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VII.1. Taylorentwicklung 143 VII. Taylorreihen In diesem Kapitel werden wir eine Methode kennenlernen, differenzierbare Funk- tionen lokal durch Polynome zu approximieren. Im gleichen Sinne wie die Dif- ferenzierbarkeit einer Funktion es erlaubt, sie lokal durch eine affine Funktion anzun¨ ahern, werden wir sehen, dass die n -malige Differenzierbarkeit die lokale Approximierbarkeit durch Polynome n -ten Grades liefert. Die Methoden dieses Abschnitts sind eine zentrale Grundlage f¨ ur viele Anwendungen der Analysis, da sie es erlauben, mit N¨ aherungen zu rechnen, wenn die exakten Formeln zu kompliziert werden. In diesem Abschnitt steht D immer f¨ ur ein Intervall in R , das mindestens zwei Punkte enth¨ alt. VII.1. Taylorentwicklung Um die Grundidee der Taylorentwicklung zu verstehen, betrachten wir zun¨ achst eine Polynomfunktion f (x)= n k=0 a k (x - p) k auf R . Durch m -faches Ableiten erhalten wir f [m] (x)= n k=0 a k · k(k - 1)(k - 2) ··· (k - m + 1) · (x - p) k-m = n k=m a k k m m! · (x - p) k-m . Insbesondere ist f [m] (p)= a m · m!. Daher ist (1.1) f (x)= n k=0 f [k] (p) k! (x - p) k . Diese Formel zeigt insbesondere, dass jedes Polynom vom Grade n eindeutig durch seine Ableitungen bis zur Ordnung n im Punkte p bestimmt ist. Beachte: Dass wir das Polynom f direkt in der Gestalt f (x)= n k=0 a k (x - p) k geschrieben haben, stellt keine Einschr¨ ankung der Allgemeinheit dar. Denn ist

VII. Taylorreihen - Fachbereich Mathematik · VII.1. Taylorentwicklung 143 VII. Taylorreihen In diesem Kapitel werden wir eine Methode kennenlernen, differenzierbare Funk-tionen

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VII.1. Taylorentwicklung 143

VII. Taylorreihen

In diesem Kapitel werden wir eine Methode kennenlernen, differenzierbare Funk-tionen lokal durch Polynome zu approximieren. Im gleichen Sinne wie die Dif-ferenzierbarkeit einer Funktion es erlaubt, sie lokal durch eine affine Funktionanzunahern, werden wir sehen, dass die n -malige Differenzierbarkeit die lokaleApproximierbarkeit durch Polynome n -ten Grades liefert. Die Methoden diesesAbschnitts sind eine zentrale Grundlage fur viele Anwendungen der Analysis,da sie es erlauben, mit Naherungen zu rechnen, wenn die exakten Formeln zukompliziert werden.

In diesem Abschnitt steht D immer fur ein Intervall in R , das mindestenszwei Punkte enthalt.

VII.1. Taylorentwicklung

Um die Grundidee der Taylorentwicklung zu verstehen, betrachten wir zunachsteine Polynomfunktion f(x) =

∑nk=0 ak(x−p)k auf R . Durch m -faches Ableiten

erhalten wir

f [m](x) =n∑

k=0

ak · k(k − 1)(k − 2) · · · (k −m+ 1) · (x− p)k−m

=n∑

k=m

ak

(k

m

)m! · (x− p)k−m.

Insbesondere ist f [m](p) = am ·m! . Daher ist

(1.1) f(x) =n∑

k=0

f [k](p)k!

(x− p)k.

Diese Formel zeigt insbesondere, dass jedes Polynom vom Grade ≤ n eindeutigdurch seine Ableitungen bis zur Ordnung n im Punkte p bestimmt ist.Beachte: Dass wir das Polynom f direkt in der Gestalt f(x) =

∑nk=0 ak(x−p)k

geschrieben haben, stellt keine Einschrankung der Allgemeinheit dar. Denn ist

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144 VII. Taylorreihen 31. Oktober 2007

zunachst f(x) =∑n

k=0 bkxk , so erhalten wir

f(x) =n∑

k=0

bk((x− p) + p

)k =n∑

k=0

bk

k∑j=0

(k

j

)(x− p)j · pk−j

=n∑

j=0

(n∑

k=0

bk

(k

j

)pk−j

)(x− p)j .

Jedes Polynom in x lasst sich also auch als Polynom in x− p schreiben.

In diesem Abschnitt werden wir uns mit dem Problem beschaftigen, zueiner n -mal differenzierbaren Funktion f : D → R ein Polynom vom Grade nzu finden, das sich in einem Punkt p ∈ D moglichst gut an f anschmiegt. DieFormel (1.1) zeigt uns, wie wir das zu tun haben.

Definition VII.1.1. Sei f : D → R eine n -mal differenzierbare Funktionund p ∈ D . Dann heißt

Tnp (f)(t) :=

n∑k=0

f [k](p)k!

tk

das n-te Taylorpolynom von f bei p. Ist f in einer Umgebung von p beliebig oftdifferenzierbar, so heißt die Potenzreihe

T∞p (f)(t) :=∞∑

k=0

f [k](p)k!

tk

die Taylorreihe von f bei p.

Bemerkung VII.1.2. Das n -te Taylorpolynom Tnp (f) ist das eindeutig

bestimmte Polynom vom Grad ≤ n mit

Tnp (f)[k](0) = f [k](p) fur k = 0, . . . , n.

Dies bedeutet, dass die Ableitungen bis zur Ordnung n des Restgliedes

rn(x) := f(x)− Tnp (f)(x− p)

in p verschwinden. Fur n = 1 ist

T 1p (f)(x− p) = f(p) + (x− p) · f ′(p)

diejenige affine Funktion, die sich in p am besten an f in dem Sinne anschmiegt,dass sie in p den gleichen Wert und die gleichen Ableitungen bis zur Ordnung nbesitzt.

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VII.1. Taylorentwicklung 145

Definition VII.1.3. rn(x) := f(x) − Tnp (f)(x − p) heißt das n-te Restglied

von f bei p. Beachte, dass fur k = 0, . . . , n die Beziehung r[k]n (p) = 0 gilt.

Satz von Taylor—Taylorformel

Satz VII.1.4. Seien n ∈ N0 und f eine (n + 1)-mal stetig differenzierbareFunktion f : D → R sowie p, x ∈ D . Dann gilt

f(x) = Tnp (f)(x− p) + rn(x) mit rn(x) =

1n!

∫ x

p

(x− t)n · f [n+1](t) dt.

Beweis. Es ist nur die Integraldarstellung des Restglieds rn(x) zu beweisen.Zunachst ist r[k]

n (p) = 0 fur k = 0, . . . , n , und wegen(Tn

p

)[n+1] ≡ 0 ist r[n+1]n =

f [n+1] . Wir berechnen das Integral durch partielle Integration:∫ x

p

(x− t)nf [n+1](t) dt =∫ x

p

(x− t)nr[n+1]n (t) dt

=[(x− t)n · r[n]

n (t)]x

p+∫ x

p

n(x− t)n−1r[n]n (t) dt.

Ist n > 0, so ist (x− x)n = 0 und r[n]n (p) = 0, also∫ x

p

(x− t)nr[n+1]n (t) dt = n

∫ x

p

(x− t)n−1r[n]n (t) dt.

Induktiv erhalten wir:∫ x

p

(x− t)n · r[n+1]n (t) dt = n!

∫ x

p

r′n(t) dt = n!(rn(x)− rn(p)

)= n!rn(x).

Bemerkung VII.1.5. Fur n = 0 liefert der Taylorsche Satz VII.1.4

f(x) = f(p) +∫ x

p

f ′(t) dt,

was wir schon aus dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung kennen.

Die einfachste Darstellung des Restglieds ist die folgende. Sie ist fur vieleAbschatzungen sehr wichtig.

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146 VII. Taylorreihen 31. Oktober 2007

Restglieddarstellung nach Lagrange

Satz VII.1.6. Mit den Bezeichnungen und Voraussetzungen aus VII.1.4 ex-istiert ein ξ zwischen x und p mit

rn(x) =(x− p)n+1

(n+ 1)!f [n+1](ξ).

Beweis. Sei zunachst p ≤ x . Nach dem Mittelwertsatz der IntegralrechnungVI.1.14 existiert ein ξ ∈ [p, x] mit

rn(x) =1n!

∫ x

p

(x− t)n︸ ︷︷ ︸≥0

f [n+1](t) dt = f [n+1](ξ) · 1n!

∫ x

p

(x− t)n dt

= f [n+1](ξ) · (x− p)n+1

(n+ 1)!.

Fur x < p ist (t − x)n ≥ 0 und somit der Mittelwertsatz der Integralrechnungauch anwendbar.

Beachte: Das Lagrange-Restglied hat dieselbe Gestalt wie alle anderen Gliederdes Taylorpolynoms, nur dass f [n+1] nicht an p sondern in ξ ausgewertet wird.

Bemerkung VII.1.7. Unter den Voraussetzungen von Satz VII.1.4 folgtdirekt aus Satz VII.1.6 wegen der Stetigkeit von f [n+1] in p :

limx→p

rn(x)(x− p)n+1

=f [n+1](p)(n+ 1)!

.

Die Abbildung

ψ(x) :=

rn(x)

(x− p)n+1, falls x 6= p

f [n+1](p)(n+ 1)!

, falls x = p

ist also stetig und es gilt

f(x) = Tnp (f)(x− p) + (x− p)n+1ψ(x).

Beachte, dass dies fur n = 1 analog zur Definition der Differenzierbarkeit ist(vgl. Lemma V.1.5).

Der folgende Satz ist eine Verscharfung der Restglieddarstellung von La-grange, denn hier wird f [n+1] nicht als stetig vorausgesetzt und θx liegt imoffenen Intervall ] 0, 1 [.

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VII.1. Taylorentwicklung 147

Satz VII.1.8. (Verscharfte Restglieddarstellung von Lagrange) Die Funktion fsei im Intervall [p, p+x] mindestens (n+1)-mal differenzierbar. Dann existiertein θx ∈ ] 0, 1 [ mit

f(p+ x) = Tnp (f)(x) +

f [n+1](p+ θx · x)(n+ 1)!

xn+1.

Beweis. Wir wenden den allgemeinen Mittelwertsatz (Satz V.3.1) mit

r(x) = f(p+ x)− Tnp (f)(x) und g(x) = xn+1

an. Wir erhalten hiermit induktiv

r(x)xn+1

=r′(θ1x)

(n+ 1)(θ1x)n=

r′′(θ1θ2x)(n+ 1)n(θ1θ2x)n−1

= . . . =r[n+1](θ1 . . . θn+1x)

(n+ 1)!=f [n+1](p+ θx · x)

(n+ 1)!

mit θx := θ1 · · · θn+1 ∈ ] 0, 1 [.

Beispiel VII.1.9. Die Taylorentwicklung kann man insbesondere zur effizien-ten Berechnung von Grenzwerten verwenden. Wir diskutieren hierzu ein Beispiel.Gesucht sei limx→0

1−cos xx2 .

Setze f(x) := 1− cosx . Dann ist f(0) = 0 = f ′(0) und f ′′(0) = cos 0 = 1.Es folgt f(x) = 1 − cosx = 1

2x2 + x3 · ψ(x) mit einer stetigen Funktion ψ

(Folgerung VII.1.7). Also ist

limx→0

f(x)x2

=12

+ limx→0

xψ(x) =12

+ 0 · ψ(0) =12

Das Konvergenzverhalten von Taylorreihen ist in der Regel sehr schlecht.Ist f in einer Umgebung von p beliebig oft differenzierbar, so muß die Taylorreihe

(T∞p f

)(x− p) =

∞∑k=0

f [k](p)k!

(x− p)k

trotzdem nicht konvergieren. Und wenn sie konvergiert, so muß sie nicht gegenf(x) konvergieren! Man betrachte hierzu die Taylorreihe T∞0 (f) der Funktionf ∈ C∞(R) aus Bemerkung V.2.10. In diesem Fall verschwindet die Taylorreihe,aber trotzdem ist f(x) > 0 fur alle x > 0. Der folgende Satz von Borel zeigtsogar, dass jede Folge als Koeffizientenfolge einer Taylorreihe auftreten kann.Satz von Borel: Fur jede Folge reeller Zahlen (an)n∈N existiert eine Funktionf ∈ C∞(R) mit f [n](0) = n!an fur alle n ∈ N .

Fur den Beweis verweisen wir auf Satz 4.5 in Th. Brocker’s ”Analysis I“.Der folgende Satz zeigt wenigstens, dass Funktionen, die durch konvergentePotenzreihen dargestellt werden, mit ihrer Taylorreihe ubereinstimmen.

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148 VII. Taylorreihen 31. Oktober 2007

Satz VII.1.10. Ist f in einer Umgebung von p durch eine konvergente Potenz-reihe dargestellt, so stimmt diese mit der Taylorreihe von f in p uberein.

Beweis. Ist f(x) =∑∞

k=0 ak(x− p)k fur |x− p| < r , so ist gemaß Satz VI.3.5:

f [n](x) =∞∑

k=n

ak · k · (k − 1) · · · (k − n+ 1) · (x− p)k−n,

also f [n](p) = n! an und somit an = f [n](p)n! .

Satz VII.1.11. Sei f auf D beliebig oft differenzierbar und M > 0 mit

supx∈D |f [n](x)| ≤M fur alle n ∈ N.

Dann giltf(x) = T∞p (f)(x− p)

fur alle x ∈ D , d.h., die Funktion f wird durch ihre Taylorreihe dargestellt.

Beweis. Mit Satz VII.1.6 erhalten wir

|rn(x)| = |x− p|n+1

(n+ 1)!

∣∣fn+1(ξ)∣∣ ≤M · |x− p|n+1

(n+ 1)!→ 0,

da e|x−p| =∑∞

n=01n! |x− p|n konvergiert. Also gilt

f(x) = limn→∞

Tnp (f)(x− p) = T∞p (f)(x− p).

Beispiel VII.1.12. (1) Fur f(x) = cos(x) gilt

f [4n](x) = cosx, f [4n+1](x) = − sinx

undf [4n+2](x) = − cosx und f [4n+3](x) = sinx.

Die Voraussetzungen von Satz VII.1.11 sind also erfullt, und wir haben fur allex ∈ R :

cosx = T∞0 (cos)(x) =∞∑

n=0

cos[n](0)n!

xn =∞∑

n=0

cos[2n](0)2n!

x2n =∞∑

n=0

(−1)n

(2n)!x2n.

(2) Analog deutet man die Reihenentwicklung der Sinusfunktion:

sinx =∞∑

n=0

(−1)n

(2n+ 1)!x2n+1.

Satz VII.1.13. (Die binomische Reihe) Fur |x| < 1 und α ∈ R gilt

(1 + x)α =∞∑

k=0

k

)xk mit

k

)=α(α− 1) · · · (α− k + 1)

k!.

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VII.1. Taylorentwicklung 149

Beweis. Fur ak :=(αk

)xk ist ak+1 = α−k

k+1 xak. Wegen∣∣∣α−k

k+1 x∣∣∣ → |x| folgt die

Konvergenz der Reihe fur |x| < 1 aus dem Quotientenkriterium. Wir setzenf(x) :=

∑∞k=0

(αk

)xk fur |x| < 1. Dann ist f gliedweise differenzierbar (Satz

VI.3.5), also gilt

(1 + x) · f ′(x) = (1 + x)∞∑

k=1

k

)k · xk−1

= (1 + x)∞∑

k=1

α(α− 1) · · · (α− k + 1)(k − 1)!

xk−1

= α(1 + x)∞∑

k=1

(α− 1k − 1

)xk−1

= α

( ∞∑k=0

(α− 1k

)xk +

∞∑k=1

(α− 1k − 1

)xk

)

= α

(1 +

∞∑k=1

((α− 1k

)+(α− 1k − 1

))xk

)

= α

(1 +

∞∑k=1

k

)xk

)= α · f(x).

Wir erhalten (1 + x) · f ′(x) = α · f(x). Weiter ist f(0) = 1 = (1 + 0)α . Furg(x) := f(x)

(1+x)α gilt daher g(0) = 1 und

g′(0) =f ′(x)(1 + x)α − α(1 + x)α−1f(x)

(1 + x)2α

=αf(x)(1 + x)α−1 − αf(x)(1 + x)α−1

(1 + x)2α= 0.

Die differenzierbare Funktion g ist also auf dem Intervall D =]−1, 1[ konstant 1.Daher gilt f(x) = (1 + x)α fur |x| < 1.

Beachte: Ist α ∈ N0 , so ist (1 + x)α ein Polynom. Die Reihe bricht nach dem(α+ 1)-ten Glied ab, da

(αk

)= 0 fur k > α gilt. Spezialfalle sind:

• 11 + x

= (1 + x)−1 =∞∑

n=0

(−1n

)xn =

∞∑n=0

(−1)nxn = 1− x+ x2 − x3 + . . .

• 1(1 + x)2

= (1 + x)−2 =∞∑

n=0

(−2n

)xn =

∞∑n=0

(−1)n(n+ 1)xn

•√

1 + x =∞∑

n=0

( 12

n

)xn = 1 +

12x− 1

2 · 4x2 +

1 · 32 · 4 · 6

x3− 1 · 3 · 52 · 4 · 6 · 8

x4± . . . ,

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150 VII. Taylorreihen 31. Oktober 2007

denn( 12

n

)=

12 · (

12 − 1) · · · ( 1

2 − n+ 1)n!

= (−1)n−1 (n− 32 )(n− 5

2 ) · · · 32 ·

12 ·

12

n!

= (−1)n−1 12n

(2n− 3)(2n− 5) · · · 3 · 1n!

= (−1)n−1 (2n− 3)(2n− 5) · · · 3 · 1(2n)(2n− 2)(2n− 4) · · · 2

Man erhalt aus der obigen Diskussion eine brauchbare Naherungsformel furdie Wurzelfunktion:

√1 + x ≈ 1 +

x

2fur ”kleine“ x.

Insbesondere in der Speziellen Relativitatstheorie werden oft Naherungendes Typs (

1− v2

c2

)− 12 ≈ 1 +

12v2

c2

verwendet.

Beispiel VII.1.14. Fur die Funktion arcsin : [−1, 1] → [−π2 ,

π2 ] erhalten wir

fur |x| < 1:

arcsin′(x) =1√

1− x2= (1− x2)−

12 =

∞∑n=0

(− 1

2

n

)(−1)nx2n =

∞∑n=0

(n− 1

2

n

)x2n.

Wegen arcsin(0) = 0 erhalten wir aus Satz VI.3.2 damit die Entwicklung

arcsinx =∞∑

n=0

(n− 1

2

n

)1

2n+ 1x2n+1.

Und wegen(n− 1

2

n

)1

2n+ 1=

(n− 12 )(n− 3

2 ) · · · 12

n(n− 1) · · · 2 · 11

2n+ 1=

(2n− 1)(2n− 3) · · · 3 · 1(2n+ 1)(2n)(2n− 2) · · · 4 · 2

istarcsinx = x+

12 · 3

x3 +1 · 3

2 · 4 · 5x5 +

1 · 3 · 52 · 4 · 6 · 7

x7 + · · · .

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VII.2. Rechnen mit Taylorreihen 151

VII.2. Rechnen mit Taylorreihen

Fur eine Funktion f : D → R mit 0 ∈ D , die im Nullpunkt mindestens n -maldifferenzierbar ist, setzen wir Tn(f) := Tn

0 (f) (das n -te Taylorpolynom in 0).Ist f beliebig oft differenzierbar, so setzen wir T (f) := T∞0 (f).

Die allgemeine Produktregel/Leibnizformel

Satz VII.2.1. Sind f und g beide n-mal differenzierbare Funktionen auf D ⊆R , so gilt

(f · g)[n] =n∑

k=0

(n

k

)f [k] · g[n−k].

Beweis. Ubung.

Satz VII.2.2. Sind f und g im Nullpunkt mindestens n-mal differenzierbar,so gelten

(1) Tn(f + g) = Tn(f) + Tn(g) und(2) Tn(f · g) = Tn

(Tn(f) · Tn(g)

).

Beweis. (1) Dies folgt sofort aus (f+g)[k](0) = f [k](0)+g[k](0) fur 0 ≤ k ≤ n .(2) Es gilt

Tn(f)(x) Tn(g)(x)

=n∑

k=0

f [k](0)k!

xkn∑

l=0

g[l](0)l!

xl

=∑

k+l≤n

f [k](0)k!

g[l](0)l!

xk+l +2n∑

m=n+1

. . .︸ ︷︷ ︸Terme hoherer Ordnung

=n∑

m=0

1m!

(m∑

k=0

(m

k

)f [k](0) · g[m−k](0)

)· xm +

2n∑m=n+1

. . .︸ ︷︷ ︸Terme hoherer Ordnung

Mit der allgemeinen Produktregel (Satz VII.2.1) erhalten wir also

Tn(Tn(f) · Tn(g)

)(x) =

n∑m=0

1m!

(f · g)[m](0) · xm = Tn(f · g)(x).

Anschaulich bedeutet Teil (2) des vorigen Satzes, dass man das Taylor-polynom von f · g erhalt, indem man die Taylorpolynome Tn(f) und Tn(g)

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152 VII. Taylorreihen 31. Oktober 2007

multipliziert und anschließend alle Terme der Ordnung ≥ n + 1 weglasst: FurTn

p (f)(x) =∑n

k=01k!f

[k](p)xk und Tnp (g)(x) =

∑nk=0

1k!g

[k](p)xk ist

Tnp (f · g)(x) =

n∑m=0

1m!

(m∑

k=0

(m

k

)f [k](p) · g[m−k](p)

)· xm

=n∑

m=0

(m∑

k=0

f [k](p)k!

g[m−k](p)(m− k)!

)· xm.

Beispiel VII.2.3. (a) Gesucht ist die Taylorreihe von

x 7→ log(1 + x)1 + x

in p = 0. Fur |x| < 1 haben wir schon gesehen, dass

log(1 + x) =∞∑

k=1

(−1)k xk

kund

11 + x

=∞∑

k=0

(−1)kxk (geometrische Reihe)

gilt, wobei die Reihen absolut konvergieren. Wegen Satz VII.2.1 und der abso-luten Konvergenz der Reihen, durfen wir die Taylorreihe des Produktes mit derCauchy-Produktformel berechnen und erhalten daher

log(1 + x)1 + x

=∞∑

n=0

(n∑

k=0

(−1)k+1

k(−1)n−k

)· xn =

∞∑n=0

(−1)n+1

(n∑

k=0

1k

)· xn.

(b) Hat die Funktion f(x) := x(1 + x − cosx) ein Extremum am Nullpunkt?Hierzu berechnen wir das Taylorpolynom zweiter Ordnung von f .

Fur g(x) = 1 + x − cosx ist T0(g)(x) = 1 + x −∑∞

k=0(−1)k

(2k)! x2k , also

T 20 (g)(x) = x+ x2

2 . Ferner ist T 20 (h)(x) = x fur h(x) = x . Durch Zusammenset-

zen erhalt man

T 20 (f)(x) = T 2

0 (g · h)(x) = T 20

(T 2

0 (g) · T 20 (h)

)(x) = x2,

da (x + x2

2 )x = x2 + x3

2 . Man erkennt also, dass f(0) = 0 = f ′(0) undf ′′(0) = 2 > 0 ist, so dass f im Nullpunkt ein isoliertes Minimum besitzt.

Beispiel VII.2.4. (Methode der unbestimmten Koeffizienten) Genugt eineFunktion f einer Gleichung oder einer Differentialgleichung (dies ist eine Glei-chung, in der auch Ableitungen von f vorkommen), so kann man f als Potenzrei-he∑∞

n=0 anxn ansetzen und bestimmt hieraus die Koeffizienten an , soweit dies

moglich ist. Danach bestimmt man den Konvergenzbereich der so erhaltenenPotenzreihe.

(a) Gesucht ist die Taylorentwicklung des Tangens im Nullpunkt. Wirhaben die Differentialgleichung tan′ = 1 + tan2 ; ferner wissen wir tan(0) = 0.

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VII.2. Rechnen mit Taylorreihen 153

Wir machen nun den Ansatz f(x) =∑∞

n=0 anxn mit f(0) = 0 und f ′ = 1 + f2 .

Aus f(0) = 0 erhalten wir a0 = 0. Durch gliedweises Ableiten erhalten wirweiter

f ′(x) =∞∑

n=1

n · an · xn−1 =∞∑

n=0

(n+ 1)an+1xn.

Die rechte Seite der Differentialgleichung f ′ = 1 + f2 liefert

1 + f(x)2 = 1 +∞∑

n=0

(n∑

k=0

ak · an−k

)· xn.

Falls f der Differentialgleichung genugt, mussen diese beiden Reihen uberein-stimmen, weswegen wir einen Koeffizientenvergleich fur die an anstellen konnen.Wir erhalten fur n = 0 die Beziehung a1 = 1 + a2

0 = 1 und ferner eineRekursionsgleichung fur die Koeffizienten mit hoherem Index:

an+1 =1

n+ 1

n−1∑k=1

ak · an−k fur n ≥ 1.

Die sechs ersten Koeffizienten errechnen sich mit Hilfe dieser Rekursionsgleichungzu

a0 = 0, a1 = 1, a2 = 12 (a0a1 + a1a0) = 0, a3 =

13(a0a2 + a2

1 + a2a0) =13,

a4 = 0, a5 =15(a1a3 + a3a1) =

215.

Wir stellen nun zwei Behauptungen auf.(1) Es gilt a2n = 0 fur alle n ∈ N .Dies zeigt man durch Induktion: Wir wissen schon, dass a0 = 0 ist. Fur

n ≥ 0 ist

a2n+2 =1

2n+ 2

2n∑k=1

ak · a2n+1−k.

Ist in dieser Summe der Index k ungerade, so ist 2n+1−k gerade und umgekehrt.Damit ist die ganze Summe 0, da nach der Induktionsannahme a2k = 0 fur allek = 0, . . . , n− 1 gilt.

(2) Fur alle n ∈ N gilt 0 ≤ an ≤ 1.Aus der Rekursionsformel folgt sofort 0 ≤ an fur alle n ; speziell ist

0 ≤ a0 ≤ 1. Ist nun 0 ≤ ak ≤ 1 fur k = 0, . . . , n , so folgt auch

an+1 =1

n+ 1

n−1∑k=0

akan−k ≤1

n+ 1

n−1∑k=0

1 =n

n+ 1≤ 1.

Damit ist insbesondere auch lim n→∞n√|an| ≤ 1 und somit der Konvergenzradius

der Reihe ≥ 1. Wir erhalten also eine Funktion f : ]− 1, 1[ → R durch f(x) =

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154 VII. Taylorreihen 31. Oktober 2007∑∞k=0 anx

n . Gemaß unserer Konstruktion ist f(0) = 0 und f ′ = 1 + f2 ≥ 1(Satz VI.3.2). Damit ist f streng monoton wachsend, also f : ] − 1, 1[ →f( ]−1, 1[ ) umkehrbar mit differenzierbarer Umkehrfunktion f−1 : f( ]−1, 1[ ) →]− 1, 1[, und es gilt

(f−1

)′(x) =

1f ′(f−1(x))

=1

1 + f(f−1(x))2=

11 + x2

.

Wegen f−1(0) = 0 ist damit f−1(x) =∫ x

0dt

1+t2 = arctanx und folglich f(x) =tanx fur |x| < 1. Wir haben also gesehen, dass sich die Tangensfunktion aufdem Intervall ]− 1, 1[ durch eine Potenzreihe

tanx =∞∑

n=1

anxn

darstellen lasst. Die Koeffizienten erhalt man aus der obigen Rekursionsformel.(b) Wir betrachten die Funktion

f : R → R, x 7→

ex−1x , falls x 6= 0

1, sonst.

Fur x 6= 0 ist also

f(x) =ex − 1x

=1x

∞∑n=1

1n!xn =

∞∑n=1

1n!xn−1 =

∞∑n=0

xn

(n+ 1)!

und ebense f(0) = 11! = 1. Also ist f auf ganz R durch eien konvergente

Potenzreihe darstellbar und daher beliebig oft differenzierbar (Satz VI.3.2).Fur alle x ∈ R ist f(x) 6= 0, und folglich ist

g(x) :=1

f(x)=

xex−1 , falls x 6= 01, sonst

eine beliebig oft differenzierbare Funktion. Wir setzen nun fur die Funktion gwie oben eine Potenzreihe an:

T0(g)(x) =∞∑

n=0

βn

n!xn.

Die Koeffizienten βn = g[n](0) heißen Bernoulli-Zahlen.Die Gleichung g(x)f(x) = 1 liefert g(x)(ex−1) = x , also T0(g)·T0(ex−1) =

x , das heißtn−1∑k=0

βk

k!1

(n− k)!=

1, n = 10, sonst.

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VII.2. Rechnen mit Taylorreihen 155

Somit ergibt sich β0 = g(0) = 1. Fur n ≥ 2 erhalt man aus der Summe eineRekursionsgleichung fur βn−1 :

βn−1 = −(n− 1)!n−2∑k=0

βk

k!1

(n− k)!.

Damit konnen wir weitere Bernoulli-Zahlen berechnen:

β1 = −β0

2= −1

2, β2 = −2!

(13!− 1

2 · 2!

)= −2

(16− 1

4

)=

12− 1

3=

16

und

β4 = −4!(

15!− 1

2 · 4!+

16 · 2! 3!

)= −

(15− 1

2+

13

)= − 1

30.

Fur alle k ∈ N gilt β2k+1 = 0: Hierzu betrachten wir die um β1x modifizierteFunktion g .

g(x) + 12x =

x

ex − 1+ 1

2x =x ·(1 + 1

2 (ex − 1))

ex − 1

=x

2ex + 1ex − 1

=x

2e

x2 (e

x2 + e−

x2 )

ex2 (e

x2 − e−

x2 )

=x

2cosh(x

2 )sinh(x

2 ).

Hierbei sind die Funktionen sinh und cosh jeweils definiert durch

cosh(x) =ex + e−x

2und sinh(x) =

ex − e−x

2.

Wir schließen hieraus, dass g(x) + 12x eine gerade Funktion ist. Also gilt

g[2k+1](0) = β2k+1 = 0 fur alle k ∈ N0.

Bemerkung VII.2.6. Es gilt

tanx =∞∑

n=1

22n(22n − 1)(2n)!

(−1)n+1β2nx2n−1 fur |x| < π

2.

Die Bernoullizahlen liefern also auch die Entwicklung der Tangensfunktion (sogarfur |x| < π

2 ).

Wir wenden uns nun einer Verallgemeinerung der Kettenregel zu. Die Ket-tenregel macht eine Aussage uber die Ableitung einer Komposition von Funktio-nen: (

g f)′ = (g′ f) · f ′

Die Ableitung einer Funktion bekommt man aus ihrem Taylorpolynom ersterOrdnung. Man kann die Kettenregel wie folgt mit Taylorpolynomen schreiben:

T 1p (g f) = T 1

f(p)(g) · T1p (f).

Diese Regel lasst sich verallgemeinern.

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156 VII. Taylorreihen 31. Oktober 2007

Allgemeine Kettenregel

Satz VII.2.7. Gegeben seien n-mal differenzierbare Funktionen

f : D → B ⊆ R, g : B → R

und ein Punkt p ∈ D mit f(p) = q . Dann gilt

Tnp (g f) = Tn

0

(Tn

q (g) (Tnp (f)− q)

).

Beweis. Ersetzen wir f durch x 7→ f(p + x) − q und g durch x 7→ g(x + q),so durfen wir p = q = 0 annehmen. Fur den Spezialfall, dass g(y) =

∑n`=0 a`y

`

eine Polynomfunktion vom Grad ≤ n ist, liefert Satz VII.2.2(2)

Tn0 (g f) =

n∑`=0

a` · Tn0 (f `) =

n∑`=0

aj · Tn0

(Tn

0 (f)`)

= Tn0

(n∑

`=0

a` · Tn0 (f)`

)= Tn

0

(g Tn

0 (f))

= Tn0

(Tn

0 (g) Tn0 (f)

),

da g = Tn0 (g)) ist. Fur eine allgemeine Funktion g setzen wir g := g − Tn

0 (g).Dann ist Tn

0 (g) eine Polynomfunktion vom Grad ≤ n , und wir erhalten

Tn0 (g f) = Tn

0

(Tn

0 (g) f)

+ Tn0 (g f) = Tn

0

(Tn

0 (g) Tn0 (f)

)+ Tn

0 (g f).

Wir behaupten nun, dass Tn0 (g f) = 0 ist. Dies zeigen wir, indem wir durch

Induktion nach k nachweisen, dass aus h[j](0) = 0 fur j = 0, 1, . . . , k ≤ n dieBeziehung T k

0 (h f) = 0 folgt. Diese Aussage konnen wir dann auf h = ganwenden.

(A) Fur k = 0 ist T 00 (h f)(0) = h(f(0)) = h(0) = 0.

(S) k → k + 1: Fur k < n haben wir(h f

)[k+1](0) =((h f)′

)[k](0) =((h′ f) · f ′

)[k](0)

=k∑

m=0

(k

m

)(h′ f

)[m](0)︸ ︷︷ ︸=0

·f [k+1−m](0),

denn wir konnen die Induktionsvoraussetzung auf die Funktion h′ anwenden,deren Ableitungen bis zur Ordnung k in 0 verschwindet. Damit ist(

h f)[k+1](0) = 0.

Die Induktion zeigt jetzt, dass(hf

)[k](0) = 0 fur alle k = 0, . . . , n gilt, folglichTn

0 (h f) = 0. Wir haben also

Tn0 (g f) = Tn

0

(Tn

0 (g) Tn0 (f)

)gezeigt.

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VII.2. Rechnen mit Taylorreihen 157

Beispiel VII.2.8. Wie berechnet man die dritte Ableitung von g f ? Manschreibt T 3

q (g)(y) = a0 + a1y + a2y2 + a3y

3 , wobei aj = g[j](q)j! ist, und

T 3p (f)(x)− q = b1x+ b2x

2 + b3x3 mit bj =

f [j](p)j!

.

Die gerade bewiesene Aussage entspricht dann

T 3p (g f) = T 3

0

(T 3

q (g) (T 3p (f)− q)

).

Den Term dritter Ordnung erhalt man durch Einsetzen:

a1b3 + 2a2b1b2 + a3b31 =

(g f)′′′(p)3!

.

Die allgemeine Formel lautet:

(g f)′′′(p) = g′(q)f ′′′(p) + 3g′′(q)f ′(p)f ′′(p) + g′′′(q)(f ′(p)

)3.

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158 VIII. Uneigentliche Integrale 31. Oktober 2007

VIII. Uneigentliche Integrale

In diesem Abschnitt werden wir die Integration verwenden, um die Konvergenzvon Reihen zu untersuchen. Hierbei wird sich eine interessante Analogie zwischenunendlichen Reihen und den sogenannten uneigentlichen Integralen zeigen. Ausdieser Korrespondenz lassen sich sehr feine Resultate uber das Konvergenzver-halten von Reihen gewinnen, da uns nun der Kalkul der Differentialrechnung zurVerfugung steht.

Definition VIII.1. Sei a ∈ R und b ∈ ]a,∞] . Weiter sei f : [a, b[ → R eineFunktion, sodass fur alle x ∈ [a, b[ die Einschrankung f|[a,x] Riemann-integrabelist. Falls er existiert, heißt der Grenzwert∫ b

a

f(t)dt := limx→bx<b

∫ x

a

f(t) dt

das uneigentliche Integral von f auf [a, b[ . Die Integrale F (x) :=∫ x

af(t) dt heißen

Partialintegrale (analog zu den Partialsummen von Reihen). Analog definiertman uneigentliche Integrale fur a ∈ R ∪ −∞ , wenn f auf allen Intervallen[x, b] , x ∈]a, b] Riemann-integrabel ist.

Bemerkung VIII.2. Ist F : [a, b[ → R stetig differenzierbar, so ist nach demHauptsatz der Differential- und Integralrechnung F (x)−F (a) =

∫ x

aF ′(t) dt . Die

Existenz des uneigentlichen Integrals∫ b

aF ′(t) dt ist also aquivalent zur Existenz

des Grenzwerts limxb F (x).

Der folgende Satz zeigt, dass wir Reihen als eine spezielle Form von un-eigentlichen Integralen ansehen durfen.

Satz VIII.3. Ist∑∞

k=0 ak eine Reihe, so definieren wir

f : [0,∞[ → R, t 7→ ak fur k ≤ t < k + 1.

Die Reihe∑∞

k=0 ak konvergiert genau dann, wenn das uneigentliche Integral∫∞0f(t) dt existiert. In diesem Fall sind beide Werte gleich.

Beweis. Fur F (x) :=∫ x

0f(t) dt und n ≤ x < n+ 1 ist

F (x) =∫ n

0

f(t) dt+∫ x

n

f(t) dt =n−1∑k=0

ak + (x− n) · an.

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VIII. Uneigentliche Integrale 159

Insbesondere ist F (n) =∑n−1

k=0 ak . Existiert nun das uneigentliche Integral∫∞0f(t) dt , so existiert auch

∞∑k=0

ak = limn→∞

F (n) =∫ ∞

0

f(t) dt.

Konvergiert andererseits die Reihe∑∞

k=0 ak , so ist fur ausreichend große n ∈ Nund x ∈ [n, n+ 1[:∣∣∣∣∣F (x)−

∞∑k=0

ak

∣∣∣∣∣ =∣∣∣∣∣(x− n)an −

∞∑k=n

ak

∣∣∣∣∣ ≤ |an|+

∣∣∣∣∣∞∑

k=n

ak

∣∣∣∣∣ < ε.

Wegen obiger Bemerkung verwundert es nicht, dass sich einige Konver-genzsatze fur Reihen auf uneigentliche Integrale ubertragen lassen.

Satz uber die monotone Konvergenz

Satz VIII.4. Ist f ≥ 0 und f |[a,x] ∈ Rxa fur alle x ∈ [a, b[ , so existiert das

uneigentliche Integral∫ b

af(t) dt genau dann, wenn die Funktion F : [a, b[ →

R, x 7→∫ x

af(t) dt beschrankt ist.

Beweis. Wir setzen s := supF ([a, b[) . Wir nehmen zuerst s <∞ an. Da dasPartialintegral F monoton wachst (beachte f ≥ 0) und fur ein x ∈ [a, b[ dieBeziehung F (x) > s− ε gilt, erhalten wir F (y) > s− ε fur alle y ∈ [x, b[ . Alsoist |s− F (y)| < ε fur alle y ∈ [x, b[ . Hieraus folgt limx→b F (x) = s .

Ist s = ∞ , so folgt analog limx→b F (x) = ∞ , d.h., das uneigentlicheIntegral

∫ b

af(t) dt existiert nicht.

Majorantenkriterium

Satz VIII.5. Ist 0 ≤ f ≤ g und existiert das uneigentliche Integral∫ b

ag(t) dt ,

so existiert auch∫ b

af(t) dt .

Beweis. Dies folgt wegen∫ x

af ≤

∫ x

ag ≤

∫ b

ag aus Satz VIII.4.

Beispiel VIII.6. Sei a = 1, b = ∞ und f(x) = x−α mit α > 0. Dann ist

F (x) =∫ x

1

t−α dt =

1−x1−α

α−1 , falls α 6= 1log x, falls α = 1.

Fur α < 1 ist 1 − α > 0 und folglich limx→∞ x−α+1 = ∞ , d.h.∫∞1t−α dt

existiert nicht. Fur α = 1 existiert∫∞1

dtt ebenfalls nicht, da limx→∞ log x = ∞ .

Fur α > 1 jedoch ist 1 − α < 0 und daher limx→∞ x−α+1 = 0. In diesem Fallexistiert das Integral, und es gilt fur α > 1:∫ ∞

1

dt

tα=

1α− 1

.

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160 VIII. Uneigentliche Integrale 31. Oktober 2007

Man beachte, dass diese Rechnung viel einfacher war als diejenige, die wirgemacht haben, um die Reihen

∑∞n=1

1nα auf Konvergenz zu untersuchen. Man

sieht also, dass der Kalkul der Differential- und Integralrechnung vieles einfachermacht. Wie man Ergebnisse uber Reihen aus solchen fur uneigentliche Integraledirekt gewinnen kann, zeigt der folgende Satz:

Satz VIII.7. Sei f : [1,∞[ → R eine nichtnegative monoton fallende Funktion.Dann ist die Folge (an)n∈N mit

an :=n∑

k=1

f(k)−∫ n+1

1

f(t) dt

nicht negativ, monoton wachsend, und sie konvergiert mit

0 ≤ limn→∞

an ≤ f(1).

Insbesondere konvergiert das uneigentliche Integral∫∞1f(t) dt genau dann, wenn

die Reihe∑∞

k=1 f(k) konvergiert.

Beweis. Da f monoton fallend ist, ist f | [1,x] fur alle x ≥ 1 integrabel(vgl. Satz VI.1.10). Aus der Monotonie ergibt sich

(7.1) f(k + 1) ≤∫ k+1

k

f(t) dt ≤ f(k).

Also ist insbesondere ak − ak−1 ≥ 0 und mit a0 = 0 sehen wir, dass die Folge(ak) nichtnegativ und monoton wachsend ist. Weiter erhalten wir aus (7.1) durchSummation

an ≤n∑

k=1

f(k)−n+1∑k=2

f(k) = f(1)− f(n+ 1) ≤ f(1).

Aus dem Satz von der monotonen Konvergenz folgt nun, dass limn→∞ an exi-stiert. Die Beziehung

0 ≤ limn→∞

an ≤ f(1)

folgt aus 0 ≤ an ≤ f(1) fur alle n ∈ N , und der Rest der Behauptung direkt ausdem Bewiesenen und Satz VIII.4.

Beispiel VIII.8. (a) Wir wenden Satz VIII.7 auf die Funktion f : x 7→ x−α an(α > 0). Dann existiert das Integral∫ ∞

1

f(t) dt =∫ ∞

1

dt

nach Beispiel VIII.6 genau dann, wenn α > 1 ist. Nach dem vorstehenden Satzist dies genau dann der Fall, wenn die Reihe

∞∑k=1

f(k) =∞∑

k=1

1kα

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VIII. Uneigentliche Integrale 161

konvergiert. Wir erhalten sogar die Abschatzung

0 ≤∞∑

k=1

1kα

−∫ ∞

1

dt

tα≤

∞∑k=1

1kα

− 1α− 1

≤ f(1) = 1,

das heißt1

α− 1≤

∞∑k=1

1kα

≤ 1α− 1

+ 1 =α

α− 1.

Fur α > 1 schreibt man

ζ(α) :=∞∑

k=1

1kα.

Die Funktion ζ : ] 1,∞ [ → R heißt Riemannsche Zetafunktion. Sie spielt in derZahlentheorie, als Funktion im Komplexen, eine zentrale Rolle.

Wegen ζ(α) ≥ 11α = 1 und 1

α−1 ≤ ζ(α) ≤ αα−1 ist

limα→∞

ζ(α) = 1 und limα→1

ζ(α) = ∞.

(b) Fur α = 1 erhalten wir wie im Beweis von Satz VIII.7:

log(n+ 1) =∫ n+1

1

dt

t≤

n∑k=1

1k≤ 1 +

n∑k=2

1k≤ 1 + log n.

Die nach Satz VIII.7 konvergente Folge

an :=

(n∑

k=1

1k

)− log n

hat als Grenzwert die Euler-Mascheronische Konstante

c := limn→∞

(1 + 1

2 + . . .+ 1n − log n

)= 0,5772 . . . ,

d.h., die harmonische Reihe wachst genauso wie log n .

Wir ubertragen jetzt noch einige Konvergenzkriterien fur Reihen auf un-eigentliche Integrale.

