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VIVIAN Taschenbuch 2121

VIVIAN Taschenbuch 2121 - Viktor Brandtnerviktor-brandtner.com/pdf/EinMeerSein.pdf · VIVIAN Verlag - Elmar Schäfer, München ISBN 978-3-00-025632-5. Dieses Buch ist all denen gewidmet,

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VIVIAN Taschenbuch 2121

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Christopher Malkovitch

EIN MEER SEINRoman

VIVIAN

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Titel der 2008 erschienenen Erstausgabe„EIN MEER SEIN“

Copyright © 2008 by Christopher MalkovitchAlle Rechte vorbehalten

Umschlagfoto:Copyright © U&H /München

Druck und Bindung: Grafik Druck GmbH, Stuttgart

www.viktor-brandtner.com

Veröffentlicht als VIVIAN Taschenbuch, 2008Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2008 VIVIAN Verlag - Elmar Schäfer, München

ISBN 978-3-00-025632-5

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Dieses Buch ist all denen gewidmet, die sich und die Welt in der wir leben noch nicht aufgegeben haben und jeden Tag mutig aufs Neue dafür einstehen, dass wir alles ver-ändern können, wenn wir nur wollen. Gemeinsam.

Wir müssen ein Meer sein. Christopher Malkovitch

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Für CruCru und Mama Cru

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Er war schon etwas spät dran, als er mit seinem älteren Wagen, der Gott sei dank an diesem Morgen keine Prob-leme machte, auf dem Flughafenparkplatz ankam. Viktor Brandtner war ein guter Mann. Er arbeitete als Ingenieur für ein großes, namhaftes Unternehmen. Mit seiner Frau und seinen beiden noch kleinen Kindern lebte er in einem älteren Häuschen auf dem Land, eine Stunde von der Großstadt entfernt, in der auch sein Ar-beitsplatz war. An diesem Morgen jedoch fuhr er nicht ins Büro, son-dern zum Flughafen, um zusammen mit seinem Chef einen wichtigen Kunden in einer anderen Stadt zu be-suchen. Es war zum Glück nur eine Tagesreise. Er freute sich schon auf den Abend, wenn er seine Frau und seine Kinder wieder in die Arme schließen konnte. Sein Vorgesetzter wartete bereits ungeduldig am Flug-steig, als Viktor eintraf. Das Boarding für die kleine Ma-schine hatte bereits begonnen. Viktor entschuldigte sich für sein spätes Erscheinen, was sein Chef mürrisch zur Kenntnis nahm. Knapp eine viertel Stunde später hob die ältere, zweimotorige Propellermaschine in den Mor-genhimmel ab und verschwand alsbald in der dichten Wolkendecke. Das Flugzeug war nicht besonders voll. Gerade einmal zehn Personen verteilten sich in der fünfzig-

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sitzigen Maschine. Viktor saß wortlos neben seinem Vorgesetzten, der in seine Tageszeitung vertieft war. Er starrte aus dem Fenster auf die weiße Pracht. Wie eine Schneelandschaft lag der Wolkenteppich friedlich unter ihnen. Darüber diese unendliche Weite, dieses Gefühl der ewigen Freiheit, geradewegs der aufgehen-den Sonne entgegen. Es verzauberte ihn ein um das andere Mal, wenn er diesen Anblick genießen durfte. Viktor war tief in seinen Gedanken versunken. Er dachte daran, dass sein Auto möglicherweise nicht mehr lange durchhalten werde und er für sich und die Familie bald ein neues kaufen müsse. Er grübelte dar-über nach, dass das Dach am Haus dringend repariert werden müsste und dabei fiel ihm sein Bankberater ein, der stets mahnend vor ihm stand und ihm die Kredit-linie wieder ein wenig mehr kürzte. Einfach so. Ja, die Zeiten waren rauer geworden. Er dachte aber auch an seinen kleinen Sohn Christopher, der gerade in die zwei-te Klasse gekommen war und an seine süße Tochter Vivi-an, die am letzten Wochenende ihren fünften Geburtstag gefeiert hatte. Und er dachte an Marie, den Menschen, den er geheiratet hatte, weil sie seine große Liebe war. Viktor war so stolz auf seine Familie und eigentlich nicht unzufrieden mit seinem Leben. Nur diese Existenz-ängste quälten ihn manchmal, und dann kam es schon einmal vor, dass er die ganze Nacht lang wach lag. Er stierte dann in die Dunkelheit des Zimmers und überleg-te, was sein würde, wenn er seinen Job verlöre, gerade jetzt – in diesen angespannten Zeiten. Er war letztes Jahr vierzig geworden. Nicht gerade das Alter, in dem man

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in der modernen Gesellschaft leicht neue Arbeit fand. Viktor arbeitete schon über zehn Jahre für die Firma. Er war gut in seinem Beruf, aber er war auch leise. Kein Mensch, der nach der Maxime lebte: Tue Gutes und rede darüber. Vielmehr endete sein Motto bei „Tue Gu-tes“. Darüber geredet haben dann immer die anderen. Zum Beispiel sein Chef: dieser sprach gerne und viel über sich, seine Abteilung, und wie gut er sie im Griff hatte. Er sprach eigentlich den ganzen Tag. Für Viktor war das in Ordnung. Schließlich war er der Chef und musste sich anders verhalten. Es war ein Teil seines Beru-fes, zu erklären, warum die Abteilung gut funktionierte. Manchmal musste er auch erklären, warum etwas miss-lungen war. Auch das lag ihm, weil er der Obrigkeit im-mer genau sagen konnte, welcher Mitarbeiter den Fehler begangen hatte. Dem jeweiligen Kollegen erklärte er das dann auch eindringlich mit harten Worten in prägnanten Sätzen, die meistens damit endeten, dass es beim nächs-ten Fehler zu ernsthaften Konsequenzen führen werde. Sollte dem Chef einmal selbst ein Fehler unterlaufen sein, dann war er auch nie um Worte verlegen. Er sprach in diesen seltenen Fällen über eine Verkettung unglück-licher Umstände – über eine Addition von Missgeschi-cken der ganzen Abteilung, – die er nicht mehr habe ab-wenden können. Das imponierte den Oberen, denn die brauchten plausible Antworten und die bekamen sie.

Viktors Augen waren müde. Die Monotonie der Pro-pellermotoren hatte ihn fast in den Schlaf gesummt, als das Flugzeug in eine Wolkenfront eintrat und von einer

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kräftigen Turbulenz erfasst wurde. Viktor war augen-blicklich hellwach. Er war so tief in seine Gedanken ein-getaucht, dass dieses unvermittelte Schütteln und Rüt-teln sein Herz zum Pochen brachte. Auch die anderen Passagiere krallten sich verkrampft an den Lehnen ihrer Sitze fest. Selbst sein Chef, der immer so weltmännisch lässig von seinen unzähligen Flugreisen kreuz und quer durch die Welt erzählte, konnte seine Anspannung nicht verbergen. Er war zum ersten Mal, seit Viktor ihn kann-te, nicht einmal in der Lage, die Situation zu kommen-tieren. Er sprach nicht, obwohl er das doch so gerne tat. Viktor hatte Angst. Er blickte zu den beiden Flug-begleiterinnen, die sich ebenfalls hastig angeschnallt hatten und sich an ihre Armlehnen klammerten. Auch in ihren Gesichtern konnte man nichts Beruhigen-des ablesen. Eine von ihnen hielt ein kleines Kissen so fest in der Hand, als ob sie es zerquetschen wollte. Erlösend war schließlich – nach einigen endlos wir-kenden Sekunden – nur die Stimme des Kapitäns, der sich für den etwas unruhigen Flug entschuldigte. Aber auch er klang für Viktors Empfinden etwas zu nervös. Immer wieder sackte die Maschine einige Meter durch. Es fühlte sich an wie ein wilder Ritt auf einem schlecht erzogenen Bullen oder wie ein Fahrstuhl, der mal eben vier Stockwerke im freien Fall abwärts don-nerte. Nichts, was man genießen konnte, wenn man sowieso nicht gerade beschlossen hatte, zu sterben. Viktor versuchte ruhig durchzuatmen. Seine Gedan-ken fuhren ebenso Achterbahn wie sein Körper. Es war wie in seiner Kindheit, als er einmal ein Papierflugzeug

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gebaut hatte, welches er von einem Turm aus in die Tie-fe hatte gleiten lassen. Es wurde von der Luft hin und her geschaukelt, von Wogen getragen und vom Wind gebeutelt. Gemessen an der Größe der Erde und der Macht der Naturgewalten erschien ihm das Flugzeug in dem er saß, auch nicht wesentlich größer und wi-derstandsfähiger, als der Papierflieger seiner Kindheit. In derselben Sekunde durchzuckte ein greller Blitz den Innenraum des Flugzeuges. Ein lautes Krachen – dann Stille.

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Viktor öffnete die Augen. Langsam klärte sich sein Blick auf und er starrte auf eine hohe, weiße Decke. Au-ßer dem Bett, auf dem er lag, befanden sich nur noch ein Tisch und zwei Stühle in dem unwohnlichen, aber hellen Raum. Die Sonne strahlte durch die beiden großen Fens-ter. Dazwischen war eine kleine Tür, die nach draußen führte. Sonst gab es keinen Ausgang aus dem kleinen Zimmer. Alles war friedlich und still. Viktor schaute sich zaghaft um. Unzählige Gedanken kreisten in seinem Kopf. »Wo bin ich nur?«Das Letzte, an was er sich erinnerte, war, dass er in einem Flugzeug gesessen hatte. Vorsichtig versuchte er seine Hände, seine Arme, schließlich seine Beine zu bewegen. Er war unverletzt. War das Flugzeug abgestürzt? Hatte man ihn in eine Klinik gebracht? Aber warum hatte man ihn in eine Klinik gebracht, wenn er nicht verletzt war? Viktor richtete sich auf, setzte sich an die Bettkante. Er war verwirrt. Vielleicht stand er unter Schock. Langsam erhob er sich und ging zu einem der beiden großen Fens-ter. Was er sah, war nicht dazu geeignet, seine Verwir-rung zu beseitigen. Viktor blickte auf eine weite, saftige, wundervolle grüne Wiese, die in einiger Entfernung an einer Klippe endete. Dahinter die unergründlichen Wei-ten eines in der Sonne dunkelblau schimmernden Mee-res. Ein wahrlich paradiesischer Anblick.

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Viktor öffnete die Tür. Eine leichte, warme Brise fuhr ihm durch sein zerzaustes Haar. Viktor war völlig irri-tiert. Er war an einem Ort, den er nicht kannte. Er hatte keine Ahnung, wie er hierher gekommen war, aber es fühlte sich nicht unangenehm an. Das wiederum ver-wirrte ihn noch mehr. Viktor trat ins Freie, bewegte sich ein paar Schritte in die Wiese hinein, blickte aus der Entfernung auf die Klippen und das Meer. Er schätzte, dass die Wegstrecke zum Wasser ungefähr einen halben Kilometer betrug. Viktor verharrte einen Moment schweigsam. Dann warf er einen Blick zurück zu dem Haus, in dem er ge-rade aufgewacht war. Er hatte es sich bislang noch nicht einmal genauer angesehen, hatte noch nicht einmal über-legt, ob noch andere Menschen in dem Gebäude waren. Beim Blick über seine Schultern stockte ihm der Atem, das Blut schien in seinen Adern zu gefrieren. Hektisch drehte er sich um, dann in eine andere Richtung, dann in die entgegengesetzte. Viktor dreh-te sich schließlich wie in Trance im Kreis. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn. Da war kein Haus. Nichts. Er stand mutterseelenallein auf einer wunder-schönen Wiese, die an den Klippen endete. Danach nichts als der weite Ozean. »Gott, wo bin ich? Was ist nur passiert?« Viktor versuchte langsam zu atmen, sich zu beruhigen. »Das ist nicht die Realität – das ist Wahnsinn«, dachte er bei sich. Viktor bückte sich, riss ein Büschel Gras aus der Wiese und rieb es für einen Moment in seiner Hand. Dann hielt

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er es sich an die Nase und roch intensiv daran. Schließ-lich biss er hinein und spuckte es wieder aus. Es fühlte sich echt an; es roch echt, es schmeckte echt. Es war die Wirklichkeit. Viktor fühlte sich müde und erschöpft, obwohl er doch bis gerade eben noch geschlafen haben musste. Kraftlos setzte er sich in die Wiese. Wo war er gelandet und wie war er hierher gekommen? Seine Familie – wo war seine Familie? Seine geliebte Frau, seine Kinder, sein Chef, das Flugzeug? Alles, was gerade noch da gewesen war – es war jetzt einfach weg. Beim Blick aufs Meer kam ihm ein anderer, ein für ihn beängstigender Gedanke. Viktor war nie wirklich religi-ös gewesen, obwohl er die Existenz Gottes ebenfalls nie in Frage gestellt hatte. Er betete sogar ab und zu; immer dann, wenn er nicht weiter wusste, wenn seine Existenz-ängste ihn aufzufressen drohten. Dann sprach er sogar manchmal zu Gott. Er bat ihn um Hilfe. Manchmal bat er um einen Lottogewinn, der ihn von allen finanziellen Bürden befreien könnte – ihn und seine Familie. Dann glaubte er auch jedes Mal, dass Gott ihm geantwortet, ja, ihn erhört hätte. An solchen Tagen ging er los und setzte einen kleinen Geldbetrag auf ein paar Zahlen, von denen er meinte, Gott persönlich habe sie ihm geflüstert. Nicht, dass er fühlte, Gott habe zu ihm ge-sprochen, nein, es waren vielmehr seine Lieblingszahlen: Zahlen der Geburtstage seiner Familie und seines eige-nen. Er hoffte, Gott habe ihn diesmal vielleicht dazu aus-erwählt, Glück zu haben. Nachdem er aber einmal mehr nichts gewonnen hatte, verfluchte er Gott und begann

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an dessen Existenz zu zweifeln. Das nahm er dann je-doch sofort wieder zurück. Falls es eben doch einen Gott gab, wollte er diesen nicht verärgern. Vielleicht war er ja einfach noch nicht an der Reihe. Das wiederum ängs-tigte ihn beim Anblick dieser paradiesischen Landschaft. Vielleicht war er jetzt doch dran gekommen. Vielleicht war das hier das Paradies? Dieser Gedanke machte ihn für einen Moment wütend. Wenn das hier das Paradies war, dann war er tot! Viel zu früh. Er hatte ja nur um eine Chance auf der Erde gebeten, um ein kleines biss-chen Glück mit seiner wunderbaren Familie; einfach nur, um die Möglichkeit, ein freies Leben führen zu dürfen. Leben – nicht sterben. War er wirklich mit diesem Flugzeug abgestürzt? Wo war dann sein Chef? Und wo waren die anderen Passa-giere? Hier war weit und breit kein Mensch. Hatten all die anderen etwa überlebt und nur er war gestorben? Dann würde sein Tod zu seinem Leben passen. »Nicht einmal beim Sterben hast du Glück...«, sagte er zu sich. Sein Chef, ja, der hatte Glück. Vielleicht, weil er im-mer soviel geredet hatte. Möglicherweise war reden doch wichtig. Vielleicht hatte er mit seinen Ausführungen so-gar Gott täuschen können und der hatte beschlossen, dass er bedeutender für diese Welt war, als er, Viktor, der brave Ingenieur, der immer seine Pflicht erfüllt – aber nie die Lorbeeren beansprucht hatte. Er, der immer versucht hatte, in der Gemeinschaft zu funktionieren – als kleiner Teil eines Ganzen. Als Viktor so seinen Gedanken nachhing, starrte er

