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Verlag der Weltreligionen 11 Vielleicht werden wir ja verrückt Eine Orientierung in vergleichendem Fanatismus Bearbeitet von Ulla Berkéwicz 1. Auflage 2009. Taschenbuch. 121 S. Paperback ISBN 978 3 458 72011 9 Format (B x L): 10,8 x 17,6 cm Gewicht: 120 g Weitere Fachgebiete > Religion > Religionswissenschaft Allgemein > Vergleichende Religionswissenschaft schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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Verlag der Weltreligionen 11

Vielleicht werden wir ja verrückt

Eine Orientierung in vergleichendem Fanatismus

Bearbeitet vonUlla Berkéwicz

1. Auflage 2009. Taschenbuch. 121 S. PaperbackISBN 978 3 458 72011 9

Format (B x L): 10,8 x 17,6 cmGewicht: 120 g

Weitere Fachgebiete > Religion > Religionswissenschaft Allgemein > VergleichendeReligionswissenschaft

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

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Leseprobe

Berkéwicz, Ulla

Vielleicht werden wir ja verrückt

Eine Orientierung in vergleichendem Fanatismus

© Insel Verlag

Verlag der Weltreligionen 11

978-3-458-72011-9

Insel Verlag

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In ihrem leidenschaftlichen Essay fordert Ulla Berk�wicz den Mutzur Sorge um das, was an uns verlorengeht, wenn wir dem Verbundvon technokratischem Nihilismus und archaischem Fanatismus nichtwiderstehen. Orientierung sucht sie in einer tiefgreifenden Analysereligiçser �berlieferung, in der Auslegung von Quellen aus dem Tal-mud, dem Koran und der Bibel, im Studium historischer und gegen-w�rtiger islamischer und j�discher Quellen und von Material ame-rikanischer Sekten. Ulla Berk�wicz sp�rt den Christentum, Islamund Judentum innewohnenden Gemeinsamkeiten und der bei allenvorhandenen Tendenz zur Selbstaufgabe des Einzelnen nach. IhreAnalyse verbindet die Autorin mit Erlebtem und Erz�hltem. Die ein-fachen gewaltsamen Lçsungen der Eiferer aus dem Okzident unddem Orient werden durch die Kunst der kraftvollen Geschichten-erz�hlerin entlarvt. Erst im Erz�hlen findet der Essay die Freiheitund Mehrdeutigkeit, die der Polyphonie des einzelnen Menschen ge-recht wird. Eine Schrift in der besten Tradition der Aufkl�rung, dienarrativ faßt, was der Verstand allein nicht erkl�ren kann.

»Dieses außergewçhnliche Buch sollte von jedem gelesenwerden, dernicht versteht, warumwir in die gegenw�rtigen Krisen geraten konn-ten und was uns in Zukunft erwartet.« Amos Oz

Ulla Berk�wicz lebt in Frankfurt am Main. Sie ist Schriftstellerin undseit 2003 Verlegerin des Suhrkamp Verlags. 1982 erschien ihr erstesBuch Josef stirbt.Der EssayVielleicht werden wir ja verr�ckt erschien erst-mals 2002.

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VERLAG DERWELTRELIGIONEN

TASCHENBUCH11

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ULLA BERK�WICZVIELLEICHT WERDEN

WIR JA VERR�CKT

Eine Orientierungin vergleichendem Fanatismus

VERLAG DERWELTRELIGIONEN

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Bibliographische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliographie;detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar.

http://dnb.d-nb.de

Verlag der Weltreligionenim Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig

Taschenbuch 11Erste Auflage 2009

� Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,

des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch VerlagUmschlag: Hermann Michels und Regina Gçllner

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyISBN 978-3-458-72011-9

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V IELLEICHTWERDEN WIR JA

VERR�CKT

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Warum denn machen viele jetzt so viele Worte, aber fin-den keine? Weil keine Schreckerfahrung herrscht undkeine Deutertradition? Weil der alte Schrecken nichtmehr neu ist und der neue ins Ungeheure hineinreißt?Weil selbst der deutsche Schrecken, zum Pflichtschreckund zum Schreckensinstrument gemacht, nicht mehruns�glich ist und unbestraft gesungen werden darf?Weil bçse, bçse Zeichen an der Wand stehn, »menemene tekel«, die keiner deuten kann, der nicht wie Da-niel, der Liebling, aus dem Buch der B�cher, das dritteAuge hat, das dritte Ohr, die andren Worte f�r die an-dren Bilder? Worte, mit denen du hçren kannst und dei-nen Krach zum Schweigen bringst, so daß du siehst.