Satz VIII.9. (Cauchykriterium) Sei F : D → R eine Funktion, b ∈ R∪±∞ ,und es gebe mindestens eine Folge (xn)n∈N in D , die gegen b konvergiert. Dannexistiert limx→b F (x) genau dann, wenn gilt:

(1) b 6= ±∞ : (∀ε > 0)(∃δ > 0)(∀x, z ∈ Uδ(b) ∩D) : |F (x)− F (z)| < ε .(2) b = ∞ : (∀ε > 0)(∃N ∈ N)(∀x, z ∈ D,x, z > N) : |F (x)− F (z)| ≤ ε .(3) b = −∞ : (∀ε > 0)(∃N ∈ N)(∀x, z ∈ D,x, z < −N) : |F (x)− F (z)| ≤ ε .

Beweis. Sei zunachst b 6= ±∞ .

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162 VIII. Uneigentliche Integrale 31. Oktober 2007

Wir nehmen zuerst an, dass a := limx→b F (x) existiert. Dann existiert einδ > 0 mit |F (x)− a| < ε

2 und |F (z)− a| < ε2 fur x, z ∈ D ∩ Uδ(b). Damit ist

|F (x)− F (z)| ≤ |F (x)− a|+ |a− F (z)| ≤ ε

2+ε

2= ε.

Sei nun (1) erfullt und (xn)n∈N eine Folge in D mit xn → b . Weiter seiε > 0 und δ > 0 gemaß (1) gewahlt. Wegen xn → b existiert ein Nδ ∈ Nmit |xn − b| < δ fur alle n > Nδ . Damit ist |F (xn) − F (xm)| < ε furalle n,m > Nδ . Die Folge

(F (xn)

)n∈N ist also eine Cauchyfolge und daher

konvergent. Sei a := limn→∞ F (xn). Ist (yn)n∈N eine weitere Folge in D mityn → b , so konvergiert auch die Folge (zn)n∈N := (x1, y1, x2, y2, x3, y3, . . .) gegenb . Also ist

limn→∞

F (yn) = limn→∞

F (zn) = limn→∞

F (xn) = a.

Der Grenzwert hangt also nicht von der gewahlten Folge ab, d.h. limx→b F (x) =b .

Die Falle b = ±∞ behandelt man analog.

Wir wollen das Cauchysche Konvergenzkriterium insbesondere auf un-eigentliche Integrale anwenden, d.h., wir betrachten

F (x) =∫ x

a

f(t) dt, x ∈ D = [a, b[.

Definition VIII.10. Das uneigentliche Integral∫ b

af(t) dt heißt absolut kon-

vergent, wenn das Integral∫ b

a|f(t)| dt konvergiert.

Satz VIII.11. Ein absolut konvergentes uneigentliches Integral konvergiert.

Beweis. Fur x ≥ a sei F (x) :=∫ x

af(x) dx und G(x) :=

∫ x

a|f(x)| dx . Dann

gilt fur z ≤ x :

|F (z)− F (x)| =∣∣∣ ∫ z

x

f(t) dt∣∣∣ ≤ ∫ z

x

|f(t)| dt = G(z)−G(x).

Die Behauptung folgt nun, indem wir das Cauchysche KonvergenzkriteriumVIII.9 verwenden, um die Existenz des Grenzwertes limx→b F (x) einzusehen.

Folgerung VIII.12. Sei f : [a,∞[ → R eine Funktion, die von hoherer alserster Ordnung in ∞ verschwindet, d.h. es existieren α > 1 , ein c > a und einK > 0 , so dass fur alle t ≥ c gilt |f(t)| ≤ K

tα . Dann konvergiert das Integral∫∞af(t) dt absolut. Gilt dagegen f(t) ≥ K

t fur ein K > 0 und alle t ≥ c , sodivergiert das Integral.

Beweis. Ist f(t) ≥ Kt fur t ≥ c ≥ a , so wurden wir aus der Konvergenz des

Integrals∫∞

cf(t) dt nach dem Majorantenkriterium die Konvergenz von

∫∞c

dtt

folgern konnen. Folglich ist das Integral∫∞

cf(t) dt und damit auch

∫∞af(t) dt

divergent.

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VIII. Uneigentliche Integrale 163

Gilt hingegen |f(t)| ≤ Ktα fur α > 1 und alle t ≥ c , so folgt die Konver-

genz des Integrals∫∞

c|f(t)| dt aus dem Majorantenkriterium, Satz VIII.11 und

Beispiel VIII.6, d.h., das Integral∫ ∞

a

f(t) dt =∫ c

a

f(t) dt+∫ ∞

c

f(t) dt

ist absolut konvergent.

Beispiel VIII.13. Wegen 11+x2 ≤ 1

x2 fur x ≥ 1 konvergiert das Integral∫∞0

dt1+t2 . Wir wissen schon, dass

∫∞0

dt1+t2 = limt→∞ arctan t = π

2 ist.

Naturlich betrachtet man auch Integrale, die an beiden Integralenden ”un-eigentlich“ sind. Allgemein definieren wir∫ ∞

−∞f :=

∫ 0

−∞f +

∫ ∞

0

f und∫ c

a

f =∫ b

a

f +∫ c

b

f,

fur a < b < c , wenn es sich an den Intervallenden a, c ∈ R ∪ ±∞ umuneigentliche Integrale handelt.

Beispiel VIII.14. (Die Gammafunktion) Fur jedes t > 0 konvergiert dasIntegral

Γ(t) :=∫ ∞

0

xt−1 · e−x dx

(die Gamma-Funktion), wobei das Integral an beiden Intervallenden als un-eigentliches Integral zu verstehen ist. Fur alle x ≥ 0 ist xt−1e−x ≤ xt−1 , undsomit existiert das folgende uneigentliche Integral nach dem Majorantenkriterium∫ 1

0

xt−1e−x dx = limy→0

∫ 1

y

xt−1e−x dx,

denn es gilt∫ 1

0

xt−1 dx = limx→0

∫ 1

x

st−1 ds = limx→0

[st

t

]1x

=1t− lim

x→0

xt

t=

1t.

Weiter gilt:x2 · (xt−1e−x) = xt+1e−x −→

x→∞0.

Nach den de l’Hospitalschen Regeln ist namlich

limx→∞

xt+1

ex= lim

x→∞(t+ 1)

xt

ex

= limx→∞

(t+ 1) · txt−1

ex= 0, falls t ∈]0, 1] ist, da xt−1 ≤ 1

= limx→∞

(t+ 1) · t · (t− 1)xt−2

ex= 0, falls t ∈]1, 2] ist, da xt−2 ≤ 1

· · · .

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164 VIII. Uneigentliche Integrale 31. Oktober 2007

Damit existiert also ein K > 0, so dass xt−1 · e−x ≤ Kx2 fur alle x ≥ 1 gilt, und

daher existiert das Integral∫∞1xt−1e−x dx nach dem Majorantenkriterium.

Eigenschaften der Gammafunktion: Es gilt die Funktionalgleichung derGammafunktion

(∀t > 1) Γ(t) = (t− 1)Γ(t− 1).

Dies beweisen wir mittels partieller Integration:

Γ(t) =∫ ∞

0

xt−1e−x dx

= limy→∞

−yt−1e−y − limy→0

yt−1e−y +∫ ∞

0

(t− 1)xt−2e−x dx

= 0 + 0 + (t− 1)Γ(t− 1),

da yt−1 → 0 wegen t > 1 gilt. Fur naturliche Zahlen n ∈ N erhalten wir speziell:

Γ(1) =∫ ∞

0

e−x dx = limy→∞

[−e−x

]y0

= limy→∞

1− e−y = 1,

und fur alle n ∈ N folgt aus der Funktionalgleichung

Γ(n+ 1) = n!

Dies erhalt man durch Induktion: Fur n = 0 haben wir Γ(0+1) = 0! = 1. BeimInduktionsschluss verwenden wir die Funktionalgleichung und rechnen Γ(n+1) =n · Γ(n) = n · (n− 1)! = n! .

Beispiel VIII.15. (Fresnelsche Integrale) Durch Anwendung des Transforma-tionssatzes mit t = ϕ(u) =

√u rechnet man∫ ∞

0

sin(t2) dt = limx→∞

∫ x

0

sin(t2) dt = limx→∞

12

∫ x2

0

sinu√u

du = limx→∞

12

∫ x

0

sinu√u

du

(mittels du2√

u= ϕ′(u) · du). Wir fragen nach der Konvergenz dieses Integrals.

Hierzu rufen wir uns zunachst in Erinnerung, dass fur alle k ∈ N und alle uzwischen 2kπ und (2k + 1)π der Wert sin(u) ≥ 0 ist; zwischen (2k + 1)π und(2k + 2)π ist sin(u) ≤ 0. Weiter ist

−∫ (2k+2)π

(2k+1)π

sinu√u

du = −∫ (2k+1)π

2kπ

sin(u+ π)√u+ π

du

=∫ (2k+1)π

2kπ

sinu√u+ π

du ≤∫ (2k+1)π

2kπ

sinu√u

du.

Analog erhalt man ∫ (2k+1)π

2kπ

sinu√u

du ≤ −∫ 2kπ

(2k−1)π

sinu√u

du.

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VIII. Uneigentliche Integrale 165

Somit ist die Folge an := (−1)n∫ (n+1)π

nπsin u√

udu nichtnegativ, monoton fallend,

und es gilt

|an| ≤∫ (n+1)π

du√u≤ 1√

nπ→ 0.

Nach dem Leibnizkriterium existiert daher

limn→∞

n∑k=0

(−1)kak = limn→∞

∫ (n+1)π

0

sinu√u

du.

Sei nun F (x) :=∫ x

0sin u√

udu . Fur nπ ≤ x ≤ (n+ 1)π ist dann

∣∣F (x)− F (nπ)∣∣ = ∣∣∣∣∫ x

sinu√u

du

∣∣∣∣ ≤ ∫ (n+1)π

du√u≤ 1√

nπ→ 0,

und somit existiert das uneigentliche Integral

limx→∞

F (x) =∫ ∞

0

sinu√u

du

nach dem Cauchykriterium VIII.9. Es sei bemerkt, dass der ursprungliche Inte-grand t 7→ sin(t2) fur t→∞ nicht gegen Null konvergiert. Wir haben sogar∫ ∞

0

sin(u2) du =∫ ∞

0

2t · sin(t4) dt

(uber die Transformationsformel mit ϕ(t) = t2 und ϕ′(t) dt = 2t dt), und derIntegrand ist in diesem Fall sogar unbeschrankt.

Beispiel VIII.16. Wir betrachten das folgende uneigentliche Integral:∫ 1

0

dt√1− t2

=∫ π

2

0

du =π

2.

Hierzu verwendet man die Transformationsformel mit ϕ(t) = arcsin t , also

ϕ′(t) =1√

1− t2

fur 0 ≤ t < 1 (Bemerkung V.4.17). Daher folgt∫ 1

0

dt√1− t2

= limx→1

∫ x

0

ϕ′(t) dt = limx→1

arcsinx =π

2.

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166 IX. Die Geometrie des n-dimensionalen Raumes 31. Oktober 2007

IX. Die Geometrie des n-dimensionalen Raumes

Im weiteren Verlauf der Analysis-Vorlesung beschaftigen wir uns mit Funktionenvon einem Bereich des Rn in den Rm , d.h. Funktionen von n Argumenten,deren Werte m Komponenten besitzen. Wir werden solche Funktionen aufStetigkeit untersuchen, einen geeigneten Differenzierbarkeitsbegriff kennenlernenund sehen, wie man n -dimensionale Integrale und Volumina berechnet. Zuerstmussen wir uns dazu mit der geometrischen Struktur des Rn auseinandersetzen.

IX.1. Der n-dimensionale normierte Raum

Im folgenden steht K immer fur einen der Korper R oder C .

Konvexe Funktionen

Definition IX.1.1. Sei D ⊆ R ein Intervall. Eine Funktion f : D → R heißtkonvex, wenn fur alle a, b ∈ D und alle 0 < λ < 1 gilt:

f((1− λ)a+ λb) ≤ (1− λ)f(a) + λf(b).

Die Funktion f heißt konkav, wenn −f konvex ist.

Geometrisch laßt sich die Eigenschaft der Konvexitat so interpretieren, dassfur a < b in D der Graph von f unterhalb des Graphen der Sekanten durch diePunkte (a, f(a)) und (b, f(b)) verlauft. In der Tat ist diese Sekante der Graphder affinen Funktion

S(x) =b− x

b− af(a) +

x− a

b− af(b).

Fur λ = x−ab−a und x ∈]a, b[ ist λ ∈]0, 1[, x = (1− λ)a+ λb und

S(x) = (1− λ)f(a) + λf(b).

Satz IX.1.2. Sei D ⊆ R ein Intervall und f :D → R differenzierbar. Dannist f genau dann konvex, wenn f ′ monoton wachsend ist. Ist f sogar zweimaldifferenzierbar, so ist f genau dann konvex, wenn f ′′ ≥ 0 ist.

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IX.1. Der n-dimensionale normierte Raum 167

Beweis. Ist f zweimal differenzierbar, so ist f ′ differenzierbar und da D einIntervall ist, ist f ′ genau dann monoton wachsend, wenn f ′′ ≥ 0 ist (FolgerungV.2.3). Wir haben daher nur die erste Behauptung zu zeigen.

Zuerst nehmen wir an, dass f ′ monoton wachsend ist und zeigen, dass diesdie Konvexitat von f zur Folge hat. Sei dazu o.B.d.A. a < b und 0 < λ < 1.Wir setzen c := (1− λ)a+ λb , so dass a < c < b gilt. Nach dem Mittelwertsatzder Differentialrechnung existieren ξ1 ∈]a, c[ und ξ2 ∈]c, b[ mit

f(c)− f(a)c− a

= f ′(ξ1) ≤ f ′(ξ2) =f(b)− f(c)

b− c.

Wegen c− a = λ(b− a) und b− c = (1− λ)(b− a) folgt daraus

(1− λ)(f(c)− f(a)) ≤ λ(f(b)− f(c))

und durch Umstellen der Ungleichung erhalten wir

f(c) ≤ (1− λ)f(a) + λf(b).

Also ist f konvex.Jetzt nehmen wir an, f sei konvex und zeigen, dass f ′(a) ≤ f ′(b) fur a < b

in D gilt. Aus

f((1− λ)a+ λb)− f(a)λ(b− a)

≤ λ(f(b)− f(a))λ(b− a)

=f(b)− f(a)

b− a

erhalten wir

f ′(a) = limλ→0

f((1− λ)a+ λb)− f(a)λ(b− a)

≤ f(b)− f(a)b− a

.

Analog erhalten wir mit

f(b)− f((1− λ)a+ λb)(1− λ)(b− a)

≥ (1− λ)(f(b)− f(a))λ(b− a)

=f(b)− f(a)

b− a

fur λ→ 1 die Beziehung

f ′(b) ≥ f(b)− f(a)b− a

≥ f ′(a).

Folgerung IX.1.3. Seien p, q ∈ ]1,∞[ mit 1p + 1

q = 1 . Dann gilt fur allex, y ≥ 0 die Ungleichung

x1p · y

1q ≤ x

p+y

q.

Beweis. Fur x = 0 oder y = 0 ist die Behauptung trivial. Seien also x, y > 0.Dann ist die Behauptung aquivalent zu

x1p y

1q = e

1p log xe

1q log y = e

1p log x+ 1

q log y ≤ x

p+y

q.

Wegen exp′′ = exp > 0 ist die Exponentialfunktion konvex und mit λ = 1q und

1−λ = 1p ergibt sich daher die gewunschte Ungleichung sofort aus der Konvexitat

der Exponentialfunktion.

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168 IX. Die Geometrie des n-dimensionalen Raumes 31. Oktober 2007

Aufgabe IX.1.1. Sei D ⊆ R ein Intervall und f :D → R .(a) Zeigen Sie zunachst durch Rechnung: Ist f affin, d.h. existieren c, d ∈ R mitf(x) = cx+ d fur alle x ∈ D , so ist f sowohl konvex als auch konkav.(b) Warum folgt dies aus der geometrischen Interpretation der Konvexitat?(c) Ist f konvex und konkav, so ist f affin.(d) Die Funktion f ist genau dann affin, wenn fur alle a, b ∈ D und alle 0 < λ < 1gilt:

f((1− λ)a+ λb) = (1− λ)f(a) + λf(b).

(e) Sind f1 und f2 konvex, so ist f1 + f2 konvex.(f) Ist f konvex und λ ≥ 0, so ist λf konvex.

Aufgabe IX.1.2. Zeigen Sie:(a) Ist D ein offenes Intervall und f :D → R konvex sowie x0 ∈ D ein globalesMaximum, so ist f konstant. Gehen Sie hierzu in folgenden Schritten vor:(1) Es existieren x1 < x0 < x2 in D mit f(x1), f(x2) ≤ f(x0).(2) f(x1) = f(x2) = f(x0). Hinweis: Wir schreiben x0 als x0 = λx2 +(1−λ)x1 .(3) x0 ist ein globales Minimum: Ist x < x0 , so schreibe man x0 = λx2+(1−λ)xund wende die Definition an. Es ergibt sich f(x) ≥ f(x0). Analog verfahrt manfur x > x0 .(4) f ist konstant.(b) Auf dem Intervall D := [0, 1] existiert eine konvexe Funktion mit einemglobalen Maximum, die nicht konstant ist.(c) Ist f : R → R nach oben beschrankt und konvex, so ist f konstant. Hinweis:Sei f ≤M und x1 < x2 ∈ R . Zu λ ∈]0, 1[ wahle x3 so, dass x2 = λx3+(1−λ)x1

gilt. Hieraus ergibt sich f(x2) ≤ (1 − λ)f(x1) + λM . Fur λ → 0 ergibt sichf(x2) ≤ f(x1). Die umgekehrte Ungleichung erhalt man durch ein ahnlichesArgument.

Normen auf Kn

Definition IX.1.4. Fur p ≥ 1 definieren wir auf Kn :

‖x‖p :=(|x1|p + |x2|p + . . .+ |xn|p

) 1p

und ‖x‖∞ := max|x1|, . . . , |xn| fur x = (x1, . . . , xn) ∈ Kn .

Wir wollen zeigen, dass ‖ · ‖p eine Norm auf Kn ist. Dazu benotigen wireinige wichtige Ungleichungen.

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IX.1. Der n-dimensionale normierte Raum 169

Holdersche Ungleichung

Satz IX.1.5. Seien p, q ∈ ]1,∞[ mit 1p + 1

q = 1 . Fur alle x = (x1, . . . , xn), y =(y1, . . . , yn) ∈ Kn gilt

n∑j=1

|xj ·yj | ≤ ‖x‖p ·‖y‖q =(|x1|p+|x2|p+. . .+|xn|p

) 1p(|y1|q +|y2|q +. . .+|yn|q

) 1q .

Beweis. Ist ‖x‖p = 0, so ist x = 0 und die Behauptung trivial. Wir durfenalso ‖x‖p 6= 0 und ‖y‖q 6= 0 annehmen. Wir setzen

αj :=|xj |p

‖x‖pp

und βj :=|yj |q

‖y‖qq.

Dann ist∑n

j=1 αj = 1 =∑n

j=1 βj . Wenden wir Folgerung IX.1.3 auf αj und βj

an, so ergibt sich|xj |‖x‖p

· |yj |‖y‖q

= α1p

j · β1q

j ≤ αj

p+βj

q.

Durch Summation uber j erhalten wir

1‖x‖p‖y‖q

n∑j=1

|xj | · |yj | ≤1p

+1q

= 1.

Bemerkung IX.1.6. (a) Fur p = q = 2 ergibt sich die Cauchy-SchwarzscheUngleichung : ∣∣∣∣ n∑

j=1

xj · yj

∣∣∣∣ ≤ n∑j=1

|xj | · |yj | ≤ ‖x‖2 · ‖y‖2.

(b) Fur p = 1 und q = ∞ gilt trivialerweise

n∑j=1

|xj · yj | ≤ ‖x‖∞ ·n∑

j=1

|yj | = ‖x‖∞ · ‖y‖1.

Minkowskische Ungleichung

Satz IX.1.7. Fur p ∈ [1,∞] gilt fur alle x, y ∈ Kn :

‖x+ y‖p ≤ ‖x‖p + ‖y‖p.

Beweis. Wir durfen o.B.d.A. annehmen, dass x , y und x + y jeweils nicht 0sind, denn sonst ist die Ungleichung trivial. Dann gilt insbesondere

‖x‖p, ‖y‖p, ‖x+ y‖p > 0.

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170 IX. Die Geometrie des n-dimensionalen Raumes 31. Oktober 2007

Fur p = 1 und p = ∞ folgt dies sofort aus |xj +yj | ≤ |xj |+ |yj | fur j = 1, . . . , n .Sei nun p ∈]1,∞[ und q definiert durch 1

q + 1p = 1. Sei zj := |xj +yj |p−1 . Dann

ist zqj = |xj +yj |pq−q = |xj +yj |p , also ‖z‖q = ‖x+y‖p/q

p . Nach der HolderschenUngleichung gilt daher

‖x+ y‖pp =

n∑j=1

|xj + yj | · |zj | ≤n∑

j=1

|xj | · |zj |+n∑

j=1

|yj | · |zj |

≤ ‖x‖p‖z‖q + ‖y‖p‖z‖q =(‖x‖p + ‖y‖p

)· ‖x+ y‖p/q

p

Also ist ‖x+ y‖p = ‖x+ y‖p−p/qp ≤ ‖x‖p + ‖y‖p .

Fur den folgenden Satz erinnern wir uns an den Begriff der Norm (Defini-tion IV.2.5).

Satz IX.1.8. Die Funktionen ‖ ·‖p : Kn → R sind fur alle p ∈ [1,∞] Normen,d.h. sie haben die Normeigenschaften:(N1) (∀x ∈ Kn) ‖x‖p ≥ 0 und ‖x‖p = 0 ⇐⇒ x = 0 .(N2) Positive Homogenitat: ‖λ · x‖p = |λ| · ‖x‖p fur alle x ∈ Kn und λ ∈ K .(N3) Subadditivitat: ‖x+ y‖p ≤ ‖x‖p + ‖y‖p fur alle x, y ∈ Kn .

Beweis. Fur p = ∞ ist die Behauptung trivial. Fur p <∞ sind die Aussagen(N1) und (N2) ebenfalls trivial. Der einzige nichttriviale Teil ist die Subaddi-tivitat und das ist die Minkowski-Ungleichung.

Fur jedes p ≥ 1 erhalten wir also auf Kn die Struktur eines normiertenRaumes (Kn, ‖ · ‖p), und aus Lemma IV.2.7 erhalten wir somit Metriken auf Kn

durch

dp(x, y) := ‖x− y‖p =(|x1 − y1|p + |x2 − y2|p + . . .+ |xn − yn|p

) 1p

undd∞(x, y) := ‖x− y‖∞ = max|x1 − y1|, . . . , |xn − yn|

fur x, y ∈ Kn .Die Norm ‖x‖∞ = max|x1|, . . . , |xn| heißt Maximumnorm.

Die Norm ‖x‖2 =√∑n

j=1 |xj |2 heißt euklidische Norm. Die zugehorige Metrik

d2(x, y) := ‖x− y‖2 =√∑n

j=1 |xj − yj |2 heißt euklidischer Abstand.

Bezuglich der p -Normen sehen die ”Einheitskugeln“ im R2 , d.h. die Men-gen B1 = x ∈ R2: ‖x‖p = 1 , recht verschieden aus. Um das einzusehen,skizziere man sie fur p = 1, p = 2 und p = ∞ und fur jeweils ein weiteresp ∈]1, 2[ bzw. p > 2.

Fur viele Zwecke ist die euklidische Norm am zweckmaßigsten, beispiels-weise fur geometrische Uberlegungen. Fur komplexe Zahlen haben wir

|x+ iy| = ‖(x, y)‖2 =√x2 + y2.

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IX.2. Mehr uber metrische Raume 171

Satz IX.1.9. Sei 1 ≤ p ≤ ∞ .(1) Eine Folge in (Kn, dp) konvergiert genau dann, wenn sie komponentenweise

konvergiert. Insbesondere hangt dies nicht von p ab.(2) (Kn, ‖ · ‖p) ist ein Banachraum, d.h. jede Cauchy-Folge konvergiert.

Beweis. (1) Sei (z(m))m∈N eine Folge in Kn und

z(m) = (z(m)1 , z

(m)2 , . . . , z(m)

n ).

Gilt limm→∞ z(m) = z , d.h. ‖z(m) − z‖p → 0, so gilt fur alle j die Beziehung|z(m)

j − zj | ≤ ‖z(m) − z‖p → 0, also z(m)j → zj fur jedes j , d.h., die Folge

konvergiert komponentenweise.Gilt andererseits z(m)

j → zj fur jedes j , so gilt auch

‖z(m) − z‖p =( n∑

j=1

|z(m)j − zj |p

) 1p → 0,

d.h. limm→∞ z(m) = z .(2) Sei (z(m))m∈N eine Cauchy-Folge in (Kn, ‖ · ‖p). Wegen

|z(m)j − z

(n)j | ≤ ‖z(m) − z(n)‖p

fur alle m,n ∈ N ist dann auch jede Komponentenfolge (z(m)j )m∈N eine Cauchy-

Folge in K , also konvergent (Folgerung III.2.33). Wegen (1) ist damit auch dieFolge (z(m))m∈N konvergent.

Beispiele IX.1.10. (a) Die Folge (x(m))m∈N in R2 mit x(m) =(

12m , 1− 1

2m

)konvergiert komponentenweise gegen (0, 1), also auch bzgl. jeder der Normen‖ · ‖p .(b) Die Folge (x(m))m∈N in R2 mit x(m) =

(2m, 1 + 1

m

)konvergiert nicht

komponentenweise, denn die erste Komponentenfolge kovergiert nicht. Alsokonvergiert sie bzgl. keiner der Normen ‖ · ‖p .

IX.2. Mehr uber metrische Raume

Im nachsten Abschnitt werden wir das grundlegende Konzept der Kompaktheitkennenlernen, das hinter vielen Existenzsatzen der Analysis steht. Um diesesKonzept in der angemessenen Allgemeinheit einfuhren zu konnen, mussen wirunsere Kenntnisse uber metrische Raume etwas vertiefen.

Definition IX.2.1. (Vgl. Definition III.1.5) Sei (X, d) ein metrischer Raum.(a) Fur p ∈ X und ε > 0 heißt

Uε(p) := x ∈ X: d(x, p) < ε

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172 IX. Die Geometrie des n-dimensionalen Raumes 31. Oktober 2007

die ε-Umgebung von p oder die offene Kugel vom Radius ε um p .(b) Eine Umgebung von p ist eine Teilmenge U ⊆ X , fur die ein ε > 0 mitUε(p) ⊆ U existiert. Man beachte, dass fur jede Umgebung U des Punkte pauch jede Obermenge V ⊇ U eine Umgebung von p ist.(c) Eine Teilmenge U ⊆ X heißt offen, wenn sie Umgebung aller ihrer Punkteist, d.h.

(∀p ∈ U)(∃ε > 0)Uε(p) ⊆ U.

(d) Eine Teilmenge F ⊆ X heißt abgeschlossen, wenn X \ F offen ist.

Bemerkung IX.2.2. (1) Ist (V, ‖·‖) ein normierter Raum, so sind die offenenKugeln bzgl. der zugehorigen Metrik d(x, y) := ‖x− y‖ gegeben durch

Uε(p) = x ∈ V : ‖x− p‖ < ε.

(2) Offene Kugeln, d.h. Mengen der Gestalt Ur(p), r > 0, in einem metrischenRaum (X, d) sind offen im Sinne von Definition IX.2.1(d) (Lemma III.1.6).

Satz IX.2.3. (Eigenschaften offener Mengen, Satz III.1.7) Sei (X, d) ein met-rischer Raum. Dann gelten folgende Aussagen:(O1) Ø und X sind offen.(O2) Sind U1, . . . , Un offene Mengen, so ist auch U1 ∩ . . . ∩ Un offen.(O3) Ist (Uj)j∈J eine Familie offener Teilmengen von X , so ist auch

⋃j∈J Uj

offen.

Folgerung IX.2.4. (Eigenschaften abgeschlossener Mengen) Sei (X, d) einmetrischer Raum.(A1) Ø und X sind abgeschlossen.(A2) Sind A1, . . . , An ⊆ X abgeschlossen, so ist auch A1∪. . .∪An abgeschlossen.(A3) Ist (Aj)j∈J eine Familie abgeschlossener Teilmengen von X , so ist auch⋂

j∈J Aj abgeschlossen.

Beweis. Man wendet IX.2.3 auf die Komplemente an. Wir fuhren beispielhafteinen Beweis von (A2). Sind die Mengen A1, . . . , An abgeschlossen, so sind dieMengen Uj := X \Aj , j = 1, . . . , n , offen. Nach (O2) ist dann

U1 ∩ . . . ∩ Un = X \ (A1 ∪ . . . ∪An)

offen, also A1 ∪ . . . ∪ An abgeschlossen. (A1) ist trivial, und (A3) zeigt mananalog zum gerade durchgefuhrten Beweis von (A2).

Beispiel IX.2.5. (a) Die Intervalle Un := ] − 1n , 1 + 1

n [ ⊆ R sind offen, aberihr Schnitt

⋂∞n=1 Un = [0, 1] ist nicht offen in R . Die Bedingung (O2) gilt also

im allgemeinen nicht fur unendliche Durchschnitte.(b) Die Intervalle An := [ 1

n , 1−1n ] ⊆ R sind abgeschlossen, aber

⋃∞n=1An = ]0, 1[

ist nicht abgeschlossen. Die Bedingung (F2) gilt also im allgemeinen nicht furunendliche Vereinigungen.

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IX.2. Mehr uber metrische Raume 173

Definition IX.2.6. Sei (X, d) ein metrischer Raum M ⊆ X eine Teilmenge.(a) Die Menge

M :=⋂F ⊆ X:F abgeschlossen, M ⊆ F

heißt Abschluß von M. Wegen (A3) ist M abgeschlossen. Die Menge Mist die kleinste abgeschlossene Menge, die M enthalt. Man nennt sie daherauch die abgeschlossene Hulle von M.

(b) Die MengeM :=

⋃U ⊆ X:U offen, U ⊆ X

heißt das Innere oder der offene Kern von M. Nach (O3) ist M eine offeneTeilmenge von X . Sie ist die großte offene Teilmenge, die in M enthaltenist.

(c) Die Menge∂M := M \M

heißt Rand von M.

Mit den obigen Definitionen gelten folgende Beziehungen:

M ⊆M ⊆M = M ∪ ∂M,

M offen ⇐⇒M = M ⇐⇒ ∂M ∩M = Ø

undM abgeschlossen ⇐⇒M = M ⇐⇒ ∂M ⊆M.

Satz IX.2.7. Sei M eine Teilmenge des metrischen Raumes (X, d) und p ∈X . Dann gelten:

(1) p ∈M ⇐⇒ jede Umgebung von p schneidet M .(2) p ∈M ⇐⇒ M ist Umgebung von p .(3) p ∈ ∂M ⇐⇒ jede Umgebung von p schneidet M und X \M .

Beweis. (1) Ist x 6∈ M , so ist X \M eine offene Menge, die x enthalt, unddamit eine Umgebung von x , die M nicht schneidet.

Ist andererseits x ∈ X ein Punkt, der eine Umgebung U besitzt, dieM nicht schneidet, so existiert ein δ > 0 mit Uδ(x) ⊆ U . Da Uδ(x) offenist, ist X \ Uδ(x) eine abgeschlossene Menge, die M enthalt, und daher istM ⊆ X \ Uδ(x). Insbesondere ist x 6∈M .(2) Ist p ∈ M , so ist die offene Menge M eine Umgebung von p , also Mebenfalls. Fur die Umkehrung sei M Umgebung von p . Dann existiert ein ε > 0mit Uε(p) ⊆M . Da Uε(p) offen ist, gilt Uε(p) ⊆M . Folglich ist p ∈M .(3) Wegen ∂M = M \M und (1) und (2) besteht ∂M aus denjenigen Punktenp von X , fur die jede Umgebung die Menge M schneidet, aber nicht in Menthalten ist, d.h. auch X \M schneidet.

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174 IX. Die Geometrie des n-dimensionalen Raumes 31. Oktober 2007

Folgerung IX.2.8. Es gilt genau dann p ∈ M , wenn eine Folge (xn)n∈N inM existiert mit limn→∞ xn = p .

Beweis. ”⇒“: Ist p ∈M , so existiert nach Satz IX.2.7(1) zu jeder Zahl n ∈ Nein Punkt xn ∈ U1/n(p) ∩M . Damit ist d(xn, p) < 1

n , also limn→∞ xn = p .

”⇐“: Ist p /∈M , so existiert nach Satz IX.2.7(1) ein ε > 0 mit Uε(p)∩M = Ø.Also kann in M keine Folge (xn) existieren, die gegen p konvergiert.

Beispiele IX.2.9. (1) Wir betrachten zunachst den metrischen Raum X = Rmit d(x, y) = |x− y| .(a) Fur die Menge M = [0, 1[ verifiziert man direkt mit Satz X.2.7:

M0 =]0, 1[, M = [0, 1] und ∂M = 0, 1.

(b) Fur die Menge M = [0, 1] erhalten wir ebenfalls mit Satz X.2.7:

M0 =]0, 1[, M = [0, 1] = M und ∂M = 0, 1.

(c) Fur die Menge M = R erhalten wir

M0 = R, M = R und ∂M = Ø.

(d) FurM = 1n :n ∈ N ist

M0 = Ø, M = M ∪ 0 und ∂M = M.

(2) Die Konzepte: Inneres, Rand, Abschluß hangen ganz wesentlich von demRaum X ab, in dem man die Menge M betrachtet. Hier ist ein instruktivesBeispiel:

In dem metrischen Raum X = [0, 1] mit der Metrik d(x, y) = |x − y|erhalten wir fur die Teilmenge M = X :

M = M0 = M und ∂M = Ø.

Fur dieselbe Menge M , betrachtet als Teilmenge des metrischen Raums (R, d),haben wir unter (b) ganz andere Eigenschaften terhalten.(3) Fur X = R2 mit d(a, b) = ‖a− b‖∞ = max(|a1 − b1|, |a2 − b2|) und

M = (x, y) ∈ R2: 0 ≤ x < 1, 0 ≤ y < 1 = [0, 1[×[0, 1[

(Skizze!), erhalten wir

M0 = (x, y) ∈ R2: 0 < x < 1, 0 < y < 1 =]0, 1[×]0, 1[

M = (x, y) ∈ R2: 0 ≤ x ≤ 1, 0 ≤ y ≤ 1 = [0, 1]× [0, 1]

∂M = (x, y) ∈ R2: (|x| ≤ 1, |y| = 1) oder (|x| = 1, |y| ≤ 1).

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IX.3. Kompaktheit 175

Aufgabe IX.2.1. Ist (V, ‖ · ‖) ein normierter Raum und

B = v ∈ V : ‖v‖ ≤ 1,

so gelten B = U1(0) = v ∈ V : ‖v‖ < 1 , B = B und ∂B = v ∈ V : ‖v‖ = 1 .

Aufgabe IX.2.2. (a) Fur X = R gilt ∂Q = R und fur X = Q gilt ∂Q = Ø.(b) Fur X = R und a < b gelten [a, b] = ]a, b[ und [a, b[ = [a, b] .

Aufgabe IX.2.3. Ist (X, d) ein metrischer Raum und M ⊆ X eine Teilmenge,so gilt

X \M = (X \M)0.

Aufgabe IX.2.4. Eine Folge (xn)n∈N in einem metrischen Raum (X, d) kon-vergiert genau dann gegen p ∈ X , wenn fur jede Umgebung U von p ein NU ∈ Nexistiert, so dass xn ∈ U fur alle n > NU gilt.

Aufgabe IX.2.5. Sind A ⊆ Rk und B ⊆ Rm abgeschlossen, so ist die MengeA×B ⊆ Rk+m abgeschlossen.

Aufgabe IX.2.6. Sei A eine abgeschlossen Teilmenge des metrischen Raums(X, dX) und B eine abgeschlossene Teilmenge des metrischen Raums (A, dA),wobei dA := d |A×A die eingeschrankte Metrik ist. Dann ist B auch in (X, d)abgeschlossen.

IX.3. Kompaktheit

In diesem Abschnitt behandeln wir den Begriff der kompakten Teilmenge einesmetrischen Raumes und das Verhalten von stetigen Funktionen auf kompaktenMengen (Satz vom Maximum, gleichmaßige Stetigkeit). Wir erhalten hierbeivon einem abstrakten Standpunkt aus Satze, die wir schon fur den Spezialfallvon Funktionen auf abgeschlossenen beschrankten Intervallen in der Analysis Ikennengelernt haben.

Definition IX.3.1. Sei A eine Teilmenge des metrischen Raums (X, d).(a) Eine offene Uberdeckung von A ist eine Familie (Uj)j∈J offener Teilmengen

von X mit⋃

j∈J Uj ⊇ A .

(b) A heißt kompakt, wenn zu jeder offenen Uberdeckung (Uj)j∈J von A eineendliche Teilmenge F ⊆ J mit

⋃j∈F Uj ⊇ A existiert. Man nennt (Uj)j∈F

dann eine endliche Teiluberdeckung.

Man beachte, dass in der Definition der Kompaktheit nicht verlangt wird,dass A eine endliche offene Uberdeckung besitzt, sondern dass jede offene Uber-deckung eine solche enthalt. Die Eigenschaft, die unter (b) von einer kompaktenMenge gefordert wird, heißt die Heine-Borelsche Uberdeckungseigenschaft .

Wir machen uns zuerst etwas mit dem Kompaktheitsbegriff vertraut.

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176 IX. Die Geometrie des n-dimensionalen Raumes 31. Oktober 2007

Satz IX.3.2. Sei (X, d) ein metrischer Raum und (xn)n∈N eine Folge in X ,die gegen p ∈ X konvergiert. Dann ist die Menge

A := xn:n ∈ N ∪ p

kompakt.

Beweis. Sei (Uj)j∈J eine offene Uberdeckung von A . Dann existiert ein j0 ∈ Jmit p ∈ Uj0 . Da Uj0 eine Umgebung von p ist, existiert ein ε > 0 mitUε(p) ⊆ Uj0 und weiter ein Nε ∈ N mit xn ∈ Uε(p) ⊆ Uj0 fur alle n ≥ Nε . Wirwahlen nun zu jedem n < n0 ein jn mit xn ∈ Ujn . Fur F := jn:n < n0∪j0ist dann A ⊆

⋃j∈F Uj . Wir haben somit gezeigt, dass jede offene Uberdeckung

von A eine endliche Teiluberdeckung enthalt. Also ist A kompakt.

Beispiel IX.3.3. Der Satz besagt insbesondere, dass die Teilmenge 1n

:n ∈ N∪ 0 ⊆ R

kompakt ist. Beachte dabei, dass die Menge 1n :n ∈ N in R nicht kompakt

ist: Die Intervalle ( ]ε, 2[ )ε>0 bilden eine offene Uberdeckung, die keine endlicheTeiluberdeckung enthalt.

Definition IX.3.4. Wir betrachten auf dem Rn die Norm ‖ · ‖∞ und diezugehorige Metrik d∞(x, y) := ‖x − y‖∞ . Fur a, b ∈ Rn mit aj ≤ bj fur allej = 1 . . . , n heißt

[a, b] := x ∈ Rn: (∀j = 1, . . . , n) aj ≤ xj ≤ bj

ein Quader. Die Menge

[(−1, 1), (1, 2)] = x ∈ R2:−1 ≤ x1 ≤ 1, 1 ≤ x2 ≤ 2

ist ein Beispiel eines Quaders. Fur eine Teilmenge A des metrischen Raums(X, d) heißt

diam(A) := supd(x, y):x, y ∈ A ∈ [0,∞]

der Durchmesser von A (engl.: diameter). Die Mente A heißt beschrankt, wennihr Durchmesser endlich ist. Ist [a, b] ein Quader in (Rn, d∞), so ist

diam([a, b]) = ‖b− a‖∞ = maxbj − aj : j = 1 . . . n,

denn fur alle x, y ∈ [a, b] und alle j = 1 . . . , n gilt xj , yj ∈ [aj , bj ] , also|xj−yj | ≤ bj−aj fur alle j und daher ‖x−y‖∞ ≤ ‖b−a‖∞ . Man verifiziert leicht,dass jeder Quader Q eine abgeschlossene Teilmenge des Rn ist (vgl. FolgerungIX.2.8).

Nach diesen Vorbereitungen kommen wir zu einem wichtigen Lemma.

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IX.3. Kompaktheit 177

Lemma IX.3.5. In (Rn, d∞) ist jeder Quader [a, b] kompakt.

Beweis. Wie beweisen die Kompaktheit von [a, b] indirekt. Sei dazu (Uj)j∈J

eine offene Uberdeckung von Q0 := [a, b] , von der wir annehmen, dass sie keineendliche Teiluberdeckung besitzt. Wie werden induktiv eine Folge Qm,m ∈ N ,von Quadern mit diam(Qm) = 1

2m ‖b − a‖∞ konstruieren, die sich nicht durchendlich viele Uj uberdecken lassen und ineinander liegen, d.h.

Q0 ⊇ Q1 ⊇ . . . ⊇ Qm−1 ⊇ Qm ⊇ . . .

gelten. Sei Qm schon konstruiert und Qm = [c, d] . Wir zerlegen Qm in 2n

Teilquader der gleichen Große:

Q(ε1,...,εn)m := [cε, dε], ε = (ε1, . . . , εn) ∈ 0, 1n.

Dabei seicεj := cj + εj

dj − cj2

und dεj := cεj +

dj − cj2

.

Nach Induktionsvoraussetzung laßt sich Qm nicht durch endlich viele Uj uber-decken; also existiert auch ein Qε0

m mit dieser Eigenschaft, denn sonst wurdesich

Qm =⋃ε

Qεm

entgegen der Voraussetzung mit endlichen vielen Mengen Uj uberdecken lassen.Wir setzen Qm+1 := Qε0

m und beachten

diam(Qm+1) =12diam(Qm) =

12m+1

‖b− a‖∞.

Die Folge (Qm)m∈N , die wir so induktiv erhalten, besitzt nun die gewunschtenEigenschaften.

Sei jetzt xm ∈ Qm beliebig. Dann ist (xm)m∈N eine Cauchy-Folge immetrischen Raum (Rn, d∞), denn fur n ≥ m ist

d∞(xn, xm) ≤ diam(Qm) ≤ 12m

‖b− a‖∞.

Wegen Satz IX.1.9 uber die Vollstandigkeit von (Rn, d∞) konvergiert diese Folgegegen ein x ∈ Rn . Da alle Qm abgeschlossen sind (Aufgabe IX.2.5), giltx = limn→∞ xn ∈ Qm , da xn ∈ Qm fur alle n ≥ m . Sei nun j0 ∈ J mit x ∈ Uj0 .Da Uj0 offen ist, existiert ein ε > 0 mit Uε(x) ⊆ Uj0 . Fur diam(Qm) < εist dann auch Qm ⊆ Uε(x) ⊆ Uj0 , was einen Widerspruch zur Konstruktion vonQm darstellt.

Satz IX.3.6. Sei (X, d) ein metrischer Raum.(1) Ist A ⊆ X kompakt, so ist A beschrankt und abgeschlossen.(2) Ist (X, d) kompakt und A ⊆ X abgeschlossen, so ist A kompakt.

