11
Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 8 (1985) 87- 97 87 Wolfhart Langer Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der friihen Geologie und Palaontologie't Summary: Steno described in 1669 geological sections which were interpreted as the result of a series of earlier events. Steno used actuogeological methods. This was the first step towards temporalizing nature. Steno was succeeded by a lot of other researchers from different European countries. It is amazing to see, that "actualism" was widespread during the 18th century. The next step was the discovery that fossils are extinct beings (Ray, Hooke and others). Using methods of comparing anatomy W. Hunter (forerunner of Cuvier) could prove in 1769 that the Mastodon is an extinct vertebrate. The work of Soulavie in France (1780) is stressed. He held in his hand the key for solving the problem of index-fossils. About 1800 the importance of fossils for stratigraphy and describing a history of the earth was recognized. Theories and hypotheses were needed to explain the fossil documents (strange shells in older strata and higher developed mammals in younger strata). All these theories couldn't propose a feasible mechanism for the change of beings during the history of the earth. But it could be said, that all fossils proove a history of life and the earth i. e. a progressive development in one sense, a development which is not reversible. Schliisselworter: Alter der Erde, Evolutionstheorie, Fossilien, Geologie, Historisie- rung, Leitfossil, Palaontologie, Zeitfaktor; XVIII Jh. 1 Einfuhrung Geologen und Palaontologen benutzen den Begriff ,,Historische Geologie" fast taglich. In einem bekannten Lehrbuch 'lesen wir: ,,Die Historische Geologie oder Erd- und Lebens- geschichte bedarf wie die Menschheitsgeschichte als historische Wissenschaft der Mog- lichkeiten einer Zeitbestimmung . . ." Es ist fur die meisten Vertreter beider Wissenschaf- ten selbstverstandlich, ihre Disziplinen als historisch gerichtet anzusehen. In dieser Hal- tung konnen sie sich auf eine lange Tradition berufen. So verglich schon Robert Hooke2 1705 in seinem Discourse of Earthquakes fossile Organismenreste mit Miinzen, die einem Altertumsforscher Informationen vermitteln. Ahnlich druckt sich 1710 Fontenelle3 bei der Besprechung des Herbarium diluwianum Johann Jakob Scheuchzers aus: Voili de nouvelles espl.ces de MCdailles, dont les dates sont [. . .I plus importantes [. . .] que celles de toutes les MCdailles Grkques et Romaines. Und 1721 schrieb der gleiche Fontenelle nach dem Hinweis auf fossile Fische: , , . on deviendra i deviner I'Histoire, quoique si ancienne, de ces revolutions [durch die die Fische aufs heuti- ge Festland gerieten]. Les physiciens seuls pourront fournir les Mkmoires, et &re les Historiens. ') Vortrag, gehalten auf dem XXII. Symposium der Gesellschaft fur Wissenschaftsgeschichte (,,Die Wissen- schaften bei der Entdeckung der Geschichtlichkeit ihrer Gegenstande im 18. und friihen 19. Jahrhundert"), 31. 5.-2. 6. 1984 in Gottingen. 0 VCH Verlagsgesellschaft mbH, D-6940 Weinheim, 1985 Cl7C-6233/X5/02C6- COX7 $ 02.5C/O

Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der frühen Geologie und Paläontologie

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der frühen Geologie und Paläontologie

Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 8 (1985) 87- 97 87

Wolfhart Langer

Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der friihen Geologie und Palaontologie't

Summary: Steno described in 1669 geological sections which were interpreted as the result of a series of earlier events. Steno used actuogeological methods. This was the first step towards temporalizing nature. Steno was succeeded by a lot of other researchers from different European countries. It is amazing to see, that "actualism" was widespread during the 18th century. The next step was the discovery that fossils are extinct beings (Ray, Hooke and others). Using methods of comparing anatomy W. Hunter (forerunner of Cuvier) could prove in 1769 that the Mastodon is an extinct vertebrate. The work of Soulavie in France (1780) is stressed. H e held in his hand the key for solving the problem of index-fossils. About 1800 the importance of fossils for stratigraphy and describing a history of the earth was recognized. Theories and hypotheses were needed to explain the fossil documents (strange shells in older strata and higher developed mammals in younger strata). All these theories couldn't propose a feasible mechanism for the change of beings during the history of the earth. But it could be said, that all fossils proove a history of life and the earth i. e. a progressive development in one sense, a development which is not reversible. Schliisselworter: Alter der Erde, Evolutionstheorie, Fossilien, Geologie, Historisie- rung, Leitfossil, Palaontologie, Zeitfaktor; XVIII Jh.

1 Einfuhrung

Geologen und Palaontologen benutzen den Begriff ,,Historische Geologie" fast taglich. In einem bekannten Lehrbuch 'lesen wir: ,,Die Historische Geologie oder Erd- und Lebens- geschichte bedarf wie die Menschheitsgeschichte als historische Wissenschaft der Mog- lichkeiten einer Zeitbestimmung . . ." Es ist fur die meisten Vertreter beider Wissenschaf- ten selbstverstandlich, ihre Disziplinen als historisch gerichtet anzusehen. In dieser Hal- tung konnen sie sich auf eine lange Tradition berufen. So verglich schon Robert Hooke2 1705 in seinem Discourse of Earthquakes fossile Organismenreste mit Miinzen, die einem Altertumsforscher Informationen vermitteln. Ahnlich druckt sich 1710 Fontenelle3 bei der Besprechung des Herbarium diluwianum Johann Jakob Scheuchzers aus: Voili de nouvelles espl.ces de MCdailles, dont les dates sont [. . .I plus importantes [. . .] que celles de toutes les MCdailles Grkques et Romaines.

Und 1721 schrieb der gleiche Fontenelle nach dem Hinweis auf fossile Fische: , , . on deviendra i deviner I'Histoire, quoique si ancienne, de ces revolutions [durch die die Fische aufs heuti- ge Festland gerieten]. Les physiciens seuls pourront fournir les Mkmoires, et &re les Historiens.

') Vortrag, gehalten auf dem XXII. Symposium der Gesellschaft fur Wissenschaftsgeschichte (,,Die Wissen- schaften bei der Entdeckung der Geschichtlichkeit ihrer Gegenstande im 18. und friihen 19. Jahrhundert"), 31. 5.-2. 6. 1984 in Gottingen.

0 VCH Verlagsgesellschaft mbH, D-6940 Weinheim, 1985 Cl7C-6233/X5/02C6- COX7 $ 02.5C/O

Page 2: Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der frühen Geologie und Paläontologie

88 Wolfhart Langer

Es ist wahrend der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts nicht ungewohnlich, die Fos- silien als Urkunden eines ,,praadamitischen" Zeitalters anzusehen, und Johann Frie- drich Blumenbach sprach von einer Archueologiu telluris. SchlieRlich sei noch Hans Ge- org Bronn zitiert, der 1841 von einer ,,Geschichte der Natur in dem Sinne, wie wir eine Geschichte von Volkern und Staaten haben", sprach. Ihr Ziel sei es, ,,die Veranderun- gen in ihrer chronologischen Aufeinanderfolge zu er for~chen"~.