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wieder auf die Klippen und das Meer. Erst jetzt, in diesem Moment, bemerkte er in einiger Entfernung eine Park-bank direkt am Ozean. Als er genauer hinsah, glaubte er zu erkennen, dass dort jemand saß und auf das Meer blickte. Viktor sprang auf und lief aufgeregt durch die Wiese in Richtung Klippen. Jeder Schritt, mit dem er sich dem Meer und somit auch der Parkbank näherte, ließ ihn ein wenig euphorischer werden. Es sah zweifelos aus wie ein Mensch, der dort mit dem Rücken zu ihm Platz ge-nommen hatte. Jemand, der möglicherweise einen Spa-ziergang am Meer unternahm, sich für einen Moment ausruhte und die Stille und die einnehmende Schönheit der Natur genoss. Viktor verlangsamte in noch deutlichem Abstand sei-nen Schritt. Was sollte er den Fremden jetzt fragen? Etwa wo er hier gelandet sei? Er würde ihn wohl sofort für verrückt erklären. Erst recht könnte er ihn wohl kaum fragen, wie er hierher gekommen war. Viktor beschloss, zunächst ein normales Gespräch mit ihm zu beginnen und über etwas Unverfängliches zu reden, wie etwa über das Wetter oder die Natur. Er verharrte einen Moment und fokussierte den Un-bekannten. Viktor sah nun, dass dieser schulterlange, graue Haare trug. Viel mehr vermochte er noch nicht zu erkennen. Langsam bewegte er sich weiter auf die Bank zu. Er wollte die Person unter keinen Umständen erschrecken, deshalb beschloss er, sich nicht in dessen Rücken anzu-schleichen. Was, wenn der Fremde dachte, er käme in

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feindseliger Absicht? Etwa, um ihn zu belästigen oder gar zu berauben! In der heutigen Zeit musste man sich diese Gedanken machen. Viktor marschierte also einen größeren Bogen. Er wollte zunächst ganz vor bis ans Meer gehen, um sich dann dem Fremden von der Seite zu nähern. So hatte dieser die Möglichkeit, ihn schon aus einiger Entfernung zu sehen und sich mit seinem Eintreffen auseinander zu setzen. Wenige Momente später war Viktor an den Klippen angekommen. Er warf immer wieder einen kontrol-lierenden Blick zur Parkbank, um herauszufinden, ob die unbekannte Person ihn schon entdeckt hatte. Doch der wundervolle Anblick des Ozeans, der mit all seiner majestätischen Mächtigkeit an die Felsen der Klippen klatschte, sowie der Geruch des salzigen Wassers, der durch den Meerwind in seine Nase getragen wurde, lie-ßen ihn einen kurzen Moment demütig verharren. Dann ging er weiter – und langsam auf den Fremden zu, der ihn immer noch nicht bemerkt hatte. Mit jedem Schritt, den sich Viktor näherte, konnte er die Person klarer erkennen. Es war eindeutig ein älterer Mann mit grauen, schulterlangen Haaren. Seine Gesichts-haut war braungebrannt – wie von der Sonne und dem Meer gemalt. Ein leichter Wollumhang ruhte auf seinen Schultern. Der Alte saß nur da und schaute ruhig auf das Meer hinaus. Viktor war noch ein paar Schritte entfernt. Er überleg-te eine Sekunde, ob er sich räuspern sollte, um auf sich aufmerksam zu machen. Er wollte den Fremden dabei

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keinesfalls erschrecken. »Hallo Viktor«, sagte der Mann plötzlich mit sonorer Stimme. »Setz dich zu mir und genieße den Ausblick«. Viktor war wie gelähmt. Er suchte nach Worten. Seine ganze Sprache schien ihm abhanden gekommen zu sein. Sein Blick fixierte den Alten, der ihn noch nicht einmal angesehen hatte, sondern mit friedlich, wohligem Ge-sichtsausdruck auf das Meer starrte. »Wie gefällt es dir hier?« »Woher weißt du meinen Namen?« Viktor hatte den ersten Schreck überwunden und sei-ne Sprache in Grundzügen wieder gefunden. »Setz dich«, wiederholte der alte Mann lachend. Viktor folgte seinen Worten wie im Trance und nahm auf der Holzbank neben dem Unbekannten Platz. Dabei ließ er ihn keinen Moment aus den Augen. Der Fremde hatte ihn immer noch keines Blickes gewürdigt. »Warum siehst du mich nicht an?«. Viktor war verunsichert. Der alte Mann lächelte. »Meine Augen sind müde. Sie können dich nicht mehr erkennen.« »Aber, wie konntest du dann sehen, dass ich es bin? Und warum weißt du überhaupt, wer ich bin?« Wiederum schmunzelte der Fremde: »Vertraue mir, ich kann dich sehen, Viktor. Sehen hat nichts mit den Augen zu tun.« Viktor beruhigte diese Antwort sichtlich nicht. »Was tue ich hier? Wo sind all die anderen Menschen? Wo ist meine Familie? Ich saß doch gerade noch in einem Flugzeug.«

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Der alte Mann antwortete lächelnd: »Viktor, sei nicht besorgt. Es hat sich nichts verändert. Alles ist, wie es ist.« Viktor starrte irritiert in das Gesicht des Mannes. »Bist du dafür verantwortlich, dass ich hier bin?« »Wenn du so willst, ja, das bin ich«, antwortete der Fremde, »Du wurdest auserwählt.« Viktor stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Er wuss-te mit dieser Situation überhaupt nichts anzufangen. Die Gedanken zuckten wie Blitze durch seinen Kopf. »Bin ich...tot?« Viktors Stimme zitterte. Er wollte es wissen, aber er hatte Angst vor der Antwort. »Nein, das bist du nicht. Körperlich bist du am Leben nur dein Geist, er ist in Gefahr, aber er ist noch lebendig und darum bist du hier.« Viktor atmete schwer, während ihm ein sanfter Wind-stoss durch die Haare fuhr. »Wer bist du? Bist du ein Traum? Bist du Gott?« Der alte Mann lachte. »Nein, ich bin nicht Gott, ich bin nur ein einfacher Schäfer. Ein Hirte, der auf seine Herde aufpasst.« »Aber wo ist deine Herde? Weit und breit kein ein-ziges Schaf!« Wieder schmunzelte der Alte und zeigte mit seiner rechten Hand ruhig nach hinten. Viktor drehte sich um. Seine Augen weiteten sich und sein Mund verharrte für einen Moment sperrangelweit geöffnet. Auf der riesigen Wiese, auf der Viktor gerade noch gesessen hatte, auf der Wiese, auf der weit und breit nichts zu sehen war, gras-

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ten nun friedlich unzählige Schafe. Es waren sicherlich Hunderte, nein Tausende. »Wo kommen auf einmal all die Schafe her?« Der alte Mann antwortete geduldig: »Wenn ich dir das jetzt erkläre, wirst du denken, ent-weder ich, oder sogar du selbst seist verrückt. Also lass‘ uns einfach feststellen: Sie sind da.« Viktor nickte. Plötzlich erhob sich der alte Mann von der Bank. »Komm, Viktor, es ist nun Zeit, dir ein paar Dinge zu zeigen.« Der Fremde lief langsam in Richtung seiner Herde. Vik-tor schaute ihm einen Moment verwirrt nach, stand dann aber auch auf und folgte dem alten Mann. »Wie heißt du eigentlich?«, rief er ihm hinterher. »Orchid!«, antwortete der Alte, während er weiter auf seine Schafe zuging. Wenig später war auch Viktor bei den Tieren ange-kommen. Orchid bahnte sich den Weg durch die Herde, Viktor dicht hinter ihm. Die Tiere bildeten sofort ehr-fürchtig eine Gasse. Plötzlich blieb Orchid inmitten der Schafe stehen. »Viktor, sieh dich um. Was siehst du?« Viktors Blick schweifte kontrollierend in alle Rich-tungen. »Schafe. Ich sehe nichts als Schafe. Aber warum fragst du mich? »Du weißt, dass wir inmitten einer Herde von Schafen stehen! Welches fällt dir auf?«, wollte Orchid wissen.

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Viktor sah sich erneut um. Er hatte noch nie in seinem Leben Schafe besonders genau betrachtet und er konnte keine wesentlichen Unterschiede erkennen. Manche wa-ren etwas größer, andere hatten eine dunklere Fellfär-bung. »Ich kann nicht sagen, welches mir am meisten auf-fällt. Erstens sind es zu viele, um sie zu überblicken und außerdem sehen sie für mich alle ähnlich aus.« Orchid nickte in gewisser Weise zustimmend. »Aber, siehst du nicht da drüben das schwarze Schaf?« Viktor bemerkte es erst jetzt. »Ja, ich sehe es.« »Und?«, fragte Orchid nach. »Ja, jetzt wo ich es entdeckt habe, fällt es mir natürlich am meisten auf.« »Siehst du. Zunächst hast du es in der Menge nicht bemerkt. Sobald du es aber erblickt hast, fällt es dir am meisten auf. Es fällt dir auf, weil alle anderen hell sind und nur das eine schwarz ist.« Viktor war sichtlich verwirrt. Er wusste nicht, was Or-chid ihm damit sagen wollte. »Aber, denkst du, dieses Schaf ist etwas Besonderes, nur weil es schwarz ist?« Viktor kam ein zögerliches »Ja« über die Lippen. »Schließe deine Augen.« Viktor folgte Orchids Worten. Dann nahm er ihn am Arm und geleitete ihn durch die Herde. Immer wieder führte er Viktors Hand über den wolligen Rücken ver-schiedener Tiere.

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»Was spürst du?« »Ich fühle das Fell. Es ist weich.« »Und hast du irgend einen Unterschied zwischen den einzelnen Schafen bemerkt?« Viktor überlegte. »Nein, habe ich nicht. »Dann öffne jetzt deine Augen.« Viktor und Orchid standen neben dem schwarzen Schaf. »Siehst du, Viktor. Du hast gerade das schwarze Schaf gestreichelt. Das Tier, welches dir vorhin aufgefallen ist, nachdem du es erblickt hattest, ist dir jetzt nicht mehr aufgefallen, nachdem du es nicht mehr gesehen, sondern gespürt hast. Es fühlt sich gleich an. Und weißt du, wa-rum?« Viktor schüttelte verneinend den Kopf. »Weil es nur eine andere Farbe hat. Keinen anderen Charakter. Keine andere Ausstrahlung. Es ist auch nur ein ganz normales Schaf.« Orchid ging wieder ein paar Meter weiter durch die Herde. »Du hast vielleicht schon einmal vom Schweigen der Lämmer gehört? Weißt du, was das bedeutet?« Viktor verneinte. »Es hat damit zu tun, dass Schafe, wenn Gefahr droht, keine Angstschreie abgeben, um die anderen zu warnen. Vielmehr schauen sie zu ihrem Herdenführer und beo-bachten, was das Leittier tut. Dann folgen sie diesem in blindem Gehorsam. Und weißt du, warum sich Schafe so verhalten?«

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Viktor grübelte. »Nein, Orchid, ehrlich gesagt, habe ich dafür keine Erklärung. Es ist doch eigentlich eine normale Reaktion, bei Gefahr zu schreien und dadurch seine Umwelt auf die Bedrohung aufmerksam zu machen. In der Tierwelt – wie auch bei den Menschen.« Orchid legte den Arm um Viktors Schulter, während sie sich weiter den Weg durch die Herde bahnten. »Ja, mein Lieber. Du hast völlig Recht. Das ist die na-türliche Reaktion. Schafe haben das früher auch einmal getan. Ein paar Tiere aus dem Verbund platzierten sich wie Wachposten auf einer Hügelkuppe, um die umlie-gende Gegend beobachten zu können. Näherte sich der Feind, warnten sie mit einem lauten »!Määähhh!«. Da-raufhin drängte sich die Herde um ihr Leitschaf und preschte in geschlossener Front gegen den Feind vor. Sie rannten den Angreifer nieder und besiegten ihn dadurch. Viele Schafe sind des Wolfes Tod. In der Gemeinschaft waren sie stark. Dieses Verhalten wurde ihnen von Men-schenhand ausgetrieben. Es ist viel leichter, die Herde zu kontrollieren, wenn sie sich nicht wehrt.« Viktor verfolgte Orchids Worte aufmerksam. »Siehst du das Schaf da drüben, um das sich viele an-dere Tiere scharen?« Orchid zeigte in die Richtung, so wie er immer in die richtige Richtung zeigte, obwohl er mit seinen Augen nicht sehen konnte. »Es ist das Leittier. Und jetzt pass auf, was gleich vor deinen eigenen Augen passieren wird.« Orchid hatte es noch nicht ganz ausgesprochen, als

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die Schafe zu zittern begannen. Panisch drängte die gro-ße Herde in Richtung ihres Leittieres. Viktor sah sich erschrocken um und bemerkte in eini-ger Entfernung einen Wolf, der auf die Herde zustürzte. Was dann vor Viktors Augen geschah, erschütterte ihn zutiefst. Das Leittier setzte sich in Bewegung und rannte panisch in Richtung der Klippen. Alle anderen Schafe, Tausende von Tieren hinterher. »Was tun sie nur?«, rief Viktor aufgeregt. »Sie tun das, was sie im Grunde immer getan haben. Sie folgen ihrem Leittier. Der Unterschied ist nur, dass dem Leittier von der Obrigkeit der Willen gebrochen wurde. Es wagt nicht mehr, sich zu wehren und mit der Hilfe der anderen Schafe auf den Angreifer loszugehen und ihn zu besiegen.« Die Katastrophe nahm vor Viktors Augen ihren Lauf. Das Leittier sprang über die Klippen in das Meer und somit in den sicheren Tod. Alle anderen Tausende von Tieren hinterher. Der Wolf hatte unterdessen ein einziges Schaf erwischt, welches er auch riss. Einen kurzen Mo-ment später war alles wieder ruhig. Es herrschte tödliche Stille. Alle Schafe waren verschwunden und qualvoll in den Tod gesprungen. Auch der Wolf hatte sich inzwi-schen wieder verzogen. Viktor stand fassungslos, wortlos und leer inmitten der riesigen Wiese. Eine kleine Träne kullerte ihm über die Wange. Er war gerade Zeuge einer unermesslichen Katastrophe geworden. »Warum hast du das zugelassen? Du bist doch ihr Be-schützer, ihr Schäfer, ihr Hirte?«

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Orchid nickte ruhig. »Ja, ich hätte jetzt den Wolf verjagen und diese eine Herde retten können. All die anderen Schafe, die es auf der Welt gibt, die kann ich so allerdings nicht schützen. Sie können sich nur selbst schützen, indem zunächst die Leittiere und danach all die anderen erkennen, dass sie nur in der Gruppe stark sind und jedem Gegner entge-gentreten können.« Orchid verweilte für einen Moment der Stille. »Darum bist du hier, Viktor. Ich sagte dir, du wurdest auserwählt, alles zu ändern.« Viktor verstand kein Wort. »Du willst, dass ich dir dabei helfe, all die Schafe auf der Welt zu retten?« Orchid schüttelte wortlos den Kopf. »Es geht nicht um diese Schafe. Komm’ mit.« Orchid machte sich auf in Richtung Meer. Viktor folg-te ihm schweigend.