Vielleicht werden wir ja verr�ckt, hat Jaron Lanier, derErfinder des Begriffs »Virtual Reality«, gesagt. Vielleichtstehen die beiden T�rme ja noch oder standen ja nie.Wie war noch die Geschichte, und was steht an der

Wand? »Mene mene tekel u-farsin«. Wir lesen es seit Jah-ren an jeder babelhaften Spiegelwand, laden wie KçnigBelsazar die tausend Gewaltigen, die Weiber und dieKebsweiber zum Gastmahl, saufen uns voll mit denen,saufen wie die, huldigen wie die hçlzernen, eisernen,steinernen Gçttern, sehen die Schrift an der Wand, sau-fen weiter, huldigen weiter und fragen die Weisen, wieBelsazar die Weisen von Babel gefragt. Aber die habenmitgesoffen und mitgehuldigt und kçnnen die Schriftnicht mehr deuten.Vielleicht werden wir ja verr�ckt, hat Jaron Lanier

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gesagt, wir saufen und wir huldigen, die Schrift flammt,die Welt geht unter, es ist kein Schalter da, uns abzu-schalten.

Wenn aber doch einer gebracht w�rde, wie Daniel vorBelsazar, einer, der »den Geist hat«, »bei dem das Lichtgefunden ward«, der nicht nur die chald�ische, die ara-m�ische und die hebr�ische Schrift zu lesen vermag,der sich im Naskhi- wie im Kufi-Duktus auskennt, deralle Oden und die Diwane des Labib und des Zuhair stu-diert und in sich aufgenommen hat, als w�rens eigeneGes�nge und Geschichten, der die Schrift, die nichthebr�isch noch chald�isch, noch aram�isch vor uns ge-schrieben flammt, lesen und deuten kann: »Hybris undNemesis! Mene = Der Westen hat Gott getçtet und be-graben! Mene = Hat eine Gesellschaft hervorgebracht,die sich selber tçtet und begr�bt! Tekel = Sie wird sichnicht entleiben! U-farsin = Entselbsten wird sie uns!«

Vielleicht sind wir ja verr�ckt: Wir wissen, daß unsereWahrnehmungen Interpretationen sind, wissen, daßwir nicht wissen, ob wir erleben, was wir zu erlebenglauben, wissen, daß wir nicht wissen, ob wir das Etwassind, das danach fragt.

Es scheint, als ob der Glaube an Allmacht und Vorse-hung, S�nde und Strafe selbst auf niedrigsten mensch-lichen Bewußtseinsebenen, bei Tiermenschen, Wald-menschen, Schneemenschen, ein eingeborener ist.(Habermas sagt: »Als sich die S�nde in Schuld verwan-delte, ging etwas verloren« – was? Das Eingeborene?Das Maß f�rs Unermeßliche? Das wirklich Wahre?)

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Ein Glaube, einer Gewißheit gleich, aus dem Moral undEthos, Gewissen und Gesetz entstehen, ein Deut Wahr-heit, eine Spur Absolutheit, eine Idee Unendlichkeit, einGran Unermeßlichkeit.Wenn aber die Allmacht abgesetzt wird, die Vorse-

hung ausgemustert, die S�nde begangen, die Strafe ver-gessen, wenn das Kinderverlangen, in dieser Welt zuHause zu sein, schuldig geworden ist, weil diese Weltjetzt alles ist, was jetzt der Fall ist, wird der Keim desVerlangens nach Ethos und Moral, Gerechtigkeit undMenschlichkeit im Keim erstickt, ist die Welt in den Fu-gen, reißt sie kein fliegender Gedanke da mehr raus.»Triumphiert die instrumentelle Vernunft, die jeden

Sinn unter sich begr�bt« (Habermas), nimmt man dasLeben, wie es kommt, so wie die Kuh, das Schwein,das Huhn, leidet man nicht unter dem Verlust von Bin-dung und Tradition, schaudert einen nicht vor demEnde der wissenschaftlichen Unbestechlichkeit und denErzeugnissen ihrer Laborb�nke, glaubt man sich demZiele nah, auf ewig saufen und huldigen zu kçnnenund die Schriftzeichen zu vergessen, die ringsum anallen W�nden stehn.Gibt es nicht Wissen mehr noch Weisheit, nur Infor-

mation, keine Gemeinschaft mehr, nur Organisation,vereint sich diese weite Welt zu einer Technoçkonomie,vereinnahmt, frißt und schluckt, verdaut und scheidetaus: Der Konsument irrt einsam �bern Markt, der K�u-fer, der K�fer, schreit »Hu« vor Einsamkeit, die Konser-vendosen sind ersch�ttert und fallen um, erschlagenden K�fer, den K�ufer.