Man hat den Eindruck, dai3 bei diesen fruhen Autoren Geschichte in erster Linie als Ablauf allen Geschehens in Raum und Zeit verstanden wurde. Anscheinend widerspra- chen besonders in unserem Jahrhundert mehrfach Allgemein-Historiker dieser Auffas- sung, die das einmalige, nicht zyklische Geschehen, das durch individuelles, bewui3tes Handeln gesteuert wird, allein als historisch ansehen. Es ist also die Frage, ob die Erdge- schichte ein ,,ewiger Refrain" ist, wie manche meinen, oder ob es nur ein Definitions- Problem darstellt, was ,,historisch" ist. Auch unter den Naturwissenschaftlern gibt es die Meinung, in der Geologie hatten wir nur zyklische, rekapitulierende Vorgange. Man konnte hier einwenden, dai3 zwar ein zyklischer Stoffkreislauf in der Geologie be- steht, aber wegen der Mobilitat der Erdkruste wird ein bestimmter Gesteinstyp aller Wahrscheinlichkeit nach zu jeder anderen Zeit an einem underen O r t gebildet werden. Beziehen wir die Palaontologie5 als biologische Wissenschaft von den vorzeitlichen Le- bewesen mit ein, dann ist nach unseren Erkenntnissen die Veranderung der Organis- men in der Zeit ein irreversibler einmaliger Vorgang. Otto Heinrich Schindewolf hat auch darauf hingewiesen, in welch problematische Lage Allgemein-Historiker geraten, wenn sich die Forschungen auf den sogenannten prahistorischen Bereich der Menschen erstrecken. Das fur ein Symposium geeignete Thema will ich damit nur anreiflen. Fur mich sind nachfolgend einmalige, irreversible Vorgange in der Natur Merkmale des Hi- storischen.

2 Zeiterkenntnis aus der geologischen Uberlieferung

Wegen seiner umfassenderen Darstellung kann man Niels Stensens (Steno) 1669 erschie- nenen Prodvomus' als fruhen Versuch einer Erdgeschichtsschreibung ansehen. Wie ein Experimentalphysiker hatte Stensen in der Toskana die Gesteinsschichten studiert und auf Grund seiner Erfahrungen mit Sedimentbildungen am heutigen Meeresstrand Ana- logieschlusse gezogen. Seine Interpretation, aus dem zeitbedingten Erkenntnisstand heraus naturlich fehlerhaft, war aber eine durchaus logische Deutung der geologisch uberlieferten Schichtlagerungs- und Gesteinsbefunde als einer Abfolge von Ereignissen, bei denen spater gebildete Schichten auf den fruher abgesetzten ruhen (,,Strutzgruphi- sches Grundgesetz" nach Steno). Dabei erkannte er eine Abfolge von Ereignissen, bei de- nen zum Beispiel einst das Meer jetziges Festland bedeckte, Erdschichten in ihrer Lage verstellt wurden, das Meer erneut vordrang, und Berge wie Taler entstanden.

Das Interesse an geologischen Phanomenen nahm rasch zu. Die offensichtlichen Mee- resablagerungen auf hohen Bergen forderten das Kausalitatsprinzip heraus. Gegen die Sintflutdeutung sprachen bald vielerlei Argumente. So dachte man bald sogar an mehre- re Uberflutungen anderer Art, und man sah sich zugleich auf der heutigen Erdoberfla- che nach Erscheinungen um, die auch geologisch in fruheren Zeiten wirksam gewesen sein konnten. In diesem Zusammenhang macht sich eine Tendenz nach einer Univer- salhypothese zur Erklarung der Phanomene bemerkbar.

Eine 1707 bei Santorin entstandene Vulkaninsel sprach fur Hebungen des Meeresbo-

Ber.Wissenschaftsgesch. 8 (1985) 87-97

Page 3: Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der frühen Geologie und Paläontologie

Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der fruhen Geologie und Palaontologie 89

dens, und Lazzaro Moro7 stellte 1740 diese Beobachtungen als Argurnente fur die Ursa- che von Erdoberflachenveranderungen in den Vordergrund. Henri Gautier' wies 1721 unter Betonung aktualistischer Beobachtungen auf das flieaende Wasser mit anschlie- Gender mariner Sedimentation als bedeutender Kraft externer Geodynamik hin.

Besonders wichtige Untersuchungen uber die Verschiedenheiten in den Gesteins- schichten (1756) und daraus resultierende Untergliederungsmoglichkeiten stamrnen von Johann Gottlob Lehmann' und von Georg Christian Fiichsel lo. Fuchsel hatte 1762 sehr deutlich geaufiert, dai3 eine Serie von Schichten eine bestirnmte Periode in der Ent- wicklung der Erde kennzeichne. Seine in den Akten der Kurmainzischen Akademie zu Erfurt in schlechter lateinischer Ubersetzung erschienenen Ausfuhrungen wurden zu- erst wenig beachtet. Eine gewisse Publizitat bekamen sie uber ein Buch seines Freundes Johann Wilhelm Baumer 11, an dem Fiichsel mitgearbeitet hatte. Die 1773 in deutscher Sprache publizierten Vorstellungen Fiichsels verhalfen ihm trotz der Seltenheit dieses Werkes zu weiterem Bekanntheitsgrad 12.

Dies sind nur einige Beispiele aus dem 18. Jahrhundert. Es fallt auf, daG Gott irnmer weniger als lenkende Kraft benotigt wird, sondern - wohl nicht zuletzt unter dem Ein- fluG der Newtonschen Mechanik - natiirliche Phanomene zur Erklarung herangezo- gen werden.

Die qualitative Anwendung der aktualistischen Methode bei der Kausalitatsforschung wurde vorgehend schon angedeutet. Das Verstandnis fur das additive Wirken kleiner Krafte wird auch aus den folgenden, heute wenig bekannten Ausfuhrungen des vielsei- tigen in Kiel tatigen Johann Christian Fabricius (1743- 1808) d e ~ t l i c h ' ~ :

Allc Gegcbenhciten in der Natur geschehen langsam, nach und nach, aber unaufhaltbar. Niemalen wirkt die Natur gewaltsani, nicht geschwinde, nicht iibereilt, tondern alles wird allmahlich vorbereitet.