Wortlos stiegen sie – an den Klippen angekommen – eine steile Treppe nach unten. Dort war ein kleines Ruder-boot an einem Felsen festgezurrt. Orchid kletterte in den Kahn. Viktor zögerte für einen kurzen Moment, machte dann aber das Tau los und sprang ebenfalls in die winzi-ge Nussschale. Orchid begann gegen die unerbittlich an die felsige Küste hereinbrechenden Wellen anzurudern, um das Boot auf das offene Meer hinaus zu bringen. »Wo fahren wir hin?« Viktor war sich nicht wirklich sicher, dass es eine aus-

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gezeichnete Idee war, die raue See in einem kleinen Ru-derboot herauszufordern. »Hab’ keine Angst. Ich bringe dich zur Quelle der Er-kenntnis.« Orchid ruderte, ohne ein Wort zu sprechen. Vielleicht waren unterdessen eine Stunde, oder auch zwei, vergan-gen. Möglicherweise war es sogar noch länger. Das kleine Boot entfernte sich – langsam aber sicher – immer weiter von der rettenden Küstenlinie, bis diese kaum noch zu sehen war. Viktor starrte auf das Meer. Auf diese einnehmende Unendlichkeit. Es erinnerte ihn an das Gefühl des Flie-gens im Flugzeug. Die Monotonie der Wellen und des Ruderschlags schien ihn so sehr zu beruhigen, dass er beinahe einschlief. Urplötzlich hörte Orchid auf, zu rudern. »Wir sind da.« Viktor schaute ihn an, dann blickte er in alle Him-melsrichtungen und erkannte, dass auf keiner Seite des Bootes mehr Land in Sicht war. Er hatte die Orientierung völlig verloren. »Wo sind wir?« »An der Quelle der Erkenntnis!«, erwiderte Orchid mit sanftem Ton. Die Situation beunruhigte Viktor sehr und ließ auch das gerade vorhin Erlebte wieder in ihm aufleben. »Ich habe Angst. Warum bringst du mich auf das offe-ne Meer? Ich kann das Ufer nicht mehr sehen und du bist blind. Wir werden nie mehr zurückfinden und müssen sterben.«

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Viktor merkte erst jetzt, was er gerade gesagt hatte. »Aber wahrscheinlich bin ich sowieso schon tot.« Orchid lächelte milde. »Nein, du bist weder tot noch wirst du bald sterben. Und ich bin auch nicht blind. Nur meine Augen können nicht mehr sehen. Schon vergessen? Wirf jetzt einen Blick ins Wasser und beschreibe mir, was du siehst.« Viktor sah sich unsicher um, ließ seinen Blick über den weiten Ozean schweifen. »Nein, nicht über die Wasseroberfläche, denn da wirst du nichts erkennen außer der Unendlichkeit. Die kannst und wirst du nicht verstehen. Schau nur in das Wasser, Viktor.« Wasser war für Viktor das gewaltigste aller Elemente und es war das, was er am meisten liebte. Wann immer er wusste, er werde in Kürze ans Meer fahren, war seine Vorfreude schon Wochen davor zu spüren. Und sobald er dort angekommen war, fühlte er sich ruhig und gebor-gen. Normalerweise war es seine Energiequelle, aber an diesem Tag hatte er zum aller ersten Mal Angst. Angst davor, auch nur ins Wasser zu blicken. Natürlich wuss-te er, dass diese Angst nicht mit dem Wasser oder dem Meer selbst zu tun hatte, sondern vielmehr mit den Um-ständen, wie er hierher gekommen war. Orchid berührte ihn mit der Hand sanft am Arm. Es war nicht zu erklären, aber im selben Moment, als er Orchids Hand an seinem Arm spürte, fühlte er, wie die Angst augenblicklich aus seinem Körper wich. »Vertrau‘ mir. Sieh ins Wasser.« Viktor atmete tief ein und richtete schließlich seinen Blick

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zu seiner Rechten aus dem Boot. Seine Pupillen weiteten sich. Er hielt sich in einem Reflex krampfhaft am Rande des Bootes fest. Viktor rang nach Luft. Der Angstschweiß stand ihm auf der Stirn. »Orchid, wo bin ich? Ich glaube, ich verliere meinen Verstand.« »Beruhige dich, Viktor. Was du siehst, ist der Planet auf dem du lebst, die Erde.« Viktor starrte Orchid an, atmete schwer. »Wir sind mitten auf einem Ozean. Aber wenn ich ins Wasser sehe, sehe ich die Erde. Wie aus dem Weltraum.« »Mach dir keine Gedanken darüber, wie das möglich ist. Genieße die Aussicht. Schau ihn dir genau an, den Planeten, auf dem du lebst. Ist er nicht wunderschön?« Viktor zögerte einen Moment, dann richtete er sei-nen Blick wieder Richtung Wasser. Unter ihm, in einiger Entfernung, war zweifellos die Erde. Sie lag vor ihm wie eine große, blaue Murmel. So friedlich, so anmutig. Viktor begann nun nach und nach die Aussicht zu ge-nießen. »Da ist Amerika, hier Asien, Australien, Afrika und dort drüben Europa.« Orchid deutete mit der Hand auf die einzelnen Konti-nente, ohne seinen Kopf in Richtung Wasseroberfläche zu drehen. »Dazwischen Wasser, Ozeane voll Wasser. Ein perfekter Lebensraum.« Viktor konnte seine Augen nicht mehr abwenden. Er war überwältigt von dem Anblick, der ihm vor wenigen Momenten noch Angst eingeflößt hatte. »Aber, warum zeigst du mir das, Orchid?«

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»Weil du es noch nie gesehen hast, und ich möchte, dass du spürst, welch’ unglaubliches Geschenk dir und all den anderen Lebewesen auf der Erde wiederfährt, an so einem wunderbaren Ort leben zu dürfen.« »Aber Orchid, vorhin hast du vor meinen Augen Tausende Schafe sterben lassen. Jetzt zeigst du mir die Schönheit der Erde. Es tut mir leid, aber ich verstehe das nicht.« »Ich weiß. Noch nicht«, unterbrach ihn Orchid. »Wir sind auch erst am Anfang unserer Reise.« Plötzlich stand Orchid auf, hob seine Hände und faltete sie. In dieser Sekunde beruhigte sich das Wasser schlagartig. Keine einzige Welle war mehr am Horizont zu erkennen. Die Unendlichkeit schien für einen Moment stillzustehen. »Viktor, wir müssen weiter. Es gibt noch so viele Din-ge, die ich dir zeigen möchte.« Orchid breitete die Arme aus und im selben Augen-blick begann sich das Meer vor dem Boot zu teilen. Aus dem Inneren des Spaltes, der den Ozean in zwei Hälften unterteilte, strahlte ein helles, warmes Licht. Viktor erschrak zu Tode. Er spürte sein Herz in Kinn-höhe pochen. »Komm’, Viktor, vertraue mir. Reiche mir deine Hand.« Viktor folgte zögerlich Orchids Anweisungen. Der alte Mann hielt ihn für einen Moment ganz fest und zog ihn dann unvermittelt mit einem schnellen Ruck aus dem Boot. Zusammen sprangen sie in den hell erleuchteten Spalt.

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Viktors Schrei des Entsetzens verstummte langsam in der unendlichen Tiefe.

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Es war Vormittag in einer zentralen Metropole der Nordhalbkugel. Der große Platz war übersät von Men-schen. Die meisten überquerten ihn. Manche langsam, manche schnell. Manche standen dort einfach nur her-um. Die einen alleine, die anderen in mehr oder weniger großen Gruppen. Mitten unter ihnen tauchte plötzlich Viktor an der Seite von Orchid auf. Viktor wusste einmal mehr nicht, was ihm gerade wi-derfuhr: Das Haus, die Wiese, die Klippen, die Schafe, das Meer. Jetzt stand er auf einem Platz unter Tausenden von Menschen. »Was tun wir hier?« »Ich möchte, dass du mir beschreibst, was du siehst«, erwiderte Orchid. Viktor blickte sich ganz genau um, versuchte auf jedes Detail zu achten. Er sah eine junge Mutter, die versuchte, ihr ungefähr zweijähriges Mädchen davon abzuhalten, Steine auf dem Platz aufzuheben und sich in den Mund zu stopfen. Da waren Männer in Anzügen. Viele Männer in Anzügen. Die meisten in billigen, manche wenige in kostbaren Ausführungen. Die einen trugen kunstlederne Aktenkoffer, die sie von ihrer Frau zu Weihnachten ge-schenkt bekommen hatten. Die anderen posierten stolz ihre handgenähten Aktentaschen. Viktor sah Frauen in Designerkostümen und welche, die Kleider trugen, die so aussehen sollten wie Designer-

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kostüme. Er bemerkte kleine, große, dicke und dünne Menschen. Manche schlenderten, manche rannten. Er sah zwei Obdachlose mit einem Hund, die auf einer De-cke kauerten und billigen Wein tranken. »Ich sehe Menschen. Hunderte, wenn nicht Tausende unterschiedlicher Menschen.« »Ja, das stimmt. Was tun sie hier?« »Sie gehen ihren Aufgaben nach, ihrer Arbeit. Man-che gehen einkaufen, andere vielleicht einfach nur spa-zieren.« »Und findest du, sie sehen glücklich aus?« Viktor beobachtete den Platz. »Ich weiß nicht; einige vielleicht – die meisten wahr-scheinlich nicht.« »Ja, Viktor. Und wenn du genau hinsiehst, wirst du feststellen, dass die meisten alleine gehen, manche zu zweit, einige wenige auch in kleinen Gruppen. Doch sie sprechen nicht miteinander. Sie beachten sich nicht. Sie bemerken daher viele Dinge, die um sie herum gesche-hen, nicht. Ich möchte dir aber noch etwas anderes zei-gen. Sieh´ noch einmal hin.« Viktor wusste nicht, auf was Orchid hinaus wollte, folgte aber schließlich seiner Aufforderung. Seine Augen weiteten sich ungläubig. All die Menschen auf dem Platz hatten auf einmal Schafsköpfe. Zumindest fast alle. Als er ganz genau hinsah, entdeckte er dazwischen, ganz vereinzelt, einige mit Wolfsschädeln. Alles andere war gleich geblieben: Die Körper, die Kleider, die Aktenta-schen. »Was siehst du jetzt?«

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»Ich sehe Menschen mit Schafsköpfen und dazwi-schen einige ganz wenige mit Wolfsmasken.« »Ja, mein lieber Viktor. Es gibt drei Kategorien von Menschen. Um es dir zu erklären, habe ich mir erlaubt, das Sinnbild mit den Schafen und den Wölfen zu wählen. Die meisten Menschen auf der Erde, egal welcher Rasse, Herkunft, Religion oder Gesinnung, sind in meinem Bei-spiel Schafe. Eine nicht unbeachtliche Zahl ist den Wöl-fen zuzurechnen und eine sehr, sehr geringe Anzahl an Menschen, wirklich nur einige wenige, sind...« Orchid schwieg. »Nennen wir sie die Verborgenen«, presste er nach ei-nem Augenblick nachdenklich heraus. »Bei den Schafen gibt es Leittiere und den Rest der Herde. Bei den Wölfen existieren natürlich auch Leitwölfe. Bei den Verborgenen gibt es keine Unterschiede.« Viktor lauschte Orchids Ausführungen aufmerksam, ohne wirklich zu verstehen. »Ich nehme an, ich bin in deiner Definition auch ein Schaf?« »Ja, Viktor, das bist du« »Und wenn schon. Was ist so schlecht daran, ein Schaf zu sein?« »Nichts, Viktor. Ein Schaf zu sein, bedeutet in meinem Beispiel, ein rechtschaffener Mensch zu sein. Die Wölfe dagegen sind die Schattenwelt, Menschen, die Verbre-chen begehen. Sie missachten die Regeln der Gemein-schaft und verschaffen sich dadurch Vorteile.« »Und was ist mit den Verborgenen?« Orchid antwortete nicht sofort.

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»Die Verborgenen haben alle Fäden in der Hand. Dazu kommen wir später.« Orchid bewegte sich zu einem alten Steinbrunnen in der Mitte des Platzes, setzte sich auf die Stufen vor dem Wasserspiel. Viktor folgte ihm und nahm neben ihm Platz. »Die Schafe, die über die Klippe ins Meer gesprungen waren, folgten bedingungslos ihrem Leittier; sie waren auf der Flucht vor dem Wolf, der ihre Herde bedrohte. Jedes Schaf, das sich dem Wolf einzeln entgegengestellt hätte, wäre von diesem gerissen worden. Wie ich dir aber auch erzählte, war das alles einmal anders. Der Mensch brach den Charakter und den Willen der Leittiere, um die Herde besser kontrollieren zu können. Hätte der Mensch das nicht gemacht, wäre in besagtem Fall das Leittier seinem Instinkt folgend, auf den Wolf zu gestürzt und die ganze Herde mit ihm. Sie hätten den Wolf in der Gemeinschaft überrannt und getötet oder zu-mindest verscheucht.« »Ich verstehe dich nicht ganz, Orchid. Menschen sind anders. Zwar ist es sicherlich so, dass es auch unter den Menschen so genannte Leittiere gibt: Chefs in Fir-men, Vorgesetzte, Autoritäten, aber keines der normalen menschlichen Schafe würde sich schicksalsergeben und unbedacht von einer Klippe stürzen. Für mich funktio-niert dieser Vergleich nicht.« »Gut, Viktor, wie ich schon sagte, das mit den Scha-fen ist ein Sinnbild. In der Tat ist es sehr unwahrschein-lich, dass Menschen in Herden von Klippen springen. Im übertragenen Sinne allerdings tun sie es immer und

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jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde.« Orchid stand auf und stellte sich an den Brunnen, schöpfte eine Faust voll Wasser und hielt sie Viktor ent-gegen. »Sieh‘ dir das an.« Viktor warf einen vorsichtigen Blick in das Wasser in Orchids Faust.

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Das riesige Werksgelände eines großen und bekannten Weltkonzerns erinnerte aus der Vogelperspektive an eine Kleinstadt. Orchid und Viktor standen gegenüber dem Haupttor. Tausende Menschen strömten zu Arbeitsbe-ginn durch die weite Pforte. »Viktor, wohin gehen all’ diese Menschen?« Orchid wandte ihm sein Gesicht zu. Wenn er nicht zu-vor versichert hätte, dass seine Augen nicht mehr funk-tionstüchtig waren, Viktor hätte es in dieser Sekunde be-zweifelt – so bestimmt war sein Blick. »Ich sehe nichts Besonderes. Ich sehe Menschen, die zur Arbeit gehen.« »Warum tun sie das?«, unterbrach ihn Orchid. »Was für eine Frage. Natürlich, um Geld zu verdie-nen, damit sie ihre Familien und sich selbst ernähren können. Kein Mensch geht einfach nur so zur Arbeit.« »Ja, Viktor, du hast Recht. Sie gehen zur Arbeit, um ihre Familien zu ernähren. Sie haben alle verschiede-ne Berufe: Mechaniker, Techniker, Ingenieure, Juristen, Buchhalter, Designer. Sie üben ihre Berufe in unter-schiedlichen Hierarchiestufen aus. Es gibt die Arbeiter am Fließband, es gibt Meister. Da sind normale Sachbear-beiter, Abteilungsleiter, Bereichsleiter, Vorstände und der übergeordnete Chef, der Vorstandsvorsitzende. Aber fast alle von ihnen haben eines gemeinsam. Sie sind Schafe. Sie sind Teil der großen Herde. Vom einfachen Arbeiter

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bis zum Vorstandsvorsitzenden. Sie gehen jeden Tag am Morgen durch dieses Tor und abends wieder nach Hause – die Leittiere, wie all die anderen Mitglieder der Her-de. Dazwischen gibt es auch ein paar Wölfe. Menschen, die unredlich sind. Sie betrügen, unterschlagen, stehlen, verraten, manchmal morden sie sogar, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Sie kämpfen mit Waffen, welche die Zivilisation in der Gemeinschaft verboten hat. Und ich meine – in der Gemeinschaft. Alle Schafe zusammen haben diese Regeln beschlossen. Die Wölfe unterlaufen sie und können nur durch die Gemeinschaft der Schafe vertrieben, beziehungsweise gemaßregelt werden.« »Orchid, auf was willst du hinaus?«, warf Viktor et-was ungeduldig ein. »Ich will dir an dieser Stelle eigentlich nur verdeutli-chen, dass es sich vom höchsten Chef dieser Firma bis zum kleinsten Arbeiter meistens um Schafe handelt. Schafe, die zusammenhalten sollten, um sich gegen Wöl-fe und die Verborgenen behaupten zu können. Doch sie tun es meistens nicht. Es wurde ihnen genommen, ihr Wille wurde gebrochen. Dazu kommt, dass viele der Leittiere sich anders einschätzen. Sie sehen sich auf einer anderen Stufe. Sie sympathisieren mit den Verborgenen, ohne zu wissen, dass es diese gibt und dass diese ihr Handeln bestimmen. Sie denken, sie seien eine überge-ordnete Schicht, distanzieren sich von ihrer Herde, ohne zu begreifen, dass sie selbst ein Teil davon sind. Sie las-sen ihre Herde im Stich.« »Um es zu verstehen, Orchid, erkläre mir: Was meinst du mit den Verborgenen?«

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»Viktor, gedulde dich. Bald wird es dir klarer sein.« Orchid schnippte mit den Fingern.

