-ständen zu sanktionieren70.

9. Fazit: Lokale Amtsträger zwischen Stabsdisziplinierung und Mitunternehmerschaft

Das Beispiel der Familie Biskamp ist in mehreren Hinsichten instruktiv für die hier zur Debatte stehenden Verhältnisse. Es liefert Hinweise darauf, wie auch nach dreihundert Jahren frühneuzeitlicher Stabsdisziplinierung ein Amtsträger lokale Macht in Einkommen ummünzen und Reichtum in örtliche Macht konvertieren konnte, trotz der Verbote des Fürsten, vor Ort Geldgeschäfte zu tätigen und Güter zu erwerben. Man muss dabei in Rechnung stellen, dass nahezu alle Amtsträger von den ihnen offiziell zuerkannten Gehältern und Naturaleinkünften keine standesgemäße Existenz führen konnten. Finanziell korrektes Verhalten hätte daher ihrer dienstlichen Stellung ebenfalls Abbruch getan. Die Amtsträger waren deshalb gut beraten, wenn sie ihrer Amtsausübung einen ausgeprägt kommerziellen Charakter gaben. Man kann dies wohlwollend als leistungsabhängige Form der Bezahlung interpretieren. Vertraut man den oben aufgeführten Verlautbarungen der Fürsten und Zentralverwaltungen, dann widersprach das dem offiziellen Verständnis von einem pflichtbewussten Amts-träger. Nimmt man die Dienstvorschriften für die fürstlichen Amtsträger zur allei-nigen Grundlage, dann stellt sich die Geschichte der frühneuzeitlichen Verwaltung der Landgrafschaft Hessen (und vieler anderer Territorien und Staaten in Europa) so-gar als permanenter Versuch dar, die eifrige Geschäftstüchtigkeit eben dieser Amtsträ-ger einzudämmen. Fürsten und Zentralverwaltungen wollten möglichen Interessen-kollisionen und der stets befürchteten Korruption vorbeugen. Und doch war man bis ins späte 18. Jahrhundert nicht bereit oder in der Lage, feste Gehälter zu zahlen, die die Amtsträger vollständig alimentierten. Nirgends wurden die Amtsträger wirkungsvoll von ihren Verwaltungsmitteln getrennt, so dass die Appropriation öffentlicher Güter zu privaten Zwecken geradezu vorprogrammiert war.

Skepsis erscheint demnach angebracht gegenüber der ostentativen Normativität, wie sie uns aus den dienstrechtlichen Mandaten und Ordnungen der Frühen Neuzeit entgegentritt. Von Mitwisserschaft der Vorgesetzten und von weitgehender Toleranz der Fürsten gegenüber den dargelegten Praktiken ist jedenfalls mit guten Gründen auszugehen71. In diesem Lichte stellen sich die immer wieder vorkommenden Fälle exemplarischer und drakonischer Bestrafung von „eigennützigen“, „habgierigen“ und

70 Ebd.71 Vgl. dazu zum 18. Jahrhundert: Karin gottschaLk, „auß dem Stattgericht ein Ambtsgericht zu

machen“. Lokale Gerichtsbarkeit zwischen landesherrlichen Amtsträgern und städtischem Rat in Gre-benstein, in: Lesarten der Geschichte. Ländliche Ordnungen und Geschlechterverhältnisse. Festschrift für Heide Wunder zum 65. Geburtstag, hg. von Jens FLemming u. a. (Studia Cassellana 14, Kassel 2004) 317–332; dies., Alkoholische Gärung. Herrschaftskompetenz und Eigennutz in der frühneuzeit-lichen Lokalverwaltung Hessen-Kassels, in: Ergebene Diener ihrer Herren? (wie Anm. 2) 231–257.

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„pflichtvergessenen“ Amtsträgern72 gänzlich anders dar, nicht allein als Ausdruck fürstlicher Bemühungen um die Disziplinierung ihrer Verwaltungsstäbe, vielmehr auch als Indiz dafür, dass der Fürst sich jederzeit eines unliebsam gewordenen Amts-trägers entledigen konnte. In dieser Perspektive bietet die Analyse der immer wieder vorkommenden Skandale die Chance herauszufinden, wie das soziale Gewebe be-schaffen war, das den betreffenden Amtsträger bis zum Zeitpunkt seines gesellschaft-lichen Falls gestützt hatte, und welche Faktoren dazu beitrugen, dass dieses Gewebe rissig geworden war73.

Damit sind wir – ausgehend vom Lokalitätsbezug frühneuzeitlicher Monarchien und Fürstentümer – auf einer allgemeinen Ebene der Interpretation angelangt. Han-delte es sich bei ihnen, wie es der Begriff „frühmoderner Staatsbildungsprozess“ nahe-legt, überhaupt um Staaten? Jedenfalls trugen die territorialen Verwaltungen, die ja im Zuge eines Ausdifferenzierungsprozesses aus dem Haushalt des fürstlichen Herrn ent-standen waren, bis ans Ende des Ancien Régime bestimmte Merkmale ihrer patrimo-nialen Herkunft. Zwar wurden die lokalen Amtsträger nicht mehr unmittelbar am Tisch ihres fürstlichen Herrn alimentiert, sie zählten aber sehr wohl noch zu dessen erweitertem Großhaushalt. Entsprechend großzügig konnte der Herr über normwid-riges Verhalten hinwegsehen, freilich bei Verdacht mangelnder Loyalität seine schüt-zende Hand auch ganz unvermittelt zurückziehen. Mit Max Weber gesprochen: Der die Bürokratisierung begleitende Versachlichungsprozess blieb unabgeschlossen. Bei den deutschen Fürstenstaaten – noch des 18. Jahrhunderts – handelte es sich eben keineswegs um moderne Anstaltsstaaten, sondern um verdichtete Herrschaften, die weiterhin zahlreiche patrimoniale Merkmale aufwiesen.

Fokussiert man nicht die personale Bindung zwischen den fürstlichen Herren und ihrer Dienerschaft, sondern den Exktraktionsmechanismus des frühneuzeitlichen Fürstenregiments, dann trägt es die Züge eines mit den Mitteln monopolisierter Ge-waltausübung privilegierten Großunternehmens, an dem die Amtsträgerschaft Anteile hielt, zwar lediglich mit begrenztem Stimmrecht, aber mit Anrechten auf angemessene Rendite. Amtsträger brachten in dieses Unternehmen ihr Privatvermögen ein, teilwei-se ganz unmittelbar als Kredite oder als gestundete Besoldungen, teilweise in Form äußerst langwieriger, unbezahlter Ausbildungszeiten. Was dann als angemessener Ge-winnanteil gelten konnte, war Gegenstand der dargestellten Konflikte zwischen der fürstlichen Firmenzentrale und ihren örtlichen Niederlassungen.

72 Zur Bestrafung von Amtsträgern vgl. Brakensiek, Fürstendiener (wie Anm. 4) 176–191; kLingeBieL, Ein Stand für sich? (wie Anm. 4); LiPPeLt, Hoheitsträger (wie Anm. 4) 146–148.

73 Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert, hg. von Jan hirschBiegeL (Residenzenforschung 17, Stuttgart 2004).

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IV. Das Beispiel der Habsburgermonarchie: Forschungsstand und Desiderate

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