So werden Erdbeben und Vulkanausbruche nicht als Wirkungen, sondern als Folgen der Natur gesehen, die ,,vielleicht rnehrere Jahrhunderte brauchte, die Vorbereitungen gewissermafien zu treffen". Auf Grund seiner Beobachtungen an der Kuste Schleswig- Holsteins hat er gute Vorstellungen von Sedimentation und Erosion:

Die Materie ist bestandig, alleine die Form dieser bestandigen Materie verandert sich taglich.

Schon J. Louis Leclerq de Buffon hatte 174914 in seiner Bkorie de la Terra erste Vor- stellungen von den grof3en Zeitraumen, in denen man neu denken miifite (,,. . . ce temps qui nous manque, ne manque point A la nature"); und 1778 nahrn er schon 74 800 Jahre als Alter der Erde an. Insgeheim dachte er aber an grogere Zeitraume. Bereits Imrnanuel Kant hatte 1755 in seiner Allgerneinen Naturgeschichte and Theorie des Himrnels l5 bei sei- nen kosmologischen Vorstellungen Millionen von Jahren angesetzt; und der als Karne- ralist bekannte Johann Heinrich Gottlieb von Justi l6 sprach 1771 bei der Erdgeschichte von Millionen Jahren. Das sei wissenschaftlich nicht untermauert, erbosten sich die Re- zensenten; aber eine solche Spekulation bereitete den Boden fur die geistige Einstellung auf solche Zeitraume vor. Denn aktualistische Beobachtungen konnten in der Geologie nur dann voll verstandlich werden, wenn man den Zeitfaktor richtig einsetzte. Man sieht aus diesen wenigen kurzen Exempeln, dai3 hier rnancher Gedanke schon voll zur Entfaltung kam, den spatere Generationen oft James Hutton17 (1785, 1788, 1795) allein zuschrieben. Leider ist durch den Katastrophisrnus des fruhen 19. Jahrhunderts dieser gute Ansatz gebremst worden, und Verfechter der rnosaischen Erdschopfungsberichte haben noch lange gegen die ,,Zeitrechnungs-Millionare" polemisiert, ja selbst ein hono- riger Historiker wie der in Bonn lehrende Arnold Schafer meinte corarn publico, dai3

Ber.Wissenschaftsgesch. 8 (1985) 87-97

Page 4: Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der frühen Geologie und Paläontologie

Wolfhart Langer 90

die Geologen rnit Jahrrnillionen rechneten, aber mit Wissenschaft habe das nichts zu tun.

Die sich irn Laufe des 18. Jahrhunderts imrner mehr durchsetzende Uberzeugung, daa die so starr wirkende Erdkruste gewaltige Veranderungen erlebt hatte - sei es nun, dai3 sie als Katastrophenergebnisse oder als Folgen allmahlich wirkender geologischer Kraf- te gedeutet wurden -, bewegte die Gemuter sehr und rief, wie bei solchen jungen Wis- senschaften ublich, auch die Hypothetiker auf den Plan. Bis zurn Ende des 18. Jahrhun- derts gab es uber vier Dutzend Theorien und Hypothesen zu diesem Therna, und Georg Christian Lichtenberg stellte ironisch-erstaunt fest 18:

haben. Es ist unglaublich, was die Revolutionen auf dcr Erde fur Revolutionen in den Kopfen nach sich gezogen

3 Vom Anorganischen zum Organischen

Einen wirklichen Hinweis auf eine in einer Richtung verlaufende Entwicklung im Zu- sarnmenhang rnit den Veranderungen der anorganischen Erdkruste brachte dann die nahere Untersuchung der Fossilien, die man in der ersten Zeit ihrer Erforschung meist lediglich als Indikatoren fur eine Meeresbedeckung herangezogen hatte. (Ich mochte an dieser Stelle jedoch darauf hinweisen, dai3 meines Erachtens eine scharfe Trennung zwi- schen Anderungen in der organischen und der anorganischen Welt nicht moglich ist, wenn man vor allem die Geschichte der Erde betrachtet. Besonders die Verflechtungen der Pflanzen- und Protistenwelt mit den Erscheinungen an der Erdoberflache lassen eine Trennung kaum zu.)

Mit den geologischen Spuren deuteten sich mehrfache Erdoberflachenveranderungen an, die, wie etwa in Thuringen, Sudfrankreich oder Oberitalien, die Aufs tehng einer regional gultigen relativen Zeitskala erlaubten 19. Der Nachweis offenbar ausgestorbe- ner Organisrnen bot ein neues Datierungsmittel fur die Erdgeschichte. Allmahlich er- kannte man in diesem Zusammenhang auch, dai3 die autonome Betrachtung der Fossi- lien die Moglichkeit bot, in einer Theorie der Lebensentwicklung auf der Erde diese Fossilien als wichtige Hinweise auf realhistorische Ablaufe zu benutzen. Zuerst jedoch bot die Feststellung, daf3 Organisrnen ausgestorben sind, Konfliktstoff mit der orthodo- xen Bibelexegese, nach der so etwas nicht sein durfte. Man kann sagen, dai3 erst irn fru- hen 19. Jahrhundert das Factum ausgestorbener Organismen allgemein anerkannt war.

Schon John Ray hielt 1692 die Ammoniten fur Uberbleibsel von Lebewesen, die man heute nicht mehr fande'O. Noch vor diesern Datum schrieb Robert Hooke seine erst 1705 gedruckten Gedanken uber Fossilien*':

Certainly there are many species of nature that we have never seen, and there may have been also many such species in former ages of the world that may not be in being at present, and many variations of those species now, which may not have had a being in former times.

Dieser Gedanke taucht, ohne dai3 ich hier weitere Namen nenne, wahrend des 18. Jahrhunderts immer wieder auf. Zuerst waren es besonders die Ammoniten und Belem- niten (Hartteile von Tintenfischen), zu denen man keine rezenten Analoga fand. Bibel- treue Forscher meinten, an unerforschten Stellen des Meeres konne man vielleicht sol- che Forrnen wiederfinden. Dieser Gedanke war irn iibrigen wissenschaftlich durchaus korrekt. In der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts stellte man irnrner haufiger fest, dai3 es auch noch andere Fossilgruppen gab, die sich heute nicht in der rezenten Organis- rnenwelt wiederfinden lieaen:

Ber.Wissenschaftsgesch. 8 (1985) 87-97

Page 5: Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der frühen Geologie und Paläontologie

Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der fruhen Geologie und Palaontologie 91