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Viktor traute einmal mehr seinen Augen nicht. Zusam-men mit Orchid fand er sich in der nächsten Sekunde auf der Kommandobrücke eines riesigen Kreuzfahrtschiffes wieder. Der Kapitän, die Offiziere, die Navigatoren, die Funker, sie alle gingen konzentriert ihrer Arbeit nach. Die See war türkisblau und ruhig. Majestätisch glitt das Schiff durch die sanften Wellen. Orchid zeigte in Richtung Kapitän. »Er ist hier an Bord das Leittier. Er ist der Chef. Der Kapitän hat die Verantwortung für seine Passagiere und leitet sie an ihr Ziel. Die Herde braucht ihn, aber er braucht auch die Herde. Stelle dir einmal folgendes vor: Auf diesem Schiff befinden sich dreitausend Menschen. Was denkst du, würde passieren, wenn alle Passagiere zum gleichen Zeitpunkt auf die Backbordseite des Schif-fes liefen?« »Es würde möglicherweise umkippen und kentern«, antwortete Viktor. »So ist es. Das Boot würde kentern und der Kapitän, das Leittier, wäre machtlos, könnte es nicht verhindern. Selbstverständlich würde die Herde das nicht tun. Sie will leben. Dennoch wäre die Gemeinschaft in der Lage, es zu vollbringen. Genauso wie sie in der Lage ist, etwas Positives zu leisten. Aber eben auch nur in der Gemein-schaft. Und lass‘ mich an dieser Stelle noch etwas ande-res erwähnen:

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Die Menschen haben den Begriff vom Wolf im Schafs-pelz geprägt. Also, ein Wolf, der so tut, als ob er ein Schaf sei. Unter den Menschen gibt es diese Kategorie in der Tat. In der Tierwelt ist das nahezu ausgeschlossen. Tiere verfügen über einen Instinkt. Der Instinkt ist ein Sinn, den der Mensch zurückgebildet hat, weil er sich durch die Nutzung der anderen Sinne wie sehen, hören, rie-chen, fühlen, schmecken in seiner Umwelt behaupten konnte. Nur ganz wenige Menschen verfügen über einen ausgeprägten Instinkt, den so genannten sechsten Sinn. Doch nur damit könnte der Mensch sofort einen Wolf im Schafspelz identifizieren. Benutzt er nur die anderen Sin-ne, kann er den verkleideten Wolf wahrscheinlich nicht erkennen und wird ihm, sollte er sich als Leittier ausge-ben, folgen. Folgen bis ins mögliche Verderben. Stell dir nur einmal vor, der Kapitän dieses Schiffes wäre ein Wolf im Schafspelz und hätte einen Vorteil da-von, wenn dieses Schiff im Ozean versänke. Dann müss-ten womöglich dreitausend Menschen sterben, weil ihr Instinkt zurückgebildet ist und sie mit ihren anderen Sin-nen die Täuschung nicht erkennen konnten.« Viktor war sichtlich nachdenklich. »Ich habe verstanden, was du mir sagen möchtest, Orchid. So habe ich das noch nie betrachtet. Aber, warum erzählst du mir das alles? Du gibst mir ein schlechtes Ge-fühl und machst mir Angst. Ich bin ein kleines Schaf, des-sen Instinkt zurückgebildet ist. Ich spüre all das nicht, aber ich will leben, ohne die ganze Zeit darüber nachzu-denken, dass ich womöglich etwas nicht spüre, was mich gleich auffrisst.«

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»Das sollst du auch nicht, Viktor«, unterbrach ihn Orchid. »Vielmehr sollst du deinen Instinkt wieder aus-bilden, wie all die anderen Menschen da draußen auch. Du musst es erlernen und dafür kämpfen. Du darfst dich nicht verstecken und deinem Schicksal ergeben. Als erstes musst du damit anfangen, nicht alles zu glauben, was du siehst oder hörst, denn vieles in deinem Leben auf dieser Erde ist nicht wahr und es ist nur gemacht, um dich pro-blemlos lenken zu können. Es stellt dich ruhig. Es sind Projektionen, ein großer Film, in dem du mitspielst, ohne es zu wissen. Würdest du und all die anderen Menschen ihren Instinkt wiedererlangen, kein Wolf und auch kein Verborgener könnte die Herde mehr manipulieren. Ihre Zeit wäre endlich. So, allerdings lenken, unterjochen und missbrauchen sie die Menschheit stets für ihre Zwecke.« Viktor senkte seinen Kopf. Er atmete tief durch. All das Gehörte verwirrte ihn. »Gut, Orchid. Du erzählst mir all diese Dinge. Du scheinst ein kluger, ja ein weiser Mann zu sein, aber du sagst mir nicht, wer du bist. Du manipulierst mich ge-nauso, wie all die anderen, von denen du behauptest, sie würden es tun. Du erzählst mir von Wölfen und Verbor-genen, aber du erzählst mir nicht, wer die Verborgenen sind. Vielleicht bist du einer von ihnen. Wem sonst sollte es gelingen, mich in diese surreale Situation zu bringen, mir all diese Sachen zu erklären, wenn er nicht selbst et-was damit zu tun hat, oder einer von denen oder Gott höchstpersönlich ist.« Orchid und Viktor standen sich für einen kurzen Au-genblick schweigend gegenüber.

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»Ich verstehe, dass du aufgebracht und verwirrt bist. Das ist ganz normal. Ich verstehe auch, dass du mir Miss-trauen entgegen bringst und das ist gut so. Alles, was ich dir zeige, soll nur dein Bewusstsein erweitern. Du sollst lernen, Dinge zu hinterfragen, du sollst kritisch damit umgehen. Ich manipuliere dich nicht. Nachdem unsere Reise beendet sein wird, wirst du ganz alleine entschei-den, was du mit all dem Gesehenen anfängst. Ich bin keiner der Verborgenen und ich bin nicht Gott. Ich bin ein Beobachter, der die Welt von außen betrach-tet. Ich bin ein Verantwortlicher, jemand, dem es am Herzen liegt, deine Welt, diesen wunderbaren Planeten, eure Lebensgemeinschaft und ihre Bedingungen zu ver-bessern. Und du bist ein Teil dieser Gemeinschaft – wie jeder andere Mensch auch. Ihr alle zusammen habt die Möglichkeit, euer Leben positiver und lebenswerter zu gestalten. Komm, Viktor, wir müssen weiter.« Orchid verließ die Kommandobrücke des Schiffs durch die Tür. Viktor zögerte einen nachdenklichen Moment lang und folgte ihm schließlich.

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Das kleine Wohnzimmer war ziemlich dunkel, obwohl draußen die Sonne hell vom Himmel strahlte. Eine Frau um die vierzig saß auf der abgewetzten Wohnzimmer-couch und blätterte mit versteinerter Miene in mehreren Ordnern, die vor ihr auf dem hölzernen Wohnzimmer-tisch ausgebreitet lagen. Orchid und Viktor betraten im Hintergrund den Raum. Obwohl sie von der Frau weder gesehen noch gehört werden konnten, nahmen sie ganz leise auf zwei Stühlen in der hinteren Ecke des Raumes Platz. Gleich nach ihnen erschien der Ehemann - zusammen mit den zwei Kindern, die beide so zwischen acht und zehn Jah-ren alt waren - das Zimmer und setzten sich ruhig neben die Frau auf das Sofa. Der Mann warf seiner Frau einen fragenden Blick zu, den diese nur mit einem zögerlichen Kopfschütteln quittierte, wobei ihr eine Träne über die Wange kullerte. Die Kinder waren ganz ruhig und nah-men – ohne ein Wort zu sagen oder zu fragen – ihre Mut-ter einfach nur instinktiv in den Arm und drückten sie so fest sie konnten. »Eine redliche, aber sehr traurige Familie.«, durch-brach Orchid die Stille des Moments. »Dieses kleine Haus, in dem wir uns gerade aufhalten, hat diese Familie vor zehn Jahren gekauft. Sie sind keine einzige Rate bei ihrer Bank schuldig geblieben. Die Bank jedoch hat nicht gut gewirtschaftet. Sie hatten für mehr-

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ere Milliarden so genannte faule Kredite abgeschlossen. Das heißt, sie haben Menschen oder Firmen Kredite be-willigt, die diese dann nicht mehr zurückzahlen konn-ten. Da kam es der Bank nur zu Recht, dass eine große Investmentcompany ihnen diesen Geschäftsbereich ab-kaufte. Wie man sich vorstellen kann, natürlich nicht, um die ausstehenden Milliarden den Kreditnehmern zu schenken. Vielmehr, um erhebliche Profite damit zu er-wirtschaften. Für unsere Familie hier, die ja immer brav ihre Ra-ten bezahlt hatte, sollte sich laut freundlichem Schrei-ben ihrer Bank überhaupt nichts ändern. In dem Brief des Geldinstituts hieß es nur, dass die Bank den Kredit an eine andere Firma weiter veräußert habe, dieser aber dort übernommen und weitergeführt werde.« Viktor lauschte Orchids Worten aufmerksam. Hatte er doch auch vor ein paar Jahren einen Kredit für sein kleines Häuschen aufgenommen; er trug seither immer ein ungutes Gefühl im Herzen mit sich herum, weil er es eigentlich nicht leiden konnte, irgendwo Schulden zu ha-ben. Doch Orchids Ausführungen sollten noch düsterer werden. »Kurz, nachdem die Investmentcompany den ganzen Geschäftsbereich der Bank schließlich übernommen hat-te, erhielt unsere Familie einen Brief von den neuen Ver-tragspartnern, in dem diese eine Anpassung der Zinsen ankündigten. Unsere Familie war ratlos. Eine Erhöhung der monatlichen Belastung war keinesfalls auch nur an-nähernd im Bereich des finanziell Machbaren. Musste sich die Familie mit ihrer bisherigen Rate ja bereits nach

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der Decke strecken. Doch all ihr Bitten und Flehen blieb bei den Herren der Investmentcompany ungehört. Der Familienvater, ein selbstständiger Handwerkermeister mit eigener kleiner Firma, begann von Pontius zu Pila-tus zu laufen. Er versuchte, bei einer anderen Bank eine Umfinanzierung für das Eigenheim zu bekommen, doch keines der Institute war daran interessiert. Da er zwi-schenzeitlich die erhöhte Rate nicht bezahlen konnte, kündigte der Investmentfonds den Kredit und forderte die Familie auf, den Gesamtbetrag in einem Rutsch zu-rückzuzahlen. Heute kam der Bescheid zur Räumung des Hauses und der Beschluss des Gerichtes die Zwangsversteige-rung anzuordnen. Schau dir diese Familie an!« Mutter, Vater und die beiden wunderbaren Kinder saßen eng umschlungen auf der Couch und weinten wie Schlosshunde. »Man hat ihnen aus unredlichen Gründen der Maß-losigkeit schuldlos ihre Existenz genommen. Man hat ihnen eine sorgenfreie Zukunft zerstört. Und weißt du was, Viktor?« Viktor war selbst den Tränen nahe und verfolgte tief bewegt die neuerliche Tragödie, die sich vor seinen Au-gen abspielte. »Das Haus wird in den nächsten Tagen versteigert werden und es wird einen respektablen Betrag erbringen. Rechnet man all das Geld, das die Familie in den letzten zehn Jahren bereits abbezahlt hat, noch hinzu, haben so-wohl die ehemalige Bank als auch die neue Investment-firma ein einträgliches Geschäft gemacht.«

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Orchid und Viktor verweilten für einen nachdenklichen Augenblick, bevor sie aufstanden und gesenkten Haup-tes das Haus verließen.

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Die kaum befahrene Landstrasse schien endlos gera-deaus zu führen, um schließlich am Horizont an einem Punkt zu enden. Viktor wanderte ruhig neben Orchid. »Sind es die Verborgenen? Sind sie schuld an der Mi-sere dieser Familie?« Orchid blieb stehen, legte seine Hand wortlos auf Vik-tors Schulter, während dieser mit glasigem Blick in die Weite starrte. »Ja, mein Freund, sie stecken hinter all dem. Es sind allerdings nicht die Personen, die du siehst. Nicht die Ma-nager der Investmentcompany, nicht die Anwälte, welche die Räumungsklage einreichten, nicht die Richter, die so entschieden haben. Sie alle sind nur Erfüllungsgehilfen – Schafe eines Systems, welches langsam um sie herum, mit ihrer Zustimmung und Unterstützung gestaltet wur-de. Vielmehr ist es sogar so, dass sie und ihre Väter und Großväter und viele Generationen davor, maßgeblich daran mitgearbeitet haben, dieses System zu errichten. Im Sinne der Verborgenen, welche die Strategie entwar-fen und sie ausführen ließen. Die Verborgenen sind die Gestalten im Hintergrund. Du wirst sie nie zu sehen bekommen. Sie treten niemals auf. Zumindest nicht in einem solchen Zusammenhang. Du magst sie vielleicht treffen – privat, im Urlaub, in einem Geschäft, an der Hotelbar, in einem Restaurant. Vielleicht sitzt sogar eines Tages einer im Flugzeug neben dir! Aber sie sind so nicht

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zu erkennen, nicht als Verborgene. Weil sie eben Verbor-gene sind.« Viktor löste sich aus Orchids Umarmung. »Orchid, mein Gott. Ich verstehe nichts. Ich soll mich vor Verborgenen in acht nehmen, aber gleichzeitig er-zählst du mir, ich werde sie nicht erkennen. Das heißt, ich soll mich vor einer Gefahr hüten, über die ich nichts weiß und die ich auch nicht absehen kann.« Orchid legte seine Hand wieder auf Viktors Schulter. »Du, mein Lieber, du wirst sie erkennen und deshalb bist du hier. Du hast die Fähigkeiten, es zu verstehen. Deshalb wurdest du auserwählt. Vertraue mir. Aber du musst noch mehr lernen, mehr über die Zusammenhän-ge auf dieser Welt.« »Und was die Familie gerade eben betrifft: Hätte es einen Ausweg gegeben?« »Ja, Viktor, den gibt es immer. Dazu muss aber die Schafherde, müssen die Menschen zusammenhalten. Es müssen mehr sein. Ihr müsst alle zusammen ein Meer sein, – nicht nur verteilte Wassertropfen.« Orchid hob demonstrativ die Hand. In derselben Se-kunde offenbarte sich eine Leiter neben den beiden, die direkt in den Himmel, in die weißblaue Unendlichkeit zu führen schien. Viktor blickte die Leiter entlang nach oben. Orchid verbeugte sich höflich und wies ihn mit der Hand an, vorzugehen. Viktor folgte wortlos der stummen Einladung und be-gann den wackeligen Weg nach oben zu steigen. Er klet-terte und kletterte in Gedanken versunken und merkte

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dabei nicht, dass sich die ganze Leiter in Richtung Him-mel bewegte; schon kurz darauf erklommen die beiden eine wunderbare, weiße Wolke. Viktor ließ sich erschöpft auf das weiche, weiße Etwas fallen. Er lag ruhig auf dem Rücken. Sein Blick war re-gungslos in die Weiten des Universums gerichtet. Orchid setzte sich neben ihn und verfolgte mit einem zufriedenen Lächeln, dass Viktor sich seit seiner Ankunft zum ersten Mal wohl zu fühlen schien.