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178 IX. Die Geometrie des n-dimensionalen Raumes 31. Oktober 2007

Beweis. (1) Sei o.B.d.A. A 6= Ø und a ∈ A . Dann ist das System(Un(a)

)n∈N

der offenen Kugeln vom Radius n um a eine offene Uberdeckung von A , hat alsoeine endliche Teiluberdeckung: Es gibt n1, . . . , nk mit A ⊆ Un1(a)∪ . . .∪Unk

(a).Fur n := maxn1, . . . , nk gilt dann sogar A ⊆ Un(a). Insbesondere ist

diam(A) ≤ 2n,

d.h., A ist beschrankt.Um die Abgeschlossenheit von A zu zeigen, sei a 6∈ A . Wir zeigen a 6∈ A ;

hieraus folgt dann A ⊆ A und somit die Abgeschlossenheit von A . Das Systemder Mengen Vn := x ∈ X: d(x, a) > 1

n ist eine offene Uberdeckung von A , hatalso eine endliche Teiluberdeckung. Da diese Mengen alle ineinander enthaltensind, gibt es folglich eine Zahl n0 mit A ⊆ Vn0 . Dann ist U1/n0(a)∩A = Ø unddaher a /∈ A ; es folgt A ⊆ A und damit die Abgeschlossenheit von A .(2) Sei (Uj)j∈J eine offene Uberdeckung von A . Da A abgeschlossen ist, istX \ A offen, also (X \ A) ∪

⋃j∈J Uj = X , d.h. X \ A bildet zusammen mit

den Mengen Uj , j ∈ J , eine offene Uberdeckung von X . Da X kompakt ist,existiert eine endliche Teilmenge F ⊆ J mit X = (X \A)∪

⋃j∈F Uj . Damit ist

(Uj)j∈F eine endliche Teiluberdeckung von A .

Folgerung IX.3.7. In einem metrischen Raum ist jede konvergente Folgebeschrankt.

Beweis. Sei (xn)n∈N eine konvergente Folge mit Grenzwert x . NachSatz IX.3.2 ist A := xn:n ∈ N∪x kompakt, also beschrankt nach Satz IX.3.6.

Satz von Heine-Borel

Theorem IX.3.8. Eine Teilmenge A des metrischen Raums (Rn, d∞) istgenau dann kompakt, wenn sie abgeschlossen und beschrankt ist.

Beweis. Ist A kompakt, so ist A nach Satz IX.3.6(1) abgeschlossen undbeschrankt. Ist andererseits A beschrankt, so ist A in einem ausreichend großenQuader Q enthalten. Ist A zusatzlich in (Rn, d∞) abgeschlossen, so ist A in(Q, d∞) abgeschlossen (Aufgabe IX.2.6), also kompakt nach Satz IX.3.6(2), da(Q, d∞) nach Lemma IX.3.5 kompakt ist.

Der folgende Satz ist die abstrakte Version des Satzes von Bolzano-Weier-straß, den wir schon fur R kennen.

Satz von Bolzano-Weierstraß

Satz IX.3.9. Sei A eine kompakte Teilmenge des metrischen Raums (X, d) .Dann hat jede Folge (xn)n∈N in A eine Teilfolge, die gegen einen Punkt a ∈ Akonvergiert.

Beweis. Wir fuhren einen indirekten Beweis. Angenommen, keine Teilfolgeder Folge (xn)n∈N konvergiert gegen ein a ∈ A . Wir behaupten, dass fur jedes

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IX.3. Kompaktheit 179

a ∈ A eine Umgebung Ua existiert, fur die die Menge n ∈ N:xn ∈ Ua endlichist.

Ist dies fur ein a ∈ A nicht der Fall, so finden wir zu jedem m ∈ N ein nm > mmit xnm

∈ U1/m(a) . Dann bilden diese xnmeine gegen a konvergente Teilfolge,

was nach unserer Annahme nicht sein kann.

Nun ist A ⊆⋃

a∈A Ua , und da A kompakt ist, existieren a1, . . . , an ∈ Amit A ⊆ Ua1 ∪ . . .∪Uan . Damit liegen in A nur endlich viele Folgenglieder, unddies ist ein Widerspruch.

Von Satz IX.3.9 gilt auch die Umkehrung: Eine Teilmenge K eines met-rischen Raumes (X, d) ist genau dann kompakt, wenn jede Folge in K einein K konvergente Teilfolge besitzt (siehe J. Jost, “Postmodern Analysis”,Theorem 7.38).

Folgerung IX.3.10. Jede beschrankte Folge (xn)n∈N in (Rn, d∞) hat einekonvergente Teilfolge.

Beweis. Das folgt aus Satz IX.3.9, da die Folge in einem (ausreichend großen)Quader enthalten ist, und dieser nach Lemma IX.3.5 kompakt ist.

Kompaktheit und Stetigkeit

Wir kommen nun zu den Anwendungen des Konzepts der Kompaktheitauf stetige Abbildungen. Zuerst eine kleine Wiederholung zur Stetigkeit (sieheSatz IV.1.3 und Satz IV.1.4).

Satz IX.3.11. (a) Fur eine Funktion f :X → Y zwischen metrischen Raumen(X, dX) und (Y, dY ) sind aquivalent:

(1) Die Funktion f ist stetig in p .(2) (∀ε > 0) (∃δ > 0) f

(Uδ(p)

)⊆ Uε

(f(p)

).

(3) Aus limn→∞ xn = p in X folgt limn→∞ f(xn) = f(p) in Y .(b) f ist genau dann stetig, wenn fur jede offene Teilmenge U ⊆ Y das Urbildf−1(U) ⊆ X offen ist.

Satz IX.3.12. Ist f : X → Y stetig und A ⊆ X kompakt, so ist auchf(A) ⊆ Y kompakt.

Beweis. Sei (Uj)j∈J eine offene Uberdeckung von f(A). Dann ist die Familie(f−1(Uj)

)j∈J

in X eine offene Uberdeckung von A (beachte, dass f−1(Uj)wegen der Stetigkeit von f offen ist). Damit existiert eine endliche TeilmengeF ⊆ J mit A ⊆

⋃j∈F f

−1(Uj). Dann ist f(A) ⊆⋃

j∈F f(f−1(Uj)

)⊆⋃

j∈F Uj ,d.h., das System (Uj)j∈F ist eine endliche Teiluberdeckung von f(A).

Lemma IX.3.13. Ist Ø 6= A ⊆ R eine kompakte Menge, so besitzt A einMinimum und ein Maximum.

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180 IX. Die Geometrie des n-dimensionalen Raumes 31. Oktober 2007

Beweis. Nach dem Satz von Heine-Borel ist A abgeschlossen und beschrankt.Wir zeigen nun supA, inf A ∈ A . Fur jedes ε > 0 existiert ein a ∈ Amit a > supA − ε . Also ist a ∈ Uε(supA) und somit supA ∈ A = A(Satz IX.2.7(1)). Fur das Infimum argumentiert man analog.

Aufgabe IX.3. Sei D ⊆ R ein kompaktes Intervall. Dann existieren a, b ∈ Rmit D = [a, b] .

Satz vom Maximum

Satz IX.3.14. Ist (X, d) ein kompakter metrischer Raum und f : X → Rstetig, so nimmt die Funktion f ein Maximum und ein Minimum an, d.h., esexistieren Elemente x, y ∈ X mit f(x) = min f(X) und f(y) = max f(X) .Beweis. (Siehe Satz IV.1.12) Nach Satz IX.3.12 ist f(X) ⊆ R kompakt, be-sitztat also nach Lemma IX.3.13 Maximum und Minimum.

Folgerung IX.3.15. Sei A ⊆ X kompakt und a ∈ X . Dann enthalt A einenPunkt x kleinsten Abstands von a , d.h., es gilt

d(a, x) = mind(a, y): y ∈ A.

Beweis. Wir betrachten die Funktion f : A → R, y 7→ d(a, y). Dann ist fstetig, da |f(y1)− f(y2)| = |d(a, y1)− d(a, y2)| ≤ d(y1, y2) gilt (Aufgabe III.1.1).Also nimmt f nach Satz IX.3.14 ein Minimum an.

Bemerkung IX.3.16. (a) Ist A nicht abgeschlossen (und damit auch nichtkompakt), so wird die Behauptung von Satz IX.3.14 in der Regel falsch, dennfur jeden Punkt p ∈ A \A ist d(p, x) > 0 fur alle x ∈ A . Also ist

f :A→ R, x 7→ 1d(x, p)

eine stetige Funktion, die auf A unbeschrankt ist, denn es existiert eine Folge(xn)n∈N in A mit xn → p , d.h. d(p, xn) → 0.(b) Punkte kleinsten Abstands von einer Menge sind in der Regel nicht eindeutig.Hierzu betrachten wir X = R2 mit der Metrik d(x, y) = ‖x − y‖∞ und A =x ∈ Rn: ‖x‖∞ ≤ 1 sowie den Punkt a = (2, 0). Man verifiziert leicht, dassd(a, x) ≥ 1 fur alle x ∈ A gilt. Fur alle Punkt x = (1, x2) mit |x2| ≤ 1ist allerdings x ∈ A und d(x, a) = 1. Warum tritt dieser Effekt nicht fur dieMetriken dp , p ∈]1,∞[ auf? Man konstruiere ein ahnliches Beispiel fur p = 1.

Wir erinnern uns, dass eine Funktion f : X → Y zwischen zwei metrischenRaumen gleichmaßig stetig heißt, wenn gilt

(∀ε > 0) (∃δ > 0) (∀p, q ∈ X) dX(p, q) < δ =⇒ dY

(f(p), f(q)

)< ε.

Ist die Funktion f Lipschitz-stetig, d.h. existiert ein L ≥ 0, so dass fur allep, q ∈ X gilt

dY

(f(p), f(q)

)≤ L · dX(p, q),

so ist f gleichmaßig stetig (setze δ := εL ).

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IX.3. Kompaktheit 181

Lemma IX.3.17. Ist ‖ · ‖ eine Norm auf dem K-Vektorraum V , so gilt:∣∣‖x‖ − ‖y‖∣∣ ≤ ‖x− y‖ fur alle x, y ∈ V.

Beweis. Da d(x, y) = ‖x − y‖ eine Metrik auf V definiert, folgt dies aus|d(x, 0)− d(y, 0)| ≤ d(x, y) (Aufgabe III.1.1).

Bemerkung IX.3.18. (a) Ist (V, ‖ · ‖) ein normierter Raum, so ist dieNormfunktion f : V → R, v 7→ ‖v‖ Lipschitz-stetig mit L = 1, denn wegenLemma IX.3.17 gilt

∣∣f(v)− f(w)∣∣ ≤ ‖v − w‖ .

(b) Sei D ⊆ R ein Intervall und f : D → R differenzierbar mit |f ′(x)| ≤M furalle x ∈ D . Dann ist f Lipschitz-stetig. Dies folgt aus dem Mittelwertsatz; ihmzufolge gibt es zu x < y in D ein z ∈ ]x, y[ mit |f(y)− f(x)| = |f ′(z)| · |y−x| ≤M |y − x| .(c) Ist (X, d) ein metrischer Raum und A ⊆ X eine Teilmenge, so betrachtenwir die Distanzfunktion

dA(x) := infd(x, a): a ∈ A.

Wir behaupten, dass dA Lipschitz-stetig mit Konstante L = 1 ist. Furx, y ∈ X und a ∈ A gilt zunachst d(x, a) ≤ d(y, a) + d(x, y) und daherdA(x) ≤ d(y, a)+d(x, y), somit dA(x) ≤ dA(y)+d(x, y). Aus Symmetriegrundengilt auch dA(y) ≤ dA(x) + d(x, y) und daher

|dA(x)− dA(y)| ≤ d(x, y).

Also ist dA Lipschitz-stetig mit Konstante L = 1, insbesondere gleichmaßigstetig.

Satz von der gleichmaßigen Stetigkeit

Satz IX.3.19. Ist X ein kompakter metrischer Raum und f : X → Y einestetige Funktion, so ist f gleichmaßig stetig.

Beweis. Sei ε > 0. Da f stetig ist, existiert zu jedem x ∈ X ein δx > 0mit dY

(f(x), f(y)

)< ε

2 fur dX(x, y) < δx . Nun ist(Uδx/2(x)

)x∈X

eine offeneUberdeckung von X . Da X kompakt ist, existieren

x1, . . . , xn ∈ X mit X ⊆n⋃

j=1

Uδxj/2(xj).

Sei δ := 12 minδx1 , . . . , δxn und y, z ∈ X mit dX(y, z) < δ . Dann existiert ein

j ∈ 1, . . . , n mit dX(y, xj) < 12δxj

. Also ist auch

dX(z, xj) < δ + dX(y, xj) < 2 12δxj

= δxj.

Somit sind y, z ∈ Uδxj(xj). Es folgt nun

dY

(f(y), f(z)

)≤ dY

(f(y), f(xj)

)+ dY

(f(xj), f(z)

)<ε

2+ε

2= ε.

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182 IX. Die Geometrie des n-dimensionalen Raumes 31. Oktober 2007

IX.4. Stetige Funktionen und lineare Abbildungen

In diesem Abschnitt werden wir zunachst einige spezielle Aspekte stetiger Ab-bildungen in mehreren Veranderlichen diskutieren. Danach werden wir dieStetigkeitseigenschaften linearer Abbildungen betrachten.

Stetige Funktionen auf Kn

Definition IX.4.1. Seien (X, dX) und (Y, dY ) metrische Raume sowief :X → Y eine Funktion. Wir haben in Satz IV.1.3(3) das Folgenkriteriumfur die Stetigkeit von f kennengelernt: Die Abbildung f ist genau dann stetigin p ∈ X , wenn fur jede Folge (xn)n∈N in X mit limn→∞ xn = p die Beziehunglimn→∞ f(xn) = f(p) in Y gilt. Im folgenden schreiben wir dies abkurzend als:

limx→p

f(x) = f(p).

Lemma IX.4.2. Sei (X, d) ein metrischer Raum, und Km sei versehen miteiner der Metriken dp , p ∈ [1,∞] . Eine Abbildung

f = (f1, . . . , fm):X → Km

ist genau dann stetig, wenn alle Komponentenfunktionen fj :X → K , j =1, . . . ,m , stetig sind.

Beweis. Die Stetigkeit von f in x ∈ X ist gleichbedeutend mit lim f(xn) =f(x) fur alle Folgen (xn) in X mit xn → x . Wegen Satz IX.1.9 ist lim f(xn) =f(x) gleichbedeutend mit lim fj(xn) = fj(x) und hieraus folgt die Behauptungsofort.

Lemma IX.4.3. Sei K× := K \ 0 . Folgende Abbildungen sind stetig:(i) add: K×K → K, (x, y) 7→ x+ y .(ii) mult: K×K → K, (x, y) 7→ xy .(iii) quot: K×K× → K, (x, y) 7→ xy−1 .

Beweis. Da die Projektionen K2 → K , (x, y) 7→ x und (x, y) 7→ y beide stetigsind (Lemma IX.4.2), folgt dies aus Satz IV.1.7.

Ebenfalls aus Satz IV.1.7 ergibt sich:

Folgerung IX.4.4. Ist (X, d) ein metrischer Raum und sind f, g, h:X → Kstetig mit h(X) ⊆ K× , so sind die Funktionen

f + g:X → K, f · g:X → K undf

h:X → K

stetig.

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IX.4. Stetige Funktionen und lineare Abbildungen 183

Beispiel IX.4.5. Sei α = (α1, . . . , αn) ∈ Nn0 und |α| := α1 + . . . + αn . Die

Funktionf : Kn → K, f(x) = xα := xα1

1 · . . . · xαnn

heißt Monom vom Exponenten α . Eine Funktion der Gestalt

P (x) =∑|α|≤k

cαxα

heißt Polynomfunktion vom Grad k , wenn ein α mit |α| = k und cα 6= 0existiert. Durch sukzessives Anwenden von Folgerung IX.4.4 erhalten wir unmit-telbar die Stetigkeit aller Polynomfunktionen f : Kn → K .

Bemerkung IX.4.6. (Richtungsgrenzwerte und Stetigkeit) Sei U ⊆ Rn ,f :U → Rm eine Funktion und p ∈ U ein innerer Punkt von U . Sei 0 6= v ∈ Rn .Dann existiert ein ε > 0 mit Uε(p) ⊆ U , und folglich gilt p + hv ∈ U fur|h| < ε

‖v‖ . Falls er existiert, heißt

limh→0h>0

f(p+ hv)

der Richtungsgrenzwert von f in Richtung v .Ist f stetig, so folgt aus hn → 0 sofort p+ hnv → p , und wir erhalten

limh→0h>0

f(p+ hv) = f(p)

fur alle Richtungen v . Man konnte nun glauben, dass die Existenz und Gleich-heit der Richtungsgrenzwerte mit f(p) fur alle Richtungen auch umgekehrt dieStetigkeit der Funktion f im Punkt p impliziert. Das ist aber falsch, wie dasfolgende Beispiel zeigt.

Wir betrachten hierzu auf U = R2 die Funktion

f : R2 → R, f(x, y) :=

0 falls (x, y) = (0, 0) oder y 6= x2

1 falls y = x2 6= 0.

Fur p = (0, 0) ist dann f(0, 0) = 0 und

limh→0h>0

f(hv) = 0 = f(0, 0)

fur alle v ∈ R2 \ (0, 0) , denn ist v = (v1, v2), so gilt hv2 6= h2v21 fur alle

ausreichend kleinen h (Nachweis!). Andererseits ist die Funktion f in p nichtstetig, da

1 = f( 1n,

1n2

)6→ f(0, 0) = 0

gilt.

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184 IX. Die Geometrie des n-dimensionalen Raumes 31. Oktober 2007

Beispiel IX.4.7. Wir betrachten die Funktion

f : R2 → R, f(x, y) := xy

x2+y2 falls (x, y) 6= (0, 0)0 falls (x, y) = (0, 0).

Diese Funktion ist in (0, 0) unstetig, denn

limn→∞

f( 1n,1n

)=

126= f(0, 0) = 0.

Fur diese Funktion existieren die Richtungsgrenzwerte fur alle Richtungen0 6= v ∈ R2 :

limh→0h>0

f(hv) = limh→0h>0

h2v1v2h2v2

1 + h2v22

= limh→0h>0

v1v2v21 + v2

2

=v1v2v21 + v2

2

,

d.h., der Richtungsgrenzwert hangt von der Richtung ab und stimmt in der Regelnicht mit dem Funktionswert f(0, 0) uberein.

Stetigkeit und lineare Abbildungen

Definition IX.4.8. Zwei Normen ‖ · ‖1 und ‖ · ‖2 auf einem Vektorraum Vheißen aquivalent, ‖ · ‖1 ∼ ‖ · ‖2 , wenn

(∃c, C > 0)(∀v ∈ V ) c‖v‖1 ≤ ‖v‖2 ≤ C‖v‖1.Aufgabe IX.4.1. Sei V ein Vektorraum. Zeigen Sie, dass durch ∼ auf derMenge N aller Normen auf V eine Aquivalenzrelation gegeben ist.

Satz IX.4.9. Alle Normen auf Rn sind aquivalent.Beweis. Es reicht zu zeigen, dass alle Normen zu ‖ · ‖∞ aquivalent sind, denndie Aquivalenz von Normen ist eine Aquivalenzrelation (Aufgabe IX.4.1). Seiej := (0, . . . , 0, 1, 0, . . . , 0) derjenige Vektor, der an der j -ten Stelle eine 1 besitzt,und e1, . . . , en die kanonische Basis des Rn . Sei weiter ‖ · ‖ eine Norm auf Rn .Dann ist

‖x‖ =∥∥∥∥ n∑

j=1

xj · ej

∥∥∥∥ ≤ n∑j=1

|xj | · ‖ej‖ ≤ ‖x‖∞n∑

j=1

‖ej‖.

Sei C :=∑n

j=1 ‖ej‖ . Die Norm ‖ · ‖ : (Rn, d∞) → R ist stetig, denn es gilt∣∣‖x‖ − ‖y‖∣∣ ≤ ‖x− y‖ ≤ C · ‖x− y‖∞.Die Menge

S := x ∈ Rn: ‖x‖∞ = 1 = ∂U∞1 (0)

ist abgeschlossen und beschrankt, also nach dem Satz von Heine-Borel kompakt.Da ‖ · ‖ auf S stetig ist, existiert c := min‖y‖ : ‖y‖∞ = 1 > 0. Fur y 6= 0 istdann

‖y‖ =∥∥∥∥ y

‖y‖∞· ‖y‖∞

∥∥∥∥ = ‖y‖∞ ·∥∥∥∥ y

‖y‖∞

∥∥∥∥ ≥ ‖y‖∞ · c.

Insgesamt folgt∀y ∈ Rn : c‖y‖∞ ≤ ‖y‖ ≤ C · ‖y‖∞.

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IX.4. Stetige Funktionen und lineare Abbildungen 185

Folgerung IX.4.10.(i) Der Raum Rn ist bezuglich jeder Norm vollstandig.(ii) Alle Normen liefern auf Rn die gleichen offenen Mengen.(iii) Die Stetigkeit einer Abbildung f : X → Rn oder g : Rn → Y , wobei X

und Y metrische Raume sind, hangt nicht von der Wahl der Norm auf Rn

ab.Beweis. (i) Zwei aquivalente Normen haben die gleichen Cauchy-Folgen. DieBehauptung folgt also aus der Vollstandigkeit von (Rn, ‖ · ‖∞) und Satz IX.4.9.(ii) Wir zeigen, dass aquivalente Normen die gleichen Umgebungen und daherauch die gleichen offenen Mengen definieren: Es gelte

c‖x‖ ≤ ‖x‖∗ ≤ C‖x‖fur alle x ∈ Rn . Ist U Umgebung von p bezuglich ‖ · ‖ , so existiert ein ε > 0mit Uε(p) ⊆ U . Dann ist auch

U∗cε(p) := q ∈ Rn : ‖q − p‖∗ < c · ε ⊆ Uε(p) ⊆ U,

d.h., U ist Umgebung von p bezuglich ‖ · ‖∗ . Die Umkehrung folgt aus derSymmetrie der Aquivalenzrelation.(iii) folgt aus (ii) und der Tatsache, dass eine Abbildung f genau dann stetig ist,wenn die Urbilder offener Mengen unter f offen sind (Satz IV.1.4).

Aufgabe IX.4.2. Zeigen Sie, dass sich Satz IX.4.9 und Folgerung IX.4.10 auchauf den Cn ubertragen lassen.

Definition IX.4.11. Seien (V, ‖ · ‖V ) und (W, ‖ · ‖W ) normierte Raume undHom(V,W ) der Raum der linearen Abbildungen von V nach W . Wir definierenfur A ∈ Hom(V,W ) die Operatornorm

‖A‖ := sup‖Av‖W : v ∈ V, ‖v‖V ≤ 1 ∈ [0,∞],

und wir setzen

L(V,W ) := A ∈ Hom(V,W ) : ‖A‖ <∞.Satz IX.4.12. Fur eine lineare Abbildung A : V → W zwischen normiertenRaumen sind aquivalent:

(1) Es ist A ∈ L(V,W ) , d.h. ‖A‖ <∞ .(2) Es existiert ein C ≥ 0 mit ‖Av‖ ≤ C · ‖v‖ fur alle v ∈ V .(3) A ist stetig.(4) A ist im Nullpunkt stetig.

Beweis. (1) ⇒ (2): Ist v 6= 0, so ist ‖ v‖v‖‖ = ‖v‖

‖v‖ = 1 und daher ‖A v‖v‖‖ ≤

‖A‖ . Folglich gilt ‖Av‖ ≤ ‖A‖ · ‖v‖ fur alle v ∈ V .(2) ⇒ (3): Fur v, w ∈ V gilt ‖Av−Aw‖ ≤ C‖v−w‖, also ist A sogar Lipschitz-stetig und insbesondere stetig.(3) ⇒ (4): Das ist trivial.(4) ⇒ (1): Sei ε > 0 und δ > 0 mit ‖Av‖ < ε fur ‖v‖ ≤ δ . Dann ist‖A(δv)‖ < ε fur ‖v‖ ≤ 1, also ‖A‖ ≤ ε

δ <∞ .

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186 IX. Die Geometrie des n-dimensionalen Raumes 31. Oktober 2007

Lemma IX.4.13. Seien V,W und U normierte Raume.(a) Die Menge L(V,W ) ist bezuglich der Operatornorm ein normierter Raum.(b) Fur A ∈ L(V,W ) und B ∈ L(W,U) ist BA := B A ∈ L(V,U) , und es

gilt ‖BA‖ ≤ ‖A‖ · ‖B‖ .Beweis. Ubung!

Beispiele IX.4.14. (a) Sei [a, b] ⊆ R ein Intervall und C([a, b]) der Vektor-raum der stetigen Funktionen f : [a, b] → R , versehen mit der Supremumsnorm

‖f‖ := sup|f(x)|: a ≤ x ≤ b.

Wir betrachten die lineare Abbildung

I:C([a, b]) → R, I(f) =∫ b

a

f(x) dx,

die durch das Riemann-Integral gegeben ist. Dann ist I stetig, denn wir habendie Abschatzung

|I(f)| ≤∫ b

a

|f(x)| dx ≤ (b− a)‖f‖ fur alle f ∈ C([a, b]),

d.h. ‖I‖ ≤ b− a . (Wieso gilt hier sogar Gleichheit?)(b) Sei C1([0, 1]) der Vektorraum der stetig differenzierbaren Funktionenf : [0, 1] → R , ebenfalls versehen mit der Supremumsnorm. Wir betrachten dielineare Abbildung

D:C1([0, 1]) → C([0, 1]), D(f) = f ′,

die durch die Ableitung gegeben ist. Dann ist D unstetig, denn fur die Funk-tionen fn(x) = xn auf [0, 1] gilt ‖fn‖ = 1 und ‖D(fn)‖ = ‖f ′n‖ = n . Folglichist

‖D‖ ≥ sup‖D(fn)‖:n ∈ N = ∞.

(c) Wir versehen Rn mit der Norm ‖ ·‖∞ und betrachten eine lineare AbbildungA: Rn → Rm , die bezuglich der kanonischen Basis durch die Matrix (ajk)j,k

gegeben sei. Fur x ∈ Rn gilt dann

‖A(x)‖∞ = maxj=1,...,m

∣∣∣ n∑k=1

ajkxk

∣∣∣ ≤ ‖x‖∞ maxj=1,...,m

n∑k=1

|ajk|,

also

‖A‖ ≤ maxj=1,...,m

n∑k=1

|ajk|.

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IX.4. Stetige Funktionen und lineare Abbildungen 187

Wir zeigen, dass sogar Gleichheit gilt. Ist A = 0, so ist dies trivial. Wir nehmendaher A 6= 0 an. Nun wahlen wir j0 so, dass

maxj=1,...,m

n∑k=1

|ajk| =n∑

k=1

|aj0k|

gilt, und betrachten den Vektor x ∈ Rn mit xk = sgn(aj0k). Da mindestens eink mit aj0k 6= 0 existiert, ist ‖x‖∞ = 1. Weiter ist

‖A‖ ≥ ‖A(x)‖∞ ≥∑

k

aj0kxk =∑

k

|aj0k| = maxj=1,...,m

n∑k=1

|ajk|,

und wir erhalten

‖A‖ = maxj=1,...,m

n∑k=1

|ajk|.

Theorem IX.4.15. Alle linearen Abbildungen zwischen endlichdimensionalennormierten Raumen sind stetig.

Beweis. Da jeder endlichdimensionale reelle Vektorraum V zu Rn mit n =dimV isomorph ist (Lineare Algebra), konnen wir uns auf lineare AbbildungenA : Rn → Rm beschranken. Wegen Folgerung IX.4.10(iii) durfen wir weiterannehmen, dass beide Raume mit ‖ · ‖∞ versehen sind. Fur Aej =

∑mi=1 aijei

gilt dann wegen Beispiel IX.4.14:

‖A‖ = maxj=1,...,m

n∑k=1

|ajk| <∞,

insbesondere ist A stetig.

Sind V1, V2,W Vektorraume, so nennen wir eine Abbildung

A:V1 × V2 → W

bilinear, wenn die Abbildungen

v2 7→ A(v1, v2) bzw. v1 7→ A(v1, v2)

fur alle v1 ∈ V1 bzw. v2 ∈ V2 linear sind.

Beispiele IX.4.16. (fur bilineare Abbildungen)(a) Sind V und W Vektorraume, so ist die Abbildung

Hom(V,W )× V →W, (A, v) 7→ A(v)

bilinear.

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188 IX. Die Geometrie des n-dimensionalen Raumes 31. Oktober 2007

(b) Ist Mn,m(R) der Raum der reellen n × m -Matrizen, so ist die Multiplika-tionsabbildung

Mn,m(R)×Mm,k(R) →Mn,k(R), (A,B) 7→ A Bbilinear.(c) Das Skalarprodukt

Rn × Rn → R, (x, y) 7→ 〈x, y〉 :=n∑

j=1

xjyj

ist bilinear. Sind p, q ∈ [1,∞] mit 1p + 1

q = 1, so besagt die Holder-Ungleichung

|〈x, y〉| ≤ ‖x‖p · ‖y‖q.

Man vergleiche dies mit der Aussage von Satz IX.4.17.

Satz IX.4.17. Es seien V1 , V2 und W normierte Raume und A:V1×V2 → Weine bilineare Abbildung. Wir versehen V1 × V2 mit der Norm ‖(v1, v2)‖ :=max‖v1‖, ‖v2‖ . Dann sind aquivalent:

(1) Die Abbildung A ist stetig.(2) Die Abbildung A ist im Nullpunkt stetig.(3) Es existiert eine Zahl C > 0 , so dass fur alle (v1, v2) ∈ V1 × V2 gilt

‖A(v1, v2)‖ ≤ C · ‖v1‖ · ‖v2‖.

Beweis. (1) ⇒ (2) ist trivial.(2) ⇒ (3): Sei ε > 0 und δ > 0 so, dass fur alle Paare (v1, v2) mit ‖(v1, v2)‖ ≤ δdie Ungleichung ‖A(v1, v2)‖ ≤ ε erfullt ist. Dann gilt A(v1, v2) = 0, falls v1 = 0oder v2 = 0, und sonst

‖A(v1, v2)‖ =∥∥∥∥A(δ v1

‖v1‖, δ

v2‖v2‖

)∥∥∥∥ · ‖v1‖ · ‖v2‖δ2≤ ε

δ2‖v1‖ · ‖v2‖,

da∥∥(δ v1

‖v1‖ , δv2‖v2‖

)∥∥ = δ ist.(3) ⇒ (1): Wir rechnen

‖A(v1, v2)−A(v′1, v′2)‖ ≤ ‖A(v1, v2)−A(v1, v′2)‖+ ‖A(v1, v′2)−A(v′1, v

′2)‖

= ‖A(v1, v2 − v′2)‖+ ‖A(v1 − v′1, v′2)‖

≤ C · ‖v1‖ · ‖v2 − v′2‖+ C · ‖v1 − v′1‖ · ‖v′2‖.Hieraus folgt, dass A stetig ist.

Analog zu Theorem IX.4.15 zeigt man:

Satz IX.4.18. Sind V1 , V2 und W endlichdimensionale normierte Raume, soist jede bilineare Abbildung A : V1 × V2 →W stetig.

Folgerung IX.4.19. Sind V1 , V2 und V3 endlichdimensionale normierteRaume, so ist die Kompositionsabbildung

Hom(V1, V2)×Hom(V2, V3) → Hom(V1, V3), (A,B) 7→ B Astetig. Es gilt sogar ‖B A‖ ≤ ‖B‖ · ‖A‖ .

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X.1. Kurven im Rn 189

X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher

In diesem Kapitel wenden wir uns der Differentialrechnung von vektorwertigenFunktionen zu, die zudem von mehreren Argumenten abhangen, d.h., wir wer-den Funktionen f :U → Rm betrachten, wobei U ⊆ Rn in der Regel eine offeneTeilmenge sein wird. In Abschnitt X.1 diskutieren wir zunachst differenzierbareKurven, d.h. den Fall n = 1, und in Abschnitt X.2 wenden wir uns dem allge-meinen Fall zu.

X.1. Kurven im Rn

Nach den eher abstrakten Uberlegungen des vorangegangenen Kapitels wendenwir uns nun konkreten geometrischen Objekten zu, namlich Kurven im Rn . Wirdefinieren Tangenten an eine Kurve und die Bogenlange einer Kurve.

Definition X.1.1. Seien a < b reelle Zahlen und

γ : [a, b] → Rn, t 7→ γ(t) =(γ1(t), . . . , γn(t)

)eine Abbildung.(a) Ist γ stetig, so heißt γ eine stetige Kurve oder ein Weg in Rn .(b) Der Weg γ heißt (stetig) differenzierbar, wenn alle Komponenten γj , j =1, . . . , n , (stetig) differenzierbar sind. Er heißt stuckweise stetig differenzierbar,wenn γ stetig ist und eine Zerlegung

a = t0 < t1 < . . . < tk = b

existiert, so dass die Kurven γ |[ti,ti+1] stetig differenzierbar sind.(c) Ist γ in t differenzierbar, so heißt

γ(t) := γ′(t) :=(γ′1(t), . . . , γ

′n(t)

)die Ableitung oder der Geschwindigkeitsvektor von γ bei t . Die Zahl

‖γ(t)‖2 :=( n∑

j=1

|γ′j(t)|2) 1

2

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190 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

heißt Geschwindigkeit von γ in t . (Wir lassen den Index bei ‖γ(t)‖2 meistensweg, wenn dadurch keine Verwechslungen moglich sind.)(d) Ist D = [a, b] , so heißt γ(a) Anfangspunkt und γ(b) Endpunkt der Kurve.(e) Ist γ komponentenweise integrierbar auf [a, b] , so setzen wir∫ b

a

γ(t) dt :=(∫ b

a

γ1(t) dt, . . . ,∫ b

a

γn(t) dt)∈ Rn.

Beispiel X.1.2. (a) Die Abbildung

γ : [0, 2π] → R2, t 7→ p+ r(cos t, sin t)

beschreibt eine Kreiskurve vom Radius r um den Punkt p ∈ R2 .(b) Eine Ellipse um den Ursprung mit den Halbachsen a und b laßt sich durchdie Kurve

γ : [0, 2π] → R2, t 7→ (a cos t, b sin t)

beschreiben.(c) Die einfachsten Kurven sind (affine) Geraden:

γ : R → Rn, t 7→ p+ tv,

wobei p, v ∈ Rn sind. Dann ist γ(t) = v konstant.(d) Die Neilsche Parabel

γ : R → R2, t 7→ (t2, t3)

ist uberall differenzierbar, auch wenn ihr Bild im Nullpunkt eine Spitze besitzt.Es gilt γ(0) = 0.(e) Eine Schraubenlinie im R3 laßt sich durch die Kurve

γ : R → R3, γ(t) = (cos t, sin t, t)

beschreiben.

Definition X.1.3. Die Gesamtbogenlange einer stuckweise stetig differenzier-baren Kurve γ : [a, b] → R ist

s(γ) :=k−1∑j=0

∫ tj+1

tj

‖γ(t)‖2 dt,

wenn a = t0 < t1 < . . . tk = b eine Unterteilung ist, fur die γ | [tj ,tj+1] furalle j = 0, . . . , k − 1, stetig differenzierbar ist. Dieses Integral existiert, weil dieIntegranden jeweils stetig sind. Die Funktion

s : [a, b] → R, t 7→ s(γ |[a,t])

wird Bogenlangenfunktion genannt. Sie ist eine stetige, monoton wachsendeFunktion (Nachweis!). Ist γ stetig differenzierbar, so auch s , und es gilt (nachdem Hauptsatz)

s′(t) = ‖γ(t)‖2.

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X.1. Kurven im Rn 191

Beispiel X.1.4. (a) Wir betrachten das Geradenstuck

γ : [0, 1] → Rn, t 7→ a+ t(b− a).

Dann ist

s(γ) =∫ 1

0

‖γ(t)‖ dt =∫ 1

0

‖b− a‖ dt = ‖b− a‖.

(b) Fur den Kreisbogen γ : [0, 2π] → R, t 7→ (r cos t, r sin t) gilt

‖γ(t)‖ = ‖(−r sin t, r cos t)‖ = r,

also

s(γ) =∫ 2π

0

r dt = 2πr.

(c) Wir konnen fur stuckweise stetig differenzierbare Funktionen f : [a, b] → Rdie Bogenlange des Funktionsgraphen γ : [a, b] → R2, t 7→ (t, f(t)) berechnen.Mit γ(t) = (1, f ′(t)) erhalten wir

s(γ) =∫ b

a

√1 + f ′(t)2 dt.

Fur den Viertel-Einheitskreis erhalten wir so aus f(t) =√

1− t2 fur 0 ≤ t ≤ 1und f ′(t) = −t√

1−t2:

√1 + f ′(t)2 =

√1 +

t2

1− t2=

1√1− t2

= arcsin′(t),

und hieraus∫ 1

0

√1 + f ′(t)2 dt =

∫ 1

0

arcsin′(t) dt = arcsin(1)− arcsin(0) =π

2.

Man beachte, dass dieses Integral an der Stelle 1 uneigenlich ist, da der Inte-grand dort unbeschrankt ist. Nachdem wir die Zahl π in der Analysis I durchdie Nullstellen der Cosinusfunktion definiert haben, zeigt uns obige Rechnung,dass die geometrische Interpretation der Zahl π als die Bogenlange der halbenEinheitskreislinie mit unserer Definition konsistent ist.

Definition X.1.5. Ist γ: [a, b] → Rn eine stuckweise stetig differenzierbareKurve und ϕ : [c, d] → [a, b] stuckweise stetig differenzierbar, so ist die Kompo-sition γ ϕ : [c, d] → Rn wieder stuckweise stetig differenzierbar. Ist ϕ bijektivmit ϕ′ ≥ 0, so heißt ϕ eine Umparametrisierung. Insbesondere ist dann ϕ(c) = aund ϕ(d) = b .

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192 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Satz X.1.6. Ist ϕ eine Umparametrisierung der stuckweise stetig differenzier-baren Kurve γ : [a, b] → Rn , so gilt s(γ) = s(γ ϕ) , d.h. Umparametrisierenerhalt die Bogenlange.

Beweis. Sei t0 = a < t1 < . . . < tn = b eine Zerlegung, fur die alle Wegeγ |[ti,ti+1] stetig differenzierbar sind. Da ϕ : [c, d] → [a, b] bijektiv und monotonwachsend ist, gilt c = ϕ−1(t0) < ϕ−1(t1) < . . . < ϕ−1(tn) = d . Wenden wir dieKettenregel komponentenweise an, so folgt (γ ϕ)′(t) = γ(ϕ(t)) ·ϕ′(t) und daherwegen ϕ′(t) ≥ 0:∫ ϕ−1(ti+1)

ϕ−1(ti)

‖(γ ϕ)′(t)‖ dt =∫ ϕ−1(ti+1)

ϕ−1(ti)

‖γ(ϕ(t))‖ · ϕ′(t) dt

=∫ ti+1

ti

‖γ(τ)‖ dτ = s(γ |[ti,ti+1]).

Durch Zusammensetzen der Stucke erhalt man die Behauptung.

Bemerkung X.1.7. Oft ist es bequem, eine Kurve auf ihre Bogenlange zuparametrisieren. Ist γ : [a, b] → Rn stetig differenzierbar mit γ(t) 6= 0 furalle t ∈ [a, b] , so ist die Bogenlange s : [a, b] → R stetig differenzierbar mits′(t) = ‖γ(t)‖ > 0, also eine Bijektion s : [a, b] → [0, s(γ)] mit einer stetigdifferenzierbaren Umkehrfunktion s−1 (vgl. den Satz uber die Differenzierbarkeitder Umkehrfunktion V.1.11). Die Kurve γ := γ s−1 : [0, s(γ)] → Rn ist daherstetig differenzierbar mit

˙γ(t) = γ(s−1(t)) · (s−1)′(t) = γ(s−1(t))1

s′(s−1(t))=

γ(s−1(t))‖γ(s−1(t))‖

.

Dies ist offensichtlich ein Einheitsvektor. Es gilt also ‖ ˙γ‖ = 1 fur alle t ∈[0, s(γ)] . Daher heißt γ uber die Bogenlange parametrisiert.

Definition X.1.8. (Kurvenintegral) Sei γ : [a, b] → X ⊆ Rn stuckweise stetigdifferenzierbar und f : X → Rk eine Funktion, fur die die Komposition f γintegrabel ist. Dann heißt∫

γ

f :=∫ b

a

f(γ(t)) · ‖γ(t)‖ dt ∈ Rk

das Integral von f langs γ . Hierbei beachten wir, dass das Produkt der beidenintegrablen Funktionen f γ und ‖γ‖ ebenfalls integrabel ist (Lemma VI.1.13).

Bemerkung X.1.9. (a) Man beachte, dass∫

γf ein Punkt im Rk ist.

(b) Die Bogenlange der Kurve γ laßt sich mit dieser Definition als s(γ) =∫

γ1

schreiben.(c) Wir zeigen in den Ubungen, dass das Integral

∫γf von der Parametrisierung

von γ unabhangig ist.(d) Ist speziell γ = id[a,b] (als Kurve in R), so ist

∫γf =

∫ b

af(t) dt .

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X.1. Kurven im Rn 193

Integralabschatzung

Satz X.1.10. Sei X ⊆ Rn eine Teilmenge, γ : [a, b] → X stuckweise stetigdifferenzierbar und f : X → Rk eine stetige Funktion. Dann ist∥∥∥∫

γ

f∥∥∥

2≤∫

γ

‖f‖2 ≤ s(γ) · supa≤t≤b ‖f(γ(t))∥∥

2.

Fur γ = id[a,b] und X = [a, b] erhalten wir insbesondere fur jede Kurve f : [a, b] →Rk die Abschatzung∥∥∥∫ b

a

f(t) dt∥∥∥

2≤∫ b

a

‖f(t)‖2 dt ≤M(b− a).

Beweis. Sei 〈u, v〉 =∑n

j=1 ujvj das euklidische Skalarprodukt von u, v ∈ Rk .Die Cauchy–Schwarzsche Ungleichung (Bemerkung IX.1.6) besagt dann

|〈u, v〉| ≤ ‖u‖2‖v‖2.

Fur v ∈ Rk und integrable Kurven ϕ : [a, b] → Rk gilt dann wegen der Linearitatdes Integrals∫ b

a

〈ϕ(t), v〉 dt =∫ b

a

n∑j=1

ϕj(t)vj dt =n∑

j=1

∫ b

a

ϕj(t) dt · vj = 〈∫ b

a

ϕ(t) dt, v〉.

Fur v :=∫

γf ergibt sich damit aus der Cauchy–Schwarzschen Ungleichung

‖v‖22 = 〈∫

γ

f, v〉 =∫ b

a

〈f γ(t), v〉‖γ(t)‖2 dt

≤ ‖v‖2∫ b

a

‖f(γ(t))‖2 · ‖γ(t)‖2 dt = ‖v‖2∫

γ

‖f‖2,

also

‖v‖2 ≤∫

γ

‖f‖2 =∫ b

a

‖f(γ(t))‖2 · ‖γ(t)‖2 dt ≤∫ b

a

‖γ(t)‖2 dt · supa≤t≤b ‖f(γ(t))‖.

Folgerung X.1.11. Ist γ: [a, b] → Rn eine stuckweise stetig differenzierbareKurve, so gilt

s(γ) ≥ ‖γ(b)− γ(a)‖.

Die Geraden sind also die kurzesten Verbindungen zweier Punkte.

Beweis. Wir wenden den zweiten Teil von Satz X.1.10 an und erhalten

‖γ(b)− γ(a)‖ =∥∥∫ b

a

γ(t) dt∥∥ ≤ ∫ b

a

‖γ(t)‖ dt = s(γ).

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194 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Satz X.1.12. (Rechenregeln fur Ableitungen von Skalarprodukten) Sei D ⊆ Rein Intervall und 〈x, y〉 :=

∑nj=1 xjyj das Skalarprodukt auf dem Rn .

(1) Sind γ, ϕ : D → Rn in einem Punkt t ∈ D differenzierbar, so ist auch〈γ, ϕ〉 : D → R, t 7→ 〈γ(t), ϕ(t)〉 in t differenzierbar, und es gilt

〈γ, ϕ〉′(t) = 〈γ(t), ϕ(t)〉+ 〈γ(t), ϕ(t)〉.