1769 stellte William Hunter erstmals auch fur ein Wirbeltier fest, es sei wahrschein- lich (probably) ausgestorben22. Mit Unterstutzung seines Bruders verglich er hierbei den Unterkiefer und die Backenzahne des fossilen Mastoden (Mammut americanus) mit ent- sprechenden Teilen eines indischen Elefanten. Dabei stellte er einwandfrei eine artliche Verschiedenheit fest. Mit dieser komparativ-anatomischen Studie ist Hunter ein wichti- ger Vorganger Georges Cuviers, der 1796 in einer beruhmten Untersuchung den Unter- schied zwischen dem indischen Elefanten und dem nicht mehr existierenden Wollhaar- mammut (Mammuthus primigenius) a ~ f z e i g t e ~ ~ . Auch bei den fossilen Pflanzen meinte 1784 Georg Adolf Suckow, dai3 die schachtelhalmartigen Calamiten der Steinkohlen- zeit (Karbon) ,,zu den untergegangenen Arten gehoren r n o ~ h t e n " ~ ~ . Es war also durch- aus nicht sehr originell, wenn Johann Friedrich Blumenbach 1779 schrieb, viele Tierar- ten kamen ,,blos versteint" V O I - ~ ~ . Auch seine nach 1800 veroffentlichte Gliederung der Erdgeschichte nach Faunenresten darf man nicht uberschatzen26. Als Blumenbach seine ersten Bemerkungen uber Fossilien niederlegte, untersuchte in Sudfrankreich Jean Louis Giraud Soulavie die Gesteine bei Aubenas im Vivarais2': Auf fossilleeres Gestein folgten Schichten mit heute unbekannten Faunen; dariiber konstatierte er eine Assozia- tion, die aus einer Mischung von teils heute verschwundenen, teils heute angeblich noch existierenden Faunenelementen besteht; und endlich fand er Schichten mit einer ausschliei3lich modernen Fauna. Er schied noch zwei weitere ,,Epochen" aus, wobei er diesen Begriff von Buffon2* entlehnt haben konnte. Fur Soulavie lag im Publikations- jahr 1780 eine Histoire chronologique des fossiles vor, und damit hatte er den Schliissel zur Losung des Leitfossilproblerns. Fossilien sind zeitspezifisch und konnen wie Arte- fakte in der Archaologie zur relativen Altersdeutung benutzt werden. - Leider hatte Soulavie kein hohes Renommbe, und obwohl sein Werk auch in Deutschland bekannt war, setzte niemand seine Untersuchungen fort.

In Deutschland, aber auch anderswo, interessierte man sich mehr fur die biologisch- systematische Einordnung der Fossilien und weniger fur ihre Veranderungen im Laufe geologischer Zeitraume. Die Schule des Freiberger Mineralogen und Geologen Abra- ham Gottlob Werner29 glaubte eine Gliederung der Erdgeschichte alleine auf Grund des Gesteinscharakters ohne Fossilien durchfuhren zu konnen.

Es war dann William Smith30, der 1799 eine Tabelle vorlegte, aus der hervorging, dai3 er ganz klar die Bedeutung der Fossilien zur Indentifizierung bestimmter Schichten er- kannt hatte. Damit war er der wesentliche Mitbegriinder der Bio-Stratigraphie. Smith hat seine Resultate erst 1816 publiziert und noch ist umstritten, ob Georges Cuvier und Alexandre Brongniart von den Smithschen Ergebnissen gehort hatten. Beide Franzosen benutzten in ihrer Beschreibung der Geologie des weiteren Raums um Paris 18Og3l auch die Fossilien als Datierungsmarken. In Deutschland wandte 1813 Baron Ernst Friedrich von Schlotheim dieses Prinzip an32.

Damit erwiesen sich die Veranderungen der Lebewesen irn Laufe der geologischen Zeitraume als ein praktisches Hilfsmittel, um Abfolgen von Sedimentgesteinen gliedern zu konnen. Fragen nach den Ursachen dieser Veranderungen erschienen den meisten Autoren noch von untergeordneter Bedeutung.

4 Fossilien und Evolutions-Ideen Die Evolutionstheorie ist zwar keine bewiesene Tatsache, doch sind moderne Evolu- tionstheorien immer noch die relativ besten Erklarungsmoglichkeiten fur viele Erschei-

Ber.Wissenschaftsgesch. 8 (1985) 87-97

Page 6: Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der frühen Geologie und Paläontologie

92 Wolfhart Langer

nungen in der fossilen U b e r l i e f e r ~ n g ~ ~ . Die Fossilfunde zeigen, dai3 je tiefer man in die geologische Uberlieferung herabsteigt, desto geringer die Organisationshohe der Orga- nismen wird. N u r die Deutung, dai3 alle Organismen genealogisch miteinander verbun- den sind, es weiterhin zu einer Hoherentwicklung kommt, die nach menschlichem Er- messen nicht umkehrbar ist, kann vom Naturwissenschaftler als historisch sensu stricto angesehen werden. Wenn ich nachfolgend in aller Kurze auch Ansichten skizziere, die seinerzeit wie Sackgassen endeten, so geschieht das in der Absicht, den durchaus nicht gradlinigen Weg der Evolutionsideen deutlich zu machen. Von rezentbiologischer und philosophischer Seite sind sicherlich grofiere Impulse zum Abstammungsgedanken aus- gegangen; daruber gibt es eine umfangreichere Literatur. An dieser Stelle sol1 vor allem die Rolle der Palaontologie bei der Festlegung einer neuen Natur-Geschicbts-Dimension betont werden.

Die Verschiedenheit der Fossilien von heutigen Formen veranlai3te schon R. Hooke in seinem 1705 erschienenem Dzscourse auflere Faktoren als umwandelnde Agentien an- zusehen (Modifikations-M~dus)~~. Zugleich glaubte er an eine Degeneration, da ihm fossile Organismen groi3er als heutige erschienen. Dieser Gedanke findet sich spater bei Buffon wieder. Palaontologisch durch nichts gestutzt waren Spekulationen uber Form- umwandlungen im Bereich hoherer systematischer Kategorien (zum Beispiel vom Fisch zum Amphibium). Gottfried Wilhelm Leibniz zitiert solche als ,,sundhaft" bezeichne- ten M e i n ~ n g e n ~ ~ und BenoPt de Maillet36 beschrieb derartiges in einem 1749 gedruck- ten ,,philosophical romance" (Hugh Miller). In die herrschende Vorstellung von der statischen Stufenleiter der Organismen beobachtet man erste, teilweise noch nicht ganz durchgefuhrte Ansatze, die Idee eines realen, zeitlichen Wandels einzu bringen. Zuerst war es Charles Bonnet, dann entschiedener RenC Robinet, die in dieser Richtung wirk- ten3'. Kurz darauf erschien 1778 G. L. L. de Buffons Epoques de la nature. Uber diese kompilative Konzeption wurde in Europa weithin bekannt, dai3 modernere Tierfor- men erst in geologisch jungerer Zeit auftreten. Buffon vertrat einen begrenzten For- menwandel. Das Aussterben deutete er als eine Form von Unfruchtbarkeit, und an- scheinend sah er eine Art Urzeugung als Ausgangspunkt fur neue Formen. N u r zwei Jahre spater veroffentlichte Giraud Soulavie einige Bemerkungen uber einen von ihm bei Fossilien angenommenen Transformismus. Die betreffenden Passagen kamen zwar in Umlauf, doch erzwang die Zensur kurz darauf ihre Streichung. Als verandernde Agentien sah Soulavie aui3ere Faktoren wie Klima, Temperatur, Nahrung, Bodenbe- schaffenheit und dergleichen. So heiflt es etwa im unzensierten Teil 38:

MCtamorphose de plusieurs espkces d'aninmaux. [. . . ]A mesure que les 8ges en s'kcoulants, accordkrent B la mati6re 0rganisi.e le temps nbcessaire pour varier ses formes, de nouvelles espices habiterent I'empire des mers.