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Ethos und Moral, Menschlichkeit und Gerechtigkeit,W�rde, Ehre, Demut, Gnade, Mitgef�hl, gute alte Wor-te, deutsche Worte, Worte, die vielleicht auch nochSehnsucht, Wehmut heißen und �ber die weite Heidef�hren, durch den schwarzen Wacholder, in den rotenSonnenuntergang, wo um zwei Ecken Bergen-Belsenvon lila Kraut und roten Beeren �berwuchert wird.Vergessene, vergangene Worte, abgeschafft von der

Westwelt, vom Imperium americanum, mit den Verei-nigten Staaten des Abendlands bedingungslos solida-risch im Schlepptau.

»Nichts wird mehr sein, wie es war!« What a pity! EinAngriff auf die Zivilisation?Die ist verbraucht. Schlepptsich bergab, taucht unter, gluckst, versinkt. Panik ist daseinzige Gef�hl, was wir noch haben, Heidenangst. Wirlauern, gieren, sacken ein: das H�ßliche, Monstrçse,das splitternackte Ereignis, geil und mçrderisch. Nurweit genug weg muß es sein. Weit genug weg von uns,da muß es krachen, platzen, hochgehn und zusam-menfallen. Panikrausch. Wir dr�cken die Lçschtaste,der Leerlauf spult sich ab, ist grenzenlos. Die Grenzen-losigkeit, die Losigkeit, die Leere. Das St�ck ist abge-spielt.

Denn aus unserem Zynismus, unserer Ignoranz undArroganz gibts keinen Weg zur�ck ins Paradies, mei-nen die Schmidtys, und meinen, man kçnne sich ebennun ma nich d�mmer stellen, als man nun ma ebennun ma is.Und weil die armen Seelen westweltweit blockiert

sind und weil der �bertriebene Intellekt Entlastung bei

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den Schmidtys sucht, wird deren d�mmster Witz zumintellektuellen Kult. Die Schmidtys lachen vor, alleslacht nach. Die Schmidtys lassen lachen. Zynismus h�ltam Leben, paart sich mit Spießigkeit, wirft Fratzen.Die Schmidtys faseln, alles ist vollgefaselt, kein fasel-

loser Fitz mehr in der Atmosph�re. Alles lacht und lachtund lacht sich weg.»Oh jhr Maenner, ich schreye zu euch und ruffe den

leuten / wie lange wolt jhr Alberen alber sein / und dieSpoe tter lust zur spoe tterey haben«, schrieb MeisterBçhme 1612 in »Morgen-Roe te im Aufgangk«.

Vielleicht werden wir ja verr�ckt, hat Jaron Lanier, derErfinder des Begriffs »Virtual Reality«, gesagt. Panik-rausch und Machbarkeitsrausch rauschen zusammen.Die Naturwissenschaft ist Teil der Marktwirtschaft ge-worden, korrupt wie der Markt selber. Die Materie ver-dichtet sich, der Druck wird grçßer, der Druck wirdnoch grçßer, weil die Materie noch dichter wird, bisdie Materie sich, total verdichtet, aus ihrer Existenzdr�ckt.Generationenlang hat die Naturwissenschaft ver-

sucht, die Grundvorg�nge des Makrokosmos und desMikrokosmos und sogar die des Lebens selbst alleinphysikalisch und chemisch, also materiell, zu erkl�ren,als g�be es sonst nichts. Das wissenschaftliche Den-ken, das sich ausschließlich mit Meßbarem besch�ftigenkonnte und wollte, verstand sich als Abstraktion, alsEpiph�nomen der Materie, mit dem Resultat, daß Wis-senschaft mit etwas betrieben wurde, das ihr nichtsgalt. Die Lebenserfahrungen der Wissenschaftler warenalso, ihren eigenen Argumenten zufolge, nichts als T�u-