(2) Sind γ : D → Rn und ϕ : D → R wie oben, so ist

ϕ · γ : D → Rn, t 7→ ϕ(t)γ(t)

in t differenzierbar mit

(ϕ · γ)′(t) = ϕ(t)γ(t) + ϕ(t)γ(t).

Beweis. Wir wenden die Produktregel komponentenweise an (Ubung).

X.2. Differenzierbare Abbildungen

In diesem Abschnitt werden wir sehen, wie sich das Konzept der Dif-ferenzierbarkeit in geeigneter Weise auf Funktionen in mehreren Veranderlichenubertragen lasst. Der begriffliche Aufwand wird hier dadurch etwas hoher als imEindimensionalen, dass die Ableitung einer Funktion f :U → Rm , U ⊆ Rn offen,in einem Punkt p jetzt eine lineare Abbildung df(p): Rn → Rm ist. Im Eindi-mensionalen kann man lineare Abbildungen R → R mit Zahlen identifizieren, sodass die Ableitung wieder eine Funktion f ′:U → R wird, aber in der allgemeinenSituation erhalten wir eine Funktion

df :U → Hom(Rn,Rm),

und der Raum Hom(Rn,Rm), den wir mit dem Raum Mm,n(R) der (m × n)-Matrizen identifizieren konnen, hat die Dimension nm .

Im folgenden betrachten wir nur die euklidische Norm ‖ · ‖ := ‖ · ‖2 aufRn . Da alle Normen auf dem Rn aquivalent sind, spielt es keine Rolle, welcheNorm wir hier verwenden.

Definition X.2.1. Sei U ⊆ Rn offen und f :U → Rm eine Funktion.(a) Die Funktion f heißt in x ∈ U differenzierbar, wenn eine lineare AbbildungA ∈ Hom(Rn,Rm) existiert, so dass

(2.1) f(x+ h) = f(x) +A(h) + ϕ(h) mit limh→0

ϕ(h)‖h‖

= 0

gilt. Die Abbildung h 7→ f(x) + A(h) ist eine affine Abbildung, die f im Sinnevon (2.1) in x von erster Ordnung approximiert.

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X.2. Differenzierbare Abbildungen 195

(b) Ist f in x differenzierbar, so mochte man auch von der Ableitung von fin x reden. Hierzu hat man die Eindeutigkeit der linearen Abbildung A zuverifizieren. Sei dazu (2.1) erfullt und v ∈ Rn . Fur ausreichend kleine t ∈ R istdann x+ tv ∈ U , und wir erhalten

limt→0

f(x+ tv)− f(x)t

= limt→0

A(tv) + ϕ(tv)t

= Av + limt→0

ϕ(tv)t

= Av.

Also ist die lineare Abbildung A eindeutig durch f bestimmt. Die lineareAbbildung

df(x) := A ∈ Hom(Rn,Rm)

heißt Ableitung oder Differential von f im Punkt x . Fur v ∈ Rn heißt

(2.2) df(x)(v) = limt→0

f(x+ tv)− f(x)t

die Richtungsableitung von f in x in Richtung v .(c) Die Funktion f heißt in U differenzierbar, wenn sie in allen Punkten x ∈ Udifferenzierbar ist.(d) Sie heißt in U stetig differenzierbar, wenn f in U differenzierbar und dieFunktion

df : U → Hom(Rn,Rm) ∼= Mm,n(R) ∼= Rnm

stetig ist. Die Menge der stetig differenzierbaren Funktionen f : U → Rm

bezeichnet man mit C1(U,Rm).

Bemerkung X.2.2. (a) Wir mussen den Begriff der Differenzierbarkeit imMehrdimensionalen anders definieren als im Eindimensionalen, da der Ausdruck

f(x+ h)− f(x)h

fur Vektoren h ∈ Rn keinen Sinn ergibt.(b) Die Definition X.2.1 passt jedoch gut mit der eindimensionalen Situa-

tion zusammen: Fur n = 1 ist f eine Kurve und

f(x) = limh→0

f(x+ h)− f(x)h

= df(x)(1).

Beachte dabei, dass df(x) : R → Rn eine lineare Abbildung ist, die Großef(x) = df(x)(1) ∈ Rm also ein Vektor.

Lemma X.2.3. Ist U ⊆ Rn offen und f :U → Rm eine Funktion, so ist f inx ∈ U genau dann differenzierbar, wenn dies fur alle Komponentenfunktionenfj : U → R , j = 1, . . . ,m , gilt.

Beweis. Sei zunachst f in x differenzierbar und A ∈ Hom(Rn,Rm) mit

f(x+ h) = f(x) +A(h) + ϕ(h) mit limh→0

ϕ(h)‖h‖

= 0.

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196 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Sind Aj ∈ Hom(Rn,R) die Komponentenfunktionen der linearen Abbildung A ,so erhalten wir fur die Komponentenfunktionen von f

(2.3) fj(x+ h) = fj(x) +Aj(h) + ϕj(h) mit limh→0

ϕj(h)‖h‖

= 0,

denn da Konvergenz mit komponentenweiser Konvergenz gleichbedeutend ist(Satz IX.1.9), ist insbesondere limh→0

ϕ(h)‖h‖ = 0 aquivalent zu limh→0

ϕj(h)‖h‖ = 0

fur alle j ∈ 1, . . . ,m . Also ist jede Komponentenfunktion fj in x differenzier-bar.

Ist dies umgekehrt der Fall und gilt (2.3) fur alle j , so betrachten wirdie lineare Abbildung A = (A1, . . . , Am): Rn → Rm und erhalten mit ϕ =(ϕ1, . . . , ϕm) die Beziehung

f(x+ h) = f(x) +A(h) + ϕ(h) mit limh→0

ϕ(h)‖h‖

= 0.

Das obige Lemma macht deutlich, dass die hohere Komplexitat von Funk-tionen f :U → Rm bzgl. Differenzierbarkeitseigenschaften weniger von der An-zahl m der Komponenten im Bildbereich kommt, als vielmehr von der Anzahln der Komponenten im Urbildbereich.

Lemma X.2.4. Ist U ⊆ Rn offen und f :U → Rm in x ∈ U differenzierbar,so ist f in x stetig.

Beweis. Gemaß (2.1) haben wir

f(x+ h) = f(x) + df(x)(h) + ϕ(h) mit limh→0

ϕ(h)‖h‖

= 0.

Aus der Stetigkeit der linearen Abbildung df(x) (Theorem IX.4.15) folgt

limh→0

df(x)(h) = 0,

und weiter ist limh→0 ϕ(h) = limh→0ϕ(h)‖h‖ ‖h‖ = 0. Also erhalten wir

limh→0

f(x+ h)− f(x) = 0,

d.h., f ist in x stetig.

Wir kommen nun zu einer Charakterisierung der Differenzierbarkeit, dieim folgenden einige Beweise vereinfacht.

Satz X.2.5. Die Abbildung f : U → Rm ist genau dann in x ∈ U differenzier-bar, wenn eine Abbildung

Φ : U → Hom(Rn,Rm)

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X.2. Differenzierbare Abbildungen 197

so existiert, dass Φ im Punkt x stetig ist und die Beziehung

f(x+ h) = f(x) + Φ(x+ h)(h)

fur x+ h ∈ U gilt. In diesem Fall ist df(x) = Φ(x) .

Beweis. Sei zunachst

f(x+ h) = f(x) + Φ(x+ h)(h),

wobei Φ in x stetig ist. Fur

A := Φ(x) und ϕ(h) :=(Φ(x+ h)− Φ(x)

)(h) = Φ(x+ h)(h)−A(h)

gilt dann f(x+ h) = f(x) +A(h) + ϕ(h) sowie

limh→0

ϕ(h)‖h‖

= limh→0

(Φ(x+ h)− Φ(x)

)( h

‖h‖

)= 0,

da fur h 6= 0 die Beziehung∥∥∥(Φ(x+ h)− Φ(x))(h

‖h‖)∥∥∥ ≤ ∥∥Φ(x+ h)− Φ(x)

∥∥ · ∥∥∥ h

‖h‖

∥∥∥= ‖Φ(x+ h)− Φ(x)‖ −→

h→00

gilt.Sei jetzt f in x differenzierbar und (2.1) erfullt. Wir definieren Φ(x+h) ∈

Hom(Rn,Rm) durch

Φ(x+ h)(v) :=A(v) fur h = 0A(v) + 〈h, v〉ϕ(h)

‖h‖2 fur h 6= 0.

Dann gilt fur h 6= 0:

f(x+ h) = f(x) +A(h) + ϕ(h) = f(x) +A(h) + 〈h, h〉ϕ(h)‖h‖2

= f(x) + Φ(x+ h)(h).

Die Stetigkeit von Φ in x erhalten wir mit der Cauchy–Schwarzschen Unglei-chung: Zunachst ist

‖Φ(x+ h)(v)− Φ(x)(v)‖ = |〈h, v〉|‖ϕ(h)‖‖h‖2

≤ ‖h‖ · ‖v‖‖ϕ(h)‖‖h‖2

= ‖v‖‖ϕ(h)‖‖h‖

fur alle v ∈ Rn . Fur ‖v‖ ≤ 1 erhalten wir also

‖Φ(x+ h)− Φ(x)‖ ≤ ‖ϕ(h)‖‖h‖

−→h→0

0.

Damit ist Φ in x stetig.

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198 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Satz X.2.6. (Rechenregeln fur Ableitungen)(a) Sind f, g : U → Rm in einem Punkt x ∈ U ⊆ Rn differenzierbare Funk-

tionen, so ist die Funktion λf + µg fur alle λ, µ ∈ R in x differenzierbar,und es gilt

d(λf + µg)(x) = λ · df(x) + µ · dg(x) (Linearitat).

(b) Seien U ⊆ Rn und V ⊆ Rm offene Mengen, f : U → V im Punkte x ∈ Udifferenzierbar und g : V → Rk im Punkte f(x) ∈ V differenzierbar. Dannist die Funktion g f : U → Rk in x differenzierbar, und es gilt die

Kettenregel

d(g f)(x) = dg(f(x)

) df(x).

Beweis. (a) Mit Satz X.2.5 erhalten wir Funktionen Φ,Ψ:U → Hom(Rn,Rm),die in x stetig sind, so dass folgende Beziehungen fur x+ u ∈ U gelten:

f(x+ h) = f(x) + Φ(x+ h)(h) und g(x+ h) = g(x) + Ψ(x+ h)(h).

Dann ist

(λf + µg)(x+ h) = (λf + µg)(x) + (λΦ + µΨ)(x+ h)(h),

und die Funktion λΦ + µΨ:U → Hom(Rn,Rm) ist in x stetig. Hieraus folgt dieDifferenzierbarkeit von f in x und

d(λf + µg)(x) = λΦ(x) + µΨ(x) = λ df(x) + µ dg(x).

(b) Mit Satz X.2.5 erhalten wir eine Funktion Φ:U → Hom(Rn,Rm), die in xstetig ist, und eine Funktion Ψ:V → Hom(Rm,Rk), die in f(x) stetig ist, sodass folgende Beziehungen gelten:

f(x+h) = f(x)+Φ(x+h)(h), und g(f(x)+k) = g(f(x)

)+Ψ(f(x)+k)(k).

Dann ist f(x+ h) = f(x) + k mit k = Φ(x+ h)(h) und daher

(g f)(x+ h) = g(f(x)

)+ Ψ

(f(x+ h)

)(Φ(x+ h)(h)

).

Wir haben Ψ(f(x+ h)

) Φ(x+ h) ∈ Hom(Rn,Rk) und

limh→0

Ψ(f(x+ h)

) Φ(h+ x) = Ψ

(f(x)

) Φ(x),

da f in x stetig ist (Lemma X.2.4) und die Komposition

Hom(Rm,Rk)×Hom(Rn,Rm) → Hom(Rn,Rk), (A,B) 7→ A B

wegen ‖AB‖ ≤ ‖A‖ · ‖B‖ stetig ist, denn sie ist eine bilineare Abbildung (SatzIX.4.18). Also ist g f in x differenzierbar, und das Differential ist gegebendurch

d(g f)(x) = Ψ(f(x)

) Φ(x) = dg

(f(x)

) df(x).

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X.2. Differenzierbare Abbildungen 199

Beispiel X.2.7. (a) Fur eine affine Abbildungf : Rn → Rm, x 7→ A(x) + b

ist df(x) = A fur alle x ∈ Rn (vgl. Def. X.2.1).

Allgemeine Produktregel

(b) Ist f : Rn × Rm ∼= Rn+m → Rk bilinear, so ist f uberall differenzierbar mitdf(x, y)(v, w) = f(x,w) + f(v, y).

Hierbei schreiben wir Elemente aus Rn × Rm ∼= Rn+m jeweils als Paare (x, y)bzw. (v, w) mit x, v ∈ Rn und y, w ∈ Rm . Fur den Beweis schreiben wir

f(x+ h, y + k) = f(x, y) + f(x, k) + f(h, y) + f(h, k).Da f stetig ist, existiert wegen Satz IX.4.17 ein C > 0 mit

‖f(h, k)‖ ≤ C‖h‖ · ‖k‖fur (h, k) ∈ Rn × Rm . Fur das quadratische Restglied f(h, k) ergibt sich daher

‖f(h, k)‖‖(h, k)‖

≤ C‖h‖ · ‖k‖‖(h, k)‖

≤ C‖k‖,

also lim(h,k)→(0,0)‖f(h,k)‖‖(h,k)‖ = 0. Da die Abbildung

Rn × Rm → Rk, (h, k) 7→ f(x, k) + f(h, y)linear ist, ergibt sich hieraus die Differenzierbarkeit von f in (x, y) sowie dieFormel fur df(x, y).

Definition X.2.8. Ist f : U → Rm im Punkt x ∈ U ⊆ Rn differenzierbar,so ist df(x) ∈ Hom(Rn,Rm) durch eine Matrix darstellbar. Wir wollen ihreKomponenten berechnen. Sei dazu

f(x) =

f1(x)···

fm(x)

mit fi : U → R , i = 1, . . . ,m . Ist ej ∈ Rn , j = 1, . . . , n , der j -te kanonischeBasisvektor des Rn (die einzige Komponente ungleich 0 ist eine 1 an der i-tenStelle), so heißt(

Djf)(x) :=

∂f

∂xj(x) := lim

t→0

1t

(f(x+ tej)− f(x)

)= df(x)(ej)

die j-te partielle Ableitung von f in x ∈ U . Entsprechend definiert man∂fi

∂xj(x).

Die Matrix

Jx(f) :=(∂fi

∂xj(x))

i=1,...,mj=1,...,n

=

∂f1∂x1

(x) · · · ∂f1∂xn

(x)∂f2∂x1

(x) · · · ∂f2∂xn

(x)...

...∂fm

∂x1(x) · · · ∂fm

∂xn(x)

heißt Jacobimatrix von f in x .

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200 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Satz X.2.9. Ist U ⊆ Rn offen und die Funktion f : U → Rm in p ∈ U

differenzierbar, so existieren alle partiellen Ableitungen∂fi

∂xjin p , und die lineare

Abbildung df(p) wird bzgl. der kanonischen Basen in Rn und Rm durch dieJacobimatrix Jp(f) dargestellt.

Beweis. Die Existenz der partiellen Ableitungen wurde in Definition X.2.1gezeigt. Ist

f(x) =

f1(x)···

fm(x)

, so ist df(p)(v) =

df1(p)(v)

···

dfm(p)(v)

∈ Rm,

wenn v ∈ Rn ist (siehe Lemma X.2.3). Fur v =∑n

j=1 vjej folgt hieraus

dfi(p)(v) =n∑

j=1

dfi(p)(ej) · vj =n∑

j=1

∂fi

∂xj(p)vj ,

also

df(p)(v) =

∂f1∂x1

(x) · · · ∂f1∂xn

(x)∂f2∂x1

(x) · · · ∂f2∂xn

(x)...

...∂fm

∂x1(x) · · · ∂fm

∂xn(x)

v1v2...vn

= Jp(f) · v,

d.h., das Differential df(p) wird durch die Jacobimatrix Jp(f) dargestellt.

In diesem Sinne konnen wir f(x + h) − f(x) = df(x)(h) + ϕ(h) wie folgtdurch Matrizen und Vektoren beschreiben:

f1(x+ h)− f1(x)f2(x+ h)− f2(x)

...fm(x+ h)− fm(x)

=

∂f1∂x1

(x) · · · ∂f1∂xn

(x)∂f2∂x1

(x) · · · ∂f2∂xn

(x)...

...∂fm

∂x1(x) · · · ∂fm

∂xn(x)

h1

h2...hn

+

ϕ1(h)ϕ2(h)

...ϕm(h)

.

Beispiel X.2.10. Wir betrachten die Funktion

f : R3 → R2, (x, y, z) 7→(

x · ysinx+ cos y

).

Dann istf1(x, y, z) = xy und f2(x, y, z) = sinx+ cos y.

Die partiellen Ableitungen sind

∂f1∂x

(x, y, z) = y,∂f1∂y

(x, y, z) = x,∂f2∂x

(x, y, z) = cosx,

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X.2. Differenzierbare Abbildungen 201

∂f2∂y

(x, y, z) = − sin y, und∂f1∂z

(x, y, z) =∂f2∂z

(x, y, z) = 0.

Damit wird das Differential von f in (x, y, z) durch die Matrix

J(x,y,z)(f) =

(∂f1∂x (x, y, z) ∂f1

∂y (x, y, z) ∂f1∂z (x, y, z)

∂f2∂x (x, y, z) ∂f2

∂y (x, y, z) ∂f2∂z (x, y, z)

)=(

y x 0cosx − sin y 0

)

dargestellt.

Bemerkung X.2.10b. Ist g f eine Komposition differenzierbarer Abbil-dungen f :U → Rm und g:V → Rk , wobei U ⊆ Rn offen ist, so erhalten wir ausder Kettenregel die Beziehung

d(g f)(p) = dg(f(p)) df(p)

fur die Ableitungen. Auf der Ebene der zugehorigen Jacobi-Matrizen wird hierausdie Produktformel

Jp(g f) = Jf(p)(g) · Jp(f),

wobei · fur das Produkt einer (k×m)-Matrix mit einer (m×n)-Matrix steht. Furdie partiellen Ableitungen der Komposition g f ergibt sich damit insbesondere

∂(g f)∂xj

(p) =m∑

`=1

∂g

∂x`(f(p))

∂f`

∂xj(p),

wenn man sich uberlegt, wie die Eintrage der Produktmatrix aussehen.Ein wichtiger Spezialfall hiervon ergibt sich fur n = 1. Dann sind

f :U → Rm und g f :U → Rk Kurven und wir erhalten

(g f)′(t) = d(g f)(t)(1) = dg(f(t))df(t)(1) = dg(f(t))(f ′(t))

bzw.

(g f)′(t) =m∑

`=1

∂g

∂x`(f(p))f ′`(t).

Definition X.2.11. Ist f : U → R , U ⊆ Rn offen, im Punkt x ∈ Udifferenzierbar, so heißt der (Zeilen-)Vektor

grad f(x) := ∇f(x) =(D1f(x), · · · , Dnf(x)

)= Jx(f) =

( ∂f∂x1

(x), · · · , ∂f∂xn

(x))

der Gradient von f in x.

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202 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Fur jedes v ∈ Rn ist die Ableitung in Richtung v dann durch

df(x)(v) = 〈∇f(x), v〉 =n∑

j=1

Djf(x) · vj

gegeben. Fur alle Vektoren v ∈ Rn mit ‖v‖ = 1 gilt mit der Cauchy–Schwarz-schen Ungleichung |df(x)(v)| = |〈∇f(x), v〉| ≤ ‖∇f(x)‖ . Fur den speziellenEinheitsvektor v = ∇f(x)

‖∇f(x)‖ gilt sogar ohne ‖ · ‖ Gleichheit:

〈∇f(x), v〉 =‖∇f(x)‖2

‖∇f(x)‖= ‖∇f(x)‖

(falls ∇f(x) 6= 0). Der Gradient zeigt also in die Richtung des steilsten Anstiegsder Funktion f im Punkt x .

Fur den Fall n = 2 nennt man die Teilmengen Hc := x ∈ U : f(x) = cHohenlinien der Funktion f . Man kann diese Linien verwenden, um sich dasVerhalten der Funktion f zu veranschaulichen (Man denke zum Beispiel an eineLandkarte, die den Bereich U beschreibt, auf der man die Hohe des jeweiligenPunktes durch Hohenlinien eintragt). Ist nun D ⊆ R ein Intervall und γ:D → Ueine Kurve, die in einer Hohenlinie verlauft, d.h. γ(D) ⊆ Hc bzw. f(γ(t)) = cfur alle t ∈ D , so erhalten wir durch Ableiten mit der Kettenregel

0 =d

dtf(γ(t)) = 〈∇f(γ(t)), γ(t)〉.

Geometrisch interpretiert man dies so, dass die Geschwindigkeit der Kurve γsenkrecht zum Gradienten ∇f(γ(t)) in dem Punkt γ(t) ist. Die Hohenlinienverlaufen also in jedem Punkt senkrecht zum Gradienten. Beschreibt f dieHohenfunktion einer Landkarte und ist γ:D → U ein Weg, den ein Wandererdurchlauft, so bedeutet f(γ(t)) = c , dass der Wanderer auf einem Hohenwegentlanglauft. Das ist zwar nicht anstrengend, er legt dabei aber auch keinenHohenunterschied zuruck. Ein Bergsteiger wurde eher einen Weg mit

γ(t) = ∇f(γ(t)),

einen sogenannten Gradientenweg, vorziehen.

Beispiel X.2.12. Die Existenz der partiellen Ableitungen∂fi(x)∂xj

ist zwar

notwendig, aber nicht hinreichend fur die Differenzierbarkeit (Stetigkeit) imPunkt x . Als Beispiel betrachten wir die Funktion

f : R2 → R, (x, y) 7→

0, falls (x, y) = 0xy

x2+y2 , sonst.

Im Punkt (x, y) = (0, 0) ist dann

∂f

∂x(0, 0) = lim

t→0

1t

(f(t, 0)− f(0, 0)

)= 0 und

∂f

∂y(0, 0) = 0.

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X.2. Differenzierbare Abbildungen 203

Aber die Funktion f ist im Nullpunkt unstetig, da fur alle t 6= 0 gilt

f(t, t) =t2

t2 + t2=

12.

Setzt man etwas starkere Regularitat der partiellen Ableitungen voraus, so lasstsich die Differenzierbarkeit allerdings doch durch die partiellen Ableitungennachprufen.

Satz X.2.13. Die Funktion f : U → Rm sei uberall partiell differenzierbar, unddie partiellen Ableitungen seien in x ∈ U stetig. Dann ist f in x differenzierbar.Beweis. Wir durfen o.B.d.A. m = 1 annehmen (vgl. Lemma X.2.3). Wirschreiben h ∈ Rn als h =

∑nj=1 hjej . Dann ist

f(x+ h)− f(x) =n∑

k=1

f(x1 + h1, . . . , xk−1 + hk−1, xk + hk, xk+1, . . . , xn)

− f(x1 + h1, . . . , xk−1 + hk−1, xk, xk+1, . . . , xn).

Wenden wir den Mittelwertsatz der Differentialrechnung auf jeden Summanden(als Funktion von hk ) an, so finden wir Zahlen ϑj ∈ ]0, 1[, j = 1, . . . , n , mit

f(x+h)−f(x) =n∑

k=1

(Dkf

)(x1+h1, . . . , xk−1+hk−1, xk+ϑkhk, xk+1, . . . , xn)·hk.

Wir definieren nun Φ(x+ h) ∈ Hom(Rn,Rm) durch

Φ(x+h)(v) :=n∑

k=1

(Dkf

)(x1 +h1, . . . , xk−1 +hk−1, xk +ϑkhk, xk+1, . . . , xn) · vk.

Dann erhalten wirf(x+ h)− f(x) = Φ(x+ h)(h).

Dalimh→0

Φk(x+ h) = limh→0

(Dkf)(x1 + h1, . . . , xk−1 + hk−1, xk + ϑkhk, xk+1, . . . , xn)

= Dkf(x) = Φk(x)

nach Voraussetzung gilt, ist Φ in x stetig und daher f in x differenzierbar.

Mittelwertsatz

Satz X.2.14. Sei U ⊆ Rn offen und f : U → R differenzierbar. Sei x+th ∈ Ufur alle t ∈ [0, 1] . Dann existiert ein ϑ ∈ ]0, 1[ mit

f(x+ h)− f(x) = df(x+ ϑh)(h).

Beweis. Wir betrachten die differenzierbare Funktion

g : [0, 1] → R, t 7→ f(x+ th) mit g′(t) = df(x+ th)(h).

Nach dem Mittelwertsatz der Differentialrechnung V.2.2 existiert ein ϑ ∈ ]0, 1[mit

f(x+ h)− f(x) = g(1)− g(0) = g′(ϑ) = df(x+ ϑh)(h),

wobei die letzte Gleichung aus der Kettenregel folgt.

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204 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Bemerkung X.2.15. Fur Funktionen : U → Rm mit m ≥ 2 gilt derMittelwertsatz im allgemeinen nicht. Als Beispiel hierzu betrachten wir dieSpiralkurve:

γ : R → R3, t 7→ (cos t, sin t, t).

Dann ist γ(0) = (1, 0, 0), γ(2π) = (1, 0, 2π) und

γ(t) = dγ(t)(1) = (− sin t, cos t, 1).

Fur 0 < t < 2π zeigt γ(t) nie in Richtung von γ(2π)− γ(0), also ist

γ(2π)− γ(0) 6= γ(t) · 2π

fur alle t ∈ [0, 2π] .

Fur m ≥ 2 ist die folgende Version des Mittelwertsatzes die nachstbesteund sehr nutzlich:

Satz vom endlichen Zuwachs

Satz X.2.16. Sei U ⊆ Rn offen und f : U → Rm stetig differenzierbar sowiex+ th ∈ U fur alle t ∈ [0, 1] . Dann ist

f(x+ h)− f(x) =∫ 1

0

df(x+ th)(h) dt.

Ist ‖df(x+ th)‖ ≤M fur alle t ∈ [0, 1] , so gilt

‖f(x+ h)− f(x)‖ ≤M · ‖h‖.

Beweis. Fur g(t) := f(x+ th) gilt g′(t) = df(x+ th)(h) (Bemerkung X.2.10b)und daher

f(x+ h)− f(x) = g(1)− g(0) =∫ 1

0

g′(t) dt =∫ 1

0

df(x+ th)(h) dt,

womit die erste Aussage schon gezeigt ware. Fur die zweite wenden wir dieIntegralabschatzung aus Satz X.1.9 auf γ = id[0,1] an und erhalten so:

‖f(x+ h)− f(x)‖ =∥∥∫ 1

0

df(x+ th)(h) dt‖ ≤∫ 1

0

‖df(x+ h)(h)‖ dt

=∫ 1

0

M · ‖h‖ dt = M · ‖h‖.

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X.3. Hohere partielle Ableitungen und Taylorentwicklung 205

X.3. Hohere partielle Ableitungen und Taylorentwicklung

In diesem Abschnitt werden wir den Taylorschen Satz fur differenzier-bare Funktionen von mehreren Veranderlichen kennenlernen. Nachdem wir unsuberlegt haben, wie wir die vielen Glieder, die in der Taylorentwicklung auftreten,geschickt bezeichnen, werden wir sehen, dass man im Prinzip genauso wie imEindimensionalen vorgehen kann.Es seien U ⊆ Rn eine offene Menge und f : U → Rm eine Funktion. Wir

nehmen an, dass die partiellen Ableitungen Djf(x) =∂f

∂xj(x) fur alle x ∈ U

und j ∈ 1, . . . , n existieren. Fur jedes j ∈ 1, . . . , n ist dann Djf eineFunktion Djf : U → Rm.

Definition X.3.1. (a) Sind die Funktionen Djf : U → Rm , j ∈ 1, . . . , nwieder partiell differenzierbar, so konnen wir fur alle x ∈ U die hoheren partiellenAbleitungen

DiDjf(x) := Di

(Djf

)(x) =:

∂2f

∂xi∂xj(x)

definieren. Die Funktion f heißt dann zweimal partiell differenzierbar.(b) Die Funktion f heißt k-mal partiell differenzierbar (k ≥ 2), wenn sie (k−1)-mal partiell differenzierbar ist und alle partiellen Ableitungen

Dik−1Dik−2 . . . Di1f := Dik−1

(Dik−2 . . . (Di1f) · · ·

)wieder partiell differenzierbar sind. Fur jedes k -Tupel (i1, . . . , ik) ∈ 1, . . . , nk

erhalten wir dann wieder Funktionen

DikDik−1 . . . Di1f =

∂kf

∂xik· · · ∂xi1

: U → Rm,

die k-ten partiellen Ableitungen von f.(c) Die Funktion f heißt k-mal stetig partiell differenzierbar, falls sie k -malpartiell differenzierbar ist und alle partiellen Ableitungen k -ter Ordnung stetigsind.

Als Beispiel betrachten wir die Funktion f : R2 → R, f(x, y) = 3x2y+ y3 .Dann ist f zweimal stetig partiell differenzierbar mit den partiellen Ableitungen:

D1f(x, y) = 6xy, D1D1f(x, y) = 6y, D2f(x, y) = 3x2 + 3y2,

D2D2f(x, y) = 6y, D1D2f(x, y) = 6x = D2D1f(x, y).

dass die ”gemischten“ Ableitungen in der letzten Zeile ubereinstimmen, ist keinZufall:

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206 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Satz von Schwarz

Satz X.3.2. 1 Sei U ⊆ Rn offen und f : U → Rm zweimal stetig partielldifferenzierbar. Dann gilt fur alle i, j ∈ 1, . . . , n

DiDjf = DjDif.

Beweis. Wir durfen o.B.d.A. m = 1 annehmen, da wir die Komponenten vonf getrennt behandeln konnen. Sei u ∈ U . Da U offen ist, existiert ein ε > 0,so dass u + sei + tej ∈ U fur alle Zahlen s und t mit |s|, |t| < ε gilt. SeiU ′ :=]− ε, ε[×]− ε, ε[⊆ R2 und

ϕ:U ′ → R, ϕ(s, t) := f(u+ sei + tej).

Dann besagt die Voraussetzung insbesondere, dass D1D2ϕ existiert und stetigist. Zu zeigen ist nun

(DiDjf)(u) = (D1D2ϕ)(0, 0) = (D2D1ϕ)(0, 0) = (DjDif)(u).

Nach Definition ist

D2D1ϕ(0, 0) =d

dt

∣∣∣t=0

lims→0

ϕ(s, t)− ϕ(0, t)s

= limt→0

lims→0

1s

(ϕ(s, t)− ϕ(0, t)

)− 1

s

(ϕ(s, 0)− ϕ(0, 0)

)t

.

Wir wenden den Mittelwertsatz der Differentialrechnung auf die zweite Variabledieses Ausdrucks an und erhalten so

D2D1ϕ(0, 0) = limt→0

lims→0

1s

((D2ϕ)(s, ϑs,tt)− (D2ϕ)(0, ϑs,tt)

)fur ein ϑs,t ∈ ]0, 1[, das von t und s abhangt. Auf den so entstandenen Ausdruckwenden wir den Mittelwertsatz noch einmal an, diesmal fur die erste Variable,und erhalten

D2D1ϕ(0, 0) = limt→0

lims→0

D1D2ϕ(ϑs,ts, ϑs,tt)

mit 0 < ϑs,t, ϑs,t < 1. Da D1D2ϕ nach Voraussetzung stetig ist, folgt somit

D2D1ϕ(0, 0) = D1D2ϕ(0, 0).

1 Hermann Amandus Schwarz (1843-1921), deutscher Mathematiker. Schuler von Kum-

mer und Weierstraß in Berlin. Er war Professor in Halle, Zurich, Gottingen und der Berliner

Akademie der Wissenschaften. Schwarz beschaftigte sich insbesondere mit der Funktionenthe-

orie und zeigte vielfache Anwendungsmoglichkeiten auf. Nach ihm benannt sind die Cauchy-

Schwarz-Ungleichung und der Satz von Schwarz.

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X.3. Hohere partielle Ableitungen und Taylorentwicklung 207

Beispiel X.3.3. Der Satz von Schwarz hat eine interessante Konsequenz fur dieExistenz von ”Stammfunktionen“ von Funktionen in mehreren Veranderlichen.Gegeben sei eine stetig partiell differenzierbare Funktion v : R2 → R2 (ein soge-nanntes Vektorfeld) und gesucht sei eine zweimal stetig partiell differenzierbareFunktion f : R2 → R mit

v = grad f = (D1f,D2f),

d.h., f ist eine Losung der partiellen Differentialgleichung

∂f

∂x1= v1,

∂f

∂x2= v2.

Der Satz von Schwarz liefert eine notwendige Bedingung fur die Funktion v . Istobige Gleichung erfullt, so erhalten wir

D2v1 = D2D1f = D1D2f = D1v2.

Wir betrachten hierzu ein konkretes Beispiel: Fur die Funktion

v : R2 → R2, (x, y) 7→ (−y, x)

ist D2v1(x, y) = −1 6= 1 = D1v2(x, y), also existiert keine Funktion f mitv = grad f . In diesem Sinn hat das Vektorfeld v keine Potentialfunktion (esist kein Gradientenfeld). Dies ist gleichbedeutend zu der Tatsache, dass es keinestetig differenzierbare Funktion f : R2 → R gibt, die die beiden Gleichungen

∂f

∂x(x, y) = −y und

∂f

∂y(x, y) = x

erfullt.

Wir fuhren einige Bezeichnungen ein, die uns in diesem Abschnitt sehr vielSchreibarbeit ersparen werden.

Definition X.3.4. (a)• Ein n -Tupel α = (α1, . . . , αn) ∈ Nn

0 heißt Multi-Index.• Die Zahl |α| := α1 + . . .+ αn heißt Ordnung von α .• Die Zahl α! := α1! · . . . · αn! heißt α-Fakultat.• Die Zahl

(βα

):=∏n

j=1

(βj

αj

)heißt Binomialkoeffizient.

• Die Funktion Rn → R, x 7→ xα := xα11 · . . . · xαn

n heißt Monom vomExponenten α .

• Ist P (x) =∑

α cαxα ein Polynom (die Summe sei endlich), so

definieren wir seinen Grad durch degP := max|α|: cα 6= 0 .Auf der Menge der Multiindizes definiert man Addition und Subtraktionsowie eine partielle Ordnung:

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208 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

• Wir definieren β ≤ α : ⇐⇒ βi ≤ αi fur alle i ∈ 1, . . . , n , und• α±β := (α1±β1, . . . , αn±βn), wobei α−β nur fur β ≤ α definiert

ist.(b) Fur k ∈ N sei Dk

i f := Di(Dk−1i f) =: ∂k

∂xki

f und D0i f := f . Nun definieren

wir eine Kurzschreibweise fur hohere gemischte Ableitungen. Fur α ∈ Nn0 sei

Dαf := Dα11 Dα2

2 · · ·Dαnn f =:

∂|α|

∂xα11 · · · ∂xαn

nf, D0f := f.

(c) Eine Funktion f : U → Rm heißt Ck -Funktion oder k -mal stetig differen-zierbar, kurz: f ∈ Ck(U,Rm), falls sie k -mal stetig partiell differenzierbar ist(vgl. Satz X.2.13). Weiter sei

C∞(U,Rm) :=∞⋂

k=0

Ck(U,Rm).

Man beachte, dass sich fur f ∈ Ck(U,Rm) jede partielle Ableitung der Ordnung≤ k als ein Dαf schreiben lasst (Satz von Schwarz). Schließlich setzen wir noch

Ck(U) := Ck(U,R).

Beispiel X.3.5. Ist β ∈ Nn0 und fβ : Rn → R, fβ(x) = xβ = xβ1

1 · . . . · xβnn , so

gilt

Dαfβ(x) =

β!(β−α)!x

β−α, falls α ≤ β

0, sonst.Um dies einzusehen, wendet man mehrfach die Produktregel an und erhalt

Dαxβ = (Dα11 xβ1

1 ) · . . . · (Dαnn xβn

n )

=

β1!(β1−α1)!

xβ1−α11 · . . . · βn!

(βn−αn)!xβn−αnn fur α ≤ β

0 sonst

fur alle α ≤ β . An der Stelle x = 0 erhalten wir insbesondere

(Dαxβ)(0) =

0, falls α 6= βα!, sonst.

Definition X.3.6. Sei f : U → Rm eine k -mal stetig differenzierbareFunktion. Das k-te Taylorpolynom von f bei u ∈ U ist das Polynom

T ku (f)(x) =

∑|α|≤k

(Dαf)(u)α!

= f(u) + (D1f)(u)x1 + (D2f)(u)x2

+12(D2

1f)(u)x21 +

12(D2

2f)(u)x22 + (D1D2f)(u)x1x2 + . . . .

Man beachte dabei, dass (Dαf)(u) jeweils ein Vektor in Rm ist.

Wir erhalten die gleiche Charakterisierung des Taylorpolynoms wie in Kapi-tel VIII:

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X.3. Hohere partielle Ableitungen und Taylorentwicklung 209

Bemerkung X.3.7. (a) Das Polynom T ku (f) hat in 0 bis zur Ordnung k die

gleichen Ableitungen wie f in u , d.h., fur alle α mit |α| ≤ k gilt

Dα(T ku (f))(0) = (Dαf)(u).

Dies folgt aus Beispiel X.3.5:

Dα(T kn (f))(0) =

( ∑|β|≤k

(Dβf

)(u)

β!xβ)(0)

=∑|β|≤k

(Dβf

)(u)

β!(Dαxβ

)(0) =

(Dαf

)(u)

α!α! =

(Dαf

)(u).

(b) Diese Eigenschaft bestimmt das k -te Taylorpolynom eindeutig, denn istp(x) =

∑|α|≤k aα ·xα mit aα ∈ Rm ein Polynom mit

(Dαp

)(0) =

(Dαf

)(u) fur

alle α mit |α| ≤ k , so ist(Dαf

)(u)

α!=

(Dαp

)(0)

α!= aα.

Rechenregeln fur Taylorpolynome

Analog zum Fall n = m = 1 leiten wir die folgenden Rechenregeln ab.

Satz X.3.8. Sei U ⊆ Rn offen und u ∈ U .(a) Sind f, g ∈ Ck(U,Rm) , λ, µ ∈ R und u ∈ U , so gilt

T ku (λf + µg) = λT k

u (f) + µT ku (g).

(b) Ist f ∈ Ck(U) und g ∈ Ck(U,Rm) , so gilt die Produktregel:

T ku (f · g) = T k

0

(T k

u (f) · T ku (g)

).

(c) Ist V ⊆ Rm offen und g ∈ Ck(U,Rm) mit g(U) ⊆ V sowie f ∈ Ck(V,R`) ,so gilt fur g(u) = v die allgemeine Kettenregel

T ku (f g) = T k

0

(T k

v (f) (T ku (g)− v)

).

Beweis. (a) Dies folgt aus der Linearitat der Abbildungen

Dα : Ck(U,Rm) → Ck−|α|(U,Rm).

(b) Nach Verschieben um u durfen wir o.B.d.A. u = 0 annehmen. Wir setzenϕ(x) := f(x) − T k

0 (f)(x) und ψ(x) := g(x) − T k0 (g)(x). Dann ist

(Dαϕ

)(0) =(

Dαψ)(0) = 0 fur alle α mit |α| ≤ k und

(3.1) (f · g)(x) = T k0 (f)(x) · T k

0 (g)(x) + ϕ(x) · T k0 (g)(x) + f(x) · ψ(x).

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210 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Wir erinnern uns nun an die Leibnizformel

(h1 · h2)[n] =n∑

k=0

(n

k

)h

[k]1 · h[n−k]

2

fur die Ableitung von Produkten von Funktionen einer Veranderlichen(Satz VII.2.1). Diese Formel lasst sich leicht auf den Fall von mehreren Verander-lichen verallgemeinern:

Dα(h1 · h2) =α1∑

β1=0

· · ·αn∑

βn=0

(α1

β1

)· · ·(αn

βn

)Dβ(h1)Dα−β(h2)

=∑β≤α

β

)Dβ(h1)Dα−β(h2),(3.2)

indem man die Faktoren Dαj

j von Dα nacheinander anwendet. An (3.2) lesenwir nun unmittelbar ab, dass

Dα(ϕ · T k0 (g))(0) = Dα(f · ψ)(0) = 0

fur alle α mit |α| ≤ k gilt, d.h., die Restglieder in (3.1) liefern keinen Beitragzum k -ten Taylorpolynom. Also gilt (b).(c) Nach Ersetzen von g durch die Funktion g(x) := g(u+ x)− v und f durchdie Funktion f(x) := f(v + x), durfen wir o.B.d.A. annehmen, dass u = v = 0ist, denn die verschobenen Funktionen haben, bis auf den konstanten Term, diegleichen Taylorpolynome. Insbesondere ist dann g(0) = 0. Nun vereinfacht sichdie Behauptung zu

T k0 (f g) = T k

0

(T k

0 (f) T k0 (g)

).

Fall 1: Wir zeigen zuerst durch Induktion nach k , dass aus T k0 (f) = 0 schon

T k0 (f g) = 0 folgt.

Fur k = 0 folgt dies aus (f g)(0) = f(g(0)) = f(0) = 0.Wir nehmen nun an, dass die Behauptung fur k−1 gilt, d.h., T k−1

0 (f) = 0impliziert T k−1

0 (f g) = 0 fur Ck−1 -Funktionen f ∈ Ck−1(V,R`). Ist nun|α| = k und αj > 0, so erhalten wir mit der Kettenregel (Bemerkung X.2.10b)und der Leibnizformel:

Dα(f g)(0) = Dα−ejDj(f g)(0) =n∑

i=1

Dα−ej((Di(f) g) ·Dj(gi)

)(0)

=n∑

i=1

∑β≤α−ej

(α− ej

β

)Dβ(Di(f) g)(0)︸ ︷︷ ︸

=0

·Dα−β(gi)(0),

denn wir konnen die Induktionsvoraussetzung auf die Funktionen Di(f) anwen-den, deren partielle Ableitungen bis zur Ordnung k−1 in 0 verschwinden. Damit

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X.3. Hohere partielle Ableitungen und Taylorentwicklung 211

ist Dα(f g)(0) = 0. Fur |α| < k folgt Dα(f g)(0) = 0 ohnehin aus der In-duktionsvoraussetzung. Daher ist T k

0 (f g) = 0. Wir haben also

0 = T k0 (f g) = T k

0

(T k

0 (f)︸ ︷︷ ︸=0

T k0 (g)

)gezeigt.Fall 2: Allgemein setzen wir ϕ := f − T k

0 (f) und beachten T k0 (ϕ) = 0. Dann

konnen wir (1) anwenden und erhalten mit Fall 1:

T k0 (f g) = T k

0

(T k

0 (f) g + ϕ g)

= T k0

(T k

0 (f) g).

Da T k0 (f) ein Polynom ist, erhalten wir durch mehrmaliges Anwenden von (a)

und (b):T k

0 (f g) = T k0

(T k

0 (f) T k0 (g)

).

Beispiel X.3.9. Gesucht sei das Taylorpolynom T 20 (f) der Funktion

f : R2 → R, f(x1, x2) = ex21+cos x2 .

Wir wollen die allgemeine Kettenregel Satz X.3.8(c) anwenden und schreibendazu f = g h fur

g: R → R, g(x) = ex und h: R2 → R, h(x1, x2) = x21 + cosx2.

In unserem Fall ist u = (0, 0) und v = h(u) = 1. Wir haben also

T 20 (f) = T 2

0

(T 2

1 (g) (T 20 (h)− 1)

).

Uber die Reihenentwicklung der Kosinusfunktion erhalten wir direkt

T 20 (h)(x) = x2

1 + 1− x22

2,

denn alle Terme hoherer Ordnung tragen nichts zu den Ableitungen bis zurOrdnung 2 in 0 bei. Weiter ist

T 21 (g)(y) = g(1) + g′(1)y +

12g′′(1) = e+ ey +

12ey2.