Der ursachliche Mechanismus fur die Veranderungen blieb aber letztlich vollig un- klar; es folgte ihm auch niemand auf diesem Weg. Die fiihrenden Fossilexperten in Deutschland wie Johann Ernst Immanuel Walch 39 oder Johann Samuel Schroter 40 stan- den solchen Ideen jedenfalls fern. Walch meinte sogar, heute nicht mehr vorkommende Fossilgruppen habe Gott erschaffen, um Lucken in der Stufenleiter der Natur zu fullen4'. J. F. Blumenbach Lei3 fruhere Lebewelten durch Katastrophen umkommen; neue Formen sollten durch eine Art Urzeugung entstehen, wobei der nebulose Begriff des nisus fomativus fallt 42.

Zu dieser Zeit aui3erten auch Laien auf dem Gebiet der Fossilforschung wie etwa Im- manuel Kant den Gedanken einer realen Abstammung aller organischen Formen. Hielt

Ber.Wissenschaftsgesch. 8 (1985) 87- 97

Page 7: Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der frühen Geologie und Paläontologie

Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der friihen Geologie und Palaontologie 93

er 178543 noch einen solchen Gedanken fur ,,ungeheuer", so konnte er ihn funf Jahre spater fur den geologischen Bereich akzeptieren.

Vielleicht sollte man als Sonderfall hier noch Jean Baptiste Pierre Antoine de La- rnarck erwahnen. Seine Entwicklungslehre war sicherlich mehr von seinen Studien an rezenten Organisrnen als von denen an Fossilien bestimmt. Aber fur niedere Organis- men sah er eine direkte modifikatorische Einwirkung der Umwelt, wahrend hohere Le- bewesen auf Grund einer standigen Anderung der Urnwelt zu anderen Bedurfnissen ge- bracht werden und diese zu anderem Tun zwingen, was zur Urnbildung bestimmter Organe fuhren soll. Diese 1809 publizierten Ideen fanden darnals wenig B e a ~ h t u n g ~ ~ .

Die rornantische Naturphilosophie Friedrich Wilhelm Schellings hatte einen rnerk- wurdigen, fordernden Einflui3 auf phylogenetische Vorstellungen. Diesen anregenden Tendenzen war kein weiteres Wachstuni beschieden, als etwa ab 1825 die Naturphiloso- phie unter den Naturwissenschaftlern zunehmend in Verruf geriet. Henrik Steffens, so- wohl Schuler Schellings wie des Geologen Werner, hatte 1801 g e ~ c h r i e b e n ~ ~ :

Diese alteren Versteinerungen sind zugleich diejenigen, die von den jetzt bckannten Tierformen am rnei- sten abweichen. [. . .] Keine einzige Versteinerung eincs Saugetieres wird im alten Florzgebirge gefunden. [. . .] Also: diesselben Stufen der Animalisation, die jetzt alle auf einmal da sind, sehen wir in der Natur von dcm ersten Punkt der Entstehung der Animalisation durchlaufen, bis der Mensch die Welt kront. [. . .] Die mehr und mehr individualisierte Natur stieg die Stufenleiter des Organischen allniahlig hinauf.

In diesen Aussagen ist sehr vieles vage; aber irnrnerhin werden Fossilien als geschicht- liche Belege fur eine wirkliche Hoherentwicklung in der Natur der Organisrnen angese- hen. - Verrnischt mit Bildern aus der Ideenwelt der rornantischen Naturphilosophie, aber rneines Erachtens durchaus als real gemeint, schrieb 1820 der Palaontologe und Zoologe Georg August G0ldfu i3~~:

DaB das Tierreich, als ein einziger Organismus betrachtet, wirklich eine ahnliche Metamorphose wie der Foetus durchlief, deren Epochen mit Bildungsepochen dcs Erdenkorpers gleichzeitig waren, beweisen die tie- rischen Uherreste, welche in den verschiedenen altern und jiingern Gebirgsschichten gefunden werden. [. . .] Die Ticrbildung hatte deinnach mit einfachen Wassertiewn hegonnen und war in den verschiedenen Zeitepo- chen, zu den vollkommenen Landtieren heraufgcstiegen, wobei viele Gattungen und Arten verschwanden und andere an ihre Stelle treten, wie auch irn Foetus Orsane vei-schwinden und von anderen erserzt werdcn.

Leider lassen diese Angaben nicht erkennen, ob Goldfui3 wirklich an eine genealogi- sche Verknupfung dachte. Sein Amtsnachfolger in Erlangen, Gotthilf Heinrich Schu- bert, war zwar ein Schuler Werners, aber palaontologisch unerfahren. E r glaubte an eine realgenetische allgerneine Verwandlung der Tiere innerhalb der geologischen Zeit- vertikalen; eine mehrfache Neuschopfung lehnte er ab4'.

Der ebenfalls zu den Naturphilosophen gehorende Physiologe Gottfried Reinhold T r e v i r a n ~ s ~ ~ vertrat 1805 die Auffassung, das Aussterben fossiler Tiere ginge nicht auf Katastrophen zuruck; er rneinte, daR sie vielmehr aus der jetzigen Natur verschwunden sind, weil die Arten, zu welchen sie gehorten, den Kreislauf ihres Daseins vollendet haben und in andere Gattungen ubergegangen sind.

Ubrigens hat Treviranus ebenfalls 1805 auch das Bild der Spirale gebraucht, dessen sich besonders W. Zimrnermann49 gern bedient: Scheinbar haben wir einen Kreislauf in der Entwicklung, aber tatsachlich befinden wir uns nach einer Drehung in einer ande- ren Zeitebene, wobei das Taxon sich verandert hat.