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schung. Die Wissenschaft hatte mithin die menschlicheErfahrungswelt zur Illusion erkl�rt.Unsere Vorstellung von der uns vertrauten Materie,

von der soliden Substanz der Dinge, vom festen, festenTisch, vom Stuhl, hat sich als Trugbild erwiesen. Wir ha-ben die Substanz aus der einheitlichen Masse ins Atomverfolgt, aus dem Atom ins Elektron, und dort ist sieuns verlorengegangen, mitten auf dem quantentheore-tischen Wahrscheinlichkeitswellenkamm.Hat die Quantenphysik nicht die Widerlegung des

Kausalprinzips erbracht und Heisenberg damit nichtalle antireligiçsen Attacken in ihr Vakuum zur�ckge-fegt? Sind wir der Erkl�rung des Lebens denn um einenSchritt n�hergekommen? Ist das Geheimnis nicht ge-blieben? Und die Gewißheit, daß eine vom Menschenunabh�ngige Weltordnung existiert, deren Wesen nichtvom Verstand erfaßt werden kann?Ist das Maß denn wirklich das Wesen der Realit�t

oder zumindest ihr Schl�ssel, wie der Westen glaubt?Und die objektivierbare Wirklichkeit die Wirklichkeitschlechthin, welche die Grundlage f�r jeden Maßstabbildet? Oder glaubt der Osten kl�ger, dem das Maßals tr�gerisch gilt und die realen Verh�ltnisse, die sichdem Wahrnehmenden bieten, als ein Schleier, der diewahre Wirklichkeit verh�llt? Heißt es nicht dort, dasUnermeßliche sei das wirklich Wahre?Das Unermeßliche, das Unendliche, Wahrheiten, die

einen niederschmettern – oder aufrichten, wenn einerdenkt, daß alles Endliche in seiner Essenz unendlichist, da es doch sonst nicht sein kçnnte im Unend-lichen.

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Ein Angriff auf die Zivilisation?Haben nicht Technologie und Biologie die Grund-

lagen der Zivilisation schon l�ngst in Frage gestelltund proklamiert, diese Welt sei alles, was manipulierbarist?Sind unsere Menschengrenzen nicht l�ngst schon

�berschritten, und soll der Mensch jetzt nicht zu effekti-veren Kçrpern und intelligenteren Denk-Anordnun-gen ver�ndert werden? Wie sagt der KI-Papst Moravec?»Es ist sowieso egal, was die Menschen machen, dennsie werden bald zur�ckgelassen werden, wie die ersteStufe einer Rakete.« »Die Menschheit«, sagt er, »wirdals gescheitertes Experiment gelten.« (Aber wenn, wes-sen Experiment und durch wen oder was gescheitert?)Und wie sagt sein Trabant, der Extropier Max More?»Mit dem Verwerfen alter Mythen und dem Einsatzwirksamer neuer Werkzeuge kçnnen wir die biologi-schen und psychologischen Grenzen transzendieren.Hierzu m�ssen wir alle nat�rlichen und kulturell ver-wurzelten Beschr�nkungen unserer F�higkeiten besei-tigen.«Das Wesen des Menschen steht zur Debatte, die Ent-

zauberung der Welt ist gelungen. Dabei ist neuer Zau-ber entstanden, fauler Zauber, Kurzweil-Spaß, Mora-vec-Spuk, KI-Faxen, VR-Leeretricks.Unser Ziel, sagen die Trickser, ist nicht mehr das Ver-

st�ndnis von Welt, sondern deren Simulation.

Und die Liebe und der Tod?»Denn stark wie der Tod ist die Liebe«, heißt es im

»Lied der Lieder« des Kçnigs Salomo.Und der Haß und der Krieg?

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Sind st�rker als jede Simulation, als alle synthetischenAusgeburten.

Die drei abrahamitischen Buchreligionen nennenKriege, die in ihrem Namen gef�hrt werden, heilig.Heilige Haßkriege, Kreuzzug, Herem und Dschihad.Herem und Dschihad sind einander verwandt, da

Juden und Araber Brudervçlker sind, Ismael und IsaakHalbbr�der und Abraham der Urvater der ganzenMischpoche.