Wir erhalten also

T 21 (g) (T 2

0 (h)− 1) = e+ e(x21 −

12x2

2) + e2(x21 −

12x2

2)2.

Das Taylorpolynom der Ordnung 2 von diesem Polynom an der Stelle u = 0erhalten wir durch Weglassen der Terme hoherer Ordnung:

T 20 (f)(x) = T 2

0

(T 2

0 (g) (T 21 (h)− 1)

)(x) = e+ e(x2

1 −12x2

2).

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212 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Bemerkung X.3.10. Sei U ⊆ Rn offen und f ∈ Ck(U). Weiter sei x+ sh ∈U fur s ∈ [0, 1]. Wir betrachten die Funktion g: [0, 1] → Rn, s 7→ x + sh . Furk ≥ 1 und τ ∈ [0, 1] gilt dann T k

τ (g)(t) = g(τ)+ t ·h , also T kτ (g)(t)−g(τ) = t ·h .

Mit Satz X.3.8(c) und der Tatsache, dass T kg(τ)(f)(th) schon ein Polynom der

Ordnung ≤ k in t ist, erhalten wir

T kτ (f g)(t) = T k

0

(T k

g(τ)(f)(th))

= T kg(τ)(f)(th) =

∑|α|≤k

(Dαf)(g(τ))α!

hα · t|α|.

Aus

T kτ (f g)(t) =

k∑m=0

(f g)[m](τ)m!

tm

(der Formel fur das Taylorpolynom von f g:D → R) folgt daher durch Koef-fizientenvergleich

(3.3)(f g)[m](τ)

m!=

1m!

dm

dsm

∣∣∣s=τ

f(x+ sh) =∑|α|=m

(Dαf

)(x+ τh)α!

hα.

Nach diesen Vorbereitungen wenden wir uns der Taylorschen Formel zu,die angibt, wie gut eine Funktion durch ihr Taylorpolynom der Ordnung kapproximiert wird. Die wesentliche Idee ist, dass wir die Taylorformel fur eineVeranderliche auf die Verbindungsstrecke von x und x+ h anwenden.

Satz von Taylor

Satz X.3.11. Sei U ⊆ Rn offen, f ∈ Ck+1(U) , und die Verbindungsstreckex+ sh | 0 ≤ s ≤ 1 sei in U enthalten. Dann existiert ein θ ∈ ]0, 1[ mit

f(x+ h) = T kx (f)(h) +

∑|α|=k+1

(Dαf

)(x+ θh)α!

hα.

Beweis. Sei ϕ(s) := f(x + sh) fur 0 ≤ s ≤ 1. Dann besagt die Taylorformelmit der Restglieddarstellung nach Lagrange (VII.1.6)

ϕ(1) =k∑

j=0

1j!ϕ[j](0) +

1(k + 1)!

ϕ[k+1](θ)

fur ein θ ∈ ]0, 1[. Setzen wir (3.3) hier ein, so ergibt sich

f(x+ h) = ϕ(1) =∑|α|≤k

(Dαf

)(x)

α!hα +

∑|α|=k+1

(Dαf

)(x+ θh)α!

hα.

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X.4. Das lokale Verhalten von Funktionen 213

Satz X.3.12. (Restgliedabschatzung) Fur f ∈ Ck+1(U) gilt

f(x+ h) = T k+1x (f)(h) + ϕ(h) mit lim

h→0

ϕ(h)‖h‖k+1

= 0.

Beweis. Da U offen ist, durfen wir annehmen, daß Uε(x) ⊆ U ist und ‖h‖ < ε .Nach Satz X.3.11 gilt fur ein τ ∈]0, 1[:

ϕ(h) := f(x+ h)− T k+1x (f)(h) = f(x+ h)− T k

x (f)(h)−∑

|α|=k+1

(Dαf)(x)α!

=∑

|α|=k+1

(Dαf

)(x+ τh)−

(Dαf

)(x)

α!hα.

Wegen |hj | ≤ ‖h‖ = ‖h‖2 erhalten wir

|hα| = |h1|α1 · . . . · |hn|αn ≤ ‖h‖α1+...+αn = ‖h‖|α| = ‖h‖k+1

und daher |hα|‖h‖k+1 ≤ 1. Der Ausdruck(

Dαf)(x+ τh)−

(Dαf

)(x)

α!

in der obigen Summe geht fur h → 0 gegen Null, da f ∈ Ck+1(U) ist. Hiermiterhalten wir limh→0

ϕ(h)‖h‖k+1 = 0.

Man beachte, dass diese Restgliedabschatzung die Approximation

f(x+ h) = f(x) + df(x)(h) + ϕ(x) mitϕ(h)‖h‖

−→ 0

verallgemeinert, die zur Differenzierbarkeit aquivalent ist. In der Tat erhaltenwir fur k = 0 das Taylorpolynom

T 1x (f)(h) = f(x) + df(x)(h) = f(x) +

n∑j=1

(Dif)(x)hi.

X.4. Das lokale Verhalten von Funktionen

In diesem Abschnitt werden wir Extrema von differenzierbaren reellwertigenFunktionen studieren, die auf offenen Teilmengen des Rn definiert sind. Wirwerden hierbei sehen, dass das Verhalten der Funktion in Bezug auf Extrema imwesentlichen durch das Taylorpolynom zweiter Ordnung bestimmt wird.

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214 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Sei U ⊆ Rn eine offene Teilmenge und f ∈ C2(U,R). Dann ist dasTaylorpolynom zweiter Ordnung in u ∈ U gegeben durch

T 2u(f)(x) = f(u) +

n∑i=1

(Dif

)(u) · xi +

12

n∑i,j=1

(DiDjf

)(u)xixj

= f(u) +n∑

i=1

∂f

∂xi(u) · xi +

12

n∑i,j=1

∂2f

∂xi∂xj(u)xixj .

Hierbei beachten wir, dass jeder Multiindex α vom Grad 1 die Gestalt

(0, . . . , 0, 1, 0, . . . , 0)

(eine 1 an der i-ten Stelle) besitzt. Multiindizes vom Grad haben die Gestalt

(0, . . . , 0, 2, 0, . . . , 0) oder (0, . . . , 0, 1, 0, . . . , 0, 1, 0, . . . , 0).

In diesem Abschnitt werden wir das Taylorpolynom der Ordnung 2 einerFunktion verwenden, um ihr lokales Verhalten zu beschreiben.

Definition X.4.1. Ist f ∈ C2(U,R) und u ∈ U , so heißt

Hu(f) :=(

∂2f

∂xi∂xj(u))

i,j=1,...,n

die Hessematrix von f in u . Nach dem Satz von Schwarz ist Hu(f) einesymmetrische Matrix. Die Abbildung

Hu(f) : Rn → R, x 7→ 〈Hu(f)x, x〉 =n∑

i,j=1

∂2f

∂xi∂xj(u)xixj

heißt Hesseform von f in u . Sie ist eine quadratische Form auf Rn .

Mit der obigen Definition gilt fur das Taylorpolynom zweiter Ordnung einerFunktion f ∈ C2(U,R)

T 2u(f)(h) = f(u) + df(u)(h) + 1

2Hu(f)(h) = f(u) + Ju(f)h+12h>Hu(f)h

und f(u+ h) = T 2u(f)(h) + ϕ(h) mit |ϕ(h)|

‖h‖2 −→ 0 fur h→ 0 (vgl. X.3.11).

Definition X.4.2. Sei U ⊆ Rn offen und f ∈ C1(U). Ein Punkt u ∈ Uheißt kritischer Punkt, wenn df(u) = 0 ist. In diesem Fall heißt f(u) kritischerWert von f .

Wir beachten, dass u genau dann kritischer Punkt ist, wenn alle partiellenAbleitungen von f in u verschwinden, d.h.

D1(f)(u) = . . . = Dn(f)(u) = 0

gilt.

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X.4. Das lokale Verhalten von Funktionen 215

Definition X.4.3. Sei f :U → R differenzierbar.(a) Ein Punkt u ∈ U heißt ein (isoliertes) lokales Maximum von f , wenn einε > 0 so existiert, dass Uε(u) ⊆ U und f(u+ h) ≤ f(u) (f(u+ h) < f(u)) furalle h mit 0 6= ‖h‖ < ε gilt. Der Begriff des (isolierten) lokalen Minimums wirdanalog definiert. Die Funktion f hat in u ein lokales Extremum, wenn sie in uein lokales Maximum oder ein lokales Minimum hat.(b) Der Punkt u heißt globales Maximum bzw. globales Minimum, falls fur allev ∈ U gilt f(v) ≤ f(u) (bzw. f(v) ≥ f(u)).

Notwendige Bedingung fur Extrema

Lemma X.4.4. Hat f ∈ C1(U) in u ein lokales Extremum, so ist u einkritischer Punkt.

Beweis. Sei u ∈ U ein lokales Extremum von f und v ∈ Rn . Wir haben zuzeigen, dass df(u)(v) = 0 gilt. Hierzu wahlen wir δ > 0 so klein, dass u+tv ∈ Ufur |t| ≤ δ gilt (die Existenz folgt aus der Offenheit von U ). Wir betrachten nundie Funktion

ϕv : [−δ, δ] → R, t 7→ f(u+ tv).

Diese Funktion hat im Nullpunkt ein lokales Extremum und daher ist

0 = ϕ′v(0) = df(u)(v).

Beispiel X.4.5. (a) Sei f : R2 → R, f(x, y) = x2 + y2 . Dann ist

∇f(x, y) = (2x, 2y) = 0

genau dann, wenn (x, y) = (0, 0) ist. Daher ist der Nullpunkt der einzige kritischePunkt, und es liegt dort ein globales Minimum vor.(b) Genauso hat die Funktion f(x, y) = −x2 − y2 im Nullpunkt ein globalesMaximum.(c) Die Funktion f : R2 → R, (x, y) 7→ x2 − y2 hat zwar in (0, 0) einen kriti-schen Punkt, aber trotzdem kein Extremum. Der Nullpunkt ist ein sogenannterSattelpunkt.

Definition X.4.6. (Wiederholung aus der linearen Algebra) Sei A einesymmetrische (n× n)-Matrix.

(a) A heißt positiv definit, wenn 〈Ax, x〉 > 0 fur alle x 6= 0 gilt.(b) A heißt positiv semidefinit, wenn 〈Ax, x〉 ≥ 0 fur alle x ∈ Rn gilt.(c) A heißt negativ (semi-)definit, wenn −A positiv (semi-)definit ist.(d) A heißt indefinit, wenn es x, y ∈ Rn gibt, so dass 〈Ax, x〉 > 0 und

〈Ay, y〉 < 0 gelten.

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216 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Hauptachsentransformation

Bemerkung X.4.7. (a) Zu jeder symmetrischen Matrix A existiert eineOrthonormalbasis v1, . . . , vn von Rn aus Eigenvektoren von A , d.h., dass furjedes j = 1, . . . , n ein λj ∈ R mit Avj = λjvj existiert. Fur x =

∑nj=1 xjvj gilt

dann

〈Ax, x〉 =n∑

j=1

x2jλj .

Daraus folgt, dass A genau dann positiv (semi-)definit ist, wenn alle Eigenwerteλj > 0 (λj ≥ 0) sind. Die Matrix ist genau dann indefinit, wenn es sowohlpositive als auch negative Eigenwerte gibt.(b) Ist A eine positiv definite symmetrische Matrix und B ∈ GLn(R) eineinvertierbare Matrix, so ist A genau dann positiv definit, wenn B>AB positivdefinit ist. Fur v ∈ Rn haben wir namlich

〈B>ABv, v〉 = 〈ABv,Bv〉,

und da Multiplikation mit B bijektiv ist, ist dieser Ausdruck genau dann fur all0 6= v ∈ Rn positiv, wenn 〈A.w,w〉 > 0 fur alle 0 6= w ∈ Rn gilt. Also ist Agenau dann positiv definit, wenn dies fur B>AB der Fall ist.

Hurwitzkriterium

Satz X.4.8. 1 Eine symmetrische n × n-Matrix A ist genau dann positivdefinit, wenn alle Hauptminoren positiv sind, d.h. wenn fur alle k ∈ 1, . . . , ngilt

det

a11 . . . a1k...

...ak1 . . . akk

> 0.

Beweis. Fur k ≤ n setzen wir

Ak :=

a11 . . . a1k...

...ak1 . . . akk

.

Notwendigkeit der Bedingung: Ist A positiv definit, so sind auch alle Ma-trizen Ak positiv definit. In der Tat, fur 0 6= x ∈ Rk sei x = (x1, . . . , xk, 0, . . . , 0)der zugehorige Vektor im Rn . Dann ist

〈Akx, x〉 = 〈Ax, x〉 > 0.

1 Adolf Hurwitz (1859–1919), deutscher Mathematiker. Er studierte bei Felix Klein in

Munchen und bei Kummer, Kronecker und Weierstraß in Berlin. Professor in Konigsberg und

Zurich. Er beschaftigte sich vor allem mit Zahlentheorie, aber auch mit Funktionentheorie, wo

er das Geschlecht von Riemannschen Flachen untersuchte. Nach ihm sind z.B. das Hurwitzpoly-

nom und das Hurwitzkriterium aus der Stabilitatstheorie dynamischer Systeme benannt; Satz

X.4.8 ist eine Variation davon.

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X.4. Das lokale Verhalten von Funktionen 217

Insbesondere sind dann alle Eigenwerte von Ak positiv, also auch detAk > 0.Die Bedingung ist hinreichend: Wir zeigen dies durch Induktion nach n .Fur n = 1 ist die Behauptung trivial. Sei nun n > 1. Nach Induktionsvoraus-setzung ist die Matrix An−1 dann positiv definit. Also existiert eine orthogonale(n− 1)× (n− 1)-Matrix S (d.h. SS> = S>S = 1) mit

S>An−1S =

α1 . . . 0...

...0 . . . αn−1

, α1, . . . , αn−1 > 0.

Sei S die n× n -Matrix, die durch

S =(S 00 1

)gegeben ist. Dann ist S ebenfalls orthogonal und wir erhalten

B := S>AS =

α1 . . . 0 b1...

......

0 . . . αn−1 bn−1

b1 . . . bn−1 bn

.

Nach Voraussetzung ist detB = detA > 0. Wir setzen

T :=

1 . . . 0 c1...

......

0 . . . 1 cn−1

0 . . . 0 1

mit cj := − bjαj

und erhalten

C := T>BT =

α1 . . . 0 0...

......

0 . . . αn−1 00 . . . 0 αn

mit αn = bn −b21α1

− . . .−b2n−1

αn−1.

Wegen detT = 1 ist die Determinante dieser Matrix α1 · · ·αn positiv und somitαn > 0. Daher ist die Matrix C = (ST )>AST positiv definit und somit auch A(Bemerkung X.4.7(b)).

Das Hurwitzkriterium lasst sich nicht analog zu einem Kriterium fur diepositive Semidefinitheit verallgemeinern. Fur die Matrix

A =

0 0 00 0 00 0 −1

gilt

det(0) ≥ 0, det(

0 00 0

)≥ 0 und detA ≥ 0,

aber A ist nicht positiv semidefinit.Der Vorteil des Hurwitzkriteriums ist, dass man die Eigenwerte nicht ken-

nen muss, um auszurechnen, ob eine Matrix positiv oder negativ definit ist.

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218 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Folgerung X.4.9. Sei A = (aij) eine symmetrische (2× 2)-Matrix.(1) Ist detA < 0 , so ist A indefinit.(2) Ist detA > 0 und a11 > 0 , so ist A positiv definit.(3) Ist detA > 0 und a11 < 0 , so ist A negativ definit.

Beweis. (1) Ist det(A) < 0, so haben die beiden Eigenwerte von A ver-schiedene Vorzeichen. Also ist A indefinit.

(2), (3) folgen direkt aus dem Hurwitzkriterium.

Hinreichende Bedingung fur Extrema

Satz X.4.10. Sei U ⊆ Rn eine offene Menge, f ∈ C2(U,R) und x ∈ U einkritischer Punkt von f . Dann gilt:

(a) Ist die Hessematrix Hx(f) positiv definit, so ist x ein isoliertes lokalesMinimum.

(b) Ist Hx(f) negativ definit, so ist x ein isoliertes lokales Maximum.(c) Ist Hx(f) indefinit, so handelt es sich bei x nicht um einen Extremalpunkt.

Kritische Punkte, die keine lokalen Extrema sind, nennt man Sattelpunkte.Beweis. Nach Definition X.4.1 gilt

f(x+ h) = f(x) + df(x)(h) +12〈Hx(f)(h), h〉+ ϕ(h)

= f(x) +12〈Hx(f)(h), h〉+ ϕ(h)

mit limh→0ϕ(h)‖h‖2 = 0. Zu jedem ε > 0 existiert also ein δ > 0 mit Uδ(x) ⊆ U

und |ϕ(h)| ≤ ε · ‖h‖2 fur alle h mit ‖h‖ < δ .(a) Sei A := 1

2Hx(f) positiv definit und λ1 > 0 der kleinste Eigenwert von A .Ist v1, . . . , vn eine Orthonormalbasis aus Eigenvektoren und h =

∑nj=1 hjvj , so

ist

〈Ah, h〉 =n∑

j=1

|hj |2λj ≥ λ1‖h‖2

fur alle h ∈ Rn . Sei nun ε := λ12 und δ wie oben. Fur ‖h‖ < δ gilt dann

f(x+ h) = f(x) + 〈Ah, h〉+ ϕ(h)

≥ f(x) + λ1‖h‖2 −λ1

2‖h‖2 = f(x) +

λ1

2‖h‖2.

Also ist x ein isoliertes lokales Minimum.(b) Wende (a) auf −f an.(c) Ist v ∈ Rn ein Vektor mit 〈Av, v〉 > 0, so ist

f(x+ tv) = f(x) + t2〈Av, v〉+ ϕ(tv) mitϕ(tv)t2

−→t→0

0.

Ist t so klein, dass ϕ(tv)t2 > −〈Av, v〉 gilt, so ist f(x + tv) > f(x). Analog

zeigt man fur einen Vektor w mit 〈Aw,w〉 < 0 die Existenz eines δ > 0 mitf(x+ tw) < f(x) fur |t| < δ . Folglich ist x ein Sattelpunkt.

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X.4. Das lokale Verhalten von Funktionen 219

Aus dem Beweis von (c) erhalten wir eine wichtige Folgerung, die wir alsnotwendige Bedingung fur Extrema verstehen konnen:

Folgerung X.4.11. Sei U ⊆ Rn eine offene Menge, f ∈ C2(U,R) und x ∈ Uein kritischer Punkt von f . Dann gilt:

(a) Ist x ein lokales Minimum, so ist Hx(f) positiv semidefinit.(b) Ist x ein lokales Maximum, so ist Hx(f) negativ semidefinit.

Beweis. (a) Ist Hx(f) nicht positiv semidefinit und 〈Hx(f)v, v〉 < 0, sofolgt aus dem Beweis von Satz X.4.10(c) die Existenz eines δ > 0, so dassf(x+ tv) < f(x) fur alle t mit |t| < δ gilt. Also kann x kein lokales Minimumsein.(b) Wir wenden (a) auf −f an.

Bemerkung X.4.12. Ist die Hessematrix semidefinit, so lassen sich keineallgemeinen Aussagen machen. Die Funktionen fj : R2 → R :

f1(x, y) = x2 + y4, f2(x, y) = x2 und f3(x, y) = x2 + y3

besitzen alle im Nullpunkt die Hessematrix

H0(f1) = H0(f2) = H0(f3) =(

2 00 0

).

Die Funktion f1 hat im Nullpunkt ein isoliertes Minimum; f2 hat dort ein (nicht-isoliertes) Minimum, und f3 besitzt kein Extremum.

Beispiel X.4.13. Wir wollen fur die Funktion

f : R2 → R, f(x, y) =(3x+ 4y + sin(xy)

)(2x+ y − (cosx)(1− cos y)

)das lokale Verhalten im Nullpunkt bestimmen. Dazu berechnen wir ihr Taylor-polynom der Ordnung 2 (siehe die Bemerkung unten):

T 20 (f)(x, y) = T 2

0

((3x+ 4y + xy

)(2x+ y − (1− x2

2)(1− (1− y2

2))))

= (3x+ 4y)(2x+ y) = 6x2 + 8xy + 3xy + 4y2 = 6x2 + 11xy + 4y2,

d.h., die Hessematrix ergibt sich zu

H0(f) =(

12 1111 8

).

Daher ist der Nullpunkt wegen 12 > 0 und detH0(f) = 96 − 121 < 0 einSattelpunkt.

Bemerkung zur Berechnung der Taylorpolynome: Zunachst wissen wir, dassdie Funktion sin sich auf R durch eine Potenzreihe darstellen lasst:

sinx =∞∑

k=0

(−1)k

(2k + 1)!x2k+1.

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220 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Da sich konvergente Potenzreihen gliedweise differenzieren lassen, stimmt dieseReihe mit der Taylorreihe T0(sin) uberein.

Betrachten wir nun die Funktion f : R2 → R, f(x, y) = sin(xy), so ist fbeliebig oft partiell differenzierbar und hat die Reihenentwicklung

(†) f(x, y) =∞∑

k=0

(−1)k

(2k + 1)!x2k+1y2k+1.

Halten wir jeweils x oder y fest, so ergibt sich eine uberall konvergente Potenz-reihe in einer Variablen, die wir gemaß Satz VI.5.3 gliedweise differenzierendurfen. Wir erhalten daher sukzessive fur die partiellen Ableitungen:

Dm1 D

k2f(x, y) =

∞∑k=0

(−1)k

(2k + 1)!Dm

1 (x2k+1)Dk2 (y2k+1).

Hieraus erkennen wir insbesondere, dass (†) mit der Taylorreihe der Funktion fubereinstimmt. Insbesondere ist

T 20 (f)(x, y) = xy,

was wir oben verwendet haben. Alternativ kann man mit der Kettenregel furTaylorpolynome argumentieren (Satz X.3.8(c)).

X.5. Vertauschbarkeit von Ableitung und Integral

In diesem kurzen Abschnitt lernen wir eine wichtige Rechenmethode kennen,die das Vertauschen von Ableiten und Integration betrifft, sofern verschiedeneVariablen betroffen sind.

Satz X.5.1. Sei U ⊆ Rn eine offene Menge und D = [a, b] ⊆ R ein Intervall.Die Funktion f : D × U → R sei stetig. Dann ist die Funktion

F : U → R, x 7→∫ b

a

f(t, x) dt

stetig. Hat f stetige partielle Ableitungen ∂f∂xi

: D×U → R , i = 1, . . . , n , so istauch F stetig nach xi differenzierbar, und es gilt

∂xi

∫ b

a

f(t, x) dt =∫ b

a

∂f

∂xi(t, x) dt.

Beweis. (a) Sei x ∈ U . Da U offen ist, existiert ein r > 0 mit U2r(x) ⊆ U .Die Menge

D × Ur(x) = D × y ∈ Rn : ‖y − x‖ ≤ r ⊆ Rn+1

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X.5. Vertauschbarkeit von Ableitung und Integral 221

ist nach dem Satz von Heine–Borel kompakt, denn sie ist abgeschlossen undbeschrankt, also ist f auf D × Ur(x) gleichmaßig stetig (Satz IX.3.19). Zujedem ε > 0 existiert also ein δ ∈]0, r[ mit

|f(t, x+ h)− f(t, x)| < ε

b− afur alle h mit ‖h‖ < δ.

Es folgt

|F (x+ h)− F (x)| ≤∫ b

a

|f(t, x+ h)− f(t, x)| dt ≤ ε

b− a(b− a) = ε

fur alle h mit ‖h‖ < δ , d.h., F ist stetig.(b) Fur x ∈ U und h ∈ R mit x+ hei ∈ U definieren wir

g(t, x, h) :=

f(t,x+hei)−f(t,x)

h , falls h 6= 0∂f∂xi

(t, x), falls h = 0.

Wir behaupten, dass diese Funktion auf der Menge

U := (t, x, h) ∈ D × U × R:x+ hei ⊆ U

stetig ist. In allen Punkten (x, y, h) mit h 6= 0 ist dies klar. Wir mussen dieStetigkeit also nur in den Punkten der Gestalt (x, y, 0) nachweisen. Nach demMittelwertsatz der Differentialrechnung ist

f(t, x+ hei)− f(t, x)h

=∂f

∂xi(t, x+ ϑhhei)

fur ein ϑh ∈]0, 1[, falls x + [0, 1]hei ⊆ U ist. Gilt (tn, xn, hn) → (t0, x0, 0), soauch ϑhnhn −→ 0. Fur ausreichend große n ist xn + [0, 1]hn ⊆ U . Fur solchen erhalten wir daher

g(tn, xn, hn) =f(tn, xn + hnei)− f(tn, xn)

h=

∂f

∂xi(tn, xn + ϑnhnei)

−→ ∂f

∂xi(t0, x0) = g(t0, x0, 0),

d.h., die Funktion g ist stetig. Es gilt also wegen (a)

∂F

∂xi(x) = lim

h→0h6=0

∫ b

a

g(t, x, h) dt(a)=∫ b

a

g(t, x, 0) dt =∫ b

a

∂f

∂xi(t, x) dt,

und diese Funktion hangt nach dem ersten Teil stetig von x ab.

Bemerkung X.5.2. Hat f stetige partielle Ableitungen der Ordnung ≤ k ,so sieht man induktiv (

DαF)(x) =

∫ b

a

(D(0,α)f

)(t, x) dt

fur alle |α| ≤ k , wobei (0, α) = (0, α1, . . . , αn) ∈ Nn+10 ist.

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222 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

X.6. Kurvenintegrale und Pfaffsche Formen

In diesem Abschnitt lernen wir eine neue Variation zu dem Thema Kurveninte-grale kennen. Die Kurvenintegrale, die wir in Abschnitt X.1 behandelt haben,waren von dem Typ ∫

γ

f =∫ b

a

f(γ(t))‖γ(t)‖ dt,

wobei γ: [a, b] → Rn eine Kurve war. Der Nachteil dieser Kurvenintegrale ist,dass hier der Geschwindigkeitsvektor der Kurve nur als Skalar eingeht und nichtals vektorielle Große. Will man zum Beispiel die Arbeit modellieren, die manentlang eines Weges in einem Kraftfeld verrichtet, so sollte das Ergebnis eineskalare Große sein, auch wenn das Kraftfeld eine vektorielle Funktion ist. Denangemessenen Rahmen fur solche Integrale bildet der Kalkul der Differential-formen. Die Differentialformen, die bei den Kurvenintegralen auftreten, nenntman Pfaffsche Formen bzw. Differentialformen erster Ordnung oder 1-Formen.Mit ihnen lasst sich zum Beispiel die Frage danach, ob ein gegebenes Vektorfeldein Gradient einer Funktion ist, in der ihr angemessenen Allgemeinheit disku-tieren. In der Sprache der Pfaffschen Formen ist es die Frage nach der Existenzeiner Stammfunktion einer gegebenen Pfaffschen Form. Diese wiederum lasst sichdurch das Verschwinden von Integralen der Pfaffschen Form entlang geschlossenerWege charakterisieren.

Definition X.6.1. Sei U ⊆ Rn offen.(a) Eine Pfaffsche Form auf U ist eine Funktion

ω:U → Hom(Rn,R),

d.h., fur jedes x ∈ U ist ω(x): Rn → R eine lineare Abbildung. Wir schreibenΩ1(U) fur den Raum der Pfaffschen Formen auf U .

Um die (1 × n)-Matrix zu erhalten, die die lineare Abbildung ω(p) bzgl.der kanonischen Basis des Rn darstellt, betrachten wir die Funktionen

fj :U → R, fj(p) := ω(p)(ej)

und erhalten die darstellende Zeilenmatrix ( f1(p), · · · , fn(p) ) .(b) Jeder differenzierbaren Funktion F :U → R konnen wir eine Pfaffsche Formzuordnen, denn die Ableitung

dF :U → Hom(Rn,R)

ordnet jedem Punkt x ∈ U eine lineare Abbildung dF (x): Rn → R zu. DiePfaffsche Form dF nennen wir das totale Differential von F .

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X.6. Kurvenintegrale und Pfaffsche Formen 223

(c) Ist γ: [a, b] → U eine stetig differenzierbare Kurve und ω auf U eine stetigePfaffsche Form mit den Komponentenfunktionen fj(x) := ω(x)(ej), so definierenwir das Integral von ω uber γ wir folgt:∫

γ

ω :=∫ b

a

ω(γ(t)

(γ(t)

)dt =

∫ b

a

n∑j=1

fj

(γ(t)

)γ′j(t) dt.

Ist γ lediglich stuckweise stetig differenzierbar und

a = x0 < x1 < . . . < xm = b

eine Unterteilung, so dass die Wege

γj := γ |[xj ,xj+1]: [xj , xj+1] → U

stetig differenzierbar sind, so definieren wir∫γ

ω :=m−1∑j=0

∫γj

ω.

Mochte man konkret mit Pfaffschen Formen rechnen, so erweist es sich alspraktisch, sie in den naturlichen Koordinaten des Rn zu beschreiben. Fur jedesj ∈ 1, . . . , n betrachten wir dazu die Funktion

xj : Rn → R, p = (p1, . . . , pn) 7→ pj .

Da xj stetig differenzierbar ist, erhalten wir Pfaffsche Formen dxj ∈ Ω1(Rn),j = 1, . . . , n . Fur jedes p ∈ Rn ist dann

dxj(p)(h) = hj ,

d.h., dxj : Rn → Hom(Rn,R) ist die konstante Abbildung, die jedem p dielineare Abbildung xj zuordnet. In diesem Sinn haben wir dxj(p) = xj furalle p ∈ Rn . Es ist klar, dass die linearen Abbildungen x1, . . . , xn eine Basis desn -dimensionalen Vektorraums Hom(Rn,R) bilden.

Ist nun ω ∈ Ω1(U) eine Pfaffsche Form und definieren wir die Funktionenfj :U → R durch fj(p) := ω(p)(ej), so erhalten wir fur jedes p ∈ U :

ω(p) =n∑

j=1

fj(p) · dxj(p),

also

(6.1) ω =n∑

j=1

fjdxj .

Wir konnen daher jede Pfaffsche Form wie in (6.1) darstellen, und diese Darstel-lung ist eindeutig.

Ist ω = dF das totale Differential einer stetig differenzierbaren Funktion,so erhalten wir insbesondere

(6.2) dF (x) =n∑

j=1

∂F

∂xjdxj

(man vergleiche dies mit der Kettenregel).

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224 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Verhalten bei Parametertransformation

Naturlich mussen wir uns uberlegen, in welcher Form das Integral einerPfaffschen Form uber eine Kurve von ihrer Parametrisierung abhangt.

Sei ω =∑

j fjdxj eine stetige Pfaffsche Form in der offenen Menge U ⊆ Rn

und γ: [a, b] → U eine stetig differenzierbare Kurve. Weiter sei ϕ: [c, d] → [a, b]stetig differenzierbar mit ϕ(c) = a und ϕ(d) = b . Dann ist γ ϕ: [c, d] → Uebenfalls eine stetig differenzierbare Kurve mit dem gleichen Bild sowie demgleichen Anfangs- und Endpunkt wie γ .

Lemma X.6.2.∫

γω =

∫γϕ ω (Parametrisierungsinvarianz).

Beweis. Nach der Kettenregel gilt (γ ϕ)′(t) = ϕ′(t)γ′(ϕ(t)

). Aus der Trans-

formationsformel fur eindimensionale Integrale (Substitutionsregel) ergibt sichdaher ∫

γϕω =

∫ d

c

ω(γ ϕ(t)

)((γ ϕ)′(t)

)dt

=∫ d

c

ω(γ(ϕ(t)

))(γ′(ϕ(t)

))ϕ′(t) dt

=∫ b

a

ω(γ(s)

)(γ′(s)

)ds =

∫γ

ω.

Bemerkung X.6.3. Analog zeigt man, dass fur eine stetig differenzierbareBijektion ϕ: [c, d] → [a, b] mit ϕ(c) = b und ϕ(d) = a die Beziehung∫

γϕω = −

∫γ

ω

gilt.Wir stellen hier ein interessantes Phanomen fest: durch die Umkehrung der

Orientierung andert das Kurvenintegral sein Vorzeichen. Anschaulich bedeutetdies, dass beim Durchlaufen der Kurve in umgekehrter Richtung das Kurvenin-tegral sein Vorzeichen umkehrt.

Wir berechnen nun das Kurvenintegral eines totalen Differentials.

Satz X.6.4. Sei U ⊆ Rn offen und F :U → R stetig differenzierbar sowieγ: [a, b] → U eine stuckweise stetig differenzierbare Kurve. Dann gilt∫

γ

dF = F (γ(b))− F (γ(a)).

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X.6. Kurvenintegrale und Pfaffsche Formen 225

Beweis. Wir nehmen zuerst an, dass γ stetig differenzierbar ist. Aus derKettenregel und dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung folgt∫

γ

dF =∫ b

a

dF(γ(t)

)(γ′(t)

)dt =

∫ b

a

(F γ)′(t) dt

= (F γ)(b)− (F γ)(a) = F (γ(b))− F (γ(a)).

Der allgemeine Fall eines stuckweise stetig differenzierbaren Weges ergibt sichnun durch Zusammensetzen der einzelnen Integrale, was zu einer Teleskopsummefuhrt.

Satz X.6.4 besagt insbesondere, dass das Integral eines totalen DifferentialsNUR von Anfangs- und Endpunkt des Weges abhangt. Ist γ ein geschlossenerWeg, d.h. gilt γ(a) = γ(b), so erhalten wir insbesondere∫

γ

dF = 0.

Beispiel X.6.5. In U := R2 \ 0 betrachten wir die Pfaffsche Form

ω(x, y) = − y

x2 + y2dx+

x

x2 + y2dy

und den geschlossenen Weg

γ: [0, 2π] → U, t 7→ (cos t, sin t).

Dann ist γ′(t) = (− sin t, cos t) und daher∫γ

ω =∫ 2π

0

(sin t)2 + (cos t)2

(sin t)2 + (cos t)2dt =

∫ 2π

0

1 dt = 2π.

Wir sehen insbesondere, dass ω kein totales Differential sein kann, da das Integraluber die geschlossene Kurve γ nicht verschwindet.

Ein Einschub uber Zusammenhang

In diesem Unterabschnitt werden wir kurz einige Aspekte des Zusammen-hangsbegriffs diskutieren.

Definition X.6.6. (a) Ein metrischer Raum (U, d) heißt zusammenhangend,wenn er nicht disjunkte Vereinigung von zwei offenen nichtleeren Teilmengen ist.D.h., sind U1, U2 ⊆ U offen mit

(6.3) U = U1 ∪ U2 und U1 ∩ U2 = Ø,

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226 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

so ist eine der Mengen Uj leer.Ist eine Zerlegung wie in (6.3) gegeben, so ist ist U c

1 = U \ U1 = U2 offen,also ist U1 auch abgeschlossen. Man uberlegt sich leicht, dass die Zerlegungenwie in (6.3) genau denjenigen Mengen entsprechen, die gleichzeitig offen undabgeschlossen sind. Triviale Falle erhalten wir fur U1 = Ø oder U1 = U . DerRaum U ist also genau dann zusammenhangend, wenn Ø und X die einzigenTeilmengen sind, die gleichzeitig offen und abgeschlossen sind.(b) Man nennt einen metrischen Raum (U, d) bogenzusammenhangend, wenn furjedes Paar x, y ∈ U eine stetige Kurve γ: [a, b] → U mit γ(a) = x und γ(b) = yexistiert, d.h., x und y lassen sich durch die Kurve γ verbinden.

Das folgende Lemma ist von grundlegender Bedeutung fur die Analysis. Esliefert eine topologische Charakterisierung der Intervalle in R .

Lemma X.6.7. Eine Teilmenge I ⊆ R ist genau dann zusammenhangend,wenn sie ein Intervall ist.

Beweis. Ist I kein Intervall, so existieren a < b in I und ein c ∈]a, b[\I . Dannsind die Mengen

U1 := x ∈ I:x < c und U2 := x ∈ I:x > c

nichtleer, offen und disjunkt mit U1∪U2 = I . Also ist I nicht zusammenhangend.Wir haben noch zu zeigen, dass jedes Intervall zusammenhangend ist. Dazu

argumentieren wir indirekt. Wir nehmen an, dass I = U1 ∪U2 eine Zerlegung inzwei nichtleere disjunkte Mengen ist, die in dem metrischen Raum I jeweils offensind. Dann existieren a ∈ U1 und b ∈ U2 und wir durfen o.B.d.A. annehmen,dass a < b gilt.

Wir betrachten die disjunkten Teilmengen

J1 := U1 ∩ [a, b] und J2 := U2 ∩ [a, b]

des Intervalls [a, b] . Wegen [a, b] ⊆ I ist J1 ∪ J2 = [a, b] . Wegen U1 = I \ U2

und U2 = I \U1 sind die beiden Teilmengen Ui auch abgeschlossen in I , so dassauch die Teilmengen Ji von [a, b] jeweils offen und abgeschlossen sind.

Sei c := sup J1 . Da J2 in [a, b] offen ist und b enthalt, ist c < b .Andrerseits ist c ∈ J1 , da jede Umgebung von c die Menge J1 schneidet(vgl. Lemma IX.3.13). Da J1 auch in [a, b] offen ist, existiert ein ε > 0 mit]c−ε, c+ε[⊆ J1 , im Widerspruch zur Definition von c . Damit ist unser indirekterBeweis abgeschlossen.

Lemma X.6.8. Ist f :X → Y eine stetige Abbildunge zwischen metrischenRaumen und X (bogen-)zusammenhangend, so ist auch die Teilmenge f(X) ⊆ Y(bogen-)zusammenhangend.

Beweis. Bogenzusammenhang: Sei X bogenzusammenhangend und p, q ∈f(X). Dann existieren Punkte x, y ∈ X mit f(x) = p und f(y) = q . Aus demBogenzusammenhang von X folgt die Existenz einer stetigen Kurve γ: [a, b] → X

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X.6. Kurvenintegrale und Pfaffsche Formen 227

mit γ(a) = x und γ(b) = y . Dann ist f γ: [a, b] → f(X) eine stetige Kurve,die p und q verbindet. Also ist f(X) bogenzusammenhangend.

Zusammenhang: Sei X zusammenhangend und seien U1, U2 ⊆ f(X)offene Teilmengen mit

f(X) = U1 ∪ U2 und U1 ∩ U2 = Ø.

Dann sind Oi := f−1(Ui) offene Teilmengen von X mit

X = O1 ∪O2 und O1 ∩O2 = Ø.

Da X zusammenhangend ist, ist eine der Mengen Oi leer. Dann ist aber auchUi = f(Oi) leer. Hieraus folgt, dass f(X) zusammenhangend ist.

Lemma X.6.9. Ist (U, d) ein bogenzusammenhangender metrischer Raum, soist (U, d) auch zusammenhangend.

Beweis. Sei U = U1 ∪ U2 eine disjunkte Zerlegung in nichtleere offene Teil-mengen. Dann existieren x ∈ U1 und y ∈ U2 , und wir finden eine stetige Kurveγ: [a, b] → U mit γ(a) = x und γ(b) = y . Dann ist

γ([a, b]) =(γ([a, b]) ∩ U1

)∪ (γ([a, b]) ∩ U2)

eine Zerlegung von γ([a, b]) in zwei paarweise disjunkte offene Teilmengen, wasim Widerspruch zum Zusammenhang von γ([a, b]) steht (Lemma X.6.7 undLemma X.6.8).

Definition X.6.10. (a) Ist U eine offene Teilmenge von Rn , so ist jede offeneTeilmenge von U auch eine offene Teilmenge von Rn (Nachweis!). D.h., U istgenau dann zusammenhangend, wenn keine zwei nichtleeren offenen TeilmengenU1, U2 ⊆ Rn so existieren, dass

U = U1 ∪ U2 und U1 ∩ U2 = Ø.

Eine nichtleere offene zusammenhangende Teilmenge U ⊆ Rn nennen wir einGebiet.(b) Wir nennen eine Teilmenge U ⊆ Rn sternformig bzgl. p ∈ U , wenn fur jedenPunkt q ∈ U die ganze Verbindungsstrecke

[p, q] := λp+ (1− λ)q:λ ∈ [0, 1]

in U liegt.Ist U sternformig bzgl. dem Punkt p , so ist U auch wegzusammenhangend,

denn sind x und y Punkte in U , so kann man sie durch eine Kurve verbinden,die zuerst die Strecke [x, p] und dann die Strecke [p, y] durchlauft (Ubung).(c) Ist U ⊆ Rn konvex, d.h., liegt mit x, y ∈ U auch deren Verbindungsstrecke[x, y] in U , so ist U sternformig bzgl. jedem Punkt p ∈ U , insbesondere alsoauch zusammenhangend.(d) Die Menge U :=]0, 1[∪]1, 2[⊆ R ist nicht zusammenhangend.

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228 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Lemma X.6.11. Ist U ⊆ Rn ein Gebiet, d.h. offen und zusammenhangend,sowie x, y ∈ U , so existiert eine stuckweise stetig differenzierbare Kurveγ: [0, 1] → U mit γ(0) = x und γ(1) = y .

Beweis. Wir betrachten die Teilmenge Ux aller Punkte p ∈ U , fur die einestuckweise stetig differenzierbare Kurve

η: [0, 1] → U

mit η(0) = x und η(1) = p existiert.Ux ist offen: Ist p ∈ Ux , so folgt aus der Offenheit von U die Existenz

eines ε > 0, so dass die Kugel Uε(p) ganz in U enthalten ist. Sei q ∈ Uε(p)und η: [0, 1] → U eine stuckweise stetig differenzierbare Kurve mit η(0) = x undη(1) = p . Wir verlangern nun diese Kurve wie folgt:

η: [0, 1] → U, t 7→η(2t) fur t ∈ [0, 1

2 ],p+ (2t− 1)(q − p) fur t ∈] 12 , 1].

Dann ist η eine stuckweise stetig differenzierbare Kurve in U , die x mit qverbindet. Also ist Uε(p) ⊆ Ux , folglich ist Ux offen.

U \Ux ist offen: Ist p 6∈ Ux , so finden wir wie oben ein ε > 0 mit Uε(p) ⊆U . Ware ein Punkt q ∈ Uε(p) in der Menge Ux enthalten, so konnten wir dieKurve von x nach q durch ein Streckenstuck, das q in Uε(p) mit p verbindet,verlangern und wurden so wie oben eine stuckweise stetig differenzierbare Kurvevon x nach p erhalten, ein Widerspruch. Also ist Uε(p) ganz in U \Ux enthaltenund U \ Ux somit offen.

Nun ist U = Ux ∪ (U \ Ux) eine Zerlegung von U in zwei offene disjunkteTeilmengen. Da Ux nicht leer ist und U zusammenhangend, muss U \ Ux leersein. Also ist U = Ux . Insbesondere ist y ∈ Ux , und dies war zu zeigen.

Lokal konstante Funktionen

Definition X.6.12. Eine Funktion f :X → R auf einem metrischen Raum(X, d) heißt lokal konstant, wenn fur jedes p ∈ X ein ε > 0 existiert, so dass fauf der Kugel Uε(p) konstant ist.

Bemerkung X.6.13. Fur eine lokal konstante Funktion ist jede Niveaumengef−1(c), c ∈ R , offen und wegen

f−1(c) = X \⋃d6=c

f−1(d)

auch abgeschlossen.Hieraus folgt insbesondere, dass auf einem zusammenhangenden metrischen

Raum alle lokal konstanten Funktionen schon konstant sind. Ist umgekehrt

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X.6. Kurvenintegrale und Pfaffsche Formen 229

X nicht zusammenhangend und X = U1∪U2 eine disjunkte Zerlegung in zweinichtleere offene Teilmengen, so wird durch

f :X → R, f(x) :=

1 fur x ∈ U1

2 fur x ∈ U2

eine lokal konstante Funktion auf X definiert, die nicht konstant ist.