Auch andere Biologen nahmen Fossilbelege in ihr Lehrgebaude auf5'. So weist Frie- drich Siegmund Voigt 1817 ausdrucklich darauf hin, dai3 der wirklich geschichtliche Gesichtspunkt sich allein in der Geognosie (was man allgemein mit Geologie uberset- zen kann) fande. Auch fur ihn gibt es nur eine Schopfung und dann allmahliche Aban-

Ber.Wissenschaftsgesch. 8 (1985) 87-97

Page 8: Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der frühen Geologie und Paläontologie

94 Wolfhart Langer

derungen. Entsprechenden Fragen diskutierte A. M. Tauscher. Einen naheren Bezug zur Palaontologie als die drei zuletzt genannten hatte Johann Georg Justus Ballenstedt, der sich allerdings vorwiegend fur die ,,Eiszeit" (Pleistozan) interessierte. In seinem mehrfach gedrucktem Buch Die Urwelt findet sich ebenfalls der Gedanke einer allrnahli- chen progressiven E n t w i c k l ~ n g ~ ~ . Besonders aufregend mui3te Ballenstedts Auffassung wirken, dai3 auch der Mensch sich allmahlich entwickelt habe; ja er dachte sogar an eine noch fortschreitende Schopfung bei der der Mensch durch ein noch edleres Wesen er- setzt werden k o n r ~ e ~ ~ . So wurde palaontologische Uberlieferung zum Ausgangspunkt fur Zukunftsprojektionen.

Eine ganz unzweifelhafte palaontologische Detailarbeit betrieb um diese Zeit der Pfar- rer Johann Christoph Matthias Reinecke. 1818 gab er eine kleine Schrift uber Ammoni- ten der Jurazeit heraus, die heute auch fur die aktuelle Forschung noch relevant i ~ t ~ ~ . Reinecke lehnt Katastrophen ab. Solche ,,Katastrophen" seien in Wirklichkeit das Er- gebnis von Zehntausenden von Jahren. In Wirklichkeit handele es sich um groi3e allmah- liche Umweltveranderungen. Zu neuen Formen kam es nach ihm durch eine langsame, uber Generationen reichende ,,Modulation" und ,,Transformation", die dadurch ent- stand, dai3 die Organismen im Gleichgewicht mit den ihrer Umwelt wirkenden Kraften sein muken . O b Reinecke Lamarck kannte, ist unbekannt. Es wird auch nicht deutlich, ob Reinecke diese Vorgange als einsinnig unumkehrbar ansah. Eine unhistorische Auf- fassung vertraten Eduard d'Alton und Christian Pander 1820 in einer wundervoll illu- strierten, aber wenig bekannten Arbeit uber das fossile Riesenfaultier Megatberium 54:

Wenn daher diese Tierreste, die in der Geologie nur als Zeugen auftreten, bisher der Zoologie vergleichen- den Anatomie, der sie eigentlich angehoren, nicht gleichen Vorteil brachten, so ist dies allein der angenom- menen Meinung zuzuschreiben, nach der die lebrnde Tierwelt als eine neue Schopfung betrachtet wird, wo- mit man jede Verschiedenheit der Gestalt erkliiren oder vielmehr unerklart zu lassen bequem fand.

Durch die Bereicherung, welche die Physiologie und die vcrgleichende Anatomie in der letzten Zeit sich gegenseitig erwarben, ist die Lehre der Metamorphose, wie solche Goethe bewundernswiirdig in den Pflan- Zen gezeigt hat, auch in den Tieren nicht mehr als eine blofie sinnreiche Idee anzusehen. Wir haben das in der Huhnereientwicklungsgeschichte gezeigt.

Nach einfachen und ausreichenden Folgerungen waren die Bedingungen einer Tierschopfung nur einmal vorhanden, und die Fortdauer der Tiere mufi in ununterbrochencr Folge gedacht werden. N u r die aufiere Form der Erscheinungen des Lebens ist einem steten Wechsel unterworfen, und nur diese, gebunden an aufie- re Verhaltnisse, die ihre Entwicklung entweder begiinstigen oder verhindern, ist in der Zeit untergegangen. Eine verschiedene Zeitperiode des Entstehens der Tiere kann daher nur der Form nach gedacht werden.

Die Verfasser glauben, dafl gleiche Verhaltnisse wieder verschwundene Formen her- vorbringen konnen, was eine ,,unhistorische" Auffassung ware. In der Ablehnung von Katastrophen sind sie Gegner von Georges C ~ v i e r ~ ~ und seiner Schule. Diesen war die irn Verlaufe der Erdgeschichte zunehmende Organisationshohe der Organismen wohl bekannt. Doch liei3en sie Faunen und Floren durch Katastrophen umkommen. Danach sei eine Neubesiedelung durch Einwanderer oder durch eine nicht naher diskutierte Neuschopfung erfolgt. Es erstaunt einen modernen Palaontologen, wenn 1833 Louis Agassiz 56 bei fossilen Fischen zu Resultaten kam, die heute sofort zu einer verwandt- schaftlichen Deutung herausfordern wurden, wahrend er gerade das zugunsten einer metaphysischen Kausalitat ablehnte.

5 Schlui3 Geologie und Palaontologie halfen so dem Menschen den Blick uber die menschliche Uberlieferung hinaus zu weiten und in absoluten Zahlen zu denken, von denen Goethe

Ber.Wissenschaftsgesch. 8 (1985) 87-97

Page 9: Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der frühen Geologie und Paläontologie

Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der friihen Geologie und Palaontologie 95

kurz vor seinem Tode meinte, man musse bei ihrer ,,genauen Betrachtung wahnsinnig" werden. Die Ergebnisse palaontologischer Forschung dienten als zusatzliche Stutze fur verschiedenste Theorien und Hypothesen, urn die Anderungen in der uberlieferten Le- bensgeschichte zu erklaren.

Die Vielfalt dieser gedanklichen Modelle erweckt den Eindruck eines polyphyleti- schen Ursprungs der modernen Evolutionsvorstellungen. Ein besonderer Akzent kam hinzu durch den - ebenfalls durch Fossilbefunde zusatzlich gestutzten - Gedanken, dai3 alle Lebewesen miteinander in verwandtschaftlicher Beziehung stehen, dai3 alle Or - ganismen graduell entstanden und als vorlaufig letztes Glied bei den hoheren Katego- rien der Mensch steht.