Daß es den Dschihad, den heiligen islamischen Krieg,gibt, hat der Westen erfahren, daß es den Herem gibt,den heiligen j�dischen Krieg, den Gott Israel zum er-sten Mal gegen die Kanaaniter f�hren ließ, um in denBesitz des Gelobten Landes zu kommen, ist dem We-sten weitgehend unbekannt. Wiederholt verweist die Bi-bel auf den Terror im Gefolge des Herem, um Israelseine Verpflichtung bewußtzumachen, alle Kanaanitersamt ihrem Eigentum zu »vertilgen«, damit sie nicht»zu Dornen werden in euren Augen und zu Stacheln ineuren Seiten« (Num 33,55). Das hebr�ische Wort herembezeichnet wie das arabische Wort haram eine gehei-ligte Sph�re, in der normale Maßst�be nicht gelten.Der zweite große Herem wurde von den Sikarier-

Zeloten, den heiligen j�dischen Terroristen, gegen dieRçmer gef�hrt und endete mit der Zerstçrung des Tem-pels, der Verw�stung des Landes und dem Massen-selbstmord von Massada. Sein Ziel war, die Unterdr�k-kung durch die Rçmer unertr�glich zu machen, so daßder Aufstand unvermeidlich wurde, und jeden Versuchder Versçhnung zu verhindern. Mit demselben Ziel zie-hen die islamischen Krieger heute in ihren Dschihad.

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Die große Wirkung des zweiten Herem ging auf dieF�higkeit seiner Krieger zur�ck,Volksaufst�nde zu initi-ieren. Seit den Tagen der russischen Anarchisten, diedas Programm des modernen Terrors zuerst formulier-ten, wurde die Auslçsung einer »lev�e en masse« durchProvokationsaktionen zum geeigneten Mittel erkl�rt.Doch keine ihrer Aktionen war derart wirkungsvollwie die der Sikarier-Zeloten und die der islamischenKrieger unserer Tage.

Idealisierung des Tyrannenmords war Bestandteil despolitischen Ethos von Griechen und Rçmern. In der j�-dischen Tradition gibt es Vergleichbares bei Ehud undJehu und der schçnen Judith, die dem schlafenden Ho-lofernes den Kopf abschnitt. Das durch sie repr�sentier-te Ideal des frommen Mordes begeisterte die Sikarier-Zeloten in ihrem heiligen Eifer, wie Leutnant KhalidAhmad Shauqi al-Islambuli die Krieger des Dschihadsbegeisterte, als er Anwar as-Sadat im Auftrag der Mos-lembruderschaft ermordete. »Der Mann, der den Pha-rao tçtete«, wurde vom Zentralapparat der Hisbollah inTeheran zur Kultfigur eines M�rtyrers aufgebaut. In Bei-rut, Damaskus und Tripolis wurde der Mord mit Sing-sang und Straßentanz gefeiert, jenem hysterisch-freneti-schen Getçse und Gekreisch, das es dem Araberfreundschwermacht, seine Sympathien zu bewahren, und ausTeheran scholl es archaisch her�ber: »Verrucht gelebt,verrucht gestorben, verrucht zur Hçlle gefahren!«Und die Christenmenschen? Die Kreuzz�ge, die In-

quisition, die gewaltt�tigen Diktaturen der Kolonisie-rung und Globalisierung, die imperialistischen Kriegehier und da und dort?

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Schwere dichteWirklichkeit, hitziges Latein und laxesAmerikanisch. Hier die Inbrunst und die Hçllenangst,die Muttergottesgeilheit und die Kleruskapuzen, dortRassenhaß und Ku-Klux-Klan, Verschwçrung und Ge-heimgesellschaften.

Wird denn nicht jeder vom Pathos, das aus dem Ostenkommt, an das »Evangelium des erwachenden Deutsch-lands« und seinen Engel mit dem Schwanz erinnert?Kommen nicht jedem beim Gedanken an die Ausbil-dungslager und Trainingscamps von Dschihad, Hamas,Hisbollah die Napolas in den Kopf, die Ordensburgen,die Fahnenweihen, die Sturm- und Kampfesaugen derKadetten des Dritten Deutschen Reiches?Drçhnt nicht das Pathos, das aus dem Westen kommt,

durch jeden Kopf, bis der rauscht vom »Mythus des Blu-tes«, bis der brummt vom Kçnigsgedanken, sticht vonder Selbstgewißheit, daß »Recht ist, was arische M�nnerf�r Recht befinden«? Werden wir denn verr�ckt, wieJaron Lanier sagt?