Satz X.6.14. Sei U ⊆ Rn ein Gebiet. Eine stetig differenzierbare FunktionF :U → R ist genau dann konstant, wenn dF = 0 gilt.

Beweis. Ist F konstant, so gilt trivialerweise dF = 0.Wir nehmen nun an, dass dF = 0 gilt, und fixieren einen Punkt x ∈ U .

Nach Lemma X.6.11 existiert zu jedem y ∈ U eine stuckweise stetig differenzier-bare Kurve γ: [a, b] → U mit γ(a) = x und γ(b) = y . Mit Satz X.6.4 ergibt sichnun

F (y)− F (x) =∫

γ

dF =∫

γ

0 = 0.

Also ist F konstant.

Folgerung X.6.15. Ist U ⊆ Rn offen und F :U → R differenzierbar, so istF genau dann lokal konstant, wenn dF = 0 ist.

Beweis. Ist F lokal konstant, so gilt trivialerweise dF = 0. Ist andererseitsdF = 0 und p ∈ U , so existiert ein ε > 0 mit Uε(p) ⊆ U . Da die offene KugelUε(p) zusammenhangend ist, also ein Gebiet, folgt aus Satz X.6.14, dass F aufUε(p) konstant ist. Folglich ist F lokal konstant.

Beispiel X.6.16. Die Teilmenge U :=]0, 1[∪]1, 2[⊆ R ist offen, aber kein Ge-biet. Die Funktion

F :U → R, F (x) :=

0 fur x ∈]0, 1[1 fur x ∈]1, 2[

ist beliebig oft differenzierbar, und es gilt dF = 0, aber sie ist nicht konstant.

Stammfunktionen Pfaffscher Formen

Definition X.6.17. Sei ω eine stetige Pfaffsche Form auf der offenen Teil-menge U ⊆ Rn . Eine stetig differenzierbare Funktion F :U → R heißt Stamm-funktion von ω , wenn dF = ω gilt.

Bemerkung X.6.18. (a) Ist F eine Stammfunktion von ω und c:U →R, p 7→ c die konstante Funktion mit Wert c , so ist auch F + c eine Stammfunk-tion von ω , da d(F + c) = dF + dc = dF = ω gilt.

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230 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Sind umgekehrt F1 und F2 zwei Stammfunktionen von ω , so gilt dieBeziehung d(F1 − F2) = 0. Ist U ein Gebiet, so schließen wir mit Satz X.6.14,dass F1 − F2 konstant ist.

Auf einem Gebiet U sind Stammfunktionen also bis auf eine additiveKonstante eindeutig bestimmt, sofern sie existieren.(b) Sei n = 1 und U ein offenes Intervall. Ist ω eine stetige Pfaffsche Form aufU , so konnen wir ω schreiben als

ω = f · dx.

Ist F :U → R eine stetig differenzierbare Funktion, so ist

dF = F ′ · dx.

Also ist F genau dann eine Stammfunktion der Pfaffschen Form ω , wenn Feine Stammfunktion der Funktion f im Sinne der Differentialrechnung einerVeranderlichen ist (Satz VI.2.2).

Insbesondere folgt aus dem Hauptsatz der Differential- und Integralrech-nung die Existenz einer Stammfunktion fur jede stetige Pfaffsche Form ω aufeinem Intervall. Man bekommt sie zum Beispiel durch

F (x) :=∫ x

x0

f(t) dt,

wobei x0 ∈ U ein fester Punkt ist .(c) Im Gegensatz zum eindimensionalen Fall existiert fur n = 2 nicht fur jedestetige Pfaffsche Form eine Stammfunktion. Ein Gegenbeispiel hierzu liefert furU := R2 \ 0 die Pfaffsche Form

ω = − y

x2 + y2dx+

x

x2 + y2dy

aus Beispiel X.6.5. Wir haben gesehen, dass eine geschlossene Kurve existiert,fur die das Integral

∫γω nicht verschwindet. Also hat ω keine Stammfunktion.

Kriterium fur die Existenz von Stammfunktionen

Satz X.6.19. Genau dann besitzt die stetige Pfaffsche Form ω auf dem GebietU eine Stammfunktion, wenn fur jeden geschlossenen Weg γ in U das Integralvon ω uber γ verschwindet.

Beweis. Die Notwenigkeit der Bedingung, dass Integrale uber geschlosseneKurven verschwinden, folgt aus Satz X.6.4.

Wir nehmen nun an, dass diese Bedingung erfullt ist. Wir wahlen einenfesten Punkt p ∈ U . Zu jedem Punkt q ∈ U existiert dann eine stuckweise stetigdifferenzierbare Kurve γ: [0, 1] → U mit γ(0) = p und γ(1) = q (Lemma X.6.11).Wir definieren

Fγ(q) :=∫

γ

ω.

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X.6. Kurvenintegrale und Pfaffsche Formen 231

Um so eine Funktion auf U definieren zu konnen, mussen wir einsehen,dass Fγ(p) nicht von der Wahl der Kurve γ abhangt. Sei also η: [0, 1] → U eineweitere stuckweise stetig differenzierbare Kurve mit η(0) = p und η(1) = q . Wirbetrachten die Kurve

α: [0, 2] → U, t 7→γ(t), fur t ∈ [0, 1]η(2− t), fur t ∈]1, 2].

Dann ist α eine stuckweise stetig differenzierbare Kurve mit α(0) = γ(0) = p =η(0) = α(2), d.h., α ist geschlossen. Gemaß unserer Voraussetzung ist daher

0 =∫

α

ω =∫

γ

ω −∫

η

ω,

da im zweiten Teilstuck von α die Kurve η ruckwarts durchlaufen wird (sieheBemerkung X.6.3). Hieraus ergibt sich

Fγ(q) =∫

γ

ω =∫

η

ω = Fη(q).

Wir konnen daher durch

F :U → R, q 7→ Fγ(q)

eine Funktion definieren. Da es nicht auf die Kurve ankommt, die p und qverbindet, schreiben wir

F (q) =∫ q

p

ω :=∫

γ

ω,

wobei γ irgendeine Kurve von p nach q ist. Wir zeigen jetzt, dass F eineStammfunktion von ω ist. Dazu schreiben wir ω =

∑nj=1 fj dxj mit stetigen

Funktionen fj :U → R . Wir haben zu zeigen, dass F stetig differenzierbar istmit

∂F

∂xj= fj , j = 1, . . . , n.

Sei dazu x ∈ U und ε > 0 mit Uε(x) ⊆ U . Fur ‖h‖ < ε haben wir dann

F (x+ h) =∫ x+h

p

ω =∫ x

p

ω +∫ x+h

x

ω = F (x) +∫ x+h

x

ω.

Da die Verbindungsstrecke der Punkte x und x + h ganz in Uε(x) und damitauch in U liegt, konnen wir den Weg

γh: [0, 1] → U, t 7→ x+ th

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232 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

betrachten, der x und x + h verbindet. Damit erhalten wir mit γh(t) = h furalle t :

F (x+ h)− F (x) =∫ x+h

x

ω =∫

γh

ω =∫ 1

0

ω(x+ th)(h) dt

=n∑

j=1

∫ 1

0

fj(x+ th)hj dt =n∑

j=1

(∫ 1

0

fj(x+ th) dt)· hj .

Fur die Ableitungen ergibt sich hieraus mit Satz X.5.1:

∂F (x)∂xj

= limhj→0

1hj

(F (x+ hjej)− F (x)

)= lim

hj→0

1hj

∫ 1

0

fj(x+ thjej) dt · hj

= limhj→0

∫ 1

0

fj(x+ thjej) dt =∫ 1

0

fj(x) dt = fj(x).

Beispiel X.6.20. In einem Gebiet U ⊆ R3 sei das Vektorfeld F :U → R3

gegeben. Wir denken uns F als ein zeitlich konstantes Kraftfeld, z.B. ein elek-trisches Feld. Sind F1, F2, F3 die Komponenten dieses Feldes, so konnen wirdiese auch als eine Pfaffsche Form interpretieren:

ω := F1 · dx1 + F2 · dx2 + F3 · dx3.

Ist nun γ: [a, b] → U eine stuckweise stetig differenzierbare Kurve, so inter-pretieren wir das Integral∫

γ

ω =∫ b

a

∑j=1

Fj

(γ(t)

)γ′j(t) dt =

∫ b

a

〈F(γ(t)

), γ(t)〉 dt

als die Arbeit, die man aufwenden muss, um sich von dem Punkt γ(a) zumPunkt γ(b) entlang des Weges γ zu bewegen. Das ist dadurch gerechtfertigt,dass man fur ein kleines Stuck des Weges naherungsweise annehmen kann, dassF konstant ist und

γ(t) = γ(ti) +t− ti

ti+1 − ti

(γ(ti+1)− γ(ti)

)gilt. Dann ist

〈F(γ(t)

), γ(t)〉 · (ti+1 − ti) = 〈F

(γ(ti)

), γ(ti+1)− γ(ti)〉.

Dieser Ausdruck ist proportional zu der Lange des Weges, die hier durch dieDifferenz γ(ti+1) − γ(ti) gegeben ist, zu der Große des Kraftfelds F im Punkt

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X.6. Kurvenintegrale und Pfaffsche Formen 233

γ(ti) und zum Kosinus cosα des Winkels α zwischen diesen beiden Vektoren,da

〈F(γ(ti)

), γ(ti+1)− γ(ti)〉 = cosα · ‖F

(γ(ti)

)‖ · ‖γ(ti+1)− γ(ti)‖

gilt. Ist das Kraftfeld senkrecht zur Richtung des Weges, so wird keine Arbeitverrichtet; ist es dagegen parallel zum Weg, so kommt es auf seine Richtung an,ob Energie notwendig ist, um dagegen anzukampfen, oder ob potentielle Energiedadurch frei wird, dass man in Richtung des Feldes gezogen wird.(a) Ist F = E ein elektrostatisches Feld, so ist die Arbeit, die man zum Ver-schieben einer Ladung entlang eines Weges γ verrichten muss, aus physikali-schen Grunden nur abhangig von Anfangs- und Endpunkt des Weges, denn sonstwurde sich Energie dadurch billig gewinnen lassen, dass man eine Ladung aufeine geschlossene Bahn schickt, auf der sie Energie gewinnen kann. Man sprichtdaher auch von konservativen Kraftfeldern.

In diesem Fall hangt das Integral∫

γω also nur vom Anfangs- und Endpunkt

des Weges ab und verschwindet insbesondere fur geschlossene Wege. Nach SatzX.6.19 hat die Pfaffsche Form ω daher auf jedem Gebiet U eine Stammfunktion,die gegeben ist durch

Φ(p) :=∫ p

p0

ω,

wobei p0 ∈ U ein fest gewahlter Punkt ist. Die Funktion −Φ nennt man einPotential des Kraftfelds, das durch ω beschrieben wird. Ist γ eine Kurve von pnach q , so ist ∫

γ

ω = Φ(q)− Φ(p),

d.h., die Differenz der Werte der Potentialfunktion Φ gibt die Arbeit an, dieentlang des Weges verrichtet wurde.(b) Ein besonders einfaches Feld ist das elektrische Feld einer Punktladung imR3 . Ist eine Ladung der Große q im Punkt p0 ∈ R3 positioniert, so ist daszugehorige elektrische Feld gegeben durch

E: R3 \ p0 → R3, E(x) =q

4πε0x− p0

‖x− p0‖3,

wobei ε0 die elektrische Feldkonstante ist.Wir behaupten, dass die Funktion

Φ: R3 \ p0 → R, Φ(x) =q

4πε01

‖x− p0‖eine Potentialfunktion dieses Vektorfeldes ist. In der Tat haben wir

∂x1

1‖x− p0‖

= −12

1‖x− p0‖3

2x1 = − 1‖x− p0‖3

x1,

∂x2

1‖x− p0‖

= − 1‖x− p0‖3

x2,∂

∂x3

1‖x− p0‖

= − 1‖x− p0‖3

x3

und daher∇Φ = −E.

Das Gravitationsfeld einer Masse im R3 lasst sich vollkommen analogbehandeln, da es die gleiche Struktur besitzt.

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234 X. Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Geschlossene Pfaffsche Formen

Die Bedingung, dass die Integrale einer Pfaffschen Form uber alle geschlossenenKurven verschwinden, kann man in der Regel nicht so leicht nachprufen. Diefolgende Bedingung ist eng damit verwandt, lasst sich aber sehr leicht verifizieren.

Definition X.6.21. Sei U ⊆ Rn eine offene Teilmenge. Eine stetig differen-zierbare Pfaffsche Form ω =

∑j fj dxj auf U heißt geschlossen, wenn fur alle

j, k ∈ 1, . . . , n gilt:∂fk

∂xj=∂fj

∂xk.

Besitzt die stetig differenzierbare Pfaffsche Form ω auf U eine Stamm-funktion, so ist ω geschlossen, denn aus

ω = dF =∑

j

∂F

∂xjdxj =

∑j

fj dxj

folgt∂fk

∂xj=

∂2F

∂xj∂xk=

∂2F

∂xk∂xj=∂fj

∂xk

aus dem Satz von Schwarz X.3.2. Die Geschlossenheit einer Pfaffschen Form istalso notwendig fur die Existenz einer Stammfunktion.

In der Regel ist sie aber nicht hinreichend. Fur U := R2 \ 0 und diePfaffsche Form

ω = − y

x2 + y2dx+

x

x2 + y2dy

istf1(x, y) = − y

x2 + y2und f2(x, y) =

x

x2 + y2.

Damit ergibt sich

∂f1∂y

= − 1x2 + y2

+2y2

(x2 + y2)2=

2y2 − x2 − y2

(x2 + y2)2=

y2 − x2

(x2 + y2)2

und∂f2∂x

=1

x2 + y2− 2x2

(x2 + y2)2=x2 + y2 − 2x2

(x2 + y2)2=

y2 − x2

(x2 + y2)2.

Also ist ω geschlossen. Andererseits haben wir schon mehrfach gesehen, dass ωkeine Stammfunktion besitzt.

Ob die Geschlossenheit einer Pfaffschen Form fur die Existenz einer Stamm-funktion hinreichend ist, entscheidet sich an der geometrischen bzw. topologi-schen Struktur des Gebietes U . Hieruber kann man in einer Vorlesung uber

”Algebraische Topologie“ mehr lernen. Wir diskutieren hier nur eine einfacheBedingung.

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X.6. Kurvenintegrale und Pfaffsche Formen 235

Satz X.6.22. Ist U ein Gebiet, das sternformig bzgl. dem Punkt p ∈ U ist, sobesitzt jede geschlossene Pfaffsche Form auf U eine Stammfunktion.

Beweis. Nach Translation des Gebiets durfen wir o.B.d.A. p = 0 annehmen.Sei ω =

∑j fj dxj . Wir definieren eine Funktion F :U → R durch das Integral

F (x) :=∫ 1

0

( n∑j=1

fj(tx)xj

)dt =

∫γx

ω,

wobei wir γx: [0, 1] → U, γx(t) = tx , setzen. Man beachte, dass wegen derSternformigkeit von U bzgl. 0 das Bild der Kurve γx in U liegt.

Mit Satz X.5.1 sehen wir zunachst, dass F differenzierbar ist, und dass wirdie Ableitungen erhalten durch

∂F

∂xk(x) =

n∑j=1

∫ 1

0

∂xk

(fj(tx)xj

)dt

=n∑

j=1

∫ 1

0

∂fj(tx)∂xk

txj dt+n∑

j=1

∫ 1

0

fj(tx)∂xj

∂xkdt

=∫ 1

0

n∑j=1

∂fk(tx)∂xj

txj dt+∫ 1

0

fk(tx) dt.

Setzen wir L(t) := fk(tx), so folgt aus der Kettenregel

L′(t) =n∑

j=1

∂fk(tx)∂xj

xj ,

und wir erhalten

∂F

∂xk(x) =

∫ 1

0

L′(t)t dt+∫ 1

0

L(t) dt

=∫ 1

0

(tL(t)

)′dt = 1 · L(1)− 0 · L(0) = L(1) = fk(x).

Beispiel X.6.23. Wir kommen nochmal auf das Beispiel X.6.5 zuruck. Na-turlich ist das Gebiet U = R2 \ 0 nicht sternformig bzgl. einem seiner Punkte.Nehmen wir allerdings einen ganzen Strahl, zum Beispiel ]−∞, 0]×0 = −R+e1heraus, so ist das Restgebiet

U1 := R2 \(]−∞, 0]× 0)

sternformig bzgl. dem Punkt (1, 0). Nach Satz X.6.22 hat ω daher auf demkleineren Gebiet U1 eine Stammfunktion.

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236 XI. Der Satz uber die Umkehrfunktion 31. Oktober 2007

XI. Der Satz uber die Umkehrfunktion

In diesem Kapitel werden wir sehen, wie man die differenzierbare Version desSatzes uber die Umkehrfunktion auf Funktionen in mehreren Veranderlichen ver-allgemeinert. In der eindimensionalen Situation konnten wir die Ordnungsstruk-tur von R ausnutzen, da stetige Funktionen auf Intervallen genau dann injektivsind, wenn sie monoton sind. Im Mehrdimensionalen wird die Situation kom-plizierter. Der entsprechende Satz uber die Umkehrfunktion ist ein zentralesErgebnis der Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher. Er hat wichtige An-wendungen auf die Beschreibung von Losungsmengen von Gleichungen, der wiruns im nachsten Kapitel zuwenden.

XI.1. Der Banachsche Fixpunktsatz

Wir betrachten auf dem metrischen Raum Rn immer die euklidische Norm

‖x‖ := ‖x‖2 :=( n∑

j=1

x2j

) 12.

Auf dem Raum Hom(Rn,Rm) der linearen Abbildungen von Rn nach Rm be-trachten wir die zugehorige Operatornorm ‖A‖ := sup‖Ax‖ : x ∈ Rn, ‖x‖ ≤ 1.Wir werden oft den linearen Abbildungen A ∈ Hom(Rn,Rm) ihre Matrix bzgl.der kanonischen Basen in Rn und Rm zuordnen. Wir erhalten so eine bijektivelineare Abbildung

Hom(Rn,Rm) →Mm,n(R), A 7→ (aij), wobei A(ej) =m∑

i=1

aijei

gilt.

Definition XI.1.1. Es sei n ∈ N . Dann heißt die Menge

GL(Rn) := Aut(Rn) = A ∈ End(Rn) : A invertierbar die allgemeine lineare Gruppe (general linear group). Identifizieren wir lineareEndomorphismen von Rn mit ihren Matrizen bzgl. der kanonischen Basis, sofuhrt diese zu einer Identifikation von End(Rn) mit dem Raum Mn(R) der(n × n)-Matrizen. In diesem Sinn schreiben wir auch GLn(R) fur die Mengeder invertierbaren (n× n)-Matrizen.

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XI.1. Der Banachsche Fixpunktsatz 237

Bemerkung XI.1.2. (a) Fur A ∈ End(Rn) ist

A ∈ GL(Rn) ⇐⇒ detA 6= 0.

(b) Die Abbildung

det : Mn(R) ∼= Rn2→ R, A = (aij) 7→ detA =

∑σ∈Sn

sgn(σ)a1,σ(1) · · · an,σ(n)

ist eine stetige Funktion. Sie ist ein Polynom des Grades n . Hierbei ist Sn

die n! -elementige Gruppe der Permutationen der Menge 1, . . . , n (vgl. Be-merkung I.4.5).

Aufgabe XI.1.1. Sei U ⊆ Rn offen und k ∈ N . Ist f ∈ Ck(U,Rm) undg ∈ Ck(U) mit g(x) 6= 0 fur alle x ∈ U , so ist 1

gf ∈ Ck(U,Rm). Dieentsprechende Aussage gilt auch fur k = ∞ .

Satz XI.1.3. (a) Die Gruppe GL(Rn) ist eine offene Teilmenge von End(Rn) .(b) Die Inversion GL(Rn) → GL(Rn) ⊆ End(Rn) ist beliebig oft differenzierbar.

Beweis. Fur den Beweis identifizieren wir lineare Abbildungen mit Matrizen.(a) Nach Teil (a) von Bemerkung XI.1.2 ist

GLn(R) = det−1(R \ 0).

Da R \ 0 in R offen ist und det stetig, ist GLn(R) offen (vgl. Satz IV.1.4).(b) Dies folgt aus der expliziten Formel zur Berechnung der Inversen. DieCramersche Regel besagt

A−1 =1

detA((−1)i+j detAji

),

wobei Aji die Matrix ist, die durch Streichen der j -ten Zeile und der i-ten Spalteentsteht. Insbesondere ist jeder Eintrag der inversen Matrix A−1 eine beliebigoft differenzierbare Funktion der Eintrage der Matrix A , denn wegen det(A) 6= 0ist der Nenner immer 6= 0 (siehe Aufgabe XI.1.1).

Die folgende Aufgabe enthalt eine wichtige Verallgemeinerung des Weier-straßschen Konvergenzkriteriums, das wir im Kontext der gleichmaßigen Kon-vergenz von Funktionenreihen kennengelernt hatten.

Aufgabe XI.1.2. (Allgemeines Majorantenkriterium) Sei (V, ‖·‖) ein Banach-raum. Ist (vn)n∈N eine Folge in V mit

∑∞n=1 ‖vn‖ <∞ , so ist die Reihe

∞∑k=1

vk := limn→∞

n∑k=1

vk

konvergent. Hinweis: Die Folge der Teilsummen ist eine Cauchy-Folge.

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238 XI. Der Satz uber die Umkehrfunktion 31. Oktober 2007

Satz XI.1.4. Ist A ∈ End(Rn) mit ‖A‖ < 1 und 1 := idRn , so ist 1 − Ainvertierbar und die Neumannsche Reihe

(1−A)−1 =∞∑

k=0

Ak

konvergiert.

Beweis. Wegen der Submultiplikativitat der Norm ist ‖Ak‖ ≤ ‖A‖k fur allek ∈ N0 . Es folgt

∞∑k=0

‖Ak‖ ≤∞∑

k=0

‖A‖k =1

1− ‖A‖.

Also ist die Reihe∑∞

k=0Ak in (End(Rn), ‖ · ‖) nach dem Majorantenkriterium

konvergent (Aufgabe XI.1.2). Weiter ist

(1−A)∞∑

k=0

Ak =∞∑

k=0

Ak −∞∑

k=1

Ak = 1,

also∑∞

k=0Ak = (1−A)−1.

Der Banachsche Fixpunktsatz

Definition XI.1.5. Sei (X, d) ein metrischer Raum. Eine Abbildungf : X → X heißt Kontraktion mit Kontraktionskonstante λ < 1, wenn fur allex, y ∈ X die Beziehung

d(f(x), f(y)

)≤ λ · d(x, y)

gilt. Da Kontraktionen Lipschitz-stetig sind, sind sie insbesondere stetig.

Banachscher Fixpunktsatz

Satz XI.1.6. Ist (X, d) ein nichtleerer vollstandiger metrischen Raum, so hatjede Kontraktion f : X → X genau einen Fixpunkt, d.h. es existiert genau einx ∈ X mit f(x) = x . Es gilt sogar

x = limn→∞

fn(y)

fur jeden beliebigen Punkt y ∈ X .

Beweis. Sei λ < 1 die Kontraktionskonstante.Eindeutigkeit: Seien x und y Fixpunkte. Dann gilt

d(x, y) = d(f(x), f(y)

)≤ λ · d(x, y),

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XI.1. Der Banachsche Fixpunktsatz 239

woraus d(x, y) = 0 folgt, d.h. x = y .Existenz: Wir zeigen zuerst, dass fur beliebiges y ∈ X die Folge

(fn(y)

)n∈N

konvergiert. Da X nach Voraussetzung vollstandig ist, haben wir zu zeigen, dassdies eine Cauchy-Folge ist. Durch vollstandige Induktion erhalten wir zunachst,dass fur alle n ∈ N und a, b ∈ X die Beziehung

d(fn(a), fn(b)

)≤ λn · d(a, b)

gilt. Fur n, k ∈ N folgt hieraus durch wiederholtes Anwenden der Dreiecksun-gleichung

d(fn+k(y), fn(y)

)≤ λn · d

(fk(y), y

)≤ λn

(d(fk(y), fk−1(y)

)+ d(fk−1(y), fk−2(y)

)+ . . .+ d

(f(y), y

))≤ λn

(λk−1d

(f(y), y

)+ . . .+ λd

(f(y), y

)+ d(f(y), y

))= λn(λk−1 + . . .+ λ+ 1) · d

(f(y), y

)= λn 1− λk

1− λ· d(f(y), y

)≤ λn

1− λ· d(f(y), y

).

Wegen λn → 0 fur n → ∞ ist die Folge(fn(y)

)n∈N eine Cauchy-Folge und

konvergiert daher gegen ein x ∈ X . Dann gilt wegen der Stetigkeit von f

f(x) = f(

limn→∞

fn(y))

= limn→∞

fn+1(y) = x.

Also ist x ein Fixpunkt von f .

Der Banachsche Fixpunktsatz ist ein wichtiges Werkzeug der Analysis, dasuns auch in anderen Situationen wieder begegnen wird. Des ofteren wird dabeiX eine Kugel im Rn sein, oder auch eine Teilmenge eines Funktionenraums(z.B. in der Vorlesung uber Differentialgleichungen). Insbesondere in der nu-merischen Mathematik ist der Banachsche Fixpunktsatz ein Instrument, mitdem sich die Konvergenz von Approximationsverfahren bzw. von numerischenLosungsmethoden in vielen Fallen beweisen lasst.

Kriterium fur Vollstandigkeit

Lemma XI.1.7. Ist (X, d) ein vollstandiger metrischer Raum, so ist eine Teil-menge A ⊆ X genau dann abgeschlossen, wenn der metrische Raum(A, d |A×A) vollstandig ist.

Beweis. “⇒” Ist A abgeschlossen und (xn)n∈N eine Cauchy-Folge in A , so istsie auch eine Cauchy-Folge in X . Daher existiert ein x ∈ X mit x = limn→∞ xn .Dann ist x ∈ A = A , da A abgeschlossen ist. Folglich konvergiert (xn)n∈N in A .“⇐” Sei andererseits A nicht abgeschlossen und x ∈ A \A . Dann existiert eineFolge in A , die gegen x konvergiert. Dies ist dann eine Cauchy-Folge in A , diein A nicht konvergiert. Somit ist A nicht vollstandig.

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240 XI. Der Satz uber die Umkehrfunktion 31. Oktober 2007

Bemerkung XI.1.8. Der Banachsche Fixpunktsatz hat eine anschaulicheKonsequenz, die man leicht selbst beobachten kann. Hierzu sei X das Stadtge-biet Darmstadts, das wir als abgeschlossene Teilmenge des R2 auffassen. Dannist X ein vollstandiger metrischer Raum (Lemma IX.1.7). Wir breiten nun einenStadtplan von Darmstadt an irgendeiner Stelle auf dem Boden in Darmstadt ausund betrachten die Abbildung f :X → X , die jedem Punkt x ∈ X denjenigenPunkt f(x) zuordnet, uber dem das Bild des Punktes x auf dem Stadtplan liegt.Ist der Stadtplan eine Karte im Maßstab 1 : n , so ist f eine Kontraktion desmetrischen Raumes X mit der Kontraktionskonstante λ = 1

n < 1. Nach dem Ba-nachschen Fixpunktsatz gibt es also genau einen Punkt x ∈ X im DarmstadterStadtgebiet fur den f(x) = x gilt, d.h. x liegt genau unter demjenigen Punktdes Stadtplans, der diesen Punkt abbildet.

Bemerkung XI.1.9. (a) Die Bedingung der Vollstandigkeit ist wesentlich. Soist beispielsweise der metrische Unterraum X = ]0, 1] von R bzgl. der ublichenMetrik nicht vollstandig, da er nicht abgeschlossen ist. Die Abbildung f : X →X , f(x) = 1

2x ist eine Kontraktion, die in X keinen Fixpunkt besitzt.(b) Sei A ∈ End(Rn), y ∈ Rn und ‖A‖ < 1. Wir wollen die Gleichung

(†) (1−A)x = y

losen. Hierzu betrachten wir die Abbildung

f : Rn → Rn, z 7→ Az + y.

Die Fixpunkte dieser Abbildung sind dann genau die Losungen der Gleichung(†). Es gilt

‖f(z1)− f(z2)‖ = ‖A(z1 − z2)‖ ≤ ‖A‖ · ‖z1 − z2‖

mit ‖A‖ < 1, das heißt, f ist eine Kontraktion. Damit hat f genau einenFixpunkt in Rn , d.h., die Gleichung (†) hat genau eine Losung. Wir erhaltenaus dem Beweis des Banachschen Fixpunktsatzes sogar ein Verfahren, mit demwir die Losung naherungsweise berechnen konnen. Die Folge

(fn(y)

)n∈N ist

gegeben durch

f0(y) = y, f1(y) = Ay + y, f2(y) = A(Ay + y) + y = A2y +Ay + y,

und fur allgemeine n ist

fn(y) =n∑

k=0

Aky,

was man leicht per Induktion beweist. Es folgt

(1−A)−1y = x = limn→∞

fn(y) =∞∑

k=0

Aky.

Insbesondere erhalten wir so einen neuen Beweis fur Satz XI.1.4.

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XI.2. Der Satz uber die Umkehrfunktion 241

XI.2. Der Satz uber die Umkehrfunktion

Definition XI.2.1. Seien U ⊆ Rn und V ⊆ Rm offen. Eine Abbildungf : U → V heißt Ck -Diffeomorphismus, wenn sie eine Ck -Abbildung ist, bijektivund ihre Umkehrabbildung f−1 : V → U ebenfalls Ck ist.

Lemma XI.2.2. Seien U ⊆ Rn und V ⊆ Rm offen und f : U → V einC1 -Diffeomorphismus mit f ∈ Ck(U,Rm) . Dann gelten folgende Aussagen:

(a) Fur jedes u ∈ U ist das Differential df(u) ∈ Hom(Rn,Rm) invertierbarmit

df(u)−1 = d(f−1)(f(u)).

(b) m = n .(c) Die Abbildung f−1 : V → Rn ist k -mal stetig differenzierbar.

Beweis. (a) Sei u ∈ U und v = f(u). Dann folgt aus f−1 f = idU undf f−1 = idV mit der Kettenregel

d(f−1

)(f(u)

) df(u) = d(f−1 f)(u) = idRn

df(f−1(v)

) d(f−1

)(v) = d(f f−1)(v) = idRm ,

also d(f−1

)(f(u)

)=(df(u)

)−1 , und df(u) ist eine invertierbare lineare Abbil-dung.(b) Dies folgt sofort aus der Invertierbarkeit von df(u) (Lineare Algebra).(c) Wir erinnern uns, dass die Inversion GL(Rn) → GL(Rn), g 7→ g−1 , beliebigoft differenzierbar ist (Satz XI.1.3(b)). Ist f ∈ Ck und f−1 ∈ C` , wobei0 ≤ ` ≤ k − 1, so ist die Funktion

d(f−1) : V → GL(Rn), v 7→(df(f−1(v)

))−1

`-mal stetig differenzierbar, also f−1 mindestens `+1 mal stetig differenzierbar.Induktiv ergibt sich also f−1 ∈ Ck(V,Rn).

Bemerkung XI.2.3. Sei f : U → V eine stetig differenzierbare, surjektiveFunktion, deren Differential df(x) in allen Punkten x ∈ U invertierbar ist. Kannman hieraus schon schließen, dass f ein Diffeomorphismus ist? Sind U, V ⊆ Roffene Intervalle, so ist dies richtig, denn die Invertierbarkeit des Differentialsdf(x) ist im Eindimensionalen genau die Bedingung, dass f ′(x) 6= 0 ist. Ist diesfur alle x ∈ U der Fall, so ist f streng monoton, insbesondere also injektiv. ImMehrdimensionalen trifft dies jedoch nicht mehr zu. Hierzu betrachten wir dieFunktion

f : ]0,∞[ ×R → R2 \ (0, 0)(r, ϕ) 7→ (r cosϕ, r sinϕ).

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242 XI. Der Satz uber die Umkehrfunktion 31. Oktober 2007

Die Jacobimatrix

J(r,ϕ)(f) =(

cosϕ −r sinϕsinϕ r cosϕ

)ist wegen det

(J(r,ϕ)(f)

)= r 6= 0 immer invertierbar. Die Funktion f ist auch

surjektiv. Wegen f(r, 2π + ϕ) = f(r, ϕ) fur alle (r, ϕ) ist sie nicht injektiv, alsokein Diffeomorphismus.

Trotzdem hat f ”lokale Umkehrfunktionen“: Ist beispielsweise

U := ]0,∞[ × ]ϕ0 − π, ϕ0 + π[

fur ein ϕ0 ∈ R , so ist f |U : U → f(U) injektiv, und

V := f(U) = R2 \(R+ · (cos(ϕ0 + π), sin(ϕ0 + π))

)ist offen in R2 . Man kann also eine Umkehrfunktion f−1 : V → U definieren.Im folgenden werden wir uns der Frage zuwenden, wie es mit den Differenzier-barkeitseigenschaften solcher Umkehrfunktionen steht.

Definition XI.2.4. Eine Ck -Abbildung f : U → Rn heißt lokal um u ∈ Uinvertierbar, wenn es offene Umgebungen U1 von u und V1 von f(u) derartgibt, dass f |U1 : U1 → V1 ein Diffeomorphismus ist. Die Abbildung(

f |U1

)−1 : V1 → U1

heißt dann lokale Umkehrfunktion von f . Ist f in jedem Punkt u ∈ U lokalinvertierbar, so heißt f lokaler Diffeomorphismus.

Satz uber die Umkehrfunktion

Theorem XI.2.5. Sei U ⊆ Rn offen, u ∈ U und f : U → Rn eine Ck -Abbildung. Genau dann ist f um u lokal invertierbar, wenn df(u) invertierbarist. Die lokale Umkehrfunktion ist dann ebenfalls eine Ck -Abbildung.

Beweis. Ist f um u lokal invertierbar, so ist df(u) = d(f | U1)(u) nachLemma XI.2.2 invertierbar. Sei nun umgekehrt df(u) invertierbar. Wir zeigen,dass f lokal um u invertierbar ist. Dazu reduzieren wir die Situation zunachstauf eine einfachere. Zunachst konnen wir wegen Lemma XI.2.2(c) annehmen,dass k = 1 ist. Ferner konnen wir

u = 0, f(u) = 0 und df(0) = 1 = idRn

annehmen, indem wir die Funktion f durch f(x) := df(u)−1(f(u + x) − f(u)

)ersetzen. Dann ist

f(x) = df(u)(f(x− u)

)+ f(u) fur x ∈ U

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XI.2. Der Satz uber die Umkehrfunktion 243

und falls f auf einer Teilmenge von U := U −u invertierbar sein sollte, erhaltenwir direkt eine Umkehrfunktion der entsprechenden Einschrankung von f durch

f−1(y) = f−1(df(u)−1(y − f(u))

)+ u

indem wir die Formel fur f nach y = f(x) auflosen.

Nun wollen wir also fur ”kleine“ y die Gleichung f(x) = y nach x auflosen.Definieren wir

gy:U → Rn, x 7→ y +(x− f(x)

),

so entspricht dies der Fixpunktgleichung

x = gy(x) = y +(x− f(x)

).

Wir suchen also Fixpunkte der Abbildungen gy . Wir mussen eine offene Mengefinden, so dass fur alle y aus dieser Menge die Abbildung gy eine Kontraktionist, denn dann wissen wir nach dem Banachschen Fixpunktsatz, dass gy injeder abgeschlossenen Teilmenge von U , die unter gy invariant ist, genau einenFixpunkt besitzt. Zunachst betrachten wir y = 0.

Fur g(x) := g0(x) = x − f(x) gilt g(0) = 0 und dg(0) = id− id = 0.Wegen g ∈ C1(U,Rn) existiert ein r > 0 mit U2r(0) ⊆ U und ‖dg(x)‖ ≤ 1

2fur alle x mit ‖x‖ ≤ r (ε -δ -Stetigkeit von df ). Aus dem Satz vom endlichenZuwachs X.2.16 folgt damit

‖g(x)− g(x′)‖ ≤ 12‖x− x′‖

fur alle x und x′ mit ‖x‖, ‖x′‖ ≤ r . Insbesondere erhalten wir fur x′ = 0 dieBeziehung ‖g(x)‖ ≤ r

2 fur ‖x‖ ≤ r . Sei X := x ∈ Rn: ‖x‖ ≤ r . Dann ist

gy : X → X, gy(x) := g(x) + y

fur alle y mit ‖y‖ ≤ r2 ebenfalls eine Kontraktion, denn wir haben fur x ∈ X :

‖gy(x)‖ = ‖y + g(x)‖ ≤ ‖y‖+ ‖g(x)‖ ≤ r

2+r

2= r.

Da X in dem vollstandigen metrischen Raum (Rn, d2) abgeschlossen ist, alsonach Lemma XI.1.7 ein vollstandiger metrischer Raum, folgt die Existenz genaueines x ∈ X mit gy(x) = x aus dem Banachschen Fixpunktsatz XI.1.6. Wirhaben also gezeigt, dass zu jedem y mit ‖y‖ ≤ r

2 genau ein x mit ‖x‖ ≤ r undf(x) = y existiert.

Sei

U1 := x ∈ Rn : ‖x‖ < r, ‖f(x)‖ < r

2 = Ur(0) ∩ f−1(U r

2(0)).

Da f stetig ist, ist diese Menge offen (Urbilder offener Mengen sind offen). Seiweiter V1 := f(U1). Fur zwei Punkte x, x′ ∈ Ur(0) erhalten wir

‖x− x′‖ = ‖g(x) + f(x)−(g(x′) + f(x′)

)‖

≤ ‖g(x)− g(x′)‖+ ‖f(x)− f(x′)‖≤ 1

2‖x− x′‖+ ‖f(x)− f(x′)‖,

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244 XI. Der Satz uber die Umkehrfunktion 31. Oktober 2007

woraus sich ‖x−x′‖ ≤ 2‖f(x)−f(x′)‖ ergibt. Fur x′ = 0 folgt speziell ‖x‖ < r ,wenn ‖f(x)‖ < r

2 ist. Damit ist V1 = f(U1) = y ∈ Rn : ‖y‖ < r2 ; diese Menge

ist offen. Ferner sehen wir, dass f |U1 : U1 → V1 bijektiv ist. Also existierteine Umkehrabbildung ϕ :=

(f |U1

)−1 : V1 → U1 , und mit obiger Abschatzungerhalten wir

‖ϕ(y)− ϕ(y′)‖ ≤ 2‖y − y′‖,

indem man x = ϕ(y) und x′ = ϕ(y′) setzt. Die Funktion ϕ ist also stetig.Nun zeigen wir, dass df(x) fur alle x ∈ U1 invertierbar ist. Wir wissen,

dass fur alle x ∈ U1 die Beziehung

‖df(x)− 1‖ = ‖dg(x)‖ ≤ 12

gilt, und nach Satz XI.1.4 ist daher df(x) invertierbar.ϕ ist stetig differenzierbar: Sei v ∈ V1 ; dann ist v = f(u) fur ein u ∈ U1 . Daf in u differenzierbar ist, existiert eine in u stetige Funktion Φ : U1 → End(Rn)mit

f(u+ h)− f(u) = Φ(u+ h)(h)

fur alle u + h ∈ U1 . Wegen der Invertierbarkeit von Φ(u) = df(u) und derStetigkeit von Φ existiert ein δ > 0 mit Φ(u+h) ∈ GL(Rn) fur alle h ∈ Rn mit‖h‖ < δ , denn GL(Rn) ist in End(Rn) offen und fur stetige Abbildungen sindUrbilder offener Mengen offen. Fur solche h ist dann

ϕ(f(u+ h)

)− ϕ

(f(u)

)= u+ h− u = h = Φ(u+ h)−1

(f(u+ h)− f(u)

).

Da ϕ stetig ist, ist die Menge

y ∈ V1 : ‖ϕ(y)− u‖ < δ = ϕ−1(Uδ(0))

in Rn offen. Fur y ∈ V1 setzen wir h := ϕ(y)− u . Dann ist y = f(u+ h), also

ϕ(y)− ϕ(v) = Φ(ϕ(y)

)−1(y − v),

und die Abbildung y 7→ Φ(ϕ(y)

)−1 ist in v stetig, da ϕ stetig ist und die Inver-sion in GL(Rn) ebenfalls. Damit haben wir bewiesen, dass ϕ in v differenzierbarist mit

dϕ(v) = Φ(ϕ(v)

)−1 = Φ(u)−1 = df(u)−1 = df(ϕ(v)

)−1.

Da dϕ auch stetig ist, erhalten wir ϕ ∈ C1(V1,Rn).

Folgerung XI.2.6. Sei U ⊆ Rn offen und f : U → Rn eine stetig differen-zierbare Funktion sowie p ∈ U und r > 0 mit Ur(p) ⊆ U und

‖df(x)− 1‖ ≤ 12 fur x ∈ Ur(p).

Dann gilt:

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XI.2. Der Satz uber die Umkehrfunktion 245

(a) Zu jedem y mit ‖y−f(p)‖ ≤ r2 existiert genau ein x ∈ Ur(p) mit f(x) = y ,

und es gilt fur alle x, x′ ∈ Ur(p) :

‖x− x′‖ ≤ 2‖f(x)− f(x′)‖.

Insbesondere ist f auf Ur(p) injektiv.(b) Ist ρ < r

3 , so gilt

U ρ2

(f(p)

)⊆ f

(Uρ(p)

)⊆ U r

2(f(p))

und f |Uρ(p) ist ein Diffeomorphismus auf eine offene Bildmenge.

Beweis. (a) folgt sofort aus dem ersten Teil des Beweises.(b) Ist y ∈ U ρ

2(f(p)), so erhalten wir mit (a) sofort ein x ∈ Ur(p) mit

f(x) = y . Weiter ist

‖x− p‖ ≤ 2‖f(x)− f(p)‖ = 2‖y − f(p)‖ < ρ,

also U ρ2

(f(p)

)⊆ f

(Uρ(p)

). Um die zweite Inklusion einzusehen, beachten wir,

dass fur alle x ∈ Ur(p) gilt

‖df(x)‖ ≤ ‖df(x)− 1‖+ ‖1‖ ≤ 32,

also nach dem Satz vom endlichen Zuwachs X.2.16 die Beziehung ‖f(x)−f(p)‖ ≤32‖x − p‖ . Daher ist f(Uρ(p)) ⊆ Ur/2

(f(p)

). Dass die Einschrankung von f

auf Uρ(p) ein Diffeomorphismus auf eine offene Bildmenge ist, folgt aus demBeweis des Satz uber die Umkehrfunktion (alternativ kann man Folgerung XI.2.7verwenden, da df(x) fur x ∈ Uρ(p) invertierbar ist und f auf dieser Mengeinjektiv).

Der Vorteil der Folgerung XI.2.6 ist, dass man nur wissen muss, dass

‖df(x)− 1‖ ≤ 12 fur alle x ∈ U3ρ(u)

gilt. Dann kann man direkt eine Umgebung von u angeben, auf der f injektivist, und mit Folgerung XI.2.6 eine Umgebung von f(u), die ganz im Bild von fliegt.

Der Satz uber die Umkehrfunktion ist ein wichtiges Werkzeug der Analysis.Er dient beispielsweise dazu, in vielen Situationen geeignete ”Koordinaten“einzufuhren. Hierbei denken wir uns lokal invertierbare Abbildungen als ”Ko-ordinatenwechsel“, genau wie die Basistransformationen in der Linearen Algebra.

Die folgende Konsequenz aus dem Satz uber die Umkehrfunktion findethaufige Anwendung, da sie es erlaubt, sich den Nachweis der Differenzierbarkeitder Umkehrfunktion zu ersparen. Man hat nur Daten zu betrachten, die unmit-telbar durch die Funktion f selbst gegeben sind.