1 K. Krommelbein: Brinkmanns Abrii3 der Geologie. Bd 2: Historische Geologie. Stuttgart 1977, S. 4. 2 Siehe W. N. Edwards: The early history of paleontology. London 1967, S. 30. 3 A. Birembaut: Fontenelle et la gCologie. Revue d'Histoive des sciences 10 (1957), 360-374. 4 0. H. Schindewolf: Erdgeschichte und Weltgeschichte. (Akademie der Wissenschaften und Lireratur in

Mainz. Abhandlungen devMathematischnaturwissenscba~lichen Klasse 1964/2) Wiesbaden 1964, S. 53 - 104; R. Hooykaas: Continuit6 et discontinuit6 en gCologie et biologie. Paris 1970 (englische Fassung: Natural law and divine miracle. Leiden 1963); W. Schafer: Fossilien. Objekte der Erkenntnis, der Praxis und der Bildung. (Scnckenberg-Buch 56) Frankfurt am Main 1977, S. 14- 18; D. von Engelhardt: Historisches Be- wufltsein in der Naturwissenschaft von der Aufklarung bis zum Positivismus. (Orbis academicus, Son- derbd 4) Freiburg/Miinchen 1979; M. Wenzel: Vcrzeitlichungstendenzen im Vorfeld des Evolutionismus. Natuv und Museum 112 (1982), 15-25 (Literaturhinweise!).

5 Manche Autoren iehnen den Gebrauch des Begriffes Palaontologie fur das 18. Jahrhundert ab, da das Wort voraussetze, daf3 man erkannt habe, dafl es ausgestorbene Organismen gebe. Wie sich aus den nach- folgenden Ausfiihrungen ergibt, wurde eine solche Unterscheidung zu einem unubersichtlichen Ge- brauch des Wortes Palaontologie, das erst 1822 von dem franzosischen Botaniker Adolphe Brongniart (palContologie) gepragt wurde, fuhren.

6 [Nicolaus Steno:] The Prodromus of Nicolaus Steno's Dissertation concerning s solid body enclosed by process of nature within a solid. (Contributions r o the History of Geology, vol. 4) New York/London 1968.

7 W. Blei: Erkenntniswege zur Erd- und Lebensgeschichte. Ein Abrifl. (Wissenschaftliche Taschenbiicher, Textc und Studien) Berlin (Ost) 1981, S. 254.

8 F. Ellenberger: A I'aube de la gCologie moderne: Henri Gautier (1660- 1737). Extrait de Histoire et Nature 7 und 9- 10.

9 B. v. Freyberg: Johann Gottlob Lehmann (1719- 1767). Ein Arzt, Chemiker, Metallurg, Bergmann, Mi- neraloge und grundlegender Geologe. (Erlanger Forschungen, Reihe B: Naturwissenschaften, Bd l) Er- langen 1955.

10 R. Moller: Mitteilungen zur Biographie Georg Christian Fiichsels. (Freiberger Forschungshefte, D 43) Leipzig 1963.

11 J. W. Baumer: Naturgeschichte des Mineralreichs mit besonderer Anwendung auf Thuringen. 2 Bde, Gotha 1763- 1774.

12 Anonymus: Entwurf zu der altesten Erd- und Menschengeschichte nebst einem Versuch, den Ursprung der Sprache zu finden. FrankfurdLeipzig 1773. Das seltene Werk befindet sich in den Bibliotheken von Coburg, Regensburg und Augsburg. Das Wcrk wird Fiichsel zugeschrieben; indessen finden sich in Q 36 und 42 Bemerkungen, die an dieser Angabe zweifeln lassen.

13 J. C. Fabricius: Berrachtungen iiber die allgemeinen Einrichtungen in der Natur. Hamburg 1781. 14 G. L. L. de Buffon: Histoire naturelle g6nerale et particuliere avec la description du Cabinet du roy. Bd 1,

Paris 1749, S. 611. 15 I. Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Mit einem wissenschafrshistorischen

Nachwort hrsg. von F. Krafft. (Naturwissenschaftliche Texte bei Kindler) Munchen 1971. Vgl. hierzu den Symposiums-Beitrag von F. Krafft: Das Werden des Kosmos. Von der Erfahrung der zeitlichen Di- mension astronomischer Objekte im 18. Jahrhundert. Berichte ZUY Wzssenschafsgeschichte 8 (1985), 71 - 85.

Ber.Wissenschaftsgesch. 8 (1985) 87-97

Page 10: Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der frühen Geologie und Paläontologie

96 Wolfhart Langer

16 Johann H. G. von Justi: Geschichte des Erd-Ciirpers aus seinen auflerlichen und unterirdischen Beschaf- fenheiten hergeleitet und erwiesen. Berlin 1771.

17 J. Hutton: System of the earth [1785]/Theory of the earth [1788]/0bservations on granite [1794]. Toget- her with Playfair's biography of Hutton. Introduction by Victor A. Eyles. (Contributions to the History of Geology, Bd 5) New York 1973.

18 G. Chr. Lichtenberg: Geologische Phantasien. In: G. Ch. Lichtenberg: Verniischte Schriften, hrsg. von L. Ch. Lichtenberg/F. Kries. 9 Bde, Gottingen 1802- 1806; hier: Bd 6.

19 Siehe W. Blei (wie Anm. 7), S. 37, S. 257; K. A. von Zittel: Geschichte der Geologie und Palaontologie bis Ende des 19. Jahrhunderts. Miinchen/Leipzig 1899, S. 41 -43, 51-54.

20 J. Ray: Miscellaneous Discourses concerning the Dissolution and Changes of the World. London 1692 (Nachdruck: Hildesheim 1968).

21 Siehe W. N. Edwards (wie Anm. 2), S. 32. 22 W. Hunter: Observations on thc bones, commonly supposed to be elephants, bones, which have been

found near the river Ohio, in America. Phz~osophicd Transactzons of the Royal Society 58 (1769), 34- 45. Es ist charakteristisch fur diese Zeit, wenn 1780 der Gottinger Johann Beckmann in einem Referat zu Hun- ters Aufsatz meinte, die Behauprung, das Tier sei ausgestorben, sei viclleicht etwas voreilig.

23 Siehe Martin J. S. Rudwick: The meaning of fossils. Episodes i n the history of Palaeontology. London/New York 1972, S. 108.

24 G. A. Suckow: Beschreibung einiger merkwurdiger Abdriicke von der Art der sogenannten Calamiten. Acta Acadeniiae Theodoro-Pakztinae (1784), 355 - 363.

25 Siehe Walter BarodBernhard Sticker: Ansatze zur historischen Denkweise in der Naturforschung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Sudhofi Archiv 47 (1963), 19-35.

26 Siehe K. A. von Zittel (wie Anm. 19), S. 178- 179. Es handelt sich besonders um eine Publikation aus dem Jahre 1803.

27 J. L. Giraud Soulavie: Histoire naturelle de la France nikridionale. Bd 1, NEmes 1780. Auch Jean-AndrC de Luc (1727- 1817), der merklich Cuviers geologische Ansichten beeinfluflte, sah ab 1791 Fossilien als stra- tigraphische Hilfsmittel an; siehe F. Ellenberger/G. Gohau: A l'aurore de la stratigraphie palkontologi- que: Jean Andrt de Luc, son influence sur Cuvier. Revue d'Hzstoire des Sczences 34 (1981), 217-257.