Während Viktor und Orchid auf der Wolke ruhten, zog unter ihnen die Landschaft vorbei und sie bewegten sich weg von der Sonne, die in ihrem Rücken unterging. Vik-tor schloss die Augen und schlief schließlich ein. Als er wieder zu sich kam, saß er neben Orchid auf der Spitze eines Berges. Eines Berges, der ganz aus Sand bestand. Die Düne war von unvorstellbarem Ausmaß und wo-hin man blickte, erstreckte sich eine Zauberlandschaft aus hellbraunem Sand. Die Sonne, ein überdimensional großer, orangefarbener Ball, erhob sich langsam hinter einem Wüstengebirge. Eine Szenerie – schöner wie aus “Tausend und einer Nacht“. Viktor genoss den Moment und erstmals huschte so-gar so etwas wie ein seliges Lächeln über sein Gesicht. »Ist es nicht ein wunderbarer Planet, Viktor?« Viktor nickte stumm und wollte seinen Blick keine Sekunde von diesem einzigartigen Sonnenaufgang ab-wenden. Orchid stand auf. »lass uns auf die andere Seite der Düne gehen.«

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Mit einem Wimpernschlag war Viktor wieder in einer komplett anderen Welt angekommen, obwohl sie nicht weit von dem atemberaubenden Sonnenaufgang ent-fernt waren, der ihn noch vor ein paar Minuten verzau-bert hatte.

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Mit einem ohrenbetäubenden Krach detonierte eine Mörsergranate dicht neben ihm. Viktor warf sich in ei-nem Reflex instinktiv zu Boden, hielt sich die Hände zum Schutz über den Kopf. Orchid und Viktor waren mitten in ein Straßengefecht hineingeraten. Die Panzerfahrzeuge einer großen, bedeutenden Armee donnerten durch die engen, staubigen Häuser-schluchten, während sie von Gebäudedächern und aus Hinterhalten von Granatwerfern und Maschinengewehr-salven getroffen wurden. Orchid zog Viktor auf die Seite, in den zerbombten Eingang eines Gemäuers. Viktors Herz schlug bis zum Hals. »Warum bringst du mich in ein Kriegsgebiet?«, keuch-te Viktor atemlos. »Weil du es bisher nur aus dem Fernsehen oder aus Zeitungen kennst.« »Na, und? Das reicht mir. Ich muss den Krieg nicht so nah erleben.« Er hatte seinen Satz noch nicht vollendet, als drei Kampfjets im Tiefflug in hoher Geschwindigkeit über ihre Köpfe hinwegdonnerten, um eine Sekunde später je-weils zwei Raketen abzufeuern und über der Innenstadt abzudrehen. Die Raketen krachten mit unbeschreiblicher Wucht mitten in eine benachbarte Häuserschlucht. Eine monströse Wolke aus Staub und Rauch schraubte sich

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in den Himmel. Nur Momente später machte sich ein Geruch von Verbranntem breit. Eine schaurige, ekelige Mischung eines beißend süßlichen Gestanks. Viktor hielt sich seine Hand schützend vor Mund und Nase. »Weißt du, warum dieser erbarmungslose Krieg ge-führt wird?« »Soweit ich das bewerten kann und aus dem Fernseh-en weiß, aus religiösen Gründen«, antwortete Viktor. Orchid schüttelte seinen Kopf und begann in sehr ru-higem Ton zu erzählen: »Letzte Woche fuhr ein, gerade mal achtzehn Jahre alter, Mann aus diesem Land hier in einem vollbesetz-ten Bus in der Hauptstadt des Nachbarstaats. Er hatte einen Gürtel mit sechs Handgranaten umgeschnallt, die er dann aus heiterem Himmel im Bus zündete. Der Jun-ge riss dreiundzwanzig unschuldige Menschen mit sich in den Tod. Darunter fünf Kleinkinder. Welche religiö-sen Gründe mögen das sein? Glaubst du, Gott würde es befürworten, dass ein Selbstmordattentäter unschuldige Menschen tötete, unter dem Vorwand, es für ihn, seinen Gott, zu tun?« Viktor wurde einen Moment sehr nachdenklich. »Orchid, Gott ist doch allmächtig, allwissend und all-gütig. Der Allmächtige kann alles ändern, was er will. Also muss er auch damit einverstanden sein, dass die Menschen sich gegenseitig umbringen. Für welchen Grund auch immer.« »Nein, Viktor, das denke ich ganz und gar nicht. Aber was ist Gott? Was ist für dich Gott? Wie stellst du dir Gott in deinen Gedanken vor?«

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Viktor bewegte sich zwei Schritte nach vorne, stand nun mit dem Rücken zu Orchid. Dann starrte er Rich-tung Himmel. »Ich weiß nicht, wer oder was Gott ist. Meinen Kin-dern erzähle ich immer die Geschichten, mit denen ich selbst von meinen Eltern großgezogen wurde. Ich erzäh-le von diesem allmächtigen, allwissenden und allgütigen Wesen. Von einem Beschützer, der über unseren See-len wacht. Von einem “Etwas“, dem niemand eine be-stimmte Gestalt zusprechen kann.« Orchid lächelte gütig. »Nehmen wir einmal an, die Definition: Allwissend, allgütig und allmächtig träfe, so wie du von deiner Glau-bensgemeinschaft erzogen wurdest, auf Gott zu, dann ist Folgendes nicht schlüssig: Es gibt sehr viel Leid auf die-ser Welt. Kann oder will Gott das Leid nicht verhindern? Wenn er es nicht kann, ist er nicht allmächtig und wenn er es nicht will, ist er ganz sicher nicht allgütig. Das Glei-che trifft auf das Allwissen zu. Wenn er von dem Leid vorher weiß, dann müsste er ja ein Sadist oder Zyniker sein, um es zuzulassen – was aber sicherlich mit dem Be-griff Gott und seiner Definition in deiner Religion nicht vereinbar ist.« Viktor lauschte Orchids Worten ernst und aufmerk-sam. Er hatte die Argumente verstanden, aber sich si-cherlich noch nie so intensiv damit auseinandergesetzt. Orchid legte seinen Arm um Viktors Schultern und führte ihn innerhalb der Ruine durch einen gemauerten Torbogen in den nächsten Raum. Kaum hatten sie den Fuß über die Schwelle gesetzt, breitete sich vor ihnen ein

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riesiger Platz aus, auf dem Hunderttausende von Men-schen im staubigen Sand dicht gedrängt in Richtung ei-nes für die Region üblichen Gotteshauses pilgerten. Orchid und Viktor standen ganz oben auf einer stei-nernen Treppe, die in einer endlos erscheinenden Anzahl von Stufen hinunter auf den Platz führte. »Sieh´ all diese Menschen! Sie pilgern gemeinsam in Richtung eines Gotteshauses. Sie tun es, um ihrem Gott Ehre zu erweisen. Sie tun es, um zu ihm zu beten, ihn zu bitten – um Vergebung der Sünden, für ein besseres Leben, für die Gesundheit, für weniger Leid. Sie glau-ben daran, dass Gott sie irgendwann erhören wird und ihnen den Weg weist. Sie glauben, doch die Wenigsten handeln. Handeln bedeutet: dem Glauben die Tat folgen zu lassen.« Viktor hing gespannt an Orchids Lippen. »Das reine Glauben verändert die Dinge nicht. Es mag einen beruhigen, aber es verändert eben nichts. Du musst das Risiko des Verlierens eingehen, wenn du gewinnen willst. Du musst den Weg gehen und an dich glauben, nur dann wirst du herausfinden, ob der Weg der richtige ist. Doch, Viktor, noch einmal zurück zur Frage: Wer ist Gott? Was ist Gott? Ist er oder sie allmächtig, allwissend und allgütig?« Orchid schwieg für einen kurzen Moment. Viktor stammelte ein unsicheres: »Ich habe keine Ahnung. Nach all dem, was ich mit dir bisher erlebt habe, noch viel weniger. Für mich, aus meiner kleinen Ameisen- oder Schafsperspektive, hätte ich auch dir geglaubt, dass du Gott bist.«

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Orchid lachte schallend. »Ich weiß, Viktor, und jetzt ist es einfach die Frage der Definition. Ist alles, was man aus seinem persönlichen Blickwinkel nicht erklären kann, gleich Gott?« Viktor zuckte mit den Achseln. »Ich will dir meine Sicht der Dinge sagen: Nach mei-nen Erfahrungen definiere ich Gott als die Summe allen Seins. Die Summe aller Teile des Universums und die zwischen ihnen herrschenden, energetischen Zustände sind für mich Gott.« Viktors Pupillen weiteten sich sichtlich. Sein Gehirn ratterte. Fast mochte man sich einbilden, es ratterte so sehr, dass man es hören konnte. »All die menschlichen Schafe, die Wölfe und auch die Verborgenen sind ein Teil vom Ganzen, ein Teil von Gott.« Viktor setzte sich wortlos auf die steinerne Treppe und beobachtete die Menschenmenge, die, nicht enden wollend, vor seinen Augen vorbeizog. Orchid nahm neben ihm Platz. »Du meinst, all diese Menschen pilgern Tag für Tag, Jahr für Jahr zu einem Gott, den es nicht gibt?« »Nein, Viktor. Meistens pilgern Sie zu einem Men-schen, der vorgibt, ein Repräsentant Gottes zu sein. Ei-nem Menschen, der im besten Fall ein Leitschaf, aber in vielen Fällen und bei unterschiedlichen religiösen Grup-pierungen sicherlich auch ein Wolf ist. Überlege einmal genau, Viktor, wie viele Menschen im Verlauf des Besteh-ens der Erde gestorben sind, weil sie für ihren Gott, für ihren Glauben gekämpft haben. Sie haben aber nicht für

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Gott gekämpft, sondern indirekt im Grunde für die Ver-borgenen.« »Wer sind sie, Orchid? Wer, zum Teufel, sind die Ver-borgenen?« »Alles zu seiner Zeit, Viktor.« Orchid erhob seine Hand und wies in die Richtung der Pilger. »Von all diesen Menschen da unten, von all den Hun-derttausenden hat keiner je hinterfragt, warum er seinem religiösen Führer, seinem Gott folgt. Genauso wenig, wie du es je hinterfragt hast. Es wurde dir überliefert. Über viele tausend Jahre. Du hast es als Gesetz angenommen.Manchmal hast du wahrscheinlich für irgendetwas ge-betet und dann hast du dich möglicherweise bei Gott beschwert, dass er dir deinen Wunsch nicht erfüllt hat. Oder du hast dich bei Gott bedankt, weil irgendetwas positiv für dich gelaufen ist. Doch angenommen: Gott ist das, was er für mich ist und was ich dir gesagt habe – die Summe allen Seins, dann sind all diese Menschen da un-ten, ohne es zu wissen, ein Teil von Gott. Sie alle sollten sich gegenseitig an der Hand nehmen und sich im Bewusstsein wie ein wichtiger energetischer Bestandteil des Ganzen Großen verhalten. Sie sollten sich mit all den anderen Menschen und Lebewesen auf der Erde verbünden, einen imaginären großen Kreis bilden und sich bewusst sein: Wir alle sind Gott. Nicht die Re-präsentanten eines Gottes, nein, wir alle zusammen sind Gott selbst. Das heißt nicht, dass sie nicht glauben sollen. Im Gegenteil – sie müssen glauben! Glauben an sich, an die Welt und an die Macht Gottes.«

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Viktor sprang auf und hielt sich die Ohren zu. Er zit-terte am ganzen Leib. Eine Träne wütender Verzweiflung lief ihm über die Wange. »Hör auf, Orchid!. Hör auf! Du zerstörst mein Leben, meine Grundwerte, mein Verständnis. Du erzählst, dass mein Gott nicht existent ist. Dann sagst du im gleichen Satz, die Menschen sollten glauben. Glauben an einen Gott, der die Summe allen Seins ist. Was möchtest du denn von mir?« Orchid war unterdessen ebenfalls aufgestanden. »Ich weiß, dass alles ist sehr schwer zu verstehen und noch schwerer zu verdauen. Wenn du aber über diesen Punkt hinweg bist, wirst du anfangen, zu sehen, was auf deiner Erde, deinem Planeten, geschieht. Und wenn ich sagte, du solltest an Gott glauben, so heißt das nichts an-deres, als dass du an die Gemeinschaft glauben sollst. An das Miteinander. Gib etwas in die Gemeinschaft und ent-nimm ihr etwas. Geben und nehmen.« Viktor lehnte seinen Kopf erschöpft an Orchids Schul-ter. Als er wieder aufsah, befanden sich die beiden auf dem Platz vor dem Gotteshaus, auf das die Hunderttau-sende von Pilgern zudrängten. Sie standen neben einem großen Plateau, einer Art Bühne, auf der mehrere religiöse Führer einer bestimm-ten Glaubensrichtung Platz genommen hatten und der Führer über ein Mikrofon zur Menschenmasse sprach. Nein, sprechen war nicht das richtige Wort, vielmehr war es ein wildes Gestikulieren mit vehementem Ge-brüll. Inhaltlich eine dogmatische Hetztirade gegen all diejenigen “Ungläubigen“, die es wagten, an einen an-

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deren Gott zu glauben, als an den von den im Moment anwesenden Kirchenobrigen vorgesehen. Jede Wortsalve des Einpeitschers, die wie ein Hagel von verbalen Bom-bensplittern über der Menschenmasse niederging, skan-dierte der Mob mit lautem zustimmenden Gegröle. Viktor lauschte aufmerksam und tief geschockt den Worten des Religionsführers. Erst jetzt bemerkte er, dass er die Sprache eigentlich nicht beherrschte, aber dennoch jedes Wort verstand. »Schau sie dir genau an, Viktor, die Menschen, die hier zu Hunderttausenden her gekommen sind, um zu beten, um ihren Glauben zu leben. Diese Menschen werden hier konditioniert. Aber sie sind es nicht anders gewöhnt. Sie kennen Religion nur so. Dabei erfahren sie eigentlich wenig über Gott, über die Menschlichkeit, über das Miteinander. Sie bekommen dogmatisch alles hineingepresst, was zwar mit Religion und damit mit Politik zu tun hat, aber es ist vielmehr eine Art religiö-ser Fanatismus, der den bedingungslosen Kampf für die entsprechende Glaubensgemeinschaft einfordert und den Dialog, das gedankliche Auseinandersetzen mit der Grundethik ihrer Religion nicht fördert.« Orchid zeigte in Richtung der johlenden Menschen-menge. »Die meisten dieser Menschen sind arm. Darüber hinaus hatten sie nie die Chance auf eine gute Bildung. Sie stehen jeden Morgen auf und gehen zu ihrer schlecht bezahlten Arbeit. Ihre Frauen kümmern sich solange zu Hause um die Kinder. Abends kommen sie müde nach Hause, essen und legen sich wieder schlafen. Nach dem

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Aufstehen, vor dem Zubettgehen und mehrmals wäh-rend des Tages sprechen sie in diesem Kulturkreis ein Gebet. Sie beten zu Ihrem Gott, wiederholen oft nur stumpfe Formeln aus dem Hauptwerk ihrer religiösen Literatur. Aufgrund ihrer schlechten Bildung und der be-klemmenden wirtschaftlichen Situation hinterfragen sie ihr Tun niemals. Das sollen sie auch nicht. Der Mensch ist doch viel leichter zu lenken, wenn man ihm wenig Geld – und damit verbunden – wenig Chancen gibt. Bil-dung kostet im Übrigen auch viel Geld. Und es wäre ja im Sinne der Anführer völlig abstrus, in etwas zu inves-tieren, was ihnen am Ende des Tages möglicherweise die Führungsposition kostet, nur weil das Volk plötzlich an-fängt, eigenständig zu denken.« Orchid schnippte mit dem Fingern. Aus heiterem Himmel tat sich eine Tür vor Viktor und Orchid auf. »Komm, Viktor. Jetzt zeige ich dir noch die andere Seite der Medaille.«

Orchid schritt durch die Tür. Viktor folgte ihm.