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246 XI. Der Satz uber die Umkehrfunktion 31. Oktober 2007

Folgerung XI.2.7. Sei k ∈ N ∪ ∞ , U ⊆ Rn offen und f ∈ Ck(U,Rn)injektiv, so dass df(x) fur alle x ∈ U invertierbar ist. Dann ist f(U) ⊆ Rn

offen und f−1 ∈ Ck(f(U),Rn) , d.h. die Umkehrfunktion ist automatisch eineCk -Funktion.

Beweis. Aus dem Satz uber die Umkehrfunktion folgt sofort, dass fur jedesx ∈ U die Menge f(U) eine Umgebung von f(x) ist. Also ist V := f(U) ⊆ Rn

offen. Da f :U → V nach Voraussetzung bijektiv ist, existiert eine Umkehrfunk-tion f−1:V → U . Ist v = f(u) ∈ V , so finden wir mit dem Satz uber dieUmkehrfunktion offene Umgebungen U1 von u in U und V1 von v in V , sodass f |U1 :U1 → V1 ein Ck -Diffeomorphismus ist. Also ist f−1 |V1 = (f |U1)

−1

eine Ck -Abbildung und somit ist f−1 ∈ Ck(V,Rn).

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XII.1. Der Satz uber implizite Funktionen 247

XII. Gleichungen und Mannigfaltigkeiten

Es ist eines der Grundanliegen der Mathematik, Gleichungen der Gestalt

F (x) = y

fur eine gegebene rechte Seite y zu losen, bzw. die Struktur ihrer Losungsmengenzu beschreiben. In diesem Kapitel werden wir den Fall behandeln, wo F :U → Rm

eine stetig differenzierbare Funktion und U ⊆ Rn offen ist. Der Satz uberimplizite Funktionen, den wir in Abschnitt XII.1 behandeln, ist eine wichtigeFolgerung aus dem Satz uber die Umkehrfunktion. Er gibt uns die Moglichkeit,die Losungsmenge

x ∈ U :F (x) = y

geeignet zu parametrisieren. Insbesondere werden wir hierdurch auf den Begriffder Untermannigfaltigkeit des Rn gefuhrt. In Abschnitt XII.2 wenden wir unseiner weiteren wichtigen Klasse von Problemen zu, die in vielen Anwendungeneine Rolle spielt: den Extremwertaufgaben mit Nebenbedingungen, die durchGleichungen gegeben sind.

XII.1. Der Satz uber implizite Funktionen

Um den folgenden Satz besser zu verstehen, betrachten wir zuerst das folgendelineare Problem. Sei hierzu

f : Rn+k → Rk

eine lineare Abbildung. Wir schreiben die Elemente von Rn+k als Paare (x, y)mit x ∈ Rn und y ∈ Rk . Wir mochten nun die Gleichung f(x, y) = 0 nachy auflosen. Da f linear ist, existieren lineare Abbildungen f1: Rn → Rk undf2: Rk → Rk mit

f(x, y) = f1(x) + f2(y) fur (x, y) ∈ Rn+k.

In dieser Darstellung von f sehen wir, dass sich die Gleichung 0 = f(x, y) =f1(x) + f2(y) eindeutig nach y auflosen lasst, wenn die lineare Abbildung f2invertierbar ist. In diesem Fall erhalten wir

y = −f−12 (f1(x)) ⇐⇒ f(x, y) = 0.

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248 XII. Gleichungen und Mannigfaltigkeiten 31. Oktober 2007

Der Satz uber implizite Funktion ist eine Verallgemeinerung dieser Beobachtungauf nichtlineare Abbildungen. Wegen der Nichtlinearitat erhalt man allerdingsnur eine lokale Aussage.

Satz uber implizite Funktionen

Theorem XII.1.1. Seien U ⊆ Rn und V ⊆ Rk offen und f : U × V → Rk

eine Cm -Abbildung. Fur (x, y) ∈ U × V spalten wir das Differential df von fin zwei Bestandteile auf:

df(x, y) =(d1f(x, y), d2f(x, y)

),

mitd1f(x, y) = df(x, y) |Rn×0 ∈ Hom(Rn,Rk),

d2f(x, y) = df(x, y) |0×Rk ∈ End(Rk).

Ist (x0, y0) ∈ U×V mit f(x0, y0) = 0 und d2f(x0, y0) invertierbar, so existierenoffene Umgebungen U1 von x0 in U und V1 von y0 in V sowie eine Cm -Abbildung η : U1 → V1 mit η(x0) = y0 und

(x, y) ∈ U1 × V1 : f(x, y) = 0 = (x, η(x)

): x ∈ U1.

Insbesondere gilt f(x, η(x)

)= 0 fur alle x ∈ U1 .

Beweis. Die Abbildung

ϕ : U × V → Rn × Rk, (x, y) 7→(x, f(x, y)

)hat die Jacobimatrix

J(x,y)(ϕ) =

1 0

. . .0 1

0 . . . 0...

...0 . . . 0(

∂fi

∂xl(x, y)

)i,l

(∂fi

∂yj(x, y)

)i,j

,

das heißt,

det(J(x0,y0)(ϕ)

)= det

(∂fi

∂yj(x0, y0)

)= det((d2f)(x0, y0)) 6= 0.

Das Differential dϕ(x0, y0) ist also invertierbar. Nach dem Satz uber die Umkehrfunk-tion existiert daher eine Umgebung W von (x0, y0), so dass

ϕ |W : W → ϕ(W ) ⊆ Rn × Rk

ein C1 -Diffeomorphismus ist. Die Umkehrfunktion ψ := (ϕ |W )−1:ϕ(W ) → What dann die Gestalt

ψ(x, y) =(x, g(x, y)

)mit einer C1 -Abb. g:ϕ(W ) → Rk.

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XII.1. Der Satz uber implizite Funktionen 249

Wir definieren

η: x ∈ Rn: (x, 0) ∈ ϕ(W ) → Rk, η(x) := g(x, 0).

Dann istψ(x, 0) = (x, g(x, 0)) = (x, η(x))

und daher(x, 0) = ϕ(ψ(x, 0)) = ϕ

(x, η(x)

)=(x, f(x, η(x))

),

d.h. f(x, η(x)) = 0. Ist andererseits f(x, y) = 0 fur (x, y) ∈W , so ist ϕ(x, y) =(x, 0) und daher (x, y) = ψ(x, 0) = (x, η(x)), also y = η(x). Wir haben alsogezeigt, dass

(1.1) (x, y) ∈W : f(x, y) = 0 = (x, η(x)) ∈W : (x, 0) ∈ ϕ(W ).

Wir wahlen jetzt offene Umgebungen U ′1 von x0 und V1 von y0 zunachstso klein, dass U ′1 × V1 ⊆ W gilt. Wegen der Stetigkeit von η finden wir eineoffene Umgebung U1 ⊆ U ′1 von x0 mit η(U1) ⊆ V1 . Da η |U1 ∈ Cm(U1,Rk) ausdem Satz uber die Umkehrfunktion folgt, ist damit wegen (1.1) alles gezeigt.

Bemerkung XII.1.2. (a) Die Voraussetzung von Theorem XII.1.1 lasst sichwie folgt nachprufen. Wir schreiben hierzu x = (x1, . . . , xn, y1, . . . , yk) fur dieElemente von Rn+k . Dann ist die Matrix der linearen Abbildung d2f(x, y)gegeben durch

∂f

∂y(x, y) :=

(∂fi

∂yj(x, y)

)i,j=1,...,k

.

Man hat also die Invertierbarkeit dieser Matrix zu uberprufen.Ist diese Bedingung an einer Stelle (x0, y0) erfullt, so garantiert der Satz

uber implizite Funktionen lokal die Auflosbarkeit der Gleichung

f(x, y) = 0

auf U1 × V1 nach y durch die Funktion η , denn fur (x, y) ∈ U1 × V1 mitf(x, y) = 0 gilt y = η(x). Man kann dies auch so interpretieren, dass derSchnitt von U1 × V1 mit der Nullstellenmenge von f der Graph der Funktion ηist. Die Bedingung

det(∂f∂y

(x0, y0))6= 0

denkt man sich daher als eine hinreichende Bedingung fur die lokale Auflosbarkeitder Gleichung f(x, y) = 0 nach y .(b) Ist diese Bedingung in einem Punkt (x0, y0) mit c := f(x0, y0) 6= 0 erfullt,so beschreibt sie eine hinreichende Bedinung fur die Auflosbarkeit der Gleichung

f(x, y) = c

nach y , denn man kann statt f die Funktion f − c betrachten.

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250 XII. Gleichungen und Mannigfaltigkeiten 31. Oktober 2007

(c) Eine notwendige Bedingung fur die Anwendbarkeit von Theorem XII.1.1 ist,dass die lineare Abbildung df(x0, y0): Rn+k → Rk den Rang k besitzt, d.h.surjektiv ist. Es kann allerdings durchaus passieren, dass dies der Fall ist, ohnedass d2f(x0, y0) invertierbar ist.

Wir nehmen an, dass df(x0, y0) den Rang k besitzt, also surjektiv ist undschreiben x = (x1, . . . , xn, xn+1, . . . , xn+k) fur die Elemente von Rn+k . Dannexistieren verschiedene Indizes r1, . . . , rk ∈ 1, . . . , n+ k , so dass die Matrix(

∂fi

∂xrj

(x0, y0))

i,j=1,...,k

invertierbar ist. In diesem Fall schreiben wir

Rn+k = E1⊕E2, mit E1 = spanei: (∀j)i 6= rj, E2 = spanerj: j = 1, . . . , k.

Dann ist E1∼= Rn und E2

∼= Rk . Wir schreiben die Elemente von E1 als(z1, . . . , zn) und die Elemente von E2 als (zn+1, . . . , zn+k) bzgl. einer Basis, diedurch eine Permutation aus der kanonischen Basis entsteht, die die Menge derIndizes r1, . . . , rk auf n+1, . . . , n+k abbildet. So erhalten wir die Situationaus Theorem XII.1.1, denn nun ist

det(

∂fi

∂zn+j(x0, y0)

)i,j=1,...,k

6= 0

und daher(

∂fi

∂zn+j(x0, y0)

)i,j=1,...,k

invertierbar.

Insbesondere spielt es keine Rolle, wie wir den Rn+k aufteilen. Wichtig ist,dass man in zwei Unterraume E1 und E2 aufteilt, so dass df(x0, y0) |E2 :E2 → Rk

invertierbar ist.

Beispiel XII.1.3. Wir betrachten die Funktion:

f : R3 → R2, f(x, y, z) =(x2 − y2

x2 − z2

)mit der Jacobimatrix

J(x,y,z)(f) =(

2x −2y 02x 0 −2z

).

In diesem Fall ist k = 2 und n = 1. Die lokale Auflosbarkeitsbedingung nach(y, z) ist erfullt, wenn

det( ∂f

∂(y, z)(x0, y0, z0)

)= det

(−2y0 0

0 −2z0

)= 4y0z0 6= 0

ist. In diesem Fall existieren offene Umgebungen U von x0 und V von (y0, z0)in R2 sowie eine Funktion η:U → R2 (eine Kurve), so dass fur ein Tripel(x, y, z) ∈ U × V die Gleichung

f(x, y, z) = f(x0, y0, z0)

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XII.1. Der Satz uber implizite Funktionen 251

genau dann erfullt ist, wenn (y, z) = η(x) ist, d.h., wenn der Punkt (x, y, z) aufdem Graphen der Kurve η liegt.

Ist obige Losungsbedingung nicht erfullt, d.h. y0 = 0, z0 6= 0 und x0 6= 0,so ist

det( ∂f

∂(x, z)(x0, y0, z0)

)= det

(2x0 02x0 −2z0

)= −4x0z0 6= 0

und wir erhalten entsprechend lokale Auflosbarkeit nach dem Variablenpaar(x, z).

Der Satz uber implizite Funktionen ermoglicht uns, die Nullstellenmengeeiner Funktion f lokal als Graph einer Funktion η zu beschreiben, wenn dieBedingung an das Differential erfullt ist.

Betrachtet man beispielsweise den Einheitskreis, d.h. die Nullstellenmengevon

f : R2 → R, f(x, y) = x2 + y2 − 1,

so ist die lokale Losbarkeitsbedingung nach y fur U = V = R gegeben durch

0 6= ∂f

∂y(x0, y0) = 2y0,

d.h., in den Punkten mit y0 = 0 kann man kein η finden. Fur y0 > 0 findetman η(x) =

√1− x2 , und η(x) = −

√1− x2 fur y0 < 0. Um die Punkte (1, 0)

und (−1, 0) ist der Kreisbogen nicht als Graph einer Funktion beschreibbar.Allerdings kann man hier die in Bemerkung XII.1.2(c) beschriebene Methodeverwenden. Die Bedingung fur die Auflosbarkeit der Gleichung nach x ist

0 6= ∂f

∂x(x0, y0) = 2x0

und ist in den Punkten (±1, 0) erfullt. Entsprechend erhalten wir Funktionenη(y) =

√1− y2 fur x0 > 0 und η(y) = −

√1− y2 fur x0 < 0.

Bemerkung XII.1.5. (a) Es ist instruktiv, sich klarzumachen, wie derSatz uber implizite Funktionen im Kontext der Linearen Algebra aussieht. Indiesem Fall ist f : Rn × Rk → Rk eine lineare Abbildung. Gesucht ist eineParametrisierung von

ker f = v ∈ Rn+k: f(v) = 0.

Die Bedingung aus Theorem XII.1.1 bedeutet, dass f |0×Rk surjektiv ist. Furdie zugehorige Matrix bedeutet dies, dass die letzten k Spalten linear unabhangigsind. In diesem Fall ist η: Rn → Rk eine lineare Abbildung, deren Graph(x, η(x)):x ∈ Rn der Kern von f ist. Die Vektoren (ej , η(ej)), j = 1, . . . , n ,bilden also eine Basis des Kerns. Im allgemeinen kann man nicht erwarten,dass die Losungsbedingung erfullt ist, wenn man nicht vorher die Koordinatengeeignet permutiert.

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252 XII. Gleichungen und Mannigfaltigkeiten 31. Oktober 2007

(b) Theorem XII.1.1 besagt letztendlich, dass die nichtlineare Gleichung

f(x, y) = 0

in einer Umgebung von (x0, y0) eindeutig und stetig differenzierbar nach yauflosbar ist, falls ihre lineare Approximation

0 = df(x0, y0)(u, v) = d1f(x0, y0)(u) + d2f(x0, y0)(v)

eindeutig nach v auflosbar ist (siehe die Diskussion vor Theorem XII.1.1). Wirbeachten hierbei, dass die Bedingung der Invertierbarkeit von d2f(x0, y0) imallgemeinen nicht notwendig ist. So hat zum Beispiel fur

f : R2 → R, f(x, y) = (x− y)2

die Gleichung f(x, y) = 0 die eindeutige Losung y = η(x) = x ; aber fur x0 = y0gilt

J(x0,y0)(f) =(2(x0 − y0), 2(y0 − x0)

)= (0, 0).

Anwendung XII.1.6. (Algebraische Funktionen) Ein traditionelles Problemder Algebra ist das Auflosen von Polynomgleichungen. Wir schauen uns jetzt an,was uns der Satz uber implizite Funktionen hieruber sagt.

Sei f : Rn × R → R das Polynom

f(x, t) = tn +n∑

k=1

xktn−k = tn + x1t

n−1 + . . .+ xn−1t+ xn.

Dann ist f(x, t) = 0 genau dann, wenn t eine Nullstelle des Polynoms fx(t) :=f(x, t) = tn +

∑nk=1 xkt

n−k ist. Sei t0 ∈ R eine einfache Nullstelle von fx0 , d.h.f ′x0

(t) 6= 0. Dann ist∂f

∂t(x0, t0) = f ′x0

(t0) 6= 0.

Dies entspricht der Losbarkeitsbedingung nach t im Satz uber implizite Funk-tionen XII.1.1. Es existieren also eine Umgebung U von x0 = (x0,1, . . . , x0,n)und eine beliebig oft differenzierbare Funktion η ∈ C∞(U) mit f

(x, η(x)

)= 0

fur alle x ∈ U und η(x0) = t0 . Damit haben wir folgende bemerkenswerte Aus-sage bewiesen: Die einfachen Nullstellen eines Polynoms hangen lokal beliebigoft differenzierbar von seinen Koeffizienten ab.

Funktionen wie das oben beschriebene η nennt man algebraische Funktio-nen, weil sie Losungen von polynomialen Gleichungen sind. Als Beispiel sei furn = 2 das Polynom f(x, y, t) = t2 + xt + y angefuhrt. Die Bedingung fur dielokale Auflosbarkeit der Gleichung f(x, y, t) = 0 nach t an der Stelle (x0, y0, t0)mit f(x0, y0, t0) ist 2t0 + x0 6= 0. Wegen

f(x, y, t) =(t+

x

2)2 + y − x2

4

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XII.1. Der Satz uber implizite Funktionen 253

bedeutet dies, dass t0 keine zweifache Nullstelle des Polynoms t2 + x0t+ y0 ist,d.h. y0 <

x204 . Wir nehmen zuerst

t0 = −x0

2+

√x2

0

4− y0

an. Eine hierzu passende Funktion η ist dann gegeben durch

η(x, y) = −x2

+

√x2

4− y

auf der Menge U1 := (x, y): x2

4 > y . Gilt

t0 = −x0

2−√x2

0

4− y0,

so erhalten wir

η(x, y) = −x2−√x2

4− y

auf der Menge U1 := (x, y): x2

4 > y . Man kann dies so interpretieren, dass uberjedem Punkt (x, y) der offenen Menge U1 genau zwei Losungen der Gleichungf(x, y, t) = 0 liegen. Uber den Randpunkten (x, y) ∈ ∂U1 gilt x2

4 = y , und uberdiesen liegt nur eine Losung. Die Losungsmenge sieht also aus wie eine Flache,die man an der Kurve ∂U1 (eine Parabel) uber sich selbst gefaltet hat.

Implizites Differenzieren

Bemerkung XII.1.7. (Die Ableitung von η ) Die Voraussetzungen seien wieim Satz uber implizite Funktionen. Wir schreiben wieder

df(x, y) =(d1f(x, y), d2f(x, y)

),

mit d1f(x, y) ∈ Hom(Rn,Rk) und d2f(x, y) ∈ End(Rk). Aus f(x, η(x)

)= 0 fur

x ∈ U1 folgt dann mit der Kettenregel

0 = df(x, η(x)

)(id, dη(x)

)= d1f

(x, η(x)

)+ d2f

(x, η(x)

) dη(x)

Ist d2f(x, η(x)

)invertierbar, so ergibt sich hieraus

dη(x) = −d2f(x, η(x)

)−1 d1f(x, η(x)

).

Speziell ergibt sich fur n = k = 1:

η′(x) = −∂f∂x

(x, η(x)

)∂f∂y

(x, η(x)

)fur f

(x, η(x)

)= 0, falls ∂f

∂y

(x, η(x)

)6= 0 ist.

Wir betrachten die Funktion η : U1 → V1 als eine lokale Parametrisierungder Losungsmenge der Gleichung f(x, y) = 0. Letztere wird somit lokal alsGraph der Funktion η dargestellt. Der folgende Begriff beschreibt allgemeinTeilmengen des Rn , die sich so beschreiben lassen, unabhangig davon, ob sieLosungsmenge einer Gleichung sind oder nicht.

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254 XII. Gleichungen und Mannigfaltigkeiten 31. Oktober 2007

Untermannigfaltigkeiten des Rn

Definition XII.1.8. Eine Teilmenge M ⊆ Rn heißt k -dimensionale Cm -Untermannigfaltigkeit, wenn folgende Bedingung erfullt ist. Fur jeden Punktp ∈ M existiert eine offene Umgebung U ⊆ Rn , eine offene Teilmenge U ′ ⊆ Rn

und ein Cm -Diffeomorphismus

ϕ : U → U ′ ⊆ Rn mit ϕ(U ∩M) = U ′ ∩(Rk × 0

).

Eine solche Abbildung heißt Umgebungskarte von M. Eine Familie (ϕj)j∈J vonUmgebungskarten ϕj : Uj → U ′j ∩

(Rk ×0

)von M heißt Umgebungsatlas von

M, wenn M ⊆⋃

j∈J Uj ist.

Eine Untermannigfaltigkeit ist also eine Menge, die in geeigneten krumm-linigen Koordinaten (beschrieben durch ϕ) lokal wie Rk in Rn aussieht.

Beispiel XII.1.9. (a) (Funktionsgraphen) Sei n = m+ k , V ⊆ Rk offen undf :V → Rm eine stetig differenzierbare Funktion. Wir zeigen, dass

M := Γ(f) = (x, f(x)):x ∈ V

eine k -dimensionale C1 -Untermannigfaltigkeit von Rm+k ist.Hierzu sei U := V × Rm . Dies ist eine offene Menge, die Umgebung aller

Punkte in M ist. Wir betrachten die Abbildung

ϕ:U → U ⊆ Rn, ϕ(x, y) =(x, y − f(x)

).

Dann ist ϕ ein C1 -Diffeomorphismus der Menge U mit der inversen Abbildungϕ−1(x, y) =

(x, y + f(x)

). Weiter gilt

ϕ(U ∩M) = ϕ(M) = V × 0 = U ∩ (Rk × 0).

Die Abbildunge ϕ liefert also einen einelementigen Umgebungsatlas von M .(b) (Die n -Sphare) Wir betrachten die n-Sphare

Sn :=x ∈ Rn+1: ‖x‖2 = 1 =

x ∈ Rn+1:

n∑j=1

x2j = 1

.

Wir zeigen, dass Sn eine n -dimensionale Untermannigfaltigkeit von Rn+1 ist.Fur jeden Index j ∈ 1, . . . , n+ 1 betrachten wir die offenen Mengen

U±j =x ∈ Rn+1:

∑i 6=j

x2i < 1,±xj > 0

.

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XII.1. Der Satz uber implizite Funktionen 255

Jede der Mengen U±j ist offen, und diese Mengen uberdecken Sn . Wir betrachtendie Abbildungen

ϕ±j :U±j → Rn+1, ϕ±j (x) =(x1, . . . , xj−1, xj+1, . . . , xn, xj ∓

(1−

∑i 6=j

x2i

) 12).

Dann ist ϕ±j ein Diffeomorphismus auf ϕ±j (U±j ) (Nachweis als Ubung!), und esgilt

ϕ±j (U±j ∩M) = ϕ±j (U±j ) ∩ (Rn × 0).

Hiermit sieht man, dass die 2(n + 1) Umgebungskarten ϕ±j , j = 1, . . . , n + 1einen Umgebungsatlas von Sn bilden.

Aufgabe XII.1. Sei M ⊆ Rn eine Teilmenge. Zeigen Sie: Die Eigenschaftvon M , eine k -dimensionale Cm -Untermannigfaltigkeit zu sein, ist in dem fol-genden Sinne lokal. Die Teilmenge M ist genau dann eine k -dimensionale Cm -Untermannigfaltigkeit von Rn , wenn fur jeden Punkt p ∈M eine offene Umge-bung U existiert, so dass U ∩M eine k -dimensionale Cm -Untermannigfaltigkeitist.

Bemerkung XII.1.10. (a) Erfullt f : U × V → Rk (U ⊆ Rn , V ⊆ Rk ) in(x0, y0) die Voraussetzung des Satzes uber implizite Funktionen XII.1.1, d.h., istd2f(x0, y0) invertierbar, so besagt Definition XII.1.8, dass die Menge

M := (x, y) ∈ U1 × V1 : f(x, y) = 0

eine k -dimensionale Untermannigfaltigkeit von Rn+k ist, denn sie ist ein Funk-tionsgraph. Die Abbildung

ϕ : U1 × V1 → Rn+k

aus dem Beweis ist eine Umgebungskarte. Mochte man zeigen, dass die gesamteLosungsmenge M := (x, y) ∈ U × V : f(x, y) = 0 eine Untermannigfaltigkeitist, so hat man allerdings fur jeden Punkt (x0, y0) ∈ M eine Umgebungskarte zufinden (vgl. Beispiel XII.1.4).(b) Ist speziell f : Rn → Rk eine surjektive lineare Abbildung, so ist M :=ker f eine (n − k)-dimensionale Untermannigfaltigkeit von Rn (vgl. Rangsatz:dim ker f = dim Rn − dim

(im f

)= n− dim

(im f

)).

Definition XII.1.11. Ist U ⊆ Rn offen und f : U → Rk eine differenzierbareFunktion, so heißt

rgu(f) := rg(df(u)

)der Rang von f in u . Der Punkt u heißt kritischer Punkt , wenn rgu(f) < kist. In diesem Fall heißt f(u) ∈ Rk kritischer Wert . Ein Punkt y ∈ Rk heißtregularer Wert , wenn y kein kritischer Wert ist, d.h., wenn die Menge f−1(y)keine kritischen Punkte enthalt. Beachte, dass alle Punkte y /∈ f(U) regulareWerte sind, weil f−1(y) = Ø ist.

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256 XII. Gleichungen und Mannigfaltigkeiten 31. Oktober 2007

Den folgenden Satz kann man als eine globale Version des Satz uber im-plizite Funktionen verstehen, denn er gibt nicht nur Auskunft uber die lokaleStruktur der Losungsmenge einer Gleichung, sondern uber ihre globale Struktur.

Rangsatz

Satz XII.1.12. Sei U ⊆ Rn offen und f : U → Rk eine Cm -Abbildung.Ist w ∈ f(U) ⊆ Rk ein regularer Wert von f , so ist das Urbild f−1(w) eine(n− k)-dimensionale Cm -Untermannigfaltigkeit von Rn .

Fur n = 2 und k = 1 heißen die Mengen f−1(w) Hohenlinien von f . Imallgemeinen spricht man von Niveaumengen oder Niveauflachen.

Beweis. Sei u ∈ f−1(w). Wegen der Regularitat von u ist rgu(f) = k . Alsoist die Abbildung g : U → Rk , x 7→ f(x) − w im Punkt u regular, d.h., es

gilt rg(∂gi

∂xj(u))

i=1...,kj=1,...,n

= k . Nach geeigneter Umnumerierung der Koordinaten

durfen wir o.B.d.A. annehmen, dass die ersten k Spalten der Matrix Ju(g) linear

unabhangig sind, d.h., es ist det(∂gi

∂xj

)i,j=1...,k

6= 0 (vgl. die Diskussion in

Bemerkung XII.1.2). Sei nun

ϕ : U → Rn, x 7→(g1(x), . . . , gk(x), xk+1, . . . , xn

).

Dann ist

Ju(ϕ) =

(

∂gi

∂xj

)i=1...,k

j=1,...,n

0 · · · 0. . .

0 · · · 0

1 · · · 0. . .

0 · · · 1

eine (n× n)-Matrix mit det

(Ju(ϕ)

)= det

(∂gi

∂xj

)i,j=1...,k

6= 0. Nach dem Satz

uber die Umkehrfunktion gibt es also eine offene Umgebung V von u , so dassϕ |V : V → ϕ(V ) ein Diffeomorphismus ist. Dann ist

ϕ(f−1(w) ∩ V

)= ϕ

(g−1(0) ∩ V

)=(0 × Rn−k

)∩ ϕ(V ).

Also ist ϕ eine Umgebungskarte von f−1(w) um u , und dim(f−1(w)

)= n−k .

Beispiel XII.1.13. (a) Sei A ∈ GLn(R) eine invertierbare symmetrische Ma-trix und f : Rn → R gegeben durch f(x) = 〈Ax, x〉 = x>Ax . Nach der Produk-tregel ist dann

df(x)(h) = 2〈Ax, h〉,

also Jx(f) = 2x>A (Nachweis als Ubung). Ein Punkt x ∈ Rn ist genau dannein kritischer Punkt, wenn Ax = 0 ist. Da A invertierbar ist, gilt dies genaudann, wenn x = 0 ist. Der einzige kritische Wert ist also t = 0. Somit

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XII.2. Extrema mit Nebenbedingungen 257

ist die Menge f−1(t) fur alle t 6= 0 eine Untermannigfaltigkeit von Rn . FurA = diag(λ1, . . . , λn), λi > 0, ergeben sich Ellipsoide:

f−1(t) =x ∈ Rn :

n∑j=1

λj x2j = t

.

Fur A = 1 erhalten wir einen neuen Beweis dafur, dass die Sphare

Sn−1 := x ∈ Rn : ‖x‖ = 1

eine (n−1)-dimensionale Untermannigfaltigkeit des Rn ist (Beispiel XII.1.9(b)).(b) Sei f : R2 → R, (x, y) 7→ x4 − y4 . Dann ist ∇f(x, y) = (4x3,−4y3).Also ist (x, y) genau dann kritischer Punkt, wenn (x, y) = (0, 0) ist, und dereinzige kritische Wert ist t = 0. Fur t 6= 0 sind also alle Hohenlinien von fUntermannigfaltigkeiten von R2 . Fur t = 0 ist die zugehorige Hohenlinie keineUntermannigfaltigkeit, da sie aus zwei Geraden besteht, die sich im Nullpunktschneiden.(c) Ist f : Rn → Rk eine lineare Abbildung, so ist ein Punkt w ∈ f(Rn) ⊆ Rk

genau dann ein regularer Wert, wenn rg(f) = k ist (beachte, dass f = df(u)fur alle u ∈ Rn gilt, so dass rgu(f) = rg

(df(u)

)= rg(f) von u unabhangig ist).

Dann ist fur jeden Punkt w ∈ Rk die Menge f−1(w) ein affiner Unterraum vonRn : Ist f(x) = w , so ist f−1(w) = x+ ker f . Dies sind spezielle Untermannig-faltigkeiten der Dimension dim(ker f) = n− k .

Aufgabe XII.1. Sei 1 < p <∞ . Wir betrachten die Einheitssphare

M := x ∈ Rn: ‖x‖p = 1 = x ∈ Rn: |x1|p + . . .+ |xn|p = 1.

Fur welche p ist die Funktion f(x) := |x1|p + . . .+ |xn|p auf Rn stetig differen-zierbar? Wie hoch ist die Differenzierbarkeitsordnung? Diskutieren sie zuerst dieFunktion R → R, x 7→ |x|p . Fur welche k ist M eine Ck -Untermannigfaltigkeit?

XII.2. Extrema mit Nebenbedingungen

Nachdem wir in Abschnitt X.4 Extrema von Funktionen studiert haben, die aufoffenen Mengen U ⊆ Rn definiert sind, wenden wir uns nun einer Situation zu,die in praktischen Problemen viel haufiger zu finden ist. Wir werden Extremamit Nebenbedingungen studieren, d.h. Extrema von Funktionen auf Unterman-nigfaltigkeiten M ⊆ Rn . Der wesentliche Punkt hierbei ist, dass man dies nichtdirekt durch eine Parametrisierung der Untermannigfaltigkeit auf die Situationvon Abschnitt X.4 zuruckfuhren mochte, da dies im allgemeinen recht kompliziertsein kann. Vielmehr mochte man direkter notwendige Bedingungen ableiten, diesich mit Daten formulieren lassen, die sich aus der Funktion g ergeben, die dieUntermannigfaltigkeit als Niveaumenge g−1(0) beschreibt.

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258 XII. Gleichungen und Mannigfaltigkeiten 31. Oktober 2007

Definition XII.2.1. Sei M ⊆ Rn eine k -dimensionale Untermannigfaltigkeitund p ∈ M . Ein Vektor v ∈ Rn heißt Tangentialvektor an M in p, wenneine stetig differenzierbare Kurve γ : ] − ε, ε[ → M ⊆ Rn mit γ(0) = p undγ(0) = v existiert. Die Menge Tp(M) aller Tangentialvektoren von M in pheißt Tangentialraum von M in p. Die Menge p+ Tp(M) heißt Tangente an p.

Satz XII.2.2. Der Tangentialraum Tp(M) ist ein k -dimensionaler Untervek-torraum von Rn . Beschreiben kann man ihn wie folgt:

(a) Ist ϕ : U → U ′ ⊆ Rn eine Umgebungskarte um p mit ϕ(p) = 0 undϕ(U ∩M) = ϕ(U) ∩

(Rk × 0

), so ist

Tp(M) =(dϕ(p)

)−1(Rk × 0)

= d(ϕ−1

)(0)(Rk × 0

).

(b) Ist U ⊆ Rn offen, g : U → Rn−k eine stetig differenzierbare Funktion,w ∈ Rn−k ein regularer Wert von g und

M := g−1(w) = x ∈ U : g(x) = w 6= Ø,

so istTp(M) = ker

(dg(p)

).

Beweis. Es ist klar, dass aus (a) und (b) jeweils folgt, dass Tp(M) ein Vektor-raum ist.

Zuerst fuhren wir (b) auf (a) zuruck. In der Situation von (b) sei ϕ(x) =(x1, . . . , xk, g(x)

)wie im Beweis von Theorem XII.1.12, wobei die Matrix(

∂gi

∂xj(p))

i=1,...,n−k,j=k+1,...,n

invertierbar ist. Dann liefert ϕ eine Umgebungskarte um p in M und

Jp(ϕ) =

1k 0(∂gi

∂xj(p))

i,j

=(

1k 0Jp(g)

)wobei 1k die (k × k)-Einheitsmatrix ist. Dann ist(

dϕ(p))−1(Rk × 0

)= ker dg(p).

Nun beweisen wir (a). Ist γ : ]−ε, ε[→M ⊆ Rn eine stetig differenzierbareKurve mit γ(0) = p und γ(0) = v , so ist(

ϕ γ)′(0) = dϕ

(γ(0)

)(γ(0)

)∈ Rk × 0,

d.h., v = γ(0) ∈(dϕ(p)

)−1(Rk × 0). Ist umgekehrt

v ∈(dϕ(p)

)−1(Rk × 0)

und ist ε > 0, so dass t ·dϕ(p)(v) ∈ ϕ(U) fur alle t mit |t| < ε gilt, so definierenwir

γ : ]− ε, ε[ →M, t 7→ ϕ−1(t · dϕ(p)(v)

).

Dann ist γ stetig differenzierbar mit γ(0) = ϕ−1(0) = p und

γ(0) = d(ϕ−1

)(0)(dϕ(p)(v)

)=((

dϕ(p))−1 dϕ(p)

)(v) = v.

Es folgt Tp(M) =(dϕ(p)

)−1(Rk × 0).

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XII.2. Extrema mit Nebenbedingungen 259

Wir fassen zusammen:(a) Lokal sieht eine Untermannigfaltigkeit M aus wie eine verbogene Kopie eineroffenen Teilmenge von Rk im Rn . Der Tangentialraum Tp(Rk) an Rk ist in allenPunkten p gleich Rk selbst; entsprechend ubertragt sich der Tangentialraumdurch das Differential der Parametrisierungsabbildung auf die Mannigfaltigkeit.(b) Wird M durch die Gleichung g(x) = 0 beschrieben, so wird der Tangen-tialraum Tp(M) durch die Gleichung dg(p)(v) = 0 beschrieben. Ist speziellg : U → R , U ⊆ Rn , so ist M = g−1(w) eine Niveauflache der Funktion g . Istw ein regularer Wert, so ist

Tp(M) = ker dg(p) = v ∈ Rn : 〈∇g(p), w〉 = 0.

Der Gradient ist also orthogonal zu den Niveauflachen bzw. dem Tangentialraum.

Beispiel XII.2.3. (a) Sei M = Sn−1 ⊆ Rn die Einheitssphare. Man kann sieals Nullstellenmenge der Funktion g(x) = ‖x‖2−1 = 〈x, x〉−1 beschreiben, d.h.,es ist M = g−1(0). Null ist ein regularer Wert. Wegen ∇g(x) = 2x ist

Tp(M) = v ∈ Rn : 〈v, p〉 = 0,

und die Tangente in p ist gleich

p+ Tp(M) = v ∈ Rn : 〈v, p〉 = 1.

(b) Sei U ⊆ Rn eine offene Menge und f : U → Rk eine Cm -Abbildung. Dannist der Funktionsgraph

M := Γ(f) :=(x, f(x)

): x ∈ U

⊆ U × Rk

eine n -dimensionale Untermannigfaltigkeit, denn fur

g : U × Rk → Rk, g(x, y) := y − f(x)

ist M = g−1(0) und

J(x,y)(g) =

−Jx(f)

∣∣∣∣∣∣1 0

. . .0 1

k

︸ ︷︷ ︸ ︸ ︷︷ ︸n k

,

d.h., fur alle p ∈ M gilt die Beziehung rgp(g) = k ; insbesondere ist 0 einregularer Wert. Um den Tangentialraum zu berechnen, verwenden wir, dassgenau dann dg(x, y)(v, w) = −df(x)(v) + w = 0 gilt, wenn w = df(x)(v) ist.Damit erhalten wir

T(x,f(x))(M) =(v, df(x)(v)

): v ∈ Rn

= Γ

(df(x)

);

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260 XII. Gleichungen und Mannigfaltigkeiten 31. Oktober 2007

die Tangente als ”affine Approximation“ von M ist dann

(x, f(x)

)+ T(x,f(x))(M) =

(x+ v, f(x) + df(x)(v)

): v ∈ Rn

.

Passenderweise ist sie also der Graph der affinen Funktion

T 1x (f)(v) = f(x) + df(x)(v).

Definition XII.2.4. Sei M eine C1 -Untermannigfaltigkeit der offenen Teil-menge U ⊆ Rn und f : U → R eine stetig differenzierbare Funktion. Dann heißtp ∈M kritischer Punkt von f |M , wenn

df(p) |Tp(M) = 0

gilt. Er heißt dann ein kritischer Punkt unter der Nebenbedingung M .

Wir fugen an dieser Stelle einen Satz ein, der eigentlich in die lineareAlgebra gehort; wir brauchen ihn im Beweis des nachfolgenden Satzes.

Satz XII.2.5. Ist V ein Vektorraum, und sind α, β1, . . . , βn : V → R lineareAbbildungen, so ist die Bedingung

kerα ⊇n⋂

j=1

kerβj (2.1)

aquivalent zur Existenz von λ1, . . . , λn ∈ R mit

α = λ1β1 + . . .+ λnβn. (2.2)

Beweis. Die Richtung (2.2) ⇒ (2.1) ist trivial. Zum Beweis der Richtung(2.1) ⇒ (2.2) betrachten wir die lineare Abbildung

ϕ : V → Rn, v 7→(β1(v), . . . , βn(v)

).

Dann ist kerϕ =⋂n

i=1 kerβi . Wegen α(kerϕ) = 0 wird durch

α : ϕ(V ) → R, ϕ(v) 7→ α(v)

eine lineare Abbildung definiert, die sich zu einer linearen Abbildung α : Rn → Rmit α ϕ = α fortsetzen lasst. Nun existieren Zahlen λ1, . . . , λn mit α(x) =∑n

i=1 λixi fur alle x ∈ Rn . Dann gilt α(v) = α(ϕ(v)

)=∑n

i=1 λi

(βi(v)

)fur alle

v ∈ V , d.h.,α = λ1β1 + . . .+ λnβn.

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XII.2. Extrema mit Nebenbedingungen 261

Satz XII.2.6. Sei U ⊆ Rm+n eine offene Teilmenge, und die m-dimensonaleC1 -Untermannigfaltigkeit M ⊆ U sei durch

M := x ∈ U : g(x) = 0gegeben, wobei g : U → Rn eine stetig differenzierbare Funktion und 0 einregularer Wert sei.

(a) Dann ist p ∈ M genau dann ein kritischer Punkt von f ∈ C1(U) unterder Nebenbedingung g = 0 , wenn Zahlen λ1, . . . , λn ∈ R so existieren, dass

df(p) =n∑

j=1

λjdgj(p)

gilt, d.h. df(p) ist von den dgj(p) linear abhangig.

Notwendige Bedingung fur Extrema

(b) Hat f in p ∈ M ein lokales Extremum unter der Nebenbedingung g = 0 ,so ist p ein kritischer Punkt von f |M . Dass p ein lokales Maximum ist,bedeutet in diesem Kontext, dass ein δ > 0 so existiert, dass f(x) ≤ f(p)fur alle x ∈M mit ‖x− p‖ ≤ δ gilt.

Beweis. (b) Sei p ein lokales Extremum von f |M . Es ist zu zeigen, dassdf(p) |Tp(M) = 0 gilt, dass also Tp(M) ⊆ ker df(p) ist. Sei v ∈ Tp(M). Dannexistiert eine Kurve γ : ]− ε, ε[ →M mit γ(0) = p und γ(0) = v . Nun ist 0 einlokales Extremum der Funktion ]− ε, ε[→ R, t 7→ f

(γ(t)

), also gilt

0 =d

dt t=0f(γ(0)

)= df

(γ(0)

)(γ(0)

)= df(p)(v).

Damit ist Tp(M) ⊆ ker df(p), also p ein kritischer Punkt von f |M .(a) Nach Satz XII.2.2 ist

Tp(M) = ker dg(p) =n⋂

i=1

ker dgi(p) fur g = (g1, . . . , gn).

Die Bedingung, dass p kritischer Punkt ist, ist also zu ker df(p) ⊇⋂n

i=1 ker dgi(p)aquivalent. Nach Satz XII.2.5 bedeutet dies, dass Zahlen λ1, . . . , λn ∈ R mit

df(p) =n∑

i=1

λidgi(p)

existieren.

Methode der Lagrange-Multiplikatoren

Die Zahlen λ1, . . . , λm in Satz XII.2.6 heißen Lagrange-Multiplikatoren.Will man die lokalen Extrema von f |M bestimmen, so hat man also die 2n+mGleichungen

g(x) = 0 und df(x)−n∑

i=1

λidgi(p) = 0

zu losen. In ihnen kommen 2n+m Unbekannte vor, namlich x1, . . . , xm+n undλ1, . . . , λn .

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262 XII. Gleichungen und Mannigfaltigkeiten 31. Oktober 2007

Beispiel XII.2.7. (a) Sei M = Sk−1 ⊆ Rk die Einheitskugel, also die Null-stellenmenge von g(x) = ‖x‖2 − 1, und f(x) = 〈Ax, x〉 fur eine symmetrischeMatrix A . Wir suchen die kritischen Punkte von f |M . Hier ist n = 1 undm = k − 1, also m + 2n = k + 1. Es ist ∇f(x) = 2Ax und ∇g(x) = 2x . DieGleichungen, die wir losen mussen, sind also g(x) = 0 und ∇f(x)−λ·∇g(x) = 0,d.h.

‖x‖2 = 1 und Ax− λx = 0.

Ein Punkt x ∈ M ist also genau dann kritischer Punkt von f |M , wenn erEigenvektor von A zum Eigenwert λ ist. Wegen f(x) = 〈Ax, x〉 ergibt sich alszugehoriger Funktionswert in x ∈ Sk−1 :

f(x) = 〈Ax, x〉 = λ〈x, x〉 = λ.

Folglich ist x genau dann ein Minimum von f |M , wenn x Eigenvektor zum mini-malen Eigenwert von A ist und ein Maximum genau dann, wenn x Eigenvektorzum maximalen Eigenwert ist.

Man beachte: Aus dem Satz vom Maximum folgt die Existenz eines Maxi-mums von f auf der kompakten Menge M = Sk−1 , was bedeutet, dass Amindestens einen reellen Eigenwert hat! Induktiv schließt man hieraus leicht,dass die nach Voraussetzung symmetrische Matrix A reell diagonalisierbar ist(Lineare Algebra II).(b) Sei M = x ∈ U : g(x) = 0 ⊆ Rn eine Untermannigfaltigkeit, wobei 0 einregularer Wert der stetig differenzierbaren Funktion g:U → R ist. Weiter seip ∈ Rn \M . Wir suchen in M einen Punkt minimalen Abstands von p . Wirbetrachten dazu die Funktion

f :U → R, f(x) = ‖x− p‖2 =n∑

j=1

(xj − pj)2.