Was haben westlicher Rassismus, Islamismus und radi-kalreligiçses Judentum gemein? Fanatismus und Mysti-fikation von Geschichte.Hitlerismus war Fundamentalismus, und aus dem-

selben D�mon, Geist, Impuls entstand die islamischeRevolution, der Khomeiniismus, der Fl�chenbrand, derdie Westwelt ansteckt.Fundamentalismus gedeiht in Krisenzeiten, in Zei-

ten der Orientierungslosigkeit und der Entwurzelung.Lçsung und Heilung werden dann in politischen Leh-ren und religiçsen Kulten gesucht. »Dunkle satanische

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Kr�fte wirkten �berall hinter den siegenden Heerenvon 1914, die d�monischen M�chte tobten hemmungslo-ser denn je durch die Welt, zur gleichen Zeit aber wurdein den gebeugten Seelen jener Mythus des Blutes, f�rden die Helden starben, erneut vertieft und erlebt. AusKampf, Not und Elend ringt sich ein neues Geschlechtempor, dessen innere Stimme eine Weltrevolution for-dert«, schrieb 1930 der Reichsphilosoph Alfred Rosen-berg.Die Nationalsozialisten meinten, im Dienst an etwas

Großgeglaubtem �ber sich hinauswachsen zu kçnnen,in eine Art Unfehlbarkeit hinein. Deutschland, das wieetwas Hochherabgest�rztes zerbrochen am Boden derGeschichte lag, Deutschland, das wie ein seltsam Lied-lein von letzten Wandervçgeln her�berklang, Deutsch-land machten sie zu ihrer Religion. Sie versprachen, inAbgrenzung gegen die Rationalit�t der Moderne, denDeutschen ihre eigene Spiritualit�t wiederzugeben undihr »mythologisches Schicksal« zu erf�llen. »Wir wollenreligiçsesGef�hl und religiçseWiedererneuerung«, heißtes 1936 in der SS-Zeitschrift »Das Schwarze Korps«.Die Nazis aktivierten und mißbrauchten mythisch-

religiçse Anteile der »deutschen Seele« und versahen je-des Individuum des deutschen Kollektivs mit einer Artgçttlicher Legitimation, kein Selbst zu sein, nichts zusein.Einige der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts be-

stehenden Geheimb�nde und esoterischen Zirkel wa-ren beteiligt an der Formulierung spiritueller Ziele derNazis. Sie legten den Nazit�tern wirkungsm�chtigeWerkzeuge in die H�nde, deren historische Anerken-nung der gesuchte Teil jenes Puzzles sein kçnnte, das

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vor dem Hintergrund bekannter çkonomischer, sozio-logischer, kultureller und politischer Fakten die unge-heure Ausstrahlung einer kleinen Gruppe von Fanati-kern auf ein ganzes Volk zu erkl�ren hilft.Bei Albrecht Haushofer, dem Sohn Karl Haushofers,

der Mitglied jener Geheimb�nde und esoterischen Zir-kel war und in den ersten Jahren des Dritten ReichesBerater Hitlers und Himmlers, fand man nach seinerErschießung durch ein SS-Kommando die ber�hmt ge-wordenen »Moabiter Sonette«, die er in den letztenMonaten seines Lebens im Gef�ngnis an der LehrterStraße, wo er nach dem Attentatsversuch vom 20. Juliinhaftiert war, geschrieben hatte. Das Sonett »Der Va-ter« erz�hlt viel �ber jene Seite des Dritten Reiches,die immer noch ungekl�rt im Dunkel liegt. Warum?Die Furcht scheint groß.

der vater

Ein tiefes M�rchen aus dem MorgenlandErz�hlt uns, daß die Geister bçser MachtGefangen sitzen in des Meeres Nacht,Versiegelt von besorgter Gotteshand,

Bis einmal im Jahrhundert wohl das Gl�ckDem einen Fischer die Entscheidung gçnne,Der die Gefesselten entsiegeln kçnne,Wirft er den Fund nicht gleich ins Meer zur�ck.

F�r meinen Vater war das Los gesprochen.Es lag einmal in seines Willens Kraft,Den D�mon heimzustoßen in die Haft.

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