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Die beiden fanden sich in einem riesigen, blühenden Park wieder. Alles war ruhig und friedlich, nur das Zwit-schern der Vögel untermalte akustisch die Wohligkeit des Moments. Ein weißer Kiesweg führte auf ein monu-mentales Schloss zu. Viktor schaute sich sichtlich beeindruckt um. »Welch wunderschöner Platz!« »Dies ist der Wohnsitz des religiösen Oberhauptes, das du gerade zu seinem Volk sprechen sahst.« In einiger Entfernung saß eine junge, wunderschöne Frau im Gras. Sie hatte eine Staffelei vor sich und malte. »Dort drüben das hübsche junge Mädchen ist eine sei-ner drei Töchter. Sie hat gerade das Internat beendet und wird demnächst ihr Studium an einer der besten Univer-sitäten beginnen. Sie ist das Nesthäkchen und der ganze Stolz ihres Vaters.« »Ich weiß, was du mir sagen willst, Orchid. Das Le-ben, das der Führer an seine Religionsgemeinschaft pre-digt, hat mit seinem eigenen wenig zu tun. Die Sorgen und Nöte seiner Gefolgsleute sind für ihn nicht existent. Er und seine Familie haben die Ausbildung und das Geld, Dinge anders zu betrachten. Sie müssen sie anders sehen. Aus dem Blickwinkel der Vermögenden sieht das Leben natürlich völlig anders aus.« Orchid schmunzelte. »Woher weißt du das, Viktor? Wie sieht denn das Le-

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ben aus der Sicht der Vermögenden aus?« Viktor überlegte einen kurzen Moment. »Ich kann natürlich nicht aus eigener Erfahrung dar-über sprechen, weil ich selbst nicht vermögend bin und auch nicht einer wohlhabenden Familie entstamme. Dennoch denke ich, dass man es sich vorstellen kann oder wie in meinem Fall, ich es mir oft vorgestellt habe. Ich habe mir vielfach ausgemalt, wie es denn wäre, wenn meine Familie und ich keine finanziellen Probleme hät-ten, sondern vielmehr in finanzieller Freiheit leben könn-ten. Freiheit, immer das tun zu können, was einem in dem jeweiligen Moment sinnvoll erscheint und nicht das tun zu müssen, was von einem verlangt wird, um damit seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können.« »Das waren jetzt ganz schön viele verschiedene Din-ge, die du gerade angesprochen hast. Aber im Wesentli-chen hast du darüber geredet, dass du es dir vorstellen kannst, dass man, sollte man materiell vermögend sein, einen völlig anderen Blickwinkel entwickelt. Du sagtest, dass du es dir vorstellen kannst. Du sprichst über eine Projektion – eine Projektion deines ei-genen Ichs in eine andere Welt. Ich habe dir auf unserer Reise nun schon die eine oder andere Situation gezeigt. Du warst mitten drin, ein Teil von ihr. Es spielte sich vor deinen Augen ab, nicht in deinen Vorstellungen. Hast du diesbezüglich einen Unterschied empfunden oder hast du es dir so vorgestellt, wie ich es dir gezeigt habe?« »Ich gebe zu, ich habe mir vieles sicherlich so nie vor-gestellt und es gab für mich auch keinen Grund für sol-che Gedanken.«

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»Oh doch«, unterbrach ihn Orchid. »Ich glaube schon, dass es Gründe gab, aber deine eigene Konditionierung hat es nicht zugelassen, Dinge zu hinterfragen. Dein Le-ben hat dich zugedeckt mit Aufgaben, die du, mangels Lebenszeit, kaum bewältigen kannst. Du musst deine Fa-milie ernähren, aber auch für deine Familie da sein. Um sie zu ernähren, musst du arbeiten gehen. Das verlangt dir die meiste Zeit und die meiste Konzentration ab. Da du weißt, dass zu viele Aufgaben auf dich warten, die du sowieso nicht alle lösen oder in Angriff nehmen kannst, versuchst du dich einfach irgendwie durchzuhangeln. Augen zu und durch. Dazwischen sprichst du hier und da mal, um dein Herz zu erleichtern, ein flehendes Gebet zu Gott, dass er dir beistehen möge. Irgendwann wirst du dann sterben und hast den anderen – den Wölfen und vor allem den Verborgenen – das Führen deines eigenen Lebens überlassen. Dabei sprechen wir hierbei über dich, den Bürger einer Industrienation. Ganz anders, als die fanatischen Gefolgsleute des reli-giösen Führers, in dessen Schlosspark wir uns gerade be-finden, hast du eine gute Ausbildung genossen. Im Ver-gleich zu den Pilgern, die du gerade gesehen hast, bist du ein reicher Mann. Das stimmt aber eben so auch nicht. Eigentlich geht es dir nicht wesentlich anders. Man sagt dir nur jeden Tag, es ginge dir besser und verweist auf das Elend in der Welt. So wirst du konditioniert.« Viktors Blick wurde zunehmend immer unsicherer. »lass uns ein paar Schritte bis zum Schloss gehen!« Viktor und Orchid schlenderten auf das beeindru-ckende, barocke Gebäude zu.

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»Religion wurde im Laufe der Erdgeschichte oft miss-braucht, um Menschen gefügig zu machen. Man redete ihnen ein, dass, wenn sie das eine nicht machten oder das andere etwa taten, sie sich versündigten. Eine belieb-te Drohung war und ist, im Sündenfalle nach dem Tod nicht mehr in den Himmel aufgenommen zu werden. In bestimmten Kulturkreisen werden Selbstmordattentäter mit dem Versprechen angeworben, sie würden für ihre Tat mit dem Einzug ins Paradies belohnt. Dort würden sie dann von ihrem Gott mit vierzig Jungfrauen ver-mählt. Diese jungen Fanatiker, die dann sich und andere unschuldige Menschen aus einem anderen Glaubens-kreis in die Luft sprengen, diese jungen Menschen kön-nen eigentlich nichts dafür. Sie sind wie ferngesteuert; menschliche Roboter, die von ihren Führern perfide zu politischen Machtzwecken missbraucht werden. Führer, die dreist genug sind, ihre Agitation mit dem Wort Got-tes zu untermauern.« »Ja, Orchid, du hast Recht. Das ist unerträglich. Aber wie kann ich aus der Ferne, als kleines Individuum, et-was an dieser Situation verändern?« »Es ist nicht in der Ferne, Viktor. Es ist in deiner Welt genau gleich. Lass mich versuchen, es wie folgt zu erklä-ren: Die Erde existiert mittlerweile seit zirka viereinhalb Milliarden Jahren, der Mensch einige Millionen Jahre. Dein religiöses Buch der Bücher, mit dem du aufgewach-sen bist, existiert aber erst seit zirka dreitausend Jahren. Es besteht aus zusammengetragenen und überlieferten Geschichten, die mannigfaltig interpretierbar sind. Dar-aus entsprang eine Glaubensrichtung, eine Religion, und

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mit ihr Propheten, teils selbsternannte, die das Wort Got-tes verkündeten. Aber, Viktor, wie ist es möglich, Gottes Wort zu verkünden, ohne Gott zu kennen, ohne zu wis-sen, wer oder was Gott ist? Nein, es waren stets Menschen, die sich selbst auf-schwangen und das angebliche Wort Gottes verkünde-ten. Menschen, die etwas davon hatten, die sich zumin-dest etwas davon versprachen, ihre Meinung und ihr Dogma als Wort Gottes zu verkaufen. Diese Menschen wurden immer mehr und sie formierten sich zu einzel-nen Kirchen. Aber was ist die Definition für Kirche, für Glaubensgemeinschaft? Eine Gesellschaft, straff organisiert wie das Militär. Mit Diensträngen, welche die Machtstufen ausdrücken. Organisations- und Machtstrukturen in einer Vereini-gung, die nichts anderes als das Wort Gottes verbreiten will? Kann Gott so etwas wollen? In deinem Glauben? In irgendeinem Glauben? Kann Gott wollen, dass Men-schen andere Menschen töten und ihn als Quasi-Anstif-ter benennen, es in seinem Namen getan zu haben?« Viktor hatte so sicherlich noch nie über die Kirche nachgedacht. Manchmal hatte er sich geärgert, dass seine Glaubensgemeinschaft in bestimmten Ländern sogar per Zwangsabgabe – in Form von Kirchensteuern – Geld von den Bürgern einforderte. Eine Glaubensgemeinschaft, die als einen ihrer Hauptinhalte das Wort Gottes verbreiten will, zwingt die Bürger zur Zwangsabgabe. Wozu? Ist das Verkünden von Gottes Gesetzen so teuer? Ist es ein Beruf, mit dem man Geld verdienen sollte oder eigent-lich eine Berufung? Und was, wenn Orchid Recht hatte

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und Gott die Summe allen Seins ist? Dann leben wir in einer Projektion, die uns die Sammlung von erfundenen Märchen als Basis unseres Lebens vorgaukelt? »Ja, so ist es, Viktor.« »Aber ich habe doch gar nichts gesagt!« Viktor blickte Orchid fragend an. »Nicht das gesprochene Wort ist relevant. Deine Ge-danken, deine Gefühle sind entscheidend.«

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Sie waren unterdessen am Eingang des großen Palastes angekommen. Orchid durchschritt das Tor, ohne es zu öffnen. Viktor folgte ihm wortlos. Die beiden fanden sich in einem riesigen Saal wieder, der mit Ornamenten und üppigen Wandgemälden übersät war. Die Bildnisse zeig-ten meist kriegerische Motive religiösen Hintergrundes. An einer langen Tafel saßen ungefähr zwanzig Männer, am Kopfende der religiöse Führer in seinem traditionel-len Umhang und einer landestypischen Kopfbedeckung. Neben ihm weitere fünf Vertreter seiner Kirche in ihrer Tracht. Die anderen Männer trugen dunkle Anzüge. »Was du jetzt hier siehst, sind die Vertreter der Glau-bensgemeinschaft, die sich mit den Oberhäuptern mehr-erer Staaten aus der Region regelmäßig zu einer Bespre-chung treffen. Es ist wie die Regiebesprechung in einem Theater oder beim Film. Hier wird die Inszenierung fest-gelegt. Es geht im Wesentlichen eigentlich immer um dasselbe. Wie kann ich die unwissenden Untertanen op-timal für meinen Eigennutzen konditionieren? Wie kann ich sie aufhetzen und ausbeuten? Wie kann ich dann den, in den Köpfen des einfachen Volkes erzeugten Hass, auf die religiös Andersdenkenden mit politischen Macht-spielen garnieren, um sich danach auch noch dafür feiern zu lassen? Viktor, erkennst du hier in diesem Raum, wer von den Anwesenden Schaf, Wolf oder vielleicht sogar ein Verborgener ist?«

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Viktor wandte seinen Blick in Richtung Orchid. Die-ser machte eine wischende Handbewegung. »Sieh´ noch einmal hin. Erkennst du hier in diesem Raum Schafe, Wölfe und Verborgene?« In dem Moment, als Viktor wieder in Richtung des langen Besprechungstisches blickte, zuckte er zusam-men. All die Anwesenden hatten nun keine mensch-lichen Köpfe mehr, sondern Tierschädel. Die meisten waren Schafe. Selbst der religiöse Führer. Zwei seiner Kirchenobrigkeiten hatten dagegen Wolfsschädel. Unter den Anzugsträgern gab es auch drei Wölfe. Viktors Blick wanderte die Reihe der Männer entlang. Plötzlich stockte er. Seine Augen weiteten sich und er fi-xierte einen kleinen, hageren Mann am Ende des Tisches.Der Mann hatte gar keinen Kopf. Auf seinem Hals klaffte ein großes Nichts. Viktor lief ein kalter Schauer den Rü-cken hinunter. »Darf ich vorstellen, Viktor. Dein erster Verborgener, den du wissend zu Gesicht bekommst.« Orchid beendete die Vorstellung durch eine weite-re wischende Handbewegung. Alle Männer waren nun wieder in ihren menschlichen Köpfen zu sehen. Viktor konnte seinen Blick aber nicht mehr von dem kleinen, hageren Mann abwenden. Jetzt, da er sein Ge-sicht wieder sehen konnte, musterte er ihn von oben bis unten. Viktors Gedanken rasten. Er versuchte, sich das Gesicht des Mannes gut einzuprägen. Er wollte ihn, falls er ihn irgendwo anders wieder zu Gesicht bekommen sollte, unbedingt wieder erkennen. »Du brauchst dir sein Gesicht nicht zu merken! Du

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brauchst den Menschen da drüben persönlich nicht zu fürchten. Er wird dir nichts tun. Er ist ein hochgebildeter Mann. Er ist freundlich, charmant, und wenn du ihn aus irgendeinem Grund kennen lernen solltest, wirst du ihn mögen. Du wirst ihn respektieren.« «Gut, Orchid, aber was willst du mir damit sagen?« »Hast du dir den religiösen Führer denn genau ange-sehen?« »Ja, Orchid, er war ein Schaf, also ein guter Mensch.« »Nein, Viktor, ich habe nicht gesagt, dass alle Schafe gute Menschen sind. Er ist so gesehen rechtschaffen, weil er nicht verbrecherisch agiert und sich wie ein Wolf mit Gewalt Vorteile verschafft. Durch seine Fehleinschätzung und sein Verhalten ist er aber mitschuldig daran, dass der wunderschöne Planet Erde einen so katastrophalen Weg eingeschlagen hat und auf einer schnell derhenden Abwärtsspirale der Selbstvernichtung rotiert. Unser religiöser Führer ist ein hochrangiges Leitschaf, was er aber nie geworden wäre, wenn die Verborgenen es nicht so gewollt, oder besser gesagt, unterstützt hät-ten. Die Wölfe an seiner Seite sind durch unlauteres und unmoralisches Vorgehen zu ihren Positionen gekommen. Die Verborgenen lassen das gewähren, solange es ihnen von Nutzen ist. Der Führer selbst weiß nichts von Scha-fen, Wölfen und Verborgenen. Er hält sich für etwas Be-sonderes, weil er in seine Position hineingeboren wurde. Schon seit acht Generationen stellt seine Familie das reli-giöse Oberhaupt dieser Kirche, aber nur, weil es die Ver-borgenen so wollen und damit einverstanden sind. Er ist sich darüber auch nicht wirklich im Klaren, dass er sei-

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nen Anhängern durch seine Art, sie zu führen, schadet. Er kennt nur sein privilegiertes Leben und für ihn gelten natürlich die Regeln, die er seinem Gefolge zumutet, in keinster Weise. All das, weil er sich für auserwählt hält, was er im Grunde natürlich ist. Aber nicht auserwählt von Gott, sondern von den Verborgenen. Sie wissen üb-rigens genau wer Schaf und wer Wolf ist.« Viktor schaute Orchid ernst an. »Du, Orchid, weißt es aber auch. Also musst du auch ein Verborgener sein.« »Nein, Viktor, wie ich dir schon sagte, Ich kann es dir nicht verübeln, dass du manchmal diesen Gedanken hegst, aber ich bin ganz sicher kein Verborgener. Ich bin aber auch kein Bürger der Erde.« Viktor schluckte sichtlich. Das eben Gehörte trug nicht unbedingt zu seiner Beruhigung bei. »Was heißt: Nicht von dieser Erde? Woher kommst du, und wie kannst du so genau über uns Menschen Be-scheid wissen?« »Sei versichert, Viktor, ich werde dir am Ende unserer Reise alle deine Fragen beantworten. Vertraue mir.« Im Hintergrund erhob sich einer der Staatschefs vom großen Tisch und verschwand mit dem einzigen anwe-senden Verborgenen in einem Nebenzimmer. »Komm mit Viktor, wir folgen ihnen.« In einem angrenzenden großen Saal aus Gold und Mar-mor setzten sich die beiden auf zwei prachtvoll verzierte antike Stühle, die in einer Ecke des Raumes am Fenster standen. Sie zündeten sich beide eine Zigarre an.