Wir nehmen an, dass x ∈ M ein lokales Minimum der Funktion f unterder Nebenbedingung g = 0 ist. Nun ist

∇f(x) = 2(x− p),

so dass genau dann ein λ ∈ R mit

df(x) + λdg(x) = 0

existiert, wenn df(x) kollinear zu dg(x) ist. Da der Tangentialraum Tx(M) mitker dg(x) ubereinstimmt, bedeutet dies, dass

(x− p) ⊥ Tx(M)

gilt. Wir finden also die notwendige Bedingung, dass die Verbindungsstrecke vonp und x senkrecht zu Tp(M) ist, d.h., diese Verbindungsstrecke trifft orthogonalauf die Untermannigfaltigkeit M .

Aufgabe XII.2. Gegeben sei die Untermannigfaltigkeit

M = (x, y, z) ∈ R3: z = y2 + x2und p = (0, 0, t). Bestimmen sie (in Abhangigkeit von t), alle Punkte auf M ,die von p minimalen Abstand haben.

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XIII.1. Das mehrdimensionale Riemann–Integral 263

XIII. Integralrechnung mehrerer Veranderlicher

In diesem letzten Kapitel der Analysis in mehreren Veranderlichen werden wir unsnoch kurz der Integrationstheorie zuwenden. Fur eine ausfuhrliche Diskussionder Integralrechnungen in mehreren Veranderlichen reicht die uns verbleibendeZeit hier nicht aus und dafur ist ohnehin die Vorlesung ”Mehrfachintegration“vorgesehen. Wir werden daher nur kurz die wichtigsten Eckpfeiler der Theoriekennenlernen (im wesentlichen ohne Beweise) und sehen, dass man damit durch-aus fur viele praktische Zwecke genug weiß, um konkrete Integrale berechnen zukonnen.

XIII.1. Das mehrdimensionale Riemann–Integral

Wie in der eindimensionalen Integrationstheorie betrachten wir nur be-schrankte Funktionen

f : [a, b] := x ∈ Rn: (∀i) ai ≤ xi ≤ bi → R,

die auf Quadern [a, b] in Rn definiert sind.Auch hier beginnen wir mit dem Konzept einer Stufenfunktion, das aller-

dings durch die hohere Dimension etwas komplizierter wird.

Definition XIII.1.1. Sei Q = [a, b] ⊆ Rn ein Quader.(a) Eine Menge Z = Q1, . . . , Qm von nicht uberlappenden Quadern Qj

heißt Zerlegung von Q , wenn

Q =m⋃

j=1

Qj .

Mit “nicht uberlappend” meinen wir hier, dass der Schnitt Qi ∩ Qj zwar nichtleer sein muss, aber keine inneren Punkte enthalten darf (vgl. Aufgabe 1.1).

(b) Die Zahl

voln(Q) := µ(Q) :=n∏

i=1

bi − ai

heißt Maß oder n-dimensionales Volumen von Q .

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264 XIII. Integralrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

(c) Die Zahl δ(Q) := ‖b − a‖∞ heißt Durchmesser von Q . Ist δ(Qk) derDurchmesser von Qk , so heißt

‖Z‖ := max1≤k≤m

δ(Qk)

Norm der Zerlegung.

Aufgabe 1.1. (Durchschnitte von Quadern) Seinen a ≤ b und c ≤ d in Rn .Dann ist

[a, b] ∩ [c, d] = [max(a, c),min(b, d)]

wieder ein Quader. Hierbei ist

max(a, c) := (max(a1, c1), . . . ,max(an, cn))

undmin(b, d) := (min(b1, d1), . . . ,min(bn, dn)).

Definition XIII.1.2. Eine Funktion f : [a, b] → R heißt Treppenfunktion,wenn es eine Zerlegung Z = (Q1, . . . , Qm) von [a, b] und Zahlen c1, . . . , cm ∈ Rgibt mit

f(x) = ck fur x ∈ Q0k.

Wir sprechen dann von einer Treppenfunktion bzgl. der Zerlegung Z . Von denFunktionswerten an den Randern der Quader Qk wird nichts verlangt. Wirschreiben T b

a fur die Menge der Treppenfunktionen f : [a, b] → R .

Wie im Eindimensionalen stellt man leicht fest, dass T ba ein Vektorraum

ist und dass man auf T ba einen wohldefinierten (also von der Zerlegungn un-

abhangigen) Integralbegriff durch∫[a,b]

f :=∫

[a,b]

f(x) dx :=m∑

i=1

f(ξi)µ(Qi)

definieren kann, wobei ξi ∈ Q0i ist und die Funktion f auf dem Innern Q0

i desZerlegungsquaders Qi konstant ist. Unmittelbar aus der Definition folgt, dassdas Integral auf T b

a monoton und linear ist.

Definition XIII.1.3. (a) Ist f : [a, b] → R eine beschrankte Funktion, sodefinieren wir das Oberintegral∫

[a,b]

f := inf∫

[a,b]

ψ: f ≤ ψ, ψ ∈ T ba

und das Unterintegral∫

[a,b]

f := sup∫

[a,b]

ϕ:ϕ ≤ f, ϕ ∈ T ba

.

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XIII.1. Das mehrdimensionale Riemann–Integral 265

Um die Endlichkeit dieser Werte einzusehen, beachten wir, dass aus derBeschranktheit von f die Existenz von m,M ∈ R mit m ≤ f ≤ M folgt.Insbesondere existieren ϕ,ψ ∈ T b

a mit ϕ ≤ f ≤ ψ . Fur solche Paare gilt∫[a,b]

ϕ ≤∫[a,b]

ψ wegen der Monotonie des Integrals auf T ba . Insbesondere sind∫

[a,b]f und

∫[a,b]

f reelle Zahlen mit

∫[a,b]

f ≤∫

[a,b]

f.

(b) Eine beschrankte Funktion f : [a, b] → R heißt Riemann-integrabel(Riemann-integrierbar), wenn ∫

[a,b]

f =∫

[a,b]

f

gilt, d.h., wenn zu jedem ε > 0 Treppenfunktionen ϕ,ψ ∈ T ba mit ϕ ≤ f ≤ ψ

und∫[a,b]

ϕ−∫[a,b]

ψ ≤ ε existieren. In diesem Fall definieren wir das Riemann-Integral von f durch ∫

[a,b]

f :=∫

[a,b]

f =∫

[a,b]

f

Die Menge der Riemann-integrablen Funktionen auf [a, b] bezeichnen wir mitRb

a . Wir bemerken, dass T ba ⊆ Rb

a trivialerweise gilt.

Wie im Eindimensionalen zeigt man nun, dass auch Rba ein Vektorraum

ist und das Integral darauf eine monotone lineare Abbildung. Sind f und gRiemann-integrabel, so auch

max(f, g), min(f, g), f ± g, f · g und |f |.

Von zentraler Bedeutung ist allerdings, dass alle stetigen Funktionen Rie-mann-integrabel sind:

Satz XIII.1.4. Jede stetige Funktion f : [a, b] → R ist Riemann-integrabel.

Beweis. Sei ε > 0. Nach Satz IX.3.19 ist f gleichmaßig stetig. Es existiertalso ein δ > 0 mit |f(x)− f(y)| ≤ ε fur alle x, y mit ‖x− y‖∞ ≤ δ . Wir wahlennun ein N ∈ N , so dass bi−ai

N < δ fur alle i gilt. Fur j ∈ Nn0 mit 0 ≤ ji ≤ N −1

bilden die Quader

Qj := Q(j1,...,jn) :=x ∈ Rn: (∀i) ai +

ji(bi − ai)N

≤ xi ≤ ai +(ji + 1)(bi − ai)

N

dann eine Zerlegung Z von [a, b] mit ‖Z‖ ≤ δ . In der Tat erhalten wir Nn

Quader des Durchmessers 1N δ([a, b]) = 1

N ‖b− a‖∞ . Fur jedes j sei

mj := inf f(Qj) und Mj := sup f(Qj).

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266 XIII. Integralrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Sei ϕ ≤ f eine Treppenfunktion, die auf Q0j den Wert mj annimmt und ψ ≥ f

eine Treppenfunktion, die auf Q0j den Wert Mj annimmt. Dann ist ϕ ≤ f ≤ ψ

und aus δ(Z) ≤ δ folgt Mj −mj ≤ ε fur alle j , also ψ − ϕ ≤ ε . Hieraus ergibtsich ∫

[a,b]

f −∫

[a,b]

f ≤∫

[a,b]

ψ −∫

[a,b]

ϕ ≤ εµ([a, b]).

Da ε beliebig war, folgt die Gleichheit von Ober- und Unterintegral, also dieIntegrabilitat von f .

Definition XIII.1.5. (a) Eine beschranke Teilmenge S ⊆ Rn , die naturlichin einem ausreichend großen Quader Q liegt, heißt Riemann-messbar, wenn ihrecharakteristische Funktion

χS(x) :=

1 fur x ∈ S0 fur x 6∈ S

Riemann-integrabel ist. Ist dies der Fall, so heißt

µ(S) := µn(S) :=∫

Q

χS(x) dx

das n-dimensionale Volumen der Menge S .(b) Eine Riemannsche Nullmenge ist eine Riemann-messbare Menge N ,

fur die µn(N) = 0 ist.

Zunachst einmal wissen wir recht wenig uber Riemann-messbare Mengen,so dass es gar nicht so einfach ist, eine solche zu erkennen bzw. Riemann-Messbarkeit einer gegebenen Menge nachzuweisen. Wir stellen hierzu einigeHilfsmittel zusammen.

Satz XIII.1.6. Eine beschrankte Teilmenge S ⊆ Rn ist genau dann Riemann-messbar, wenn ihr Rand ∂S eine Riemannsche Nullmenge ist.

Ein typisches Beispiel einer nicht Riemann-messbaren Teilmenge von R istdie Menge [0, 1] ∩Q der rationalen Zahlen zwischen 0 und 1. Der Rand dieserMenge ist das ganze Intervall [0, 1], also keine Nullmenge. Analog sieht man,dass ([0, 1] ∩Q)n eine nicht Riemann messbare Teilmenge von Rn ist.

Satz XIII.1.6 reduziert das Problem der Riemann-Messbarkeit auf dasProblem zu erkennen, ob gewissen Menge Riemannsche Nullmengen sind.

Lemma XIII.1.7. (a) Endliche Vereinigungen und Teilmengen RiemannscherNullmengen sind Riemannsche Nullmengen.(b) Jede kompakte Teilmenge einer affinen Hyperbene in Rn ist eine Riemann-sche Nullmenge.(c) Ist K ⊆ Rn−1 kompakt und f :K → R eine stetige Funktion, so ist der GraphΓ(f) ⊆ Rn eine Riemannsche Nullmenge.

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XIII.2. Berechnung von mehrdimensionalen Integralen 267

XIII.2. Berechnung von mehrdimensionalen Integralen

In diesem Abschnitt lernen wir Methoden kennen, mit denen man mehrdi-mensionale Integrale berechnen kann. Im Eindimensionalen besteht die Haupt-methode zur Berechnung von Integralen darin, den Hauptsatz der Differential-und Integralrechnung anzuwenden, also durch Bestimmung einer StammfunktionIntegrale auszuwerten. Im Mehrdimensionalen wiederum besteht die wichtigsteMethode darin, Mehrfachintegrale auf einfache Integrale zuruckzufuhren. Diewichtigsten Werkzeuge hierzu sind der Satz von Fubini und das Prinzip von Cav-alieri.

Wir beginnen mit dem zweidimensionalen Fall des Satzes von Fubini:

Satz XIII.2.1. (Fubini) Sei n = 2 und die Funktion f : [a, b] → R sei inte-grierbar. Fur jedes x ∈ [a1, b1] existiere das Integral

F (x) :=∫ b2

a2

f(x, y) dy.

Dann existiert das iterierte Integral∫ b1

a1

∫ b2

a2

f(x, y) dy dx =∫ b1

a1

F (x) dx

und stimmt mit dem Riemann-Integral∫[a,b]

f(x, y) d(x, y)

uberein.

Bemerkung XIII.2.2. (a) Man beachte, dass wir bei Satz XIII.2.1 voraus-setzen, dass die Funktion f Riemann-integrabel ist und dass dies i.a. nicht ausder Existenz des interierten Integrals folgt.(b) Existieren beide iterierten Integrale, so folgt aus Satz XIII.2.1 insbesondre,dass sie den gleichen Wert haben.(c) Ist die Funktion in Satz XIII.2.1 stetig, so ist sie gemaß Satz XIII.1.4 inte-grierbar. In diesem Fall existieren alle Integrale F (x) und definieren eine stetigeFunktion auf [a1, b1] (Satz X.5.1). Hieraus folgt insbesondere, dass wir das In-tegral von f uber [a, b] als Doppelintegral berechnen konnen.

Bemerkung XIII.2.3. Mit dem Satz von Fubini konnen wir einsehen, dassdie Deutung des Integrals einer Riemann-integrierbaren Funktion konsistent mitunserer Definition des zweidimensionalen Volumens (Flacheninhalts) ist.

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268 XIII. Integralrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Sei dazu f : [a, b] → [0,M ] eine beschrankte Riemann-integrable Funktion.Man sieht sehr leicht ein, dass die Menge

S := (x, y) ∈ R2: a ≤ x ≤ b, 0 ≤ y ≤ f(x)

eine Riemann-messbare Menge ist. Mit dem Satz von Fubini erhalten wir daher

µ2(S) =∫ b

a

∫ M

0

χS(x, y) dy dx =∫ b

a

∫ f(x)

0

dy dx =∫ b

a

f(x) dx.

Beispiel XIII.2.4. Auf

Q := (x, y) ∈ R2: 0 ≤ x ≤ 1, 1 ≤ y ≤ 2

betrachten wir die durch

f(x, y) := xy = ey log x

definierte stetige Funktion (Nachweis der Stetigkeit als Ubung!). Wegen derStetigkeit ist f Riemann-integrabel und wir erhalten mit dem Satz von Fubini∫

Q

f(x, y) dx dy =∫ 2

1

∫ 1

0

xy dx dy =∫ 2

1

[ xy+1

y + 1

]10dy

=∫ 2

1

1y + 1

dy = [log(1 + y)]21 = log(3)− log(2) = log32.

Im folgenden fuhren wir fur x = (x1, . . . , xn) ∈ Rn und k ∈ 1, . . . , n dieabkurzende Schreibweise

x′ = (x1, . . . , xk, . . . , xn) := (x1, . . . , xk−1, xk+1, . . . , xn)

ein.

Satz XIII.2.5. (Fubini) Die Funktion f : [a, b] → R sei integrierbar.(a) Fur ein k ∈ 1, . . . , n sei

[a, b]k = (x1, . . . , xk, . . . , xn) ∈ Rn−1: (∀i) ai ≤ xi ≤ bi.

Existiert fur jedes xk ∈ [ak, bk] das Integral

F (xk) :=∫

[a,b]k

f(x1, . . . , xk−1, xk, xk+1, . . . , xn) d(x1, . . . , xk, . . . , xn),

so existiert das iterierte Integral∫ bk

akF (xk) dxk und stimmt mit dem Rie-

mann-Integral ∫[a,b]

f(x) dx

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XIII.2. Berechnung von mehrdimensionalen Integralen 269

uberein.(b) Existiert fur jedes x′ ∈ [a, b]k das Integral

G(x′) :=∫ bk

ak

f(x1, . . . , xk−1, xk, xk+1, . . . , xn) dxk,

so existiert das iterierte Integral∫[a,b]k

G(x′) dx′

und stimmt mit dem Riemann-Integral∫[a,b]

f(x) dx uberein.

Bemerkung XIII.2.6. Ist f : [a, b] → R stetig, so auch alle Einschrankungenauf die (n−1)-dimensionalen Quader [a, b]k , und aus Satz XIII.1.4 folgt die Exis-tenz aller Integrale. Aus Satz X.5.1 folgt sogar die Stetigkeit der Funktionen Fbzw. G .

Beispiel XIII.2.7. Sei

Q := (x, y, z) ∈ R3: 0 ≤ x ≤ 2, 0 ≤ y ≤ 1, 2 ≤ z ≤ 4 = [(0, 0, 2), (2, 1, 4)]

und

f :Q→ R, f(x, y, z) := x+ y + z.

Da f stetig ist, ist f Riemann-integrabel. Mit

Q3 = [(0, 0), (2, 1)]

ergibt sich aus dem Satz von Fubini XIII.2.5 induktiv

∫Q

f(x, y, z) d(x, y, z) =∫ 4

2

∫Q3

(x+ y + z) d(x, y) dz

=∫ 4

2

∫ 1

0

∫ 2

0

(x+ y + z) dx dy dz

=∫ 4

2

∫ 1

0

[x2

2+ x(y + z)]20 dy dz =

∫ 4

2

∫ 1

0

2 + 2(y + z) dy dz

=∫ 4

2

2 + 2z + 1 dz = 6 + [z2]42 = 6 + 16− 4 = 18.

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270 XIII. Integralrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Bemerkung XIII.2.8. Im Eindimensionalen erhalt man direkt aus der Sub-stitutionsregel die Formel

c

∫ b

a

f(ct) dt =∫ cb

ca

f(x) dx.

Ist der Satz von Fubini anwendbar, d.h., die iterierten Integrale existieren,dann lasst sich das n -dimensionale Integral als iteriertes Riemann-Integral be-rechnen, so dass wir fur c > 0 direkt die Formel

cn∫

[a,b]

f(cx) dx =∫

[ca,cb]

f(x) dx

erhalten.Ist f = χS die charakteristische Funktion einer Riemann-messbaren Menge

S ⊆ [a, b] , so ist χcS(x) = χS(c−1x) und daher

µn(cS) =∫

[ca,cb]

χS(c−1x) dx = cn∫

[a,b]

χS(x) dx = cnµn(S),

also

(2.1) µn(cS) = cnµn(S).

Fur die Berechnung n -dimensionaler Volumina ist das Prinzip von Cava-lieri sehr nutzlich:

Satz XIII.2.9. (Cavalieri) Sei S ⊆ [a, b] ⊆ Rn eine beschrankte Riemann-messbare Menge. Sei k ∈ 1, . . . , n und fur alle t ∈ [ak, bk] die Menge

St := x ∈ S:xk = t

im (n− 1)-dimensionalen Raum

At := x ∈ Rn:xk = t ∼= Rn−1

Riemann-messbar mit dem (n− 1)-dimensionalen Volumen µn−1(St) . Dann ist

µn(S) =∫ bk

ak

µn−1(St) dt.

Beweis. Nach Satz XIII.2.5 ist

µn(S) =∫

[a,b]

χS(x) dx =∫ bk

ak

∫[a,b]k

χS(x) d(x1, . . . , xk, . . . , xn) dxk

=∫ bk

ak

µn−1(Sxk) dxk =

∫ bk

ak

µn−1(St) dt.

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XIII.2. Berechnung von mehrdimensionalen Integralen 271

Aufgabe 1.2. Sei B ⊆ Rn eine beschrankte Teilmenge. Wir definieren denKegel uber der Basis B durch

K(B) := ((1− t)x, t

)∈ Rn × R: 0 ≤ t ≤ 1, x ∈ B.

Sind B und K(B) Riemann-messbar, so gilt

µn+1

(K(B)

)=

1n+ 1

µn(B).

Kommt Ihnen diese Formel aus der Schule bekannt vor? Vergleichen Sieinsbesondere mit den bekannten Formeln fur das Volumen eines Kegels, einerPyramide oder die Flache eines Dreiecks.

Das Volumen der n-dimensionalen Kugel

Beispiel XIII.2.10. Sei Bn := x ∈ Rn: ‖x‖ ≤ 1 die n -dimensionaleEinheitskugel und cn := µn(Bn) ihr Volumen. Aus Bemerkung XIII.2.8 wis-sen wir schon, dass

(2.2) µn(x ∈ Rn: ‖x‖ ≤ R) = µn(RBn) = cnRn

gilt, so dass es in der Tat ausreicht, das Volumen cn der Einheitskugel zubestimmen, um die Volumina beliebiger Kugeln zu kennen.

Wir kennen schon c1 = 2 (denn B1 = [−1, 1] hat die Lange 2) und wissenvielleicht auch noch aus der Schule, welche Werte wir fur c2 und c3 erwarten.

Wir gehen nach dem Cavalierischen Prinzip vor und zerschneiden die KugelBn fur −1 ≤ s ≤ 1 in die Scheiben

Bn,s = x′ ∈ Rn−1: (x′, s) ∈ Bn

= x′ ∈ Rn−1: ‖x′‖2 ≤√

1− s2 =√

1− s2Bn−1.

Mit dem Cavalierischen Prinzip erhalten wir fur n > 1 mit (2.2):

cn =∫ 1

−1

µn−1(Bn,s) ds =∫ 1

−1

√1− s2

n−1cn−1 ds = cn−1

∫ 1

−1

√1− s2

n−1ds.

Damit ist die rekursive Berechnung von cn auf die Berechnung des Integrals

In :=∫ 1

−1

√1− s2

n−1ds

reduziert. Substituieren wir mit

s:[− π

2,π

2

]→ [−1, 1], s(t) = sin t,

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272 XIII. Integralrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

so erhalten wir

In =∫ 1

−1

√1− s2

n−1ds =

∫ π2

−π2

√1− s(t)2

n−1s′(t) dt =

∫ π2

−π2

(cos t)n dt.

Diese Integrale lassen sich nun durch partielle Integration rekursiv berechnen.Fur n > 1 haben wir

In =∫ π

2

−π2

(cos t)(cos t)n−1 dt

= [(sin t)(cos t)n−1|π2−π

2−∫ π

2

−π2

(sin t)(n− 1)(cos t)n−2(−(sin t)) dt

= (n− 1)∫ π

2

−π2

(sin t)2(cos t)n−2 dt = (n− 1)∫ π

2

−π2

(1− (cos t)2)(cos t)n−2 dt

= (n− 1)In−2 − (n− 1)In.

Damit ergibt sich fur n > 1 die Rekursionsformel

(2.3) In =n− 1n

In−2.

Aus I0 = π und I1 = 2 erhalten wir allgemein

I2n =(2n− 1)(2n− 3) · · · 3 · 1

2n(2n− 2) · · · 2π =

(n− 12 )(n− 3

2 ) · · · 32 ·

12

n(n− 1) · · · 1π =

(n− 1

2

n

und

I2n+1 =(2n)(2n− 2) · · · 2

(2n+ 1)(2n− 1) · · · 32 =

n(n− 1) · · · 1(n+ 1

2 )(n− 12 ) · · · 3

2

2 =(n+ 1

2

n

)−1

2.

Hieraus ergibt sich

I2n+1I2n =2π

2n+ 1und I2nI2n−1 =

π

n.

Damit erhalten wir

c2n = I2nc2n−1 = I2nI2n−1c2n−2 =π

nc2n−2 = . . . =

πn−1

n · · · 2c2

=πn−1

n · · · 2I2c1 =

πn−1

n · · · 2π

22 =

πn

n!

und analog

c2n+1 = I2n+1I2nc2n−1 =2π

2n+ 1c2n−1 =

2nπn

(2n+ 1) · · · 3c1 =

2n+1πn

(2n+ 1) · · · 3.

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XIII.2. Berechnung von mehrdimensionalen Integralen 273

Fur n = 2 ergibt sich insbesondere die bekannte Formel

c2 = π

fur die Flache der Einheitskreisscheibe. Fur n = 3 erhalten wir fur das Volumender dreidimensionalen Einheitskugel:

c3 =43π.

Verwendet man die Gamma-Funktion:

Γ: ]0,∞[→ R, x 7→∫ ∞

0

tx−1e−t dt,

so kann man die Formel fur cn wie folgt einheitlich schreiben:

(2.4) cn =π

n2

Γ(n2 + 1)

.

Hierzu erinnern wir uns an die Funktionalgleichung der Gamma-Funktion

Γ(x+ 1) = xΓ(x) fur x > 0,

aus der insbesondere Γ(n) = (n− 1)! fur n ∈ N folgt.Fur n = 2k folgt (2.4) aus

πk

Γ(k + 1)=πk

k!= c2k.

Fur n = 2k + 1 erhalten wir fur die rechte Seite:

πk√π

Γ(k + 1 + 12 )

=πk√π

(k + 12 )(k − 1

2 ) · · · 12Γ( 1

2 ).

Es bleibt also nur noch einzusehen, dass

Γ( 12 ) =

∫ ∞

0

e−t

√tdt =

√π

gilt. Diese Formel werden wir erst spater beweisen, wenn uns die Transforma-tionsformel zur Verfugung steht (Beispiel XIII.3.8).

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274 XIII. Integralrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Beispiel XIII.2.11. Wir wollen das Volumen V eines dreidimensionalen Ku-gelsegments der Hohe h bestimmen, fur das die Basiskreisscheibe den Radius rbesitzt.

Ist R der Radius der Kugel, so betrachten wir also eine Menge der Gestalt

S = x ∈ R3: ‖x‖2 ≤ R, x3 ≥ R− h,

wobeiR2 = r2 + (R− h)2

ist, also

r2 − 2Rh+ h2 = 0 bzw. R =r2 + h2

2h.

Die Hyperebene x3 = t , R − h ≤ t ≤ R , schneidet dieses Segment in derMenge

St = (x1, x2, t):x21 + x2

2 ≤ R2 − t2,

einer Kreisscheibe vom Radius√R2 − t2 . Mit c2 = π erhalten wir daher

µ3(S) =∫ R

R−h

µ2(St) dt =∫ R

R−h

π(R2 − t2) dt = πR2h− π

3(R3 − (R− h)3)

= πR2h− π

3(3R2h− 3Rh2 + h3) = π

(Rh2 − h3

3

).

Mit Rh = r2+h2

2 ergibt sich

µ3(S) =πh

6(3(r2 + h2)− 2h2) =

πh

6(3r2 − h2).

Fur h = R = r ist S eine Halbkugel und wir erhalten

µ3(S) =23πR3.

Hier erkennen wir insbesondere eine Einsicht, die schon auf Archimedes zuruck-geht, namlich, dass das Verhaltnis des Volumens einer Halbkugel zum Volumendes Kreiszylinders von Radius und Hohe R (in den die Halbkugel gerade hinein-passt) 2

3 ist.

XIII.3. Die Transformationsformel fur Mehrfachintegrale

Bisher haben wir im wesentlichen nur Integrale uber Quader berechnet,wobei der Satz von Fubini eine bequeme Methode bereitstellt, durch die mansolche Integrale durch sukzessive eindimensionale Integrale berechnen kann. Furviele Problemstellungen reicht dieser Ansatz nicht aus, denn oft hat man uberBereiche des Rn zu integrieren, die sich in kartesischen Koordinaten nur muhsam

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XIII.3. Die Transformationsformel fur Mehrfachintegrale 275

beschreiben lassen. Ebenso kann es vorkommen, das zwar die Integrationsberei-che unproblematisch sind, dafur aber die zu integrierenden Funktionen in karte-sischen Koordinaten unangemessen kompliziert, was ihre Integration erschwerenkann. Aus diesen Grunden fuhrt man oft dem Problem angemessene neue Koordi-naten ein, indem man mit einem geeigneten C1 -Diffeomorphismus transformiert.

Dieser Abschnitt ist dem mehrdimensionalen Analogon der Substitutionsre-gel, der Transformationsformel, gewidmet. Die Transformation eines mehrdimen-sionalen wird Integrals dadurch komplizierter als im Eindimensionalen, dass manschon fur die Transformation des Volumens einer Menge nicht nur die Lange einesBildintervalls messen muss, sondern durchaus geometrisch recht komplizierteBildmengen haben kann.

Die Koordinatentransformationen, die man zur Berechnung von Mehrfach-integralen heranzieht, sind immer Einschrankungen von C1 -Diffeomorphismenϕ:U → ϕ(U) = V ⊆ Rn , wobei U ⊆ Rn offen ist. Da ϕ ein Diffeomor-phismus ist, ist die lineare Abbildung dϕ(x), die durch die Jacobimatrix Jx(ϕ)beschrieben wird, fur alle x ∈ U invertierbar, und es gilt

det(dϕ(x)) = det(Jx(ϕ)).

Transformationsformel

Satz XIII.3.1. Sei K ⊆ Rn eine kompakte Riemann-messbare Teilmenge. Aufeiner offenen Obermenge U ⊇ K sei ϕ:U → ϕ(U) ein C1 -Diffeomorphismus.Ist f :ϕ(K) → R stetig, so gilt dann

(3.1)∫

K

f(ϕ(x))|det dϕ(x)| dx =∫

ϕ(K)

f(y) dy.

Diese Formel wird in einem wesentlich allgemeineren Kontext in der Vor-lesung ”Mehrfachintegration“ bewiesen. Wir wollen uns aber trotzdem etwasklarmachen, was sie bedeutet. Wendet man (3.1) auf die konstante Funktion 1an, so ergibt sich

(3.2) µn(ϕ(K)) =∫

K

|det dϕ(x)| dx

fur das Volumen des Bildes einer kompakten Riemannn-meßbaren Menge Kunter ϕ . Ist die Funktion |det dϕ(x)| konstant c , so spezialisiert sich dies weiterzu

µn

(ϕ(K)

)= c · µn(K).

D.h. die Konstante c bzw. |det dϕ(x)| ist ein Verzerrungsfaktor, der angibt,wie sich das Volumen einer Menge verandert, wenn man ϕ anwendet. Einenbesonders einfachen Fall erhalt man, wenn ϕ = T |U fur eine lineare AbbildungT : Rn → Rn gilt. Dann ist dϕ(x) = T fur alle x ∈ Rn und somit

µn

(T (K)

)= |detT | · µn(K).

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276 XIII. Integralrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Ein wichtiger Spezialfall ist T (x) = cx , und in diesem Fall ergibt sich die Formel(2.1) in Bemerkung XIII.2.8.

Fur U = Rn und den Einheitswurfel

W = [0, 1]n = x ∈ Rn: (∀j) 0 ≤ xj ≤ 1

ergibt sich mitµn

(T (W )

)= |detT |

gerade die anschauliche Bedeutung der Determinante als ein Maß fur das Volu-men des Bildes des Einheitswurfels. Eine Menge der Gestalt T (W ) nennt manein Paralleltop oder Spat. Fur n = 2 erhalten wir Parallelogramme. Man kannsie beschreiben als

n∑j=1

[0, 1]aj =∑

j

xjaj : 0 ≤ xj ≤ 1,

wobei a1, . . . , an ∈ Rn Vektoren sind, die man als die Bilder der kanonischenBasisvektoren unter T , d.h. die Spalten der zugehorigen Matrix erhalt.

Wir halten noch eine wichtige Folgerung aus der Transformationsformelfest. Eine affine Abbildung der Gestalt ϕ(x) = M · x + v , wobei M eineorthogonale Matrix ist, nennen wir eine Bewegung des Rn .

Folgerung XIII.3.2. (Bewegungsinvarianz des Integrals) Fur jede Bewegungϕ des Rn gilt

µn

(ϕ(K)

)= µn(K)

fur jede Riemann-messbare kompakte Menge K .

Beweis. Wir schreiben ϕ(x) = M · x + v mit einer orthogonalen Matrix M .Dann ist MM> = 1 (M> steht fur die transponierte Matrix), so dass wir fur dieDeterminanten 1 = detM detM> = (detM)2 erhalten. Also ist |detM | = 1,und die Behauptung folgt aus der Transformationsformel.

Da wir das Riemann-Integral zunachst basisabhangig konstruiert haben,da es durch seine Werte auf Quadern festgelegt wurde, ist seine Invarianz unterDrehungen bei weitem nicht evident. Die Bewegungsinvarianz des Riemann-Integrals zeigt, dass seine Konstruktion nicht von der Wahl der Orthonormalbasisin Rn abhangt, durch die man Koordinaten einfuhrt. Allgemeiner folgt mit demgleichen Argument, dass man jede Basis nehmen darf, die Bild der kanonischenBasis unter einer linearen Abbildung T mit |detT | = 1 ist, d.h. fur die derzugehorige Spat (das Bild des Einheitswurfels) das Volumen 1 hat.

Beispiel XIII.3.3. (Polarkoordinaten in der Ebene) Wir betrachten die Ab-bildung

P : [0,∞[×[0, 2π] → R2, (r, ϕ) 7→ (r cosϕ, r sinϕ).

Die Jacobimatrix von P ist gegeben durch

J(r,ϕ)(P ) =(

cosϕ −r sinϕsinϕ r cosϕ

),

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XIII.3. Die Transformationsformel fur Mehrfachintegrale 277

so dass wir fur die Determinante erhalten:

det(dP (r, ϕ)) = det(J(r,ϕ)(P )

)= r cos2 ϕ+ r sin2 ϕ = r.

Man beachte, dass nur die Einschrankung von P auf die offene Menge]0,∞[×]0, 2π[ einen Diffeomorphismus auf die Menge R2 \ (R+ × 0) liefert(Nachweis!).

Beispiel XIII.3.4. (Zylinderkoordinaten im Raum) Wir betrachten die Abbil-dung

P : [0,∞[×[0, 2π]× R → R3 (r, ϕ, z) 7→ (r cosϕ, r sinϕ, z).

Die Jacobimatrix von P ist gegeben durch

J(r,ϕ,z)(P ) =

cosϕ −r sinϕ 0sinϕ r cosϕ 0

0 0 1

und daher

det(dP (r, ϕ, z)

)= det(J(r,ϕ,z)(P )) = r.

Die Einschrankung von P auf die offene Menge ]0,∞[×]0, 2π[×R ist einDiffeomorphismus auf die Menge R3 \ (R+ × 0 × R).

Beispiel XIII.3.5. (Spharische Polarkoordinaten im Raum) Wir betrachtendie Abbildung

Q: [0,∞[×[0, 2π]× [0, π] → R3, (r, ϕ, θ) 7→ (r cosϕ sin θ, r sinϕ sin θ, r cos θ).

Die Jacobimatrix von Q ist gegeben durch

J(r,ϕ,θ)(Q) =

cosϕ sin θ −r sinϕ sin θ r cosϕ cos θsinϕ sin θ r cosϕ sin θ r sinϕ cos θ

cos θ 0 −r sin θ

,

so dass wir fur die Determinante erhalten:

det(J(r,ϕ,θ)(Q)

)= −r2(sin θ)(cos θ)2 − r2(sin θ)(sin θ)2 = −r2 sin θ.

Die Einschrankung von Q auf die offene Menge ]0,∞[×]0, 2π[×]0, π[ istein Diffeomorphismus auf die Menge R3 \ (R+ × 0 × R).

Die ϕ -Koordinate entspricht auf den Spharen vom Radius r jeweils dergeographischen Lange und π

2 − θ entspricht der geographischen Breite.

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278 XIII. Integralrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Beispiel XIII.3.6. (Polarkoordinaten im Rn , n ≥ 3) Wir definieren eineAbbildung

Pn: [0,∞[×[0, 2π]× [0, π]n−2 → Rn,

die induktiv festgelegt ist durch

(r, ϕ, θ1, . . . , θn−2) 7→((sin θn−2)Pn−1

(r, ϕ, θ1, . . . , θn−3), r cos θn−2),

wobei man fur n = 2 die Polarkoordinaten in der Ebene zugrunde legt. DieJacobimatrix von Pn ist fur θ = (θ1, . . . , θn−2) und θ′ = (θ1, . . . , θn−3) gegebendurch

J(r,ϕ,θ)(Pn) =

(sin θn−2)J(r,ϕ,θ′)(Pn−1) (cos θn−2)Pn−1(r, ϕ, θ′)

cos θn−2 0 0 . . . 0 −r sin θn−2

.

Um diese Determinante berechnen zu konnen, beachten wir zuerst

Pn−1(r, ϕ, θ′) = rPn−1(1, ϕ, θ′),

was man direkt durch Induktion erhalt. Damit ist∂Pn−1

∂r(r, ϕ, θ′) = Pn−1(1, ϕ, θ′) = r−1Pn−1(r, ϕ, θ′).

Folglich stimmt die erste Spalte der Jacobimatrix von Pn−1 mit r−1Pn−1 uber-ein. Die Determinante der (n−1)×(n−1)-Untermatrix, die man durch Streichender ersten Spalte und der der letzten Zeile von J(r,ϕ,θ)(Pn) erhalt, ist dahergegeben durch

(−1)n−2(sin θn−2)n−2(cos θn−2) · r · det(J(r,ϕ,θ′)(Pn−1)

).

Bei dieser Rechnung hat man zu beachten, dass die fehlende erste Spalte der Ma-trix, versehen mit den jeweiligen Faktoren, in der letzten Spalte der Restmatrixauftaucht. Hiermit erhalten wir schließlich durch Entwicklung der Determinantenach der letzten Zeile:

det(J(r,ϕ,θ)(Pn)

)=− r(sin θn−2)n det

(J(r,ϕ,θ′)(Pn−1)

)+ (−1)n−1(cos θn−2)2(sin θn−2)n−2r(−1)n−2 det

(J(r,ϕ,θ′)(Pn−1)

)=− r(sin θn−2)n−2 det(J(r,ϕ,θ′))(Pn−1)

).

Induktiv ergibt sich also

det(J(r,ϕ,θ)(Pn)

)= (−1)nrn−1(sin θn−2)n−2(sin θn−3)n−3 · · · sin θ1.

Einen Diffeomorphismus mit offenem Bild liefert die Abbildung Pn nur aufder offenen Teilmenge

]0,∞[×]0, 2π[×]0, π[n−2.

Die Menge, die man hierbei herausnehmen muss, schneidet jeden Quader in einerRiemannschen Nullmenge und das gleiche gilt im Bildbereich. Man kann daherzeigen, dass die Transformationsformel trotzdem richtig bleibt.

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XIII.3. Die Transformationsformel fur Mehrfachintegrale 279

In der Physik spielen rotationssymmetrische Massenverteilungen im R3

eine wichtige Rolle. Hierbei treten Integrale der Gestalt∫Rn

ρ(x)‖x‖

dx

auf. Diese Integrale wollen wir jetzt etwas genauer studieren.

Satz XIII.3.7. Seien 0 ≤ R1 < R2 und

K := x ∈ Rn:R1 ≤ ‖x‖ ≤ R2

die zugehorige Kugelschale sowie h: [R1, R2] → R eine stetig Funktion. Dann ist∫K

h(‖x‖) dx = ncn

∫ R2

R1

h(r)rn−1 dr,

wobei cn das Volumen der n-dimensionalen Einheitskugel ist.

Beweis. Wir verwenden spharische Polarkoordinaten im Rn und beachten,dass K = Pn([R1, R2] × [0, 2π] × [0, π]n−2) gilt. Fur 0 < ε < π betrachten wirdie kompakte Menge

Kε := Pn([R1 + ε,R2]× [ε, 2π − ε]× [ε, π − ε]n−2),

so dass Pn ein Diffeomorphismus auf einer offenen Umgebung von Kε ist(Ubung). Aus der Beschranktheit von h (Satz vom Maximum) und

limε→0

µn(Kε) = µn(K)

folgt nun leicht, dass ∫K

h(‖x‖) dx = limε→0

∫Kε

h(‖x‖) dx

gilt, so dass wir aus der Transformationsformel mit anschließendem Grenz-ubergang ε→ 0 erhalten:∫

K

h(‖x‖) dx

=∫ R2

R1

∫ 2π

0

∫ π

0

· · ·∫ π

0

h(r)|det(dPn(r, ϕ, θ)

)| dr dϕ dθ1 · · · dθn−2

=∫ R2

R1

∫ 2π

0

∫ π

0

· · ·∫ π

0

h(r)rn−1(sin θn−2)n−2(sin θn−3)n−3 · · · sin θ1

dr dϕ dθ1 · · · dθn−2

= 2π∫ R2

R1

h(r)rn−1 dr ·∫ π

0

(sin θn−2)n−2 dθn−2 · · ·∫ π

0

sin θ1 dθ1.

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280 XIII. Integralrechnung mehrerer Veranderlicher 31. Oktober 2007

Fur R1 = 0 und R2 = 1 und h ≡ 1 ergibt sich das Volumen cn der EinheitskugelBn , also

cn = 2π∫ 1

0

rn−1 dr ·∫ π

0

(sin θn−2)n−2 dθn−2 · · ·∫ π

0

sin θ1 dθ1

=2πn

∫ π

0

(sin θn−2)n−2 dθn−2 · · ·∫ π

0

sin θ1 dθ1.

Daher ist ∫K

h(‖x‖) dx = ncn

∫ R2

R1

h(r)rn−1 dr.

Aufgabe III.2.1. Es seien a0, . . . , an ∈ Rn . Man nennt die Menge

S(a0, . . . , an) := n∑

j=0

λjaj : 0 ≤ λj ≤ 1,∑

j

λj = 1

das von a0, . . . , an aufgespannte Simplex. Zeigen Sie:(a) Ein Simplex ist Riemann-messbar. Hinweis: Satz XIII.1.6, Lemma XIII.1.7.(b) Zeige:

µn

(S(a0, . . . , an)

)=

1n!|det(a1 − a0, . . . , an − a0)|.

Hinweis: Man betrachte den Fall, dass die Vektoren aj − a0 , j = 1, . . . , n , linearabhangig sind, separat.

Beispiel XIII.3.8. Ein eindrucksvolles Beispiel, das die Nutzlichkeit der Po-larkoordinaten demonstriert, ist das folgende. Wir mochten das eindimensionaleuneigentliche Integral ∫ ∞

−∞e−x2

dx

berechnen. Hierzu betrachten wir die Funktion

f : R2 → R, (x, y) 7→ e−x2−y2.

Fur die Kreisscheibe

KR := (x, y) ∈ R2:x2 + y2 ≤ R

erhalten wir in Polarkoordinaten mit Satz XIII.3.7 und anschließender Substitu-tion u = r2 :∫

KR

f(x, y) dx dy =∫ R

0

∫ 2π

0

e−r2r dϕdr = 2π

∫ R

0

e−r2r dr = π

∫ R2

0

e−u du

= π[−e−u|R2

0 = π(1− e−R2).

Page 139: VII. Taylorreihen - Fachbereich Mathematik · VII.1. Taylorentwicklung 143 VII. Taylorreihen In diesem Kapitel werden wir eine Methode kennenlernen, differenzierbare Funk-tionen

XIII.3. Die Transformationsformel fur Mehrfachintegrale 281

Mit dem Satz von Fubini erhalten wir andererseits fur das Quadrat

QR := (x, y) ∈ R2: |x|, |y| ≤ R∫QR

f(x, y) dx dy =∫ R

−R

∫ R

−R

e−x2e−y2

dx dy =∫ R

−R

(∫ R

−R

e−x2dx)e−y2

dy

=∫ R

−R

e−x2dx

∫ R

−R

e−y2dy =

(∫ R

−R

e−x2dx)2

.

WegenKR ⊆ QR ⊆ K√2R

gilt weiterhin∫KR

f(x, y) d(x, y) ≤∫

QR

f(x, y) d(x, y) ≤∫

K√2R

f(x, y) d(x, y),

also

π(1− e−R2) ≤

(∫ R

−R

e−x2dx)2

≤ π(1− e−2R2).

Fur R→∞ erhalten wir daher das uneigentliche Integral∫ ∞

−∞e−x2

dx = limR→∞

∫ R

−R

e−x2dx =

√π.

Wir haben in diesem kurzen Abriss der mehrdimensionalen Integrations-theorie den Riemannschen Zugang verfolgt. In der Vorlesung ”Mehrfachinteg-ration“ werden Sie den Lebegueschen Zugang zur Integrationstheorie kennenler-nen, der gegenuber dem Riemannschen sehr viele Vorteile besitzt. Es ist damitsehr viel leichter, Integrierbarkeit von Funktionen nachzuweisen, man hat sehreinfach anzuwendende Satz fur Vertauschung von Integration und Grenzubergan-gen und man kann die Theorie unmittelbar auf unbeschrankte Funktionen undIntegrationsbereiche anwenden. Daruber hinaus hat man eine großere Klasse vonNullmengen, so dass z.B. die Transformationsformel fur Lebesgue-Integrale sehrviel leichter zu handhaben ist als die Riemannsche Variante, die wir hier kennengelernt haben.

Ende