28 G. L. L. de Buffon: Histore naturelle, gCn6rale et particuli&-e. Supplement, Bd 5: Les kpoques de la natu- re. Paris 1778.

29 0. Wagenbreth: Abraham Gottlob Werners System der Geologie, Petrographie und Lagerstltrenlehre. Freiberger Forschungshefte C 223 (1967), 83- 148.

30 E. Haarmann: Der ,,Schichten-Schmidt" William Smith 1769- 1839. Geologische Rundschau 23 (1942), 121- 155.

31 G. Cuvier/A. Brongniart: Essai sur la gCographie minkralogique des environs de Pa~-is.joctrnal des Mznes

32 Wolfhart Langer: Ernst Friedrich von Schlotheim (1764- 1832). Zur Erinncrung an seinen 150. Todestag. Natur und Museum 112 (1982), 77-80 (Literatur!).

33 Heinrich K. Erben: Die Entwicklung der Lebewesen. Spielrcgeln der Evolution. Miinchen/Ziirich 1975. Eine skeptischere Betrachtung bei 0. Ricppcl: Konnen Fossilien die Evolution beweisen? Natur und Mu- seum 114 (1984), 69-74.

23 (1808), 421-458.

34 Siehe W. N. Edwards (wie Anm. 2), S, 30. 35 Carl Ch. Beringer: Geschichte der G d o g i e und des geologischen Weltbildes. Stuttgart 1954, S. 32. 36 Siehe K. A. von Zittel (wie Anm. 19), S. 44-46; G. MathC: Beitrage franzosischer Naturforscher des 18.

37 Siehe W. Zimmermann: Evolution. (Orbis academicus, I1/3) Freiburg/Miinchen 1953, S. 210ff. 38 Zitiert nach L. Aufrere: Le relief et la sculpture dc la terre. Paris 1952, S. 59-61. 39 R. Moller: Johann Ernst Immanuel Walch: Sein Leben und wissenschaftliches Werk. 1. Teil. NTM-

Schr2ftenreihe 9 (1972), 70-93. 40 W. SteinerIH. Wiefel: Zur Geschichte der geologischen Forschung in Weimar. Wissenschafilicbe Zezt-

schrift der Hochschule f i r Arcbitektur und Bauwesrn Wezmar 13 (1966), 248-250. 41 J. E. I . Walch: Die Naturgeschichte der Versteinerungen. Bd 2, Niirnberg 1768, S. 5. 42 J . F. Blumenbach: Beytrage zur Naturgeschichte. 1. Ted, Gottingen 1790, S. 25-26. 43 Helmut Holder: Geologie und Palaontologie in Texten und ihrer Geschichte. (Orbis academicus, 11/11)

44 F. Kiihner: Lamarck und die Lehre vom Lehen. Jcna 1913, S. 146; vgl. auch E. Mayr: Lamarck revisited.

Jahrhunderts zur Entwicklung der Geologie. Zeiischrz$ f 2 r gcolo&e Wissenschafien 8 (1980), 37-52.

FreiburgIMunchen 1960, S. 382.

Journal of the Histo y of Biology 5 (1972), 55 - 94.

Ber.Wissenschaftsgesch. 8 (19S5) 87-97

Page 11: Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der frühen Geologie und Paläontologie

Verzeitlichungs- und Historisierungstendenzen in der friihen Geologie und Palaontologie 97

45 H. Steffens: Beytrige zur innern Naturgeschichte der Erde. 1. Teil, Freiberg 1801, S. 85-85. 46 G. A. Goldfui3: Handbuch der Zoologie. Bd 1, Niirnberg 1820, S. 43; zitiert nach W. Langer: Georg

August Goldfun. Ein biographischer Beitrag. Bonnrr Geschichtsblutter 23 (1970), 229- 243. 47 Nahere Darstellung der teilweise ungewohnlichen Gedanken Schuberts bei Hans Querner: G. H. Schu-

berts Vorstellungen iiber Mannigfaltigkeit und Ahnlichkeit im Tierreich. Erlanger Forschungen Reihe A, 25 (1980), 37-50.

48 Zitiert nach H. Holder (wie Anm. 43), S. 386. 49 W. Zimmermann (wie Anm. 37). 50 0. H. Schindewolf: Einige vergessene deutsche Vertreter des Abstammungsgedankens aus dem Anfang

des 19. Jahrhunderts. Paluontologische Zeitschrift 22 (1941), 139- 168. 51 J. G. J. Ballenstedt: Die Urwelt oder Beweis von dcin Daseyn und Untergange von mehr als einer Vor-

wclt. 3 Abteilungen. Quedlinburg/Leipzig 1818. 52 J. G. J. Ballenstedt: Die fortdauernde Schopfung; oder: 1st eine fortwahrende Erzeugung neuer Organis-

men moglich? Archiv fur die neuesten Entdeckungen aus der Urwelt 1 (1819), 252-276. Die Idee einer noch standig fortwahrenden Schopfung finder sich schon bei Kant. Auch Schlotheim iibernahm sie.

53 F. Heller/A. Zeii3 (Hrsg.): J. M. C. Reinecke und sein Werk: Des Urmeeres Nautili und Argonautae aus den1 Gebiet von Coburg und Umgebung. Erlanger geologische Abhandlungen 90 (1972).

54 Ch. Pander/E. d’Alton: Das Riesenfaultier Bradypus giganteus. Bonn 1821 (18 Seiten). Siehe auch Paul Siegfried/Walter Gross: Christian Heinrich Pander 1794- 1865 und seine Bedeutung fur die Palaontolo- gie. Munsterscbe Forschungen zur Geoiogie und Palavntologie 19 (1971), 101 - 183.

55 E. Kuhn-Schnyder: Georges Cuvier 1769- 1832. Jahreshefte der Gesellschaft fur Naturkunde in Wurttem- berg (1969), 65 - 105.

56 Zitiert nach H. Holder: Die Enrwicklung der Palaontologie im 19. Jahrhundert [1967 (Technikgeschichte in Einzeldarstellungen, Nr. 7) Diisseldorf 1968, S. 2541 In: W. Treue/K. Mauel (Hrsgg.): Naturwissen- schaft, Technik und Wirtschaft im 19. Jahrhundert. Acht Gesprache der Georg-Agricola-Gesellschaft. Bd 1, Gottingen 1976, S. 107-134; hier S. 113f.

Anschrift dcs Verfassers: Prof. Dr. Wolfhart Langer, Institut f. Palaontologie, NuRallee 8, D-5300 Bonn 1.

Ber.Wissenschaftsgesch. 8 (1985) 87-97