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Viktor und Orchid standen genau hinter ihnen. Der Staatschef kam direkt auf den Punkt. Er erbat von dem Verborgenen ein Darlehen in Höhe von mehreren Mil-liarden Dollar für den Ausbau von militärischen Ver-teidigungssystemen für sein Land. Als Sicherheit bot er einen Anteil am größten staatlichen Energieversorger seiner Heimat an. Der Verborgene nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarre, stand auf und ging zu einem kleinen Tischchen, auf dem einige Flaschen erlesensten Cognacs bereit standen. Er schenkte sich ein Glas eines besonders guten Tropfens ein, wandte sich wieder sei-nem Gesprächspartner zu und merkte grinsend an, dass er durchaus Verständnis dafür habe, wenn sich ein Land besser gegen die Provokationen des Nachbarstaates ver-wahren möchte. Der Verborgene schenkte noch ein zweites Glas Co-gnac ein und reichte es dem Staatschef. Dabei erklärte er, er werde das Angebot mit seinen Leuten prüfen und ihm innerhalb einer Woche mitteilen, ob das Darlehen gewährt werden könnte und zu welchen Bedingungen. Er gehe jedoch davon aus, dass man sich einig werden würde. Der Verborgene grinste diabolisch. Das Klingen der Cognacschwenker besiegelte den Handel. »Was sagst du nun, Viktor?« Orchid wandte sich ihm zu, während der Verborgene und der Staatschef sich im Hintergrund die Hand schüt-telten und danach den Raum verließen. »Der Staatschef bat um einen Kredit für sein Land. Als Sicherheit bot er einen Anteil an einem seiner Staats-betriebe, am größten Energieversorger seines Landes.«

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»Also war dieses Gespräch für dich eigentlich nichts Außergewöhnliches, Viktor?« Viktor überlegte kurz und schüttelte dann verneinend den Kopf. »Nicht wirklich außergewöhnlich. Nun gut, ich habe mit solchen Verhandlungen nichts zu tun. Kredite in Mil-liardenhöhe sind wirklich nicht mein täglich Brot, aber vom Grundsatz einer geschäftlichen Anbahnung konnte ich nichts erkennen, was signifikant anders war, als wenn ich einen Kredit für mein Haus aufnehmen möchte.« Orchid runzelte die Stirn und grinste. »Nicht ganz, Viktor; aber im Grunde liegst du wirk-lich nicht so falsch, ohne dass du die Tragweite deiner Aussage gerade übersehen kannst. Wenn du dir Geld bei einer Bank leihen willst, musst du Sicherheiten vorwei-sen können, sonst bekommst du von keiner Bank auch nur einen Cent. Sicherheiten sind entweder Besitztümer, die du verpfändest oder aber eine Bürgschaft eines an-deren Menschen, wie zum Beispiel eines Familienmit-gliedes oder eines Freundes. Das bedeutet, wann immer du nicht mehr in der Lage sein solltest, die Raten für dein geliehenes Geld zurückzubezahlen, wird dein, als Sicherheit hinterlassener Vermögenswert, von der Bank einkassiert oder aber der Bürge zur Kasse gebeten.« »Ja, ganz normal«, warf Viktor ein. »Orchid, ich weiß nicht genau, was du mir sagen willst.« »Viktor, du überrascht mich ein wenig. Ich weiß über dich, dass du selbst ein Haus gebaut hast, für das du je-den Monat deine Raten an die Bank zahlst. Ich weiß auch, dass, obwohl du niemals auch nur eine Rate schuldig ge-

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blieben bist, dein Bankberater dir den Überziehungsrah-men auf deinem Girokonto schon zweimal gekürzt hat. Und ich betone, Viktor: Einfach so, ohne besonderen Grund. Neue Bankrichtlinien sagte dein Ansprechpart-ner nur lapidar. Nicht war? Du hast immer alles erfüllt und bezahlt, was man von dir verlangte. Ich weiß auch, dass du oft nachts wach liegst und dein Herz vor Sorge pocht, dass eine unerwar-tete Investition auf dich zukommt oder dass du sogar deinen Job verlieren könntest. Beides Situationen, die dazu führen würden, dass du deine Raten bei der Bank nicht mehr bezahlen könntest, dein Haus verlieren wür-dest und mit deiner geliebten Familie mehr oder weniger auf der Straße stündest.« Orchids Worte quälten Viktor sichtlich. »Ja, Orchid, ich weiß, aber was hat das mit der Situa-tion hier zu tun?« »Das will ich dir sagen. Hier steht der Präsident eines Staates vor einem anderen Mann, den ich als Verborge-nen bezeichnet habe, und bittet um ein Darlehen für sein Land. Die Tatsache, dass Staaten Kredite aufnehmen, ist hinlänglich bekannt. Eine andere Tatsache, dass ei-nige Staaten hoffnungslos überschuldet sind, auch. Was meinst du Viktor, wo nehmen Staaten ihre Kredite auf?« Viktor überlegte. »Bei anderen Staaten«, antwortete er spontan. »Und die anderen Staaten? Was glaubst du, woher lei-hen die sich dann ihr Geld?« »Ich habe wirklich keine Ahnung Orchid.« Viktor merkte in dieser Sekunde, dass er sich über

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diese Dinge noch nie Gedanken gemacht hatte und in seinem Unwissen zu stammeln begann. »Der Verborgene, von dem ich spreche, ist ein Unter-nehmer, der auch an Banken beteiligt ist. Ihn verbindet weder der Kulturkreis – noch der Glaube oder die religi-öse Zugehörigkeit mit dem Staatschef. Nein, nichts von alledem. Er, und seine Unternehmensgruppe verdienen sehr viel Geld mit dem Verleihen von Geld. Sie verleihen auch Geld an Staaten, wie jedes mächtige Geldinstitut. Der große Unterschied ist, dass, wenn du, Viktor, einen Kredit bei der Bank aufnimmst, dein eigenes Vermögen verpfändest oder einen Verwandten und Freund zum Bürgen bestimmst. Ganz anders sieht die Sache aus, wenn du Repräsen-tant eines souveränen Staates bist. Dieser Staatschef ge-rade eben hat als Pfand für das Darlehen einen Teil der eigenen Energieversorgung seines Landes angeboten. Er hat offiziell sein Volk vertreten und die Besitztümer seines Volkes leichtfertig als Sicherheiten hinterlegt. Die-ser Mann ist ein gewählter Vertreter. Dieser Mann, dem Millionen von Bürgern vertrauen, hat sie alle schänd-lichst hintergangen. Er verpfändet Anteile der wenigen Besitztümer seines Staates, um davon Waffen zu kaufen, die er gegen das Nachbarland richten will. Er will ganz gezielt einen Krieg anzetteln. Dieser Mann strebt nach Macht. Er ist besessen davon. Und weißt du was, Viktor? Seinem Land wird dieser Kredit gewährt werden. Unser Staatschef und seine Familie werden sich daran zusätz-lich auch noch persönlich bereichern. Über Schein- und Tarnfirmen versandet ein Teil des Geldes sofort auf aus-

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ländischen Konten, zu denen nur der Mann selbst, bezie-hungsweise seine Familie Zugriff haben. Darüber hinaus erhält er noch Provisionen der Waffenhändler. Die Waf-fenhersteller wiederum gehören zu großen Teilen den Verborgenen. Fazit des Handels: Der Staatschef ist ein Wolf, der sein Volk hintergeht und der gerade gesehene Verborgene verdient viermal.« Viktor runzelte fragend die Stirn. »Viermal?« »Ja. Zunächst an den Zinsen für das Darlehen. Sollte die Rückzahlung ins Stocken geraten, gehört ihm ein Teil des größten staatlichen Energieversorgers und damit verdient er langfristig noch viel mehr. Zweitens verdient er an den Waffengeschäften, weil er auch dort sein Geld platziert hat. Drittens wird der angegriffene Nachbar-staat seine Waffendepots unweigerlich auch auffüllen müssen. Das bedeutet, sie müssen zunächst auch einen hohen Kredit aufnehmen, um dann schließlich auch noch die entsprechenden Waffen zu erwerben. Egal, was passiert, das Geld läuft immer in dieselbe Richtung. Die Menschen werden dabei möglichst klein und unwissend gehalten. Wenn nötig, unter Zuhilfenahme religiöser Einpeitscher. Das Volk soll nicht verstehen, was passiert. Es soll schuften, davon Steuern zahlen und leicht lenkbar sein.« Viktor reflektierte über Orchids Worte. »Ich weiß, das war jetzt ziemlich viel auf einmal, aber es gibt noch so viel mehr, was ich dir zeigen muss. Komm, Viktor, wir müssen weiter.« Orchid rieb mit seinem Schuh am Marmorfußboden.

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Der Boden tat sich auf und eine steile, nach unten führen-de, Rutsche wurde sichtbar. Orchid zeigte Viktor an, sich auf der Rutsche nach unten gleiten zu lassen. Dieser zögerte ein wenig – ver-schwand aber schon einen Augenblick später, dicht ge-folgt von Orchid, in der Bodenöffnung. Die Rutsche entpuppte sich nach wenigen Sekunden als endlos wir-kender – in verschiedenen Farben leuchtender Tunnel, der sich spiralförmig nach unten bewegte.

In dem Tunnel schwebten Viktor und Orchid, in sich schnell rotierend, abwärts, um einen kurzen Moment später in einer dunklen Höhle anzukommen.

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Viktor konnte die Hand vor seinen Augen nicht erken-nen. Unsicher tastete er nach Orchid. Dieser hatte aber seinerseits bereits die Hand nach ihm ausgestreckt und seinen Arm festgehalten. »Hier entlang, Viktor!« »Wo sind wir?«

Plötzlich waren in einiger Entfernung brummende, mo-notone Geräusche zu vernehmen. Eine Art Bohren und Hämmern. Die ganze Erde vibrierte. Orchid führte Viktor durch eine Höhle. Plötzlich ent-deckte er am Ende des Tunnels einen Lichtpunkt. Je näher die beiden der Stelle kamen, desto klarer konnte Viktor Umrisse seiner Umgebung erkennen. Sie waren in einem unterirdischen Stollen, einem Kohlebergwerk, gelandet. Es war heiß, und die Luft war schlecht. Wenige Augen-blicke später standen sie neben einer Gruppe von Berg-arbeitern, die unter großer, körperlicher Anstrengung nach Kohle gruben. Sie sprachen eine für Viktor nicht verständliche Sprache und entstammten auch optisch einem anderen Kulturkreis. Alle waren sehr zierlich und durch das dunkle Licht und den Ruß in ihren Gesichtern konnte man die Menschen kaum erkennen, geschweige denn, unterscheiden. Viktor besah sich die Situation für einen Augenblick, wandte sich dann fragend an Orchid:

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»Das ist ein Kohlebergwerk und diese Menschen ar-beiten hier. Ich erkenne noch kein Problem.« Orchid zeigte auf einen der Arbeiter. »Dieser Junge ist gerade einmal dreizehn.« Viktor sah etwas genauer hin, versuchte im fahlen Licht etwas mehr zu erkennen. Der Junge, der monoton mit einer Hacke Stein aus der Wand klopfte, unterbrach für einen Moment seine Arbeit und blickte in Viktor und Orchids Richtung. Er atmete schwer und rang, durch die Anstrengung gezeichnet, nach Luft. Mit seinem Ärmel fuhr er sich über das von Schweiß glänzende Gesicht und wischte so den Ruß für einen kurzen Moment zur Seite. Der Lichtschein offenbarte für Sekunden seine fei-nen Gesichtszüge und seine traurigen, mandelförmigen Augen. Viktor spürte seinen Magen in Brusthöhe. Er erkannte jetzt, dass all die Kollegen des Jungen ungefähr in dessen Alter waren und sehr, sehr hart schufteten. »Kinder sind die zartesten Wesen. Sie gilt es zu schüt-zen und zu behüten.« Orchids Gesichtsausdruck war mahnend. »Sie sind die Zukunft der Menschheit und keinesfalls billige Arbeitskräfte. Es ist eine Barbarei, Kinder zur Ar-beit zu schicken – zwölf bis fünfzehn Stunden pro Tag! Das alleine ist schon nicht zu tolerieren, aber wenn du diese Bedingungen hier siehst und wüsstest, dass jedes dieser Kinder im Monat weit weniger dafür bekommt, als du, Viktor, in ein paar Stunden verdienst, dann...« Ein dumpfes, lautes Grollen unterbrach Orchids Wor-te. Die Kinder ließen erschrocken ihr Arbeitsgerät fallen.

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In der nächsten Sekunde schoss eine Staubwolke unbe-schreiblichen Ausmaßes den Tunnel hinunter. Die Kinder rannten wild schreiend vor der ihnen im Nacken schnell näher kommenden Wolke davon, um schließlich einen Wimpernschlag später von derselben eingeholt zu wer-den. Verzweifelt – und in Todesangst – rissen sie sich ihre dünnen Leibchen vom Körper und hielten sie sich zum Schutze vor das Gesicht. Sie husteten und röchelten noch ein paar Minuten, dann sank einer nach dem anderen zu Boden. Viktor war außer sich – fassungslos. »Orchid, wir müssen etwas tun. Die Kinder werden sterben. Wir müssen Hilfe holen.« Orchid schüttelte mit glasigen Augen den Kopf. »Wir können nichts tun, Viktor. Die Körper dieser kleinen, traurigen Seelen sind gerade verschüttet wor-den und man wird sie nie bergen können. Komm mit!« Die Felswand öffnete sich einen Spalt. Orchid schob den völlig versteinerten Viktor vor sich in die Wand, folgte ihm unmittelbar dahinter. Einen Augenblick spä-ter fuhren sie – wie in einem gläsernen, unterirdischen Fahrstuhl – in hoher Geschwindigkeit nach oben. Kurz darauf fanden sie sich im Hof des Bergwerks wieder. Dort sah man ein paar weinende, verzweifelte Frauen und Männer in Uniformen, die den Frauen erklärten, dass ihre Söhne gute und fleißige Menschen waren. »Eigentlich interessiert es niemanden auf der Welt, dass diese Kinder gerade verschüttet und getötet worden sind, außer ihre Mütter, die ein paar Tage um sie trauern werden. Das war es dann. In dieser Region der Welt hier

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zählt – wie übrigens in sehr vielen anderen Gegenden dieses Planeten auch – ein Menschenleben nicht wirklich viel. Eine billige Arbeitskraft wird schnell durch eine an-dere ersetzt. Ein Kind durch das nächste. Es stehen im-mer schon mehrere wartend bereit, um ein paar Minuten später mit der nächsten Schicht in die Grube einzufahren. Bergwerkskatastrophen, wie die gerade Geschehenen, werden in diesem Landstrich nicht weiter erwähnt. Die Menschen irgendwo anders auf der Welt erfahren davon nur ganz selten, obwohl es dauernd geschieht. Es passiert, weil die Sicherheitsvorkehrungen un-glaublich schlecht sind. Das Schlimmste daran ist, dass keiner der Verantwortlichen ein Interesse hat, in die Si-cherheit der Mitarbeiter zu investieren. Sie beschäftigen aus ihrer Sicht wertarmes, menschliches Kapital, und wenn es im wahrsten Sinne des Wortes kaputt geht, wird es weggeworfen und durch ein anderes Geschöpf er-setzt.« Viktor stimmte Orchid wortlos zu. »Und einmal mehr, Viktor, geht es um Geld. Um Ka-pital, das von bestimmten Menschen investiert wird, um damit einen Gewinn zu erlösen. Viktor, überlege einmal: Wenn du in deiner Heimat die Zeitung liest, wirst du im Wirtschaftsteil auch über den Begriff „Humankapital“ gestolpert sein!« Orchid schnippte mit den Fingern und hielt im selben Moment ein Buch in der Hand. Er schlug es auf. »Sieh her, Viktor. In diesem renommierten Lehrbuch, das für Studenten der Wirtschaft benutzt wird, steht un-ter dem Begriff „Humankapital“ folgende Definition:

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Humankapital wird in der gängigen Volkswirtschafts-lehre definiert als: die Fähigkeiten und Fertigkeiten so-wie das Wissen, das in Personen verkörpert ist und das durch Erziehung, Ausbildung, Weiterbildung und Erfah-rung erworben werden kann und über das Niveau der obligatorischen Schulpflicht hinausgeht, um ökonomisch verwertbare Tätigkeiten auszuüben und damit Einkom-men zu erzielen.« Viktor grübelte einen kurzen Moment über das Ge-hörte nach. »Viktor, das heißt nichts anderes, als dass der Mensch es nicht nur zugelassen hat, dass man ihn als Kapital, als Sache sieht, sondern sich selbst auch schon als solche be-zeichnet, in Lehrbüchern und in Definitionen selbst so beschreibt. Was denkst du darüber?« »Das ist krank, Orchid. Das ist sogar sehr krank. Man hat den Menschen auf diesem Planeten nach und nach die Würde des Menschseins gestohlen, ohne dass der Mensch es gemerkt hat. Ich auch nicht. Uns wird im Grunde suggeriert, dass Worte, wie Humankapital, un-ser Sein eigentlich aufwertend beschreiben, weil es ein wohl gewähltes, geschliffenes und für den normalen Menschen gebildet wirkendes Wort ist. Dass es aber ei-gentlich die schlimmste Verhöhnung für den Menschen selbst bedeutet, nämlich das Aufwiegen des Seins in Geld, ist sehr bedenklich.« Viktor sah Orchid mit festem und entschlossenem Blick an. »Du hast verdammt Recht, Orchid. Hier, auf diesem Planeten, läuft einiges mächtig schief.«

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»Ja, Viktor. Komm, lass‘ uns noch für einen Moment in diesem Kulturkreis bleiben. Ich zeige dir noch ein paar andere Dinge, die erschütternd sind. Am besten, wir seh-en uns die Welt einmal wieder kurz von oben an.«

Orchid stapfte auf eine hölzerne Bank zu und deutete Viktor an, ihm zu folgen. Die beiden setzten sich. Nur einen kurzen Moment später begann sich die Bank in die Lüfte zu erheben und über das Bergwerk hinweg von dannen zu schweben.

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Das Wetter war sonnig. Keine Wolke am Himmel. Viktor bewunderte die Schönheit der unter ihnen vorbeiziehen-den Natur. Er beobachtete, wie auf dem sehr weitläufi-gen Ackerland Menschen, in vermeintlichem Frieden mit sich und der Welt, mit der Ernte beschäftigt waren. »Dort, Orchid! Die Menschen wirken zufrieden und irgendwie glücklich.« »Ja, Viktor. Obwohl dieses Bild trügt, hast du nicht Unrecht, doch die Menschen da unten empfinden das nicht ganz so. Sie sind bettelarm. Von der geringen Ern-te ihrer nicht wirklich ergiebigen Felder können sie ihre Familien kaum ernähren. Sie haben kein Geld, leben von den Gütern, die sie anbauen. Ab und an können sie mit anderen etwas tauschen. Einige junge Menschen wollten sich diesem Schicksal nicht länger ergeben. Sie brachen aus dem Kreislauf aus und machten sich auf den Weg in die Stadt oder sogar ins Ausland, um dort ihr Heil zu suchen. Doch das einzige, was die meisten fanden, war nicht Glück, sondern Geld; im Vergleich zu ihrer Herkunft, unglaublich viel Geld. In den Ländern oder Städten, in denen sie jetzt leben, mag das oft noch un-terdurchschnittlich sein. Hier – in ihrer Heimat – ist es definitiv ein Vermögen. Sie schicken dann monatlich den Großteil ihres Loh-nes nach Hause zu ihren Familien, um diesen ein etwas besseres Leben zu ermöglichen. Durch diese Geldsprit-

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zen von außen erhöht sich nach und nach auch der fi-nanzielle Wohlstand in diesem Land. Aber zu welchem Preis? Sie selbst, die es dann im Ausland zu einem ver-meintlich besseren Leben gebracht haben, arbeiten wei-terhin Tag und Nacht, um noch mehr Geld zu verdienen. Sie machen keine Pause, keinen Urlaub, weil sie so nicht erzogen sind. Sie sind besessen von dem Gedanken, Geld zu verdienen. Ihre Lebensqualität ist ihnen dabei nicht wichtig. Sie denken, sie seien glücklich, wenn sie sich nur bestimmte Dinge leisten können. Man möchte es fast die Verlockung des Unnützen nennen. Nach und nach holen sie dann andere Bürger ihres Heimatlandes ins gelobte Ausland und stellen sie in ih-ren eigenen kleinen Betrieben an. Auch diese sind am Anfang glücklich, in der gelobten Fremde gut verdienen zu können. Die Kehrseite der Medaille: Die ehemaligen Sklaven werden zu vortrefflichen Sklaventreibern, weil die Löhne, die sie ihren Mitbürgern zahlen, und die Wohnmöglichkeiten, die sie ihnen in der Regel anbieten – gemessen an den Standards einer modernen Industrie-nation – einmal mehr unmenschlich sind. Um sich selbst in der neuen, meist westlichen Gesellschaft, gleichwertig etablieren zu können und einen angesehen Status auf-zubauen, gehen sie oft denselben Weg wie viele Schafe westlicher Industrienationen. Einfach gesagt, kaufen sie Dinge, die sie nicht brauchen, mit Geld, das sie nicht ha-ben, um Menschen zu imponieren, die sie nicht mögen.« Ruhig und friedlich glitten sie auf einen Berg zu. Kaum hatten sie den Gipfel passiert, verdunkelte sich der blaue Himmel. Ein dichter, brauner Schleier hing wie

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eine Glocke zwischen dem Himmel und der vor ihnen liegenden Landschaft. Im weitläufigen, sich vor ihnen ausbreitenden Gelände, näherten sie sich einer riesigen Wirtschaftsmetropole, einer der größten Städte dieser Erde. In unmittelbarer Nähe erkannte Viktor zu ihren Füssen ein riesiges Firmenareal. Es wirkte wie eine ei-gene kleine Stadt am Rande der Metropole, aber es war nur ein einziges Unternehmen. Aus sechs Großkaminen dampften dicke, schwarze Wolken gegen den Himmel. So war dieser nicht mehr blau, sondern braun, obwohl keine Regen- oder Gewitterwolke dafür verantwortlich zu machen war. »Das ist ein anderer Auswuchs der so zivilisierten Ge-sellschaft, Viktor. Ihr zerstört mutwillig den lebenswer-testen Planeten weit und breit, indem ihr ihn vorsätzlich verschmutzt und dadurch nach und nach das biologi-sche Gleichgewicht völlig ruiniert. Der Klimawandel ist immens. Die Polkappen schmel-zen, wodurch der Meeresspiegel um mehrere Meter an-steigen wird. Der warme Golfstrom droht dann zu ver-siegen, was deutlich kältere Temperaturen in manchen Teilen der Erde zur Folge hätte. Der Menschheit winkt in unferner Zukunft eine Katastrophe nicht begreifbaren Ausmaßes.« Viktor blickte sehr sorgenvoll auf die dampfenden Kamine. »In meinem Land werden wir angehalten, Energie zu sparen, Autos mit weniger Kohlendioxidausstoß zu fah-ren und Russfilter in die Fahrzeuge einzubauen. Doch was nützt das alles, wenn es Länder gibt, wie dieses hier,

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die sich einfach nicht daran halten?« »Richtig, Viktor. Es gibt aber mehrere Staaten, die sich ganz und gar nicht an Absprachen halten; sie wollen sich keineswegs der Meinung der Weltgemeinschaft beugen. Es sind – wie immer – die größten, die mächtigsten, die einflussreichsten Länder, die den Klimaschutz vollstän-dig ignorieren. Du kannst dir sicherlich denken, Viktor, warum das so ist. Weil es doch – wie immer – nur um Geld geht. Es geht immer um Kapital, Rendite und die Vermehrung derselben. Es geht darum, dass der Geld-strom immer in dieselbe Richtung fließt. In Richtung der Verborgenen.« Viktors Blick blieb an den mächtigen Kaminen hän-gen, die immer und immer weiter schmutzige Gase in die Atmosphäre pumpten. Dennoch hatte er Orchids Worte wohl vernommen. »Aber Orchid, eine Sache verstehe ich nicht: Wenn die Verborgenen in Kauf nehmen, dass unsere Welt stirbt und das alles nur des Geldes willen, was wollen ihre Nachfol-gegenerationen, denen sie ihren unendlichen Reichtum vererben werden, auf einem Planeten machen, auf dem ein menschliches Leben nicht mehr möglich ist, weil er von der Menschheit bereits verschmutzt und zerstört wurde?« »Eine nicht unberechtigte Frage, zu der es eine sehr klare Antwort gibt: Die Verborgenen wissen um den Zu-stand dieses Planeten und nehmen billigend in Kauf, dass er sich immer schneller selbst zerstört. Das Kapital, das ununterbrochen zu ihnen strömt, lässt für sie die Situ-ation besser aussehen. Durch die Geldbrille sieht vieles

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kurzfristig besser aus. Geld, Macht und deren Ausübung ist für sie wie eine Droge. Dennoch machen sie Pläne für ihre Zukunft und die Zukunft ihrer Nachkommen. Sie spielen dabei auf Zeit. Sie finanzieren die Forschung nach anderen Lebensräumen auf anderen Planeten oder unter der Wasseroberfläche. Sie stecken sehr viel Kapital in diese Szenarien. Sollte es so kommen, dass die Erde zu Grunde geht, werden sie und ihr Clan, wie sie hof-fen, woanders weiter privilegiert leben können. Doch, ob diese Rechnung aufgehen kann oder wird, steht in den Sternen.« »Gibt es unter den Verborgenen keinen, der Moral be-sitzt und erkennt, dass ihr Handeln nicht gut ist; nicht für die Menschen, nicht für andere Lebewesen, nicht für den Planeten?« »Eine sehr theoretische Frage, mein lieber Viktor. Es gibt in der Tat den einen oder anderen unter ihnen, der so etwas wie ein Gewissen hat, aber diejenigen wissen auch, dass sie in der Unterzahl sind und somit nichts aus-richten könnten. Wenn sie sich anders verhielten, würde sofort ein anderer ihren Part übernehmen. Es würde sich für die Welt nichts ändern. Nur für sie persönlich. Sie wären raus aus dem Spiel, und das Kapital, das norma-lerweise ihnen zugute käme, fließt dann an einen ande-ren Verborgenen – keinesfalls aber an die Gemeinschaft der Erdbewohner.« Viktor verstand das Argument sehr gut. Es machte ihn aber sichtlich nicht glücklich. »Dann ist das alles hier hoffnungslos. Dann wird sich nie etwas ändern. Dann ist diese Erde nicht zu retten.

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Der Unterschied zu heute früh ist für mich nur, dass ich das jetzt schwarz auf weiß von dir bestätigt bekommen habe und nun den Rest meines bescheidenen Lebens im Bewusstsein des Superschafes vor mich hinvegetieren werde.« »Nein, Viktor. Wenn das so wäre, würde ich dir das alles hier nicht zeigen. Du kannst was ändern – so wie alle Menschen auf der Erde auch etwas ändern können. Du musst sogar was ändern und alle anderen mit dir, weil es nur in der Gemeinschaft geht. Schon vergessen – die Schafherde, die von der Klippe gesprungen ist? Wä-ren die Tiere gemeinsam gegen den Wolf angegangen, sie hätten alle überlebt und den Wolf getötet oder ver-trieben.« »Aber, Orchid, wir reden hier mittlerweile über Ver-borgene, nicht mehr über Wölfe. Wie sollen wir, die Menschheit, das bewerkstelligen? Selbst wenn wir uns alle einig wären und bereit dazu, gemeinsam gegen die Verborgenen anzugehen, sie sind keine Wölfe. Sie sind zu mächtig.« »Nein, Viktor, sie sind zu besiegen. Wie genau – er-fährst du am Ende unserer Reise; aber eines sei schon einmal vorab bemerkt: Die Verborgenen entstammen ur-sprünglich den Wölfen.« Während Orchid die letzten Worte sprach, bremste er die Bank genau über dem Firmengelände ab und zeigte auf das Areal. »In dieser Fabrik da unten arbeiten Tausende von Menschen. Humankapital, sehr billiges Humankapital. Menschen, die wie Sklaven gehalten und behandelt wer-

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den. Sie arbeiten sechzehn Stunden am Tag, schlafen we-nig, und kehren danach wieder zur Arbeit zurück – und das sieben Tage die Woche, dreißig Tage im Monat! Das sind all die Menschen, von denen ich vorhin gesprochen habe; all die jungen Leute, die der Armut auf dem Land entflohen sind. Sie werden hier wie menschliche Roboter zu kleinen Löhnen beschäftigt, von denen sie dann wie-der einen Teil an ihre Familien schicken.« Orchid steuerte die schwebende Bank ein paar Me-ter abwärts, um vor dem Fenster einer der Fabrikhallen anzuhalten. Darin erkannte man Hunderte, gleich ge-kleideter Frauen, wie sie an ebenfalls Hunderten von Nähmaschinen Kleidungsstücke produzierten. Sie arbei-teten monoton vor sich hin – ohne auch nur ein einziges Mal aufzusehen, ohne miteinander auch nur ein einziges Wort zu wechseln – völlig freudlos, und ohne jegliche Leidenschaft. Am Kopfende des großen Fabrikationsrau-mes stand ein Mann, ebenfalls nahezu regungslos, und beobachtete die Frauen bei der Arbeit. Sozusagen der Sklaventreiber, der darüber wachte, dass seine Roboter klaglos funktionierten. »Schau dir den Mann an! Keine Regung in seinem Ge-sicht. Er beaufsichtigt diese Frauen tagaus, tagein, sechs bis sieben Tage die Woche, ein Leben lang, solange bis sie nicht mehr können, um schließlich irgendwann zu ster-ben. Doch was ist sterben, wenn du nie gelebt hast? Man könnte es Erlösung nennen!« Viktor starrte mit traurigem Blick durch das Fenster und beobachtete das schaurige Szenario. »Ich fühle mich schuldig, Orchid. Schuldig durch Un-

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terlassen. Ich habe im Fernsehen und in den Zeitungen Berichte gesehen, die über diese Art der Ausbeutung von Menschen erzählt haben. Ich habe das zwar irgend-wie geglaubt, mich hat es auch erschüttert und es ließ mich keinesfalls unberührt, aber es erschien mir so weit weg, so surreal, dass ich mich nicht darum gekümmert habe.« »Nein, Viktor, du hast als Individuum hier nichts un-terlassen. Du hast dich verhalten, wie all die anderen. Dich trifft keine Schuld. Befreie dich von diesem Gedan-ken, aber du musstest all das kennen lernen, um dieser Welt in der Zukunft helfen zu können. Überlege einmal: All die Menschen in diesem gro-ßen Land werden von einer Diktatur beherrscht, einer kommunistischen Diktatur. Während sich weltweit viele Menschen im Internet zu einer Bewegung der Erkenntnis und des Verstandes zusammenschließen, bleiben für die meisten in diesem großen Land unzählige Internetseiten unzugänglich. Du kannst dir vorstellen, Viktor, warum das so ist?« »Weil die Menschen leichter zu steuern sind, wenn sie nicht wirklich wissen, was es sonst noch so auf der Welt gibt, welche Rechte und Möglichkeiten Bürger anderer Staaten haben.« »So ist es, mein lieber Viktor. Es ist furchtbar trau-rig. Man lässt diesen Menschen kein Fünkchen Würde. Man reißt sie oft aus ihren familiären Bindungen und versklavt sie in einer Firma, der sie bis zu ihrem – oft viel zu frühen Tode – treu bleiben. Sie sind brav und erzählen weiter, dass brav zu sein sich lohnt und Geld

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einbringt, welches sie wieder ihren Familien zuschicken. Sie werden als meinungslose Arbeitssklaven erzogen, gehalten, ja sogar gezüchtet. Und weißt du, was wirklich so perfide an diesem System ist? Es ist die Verlogenheit! Da ist eine kommunistische Diktatur: Der Durchschnitt des Volkes ist arm und auf eine Art versklavt. Die Bürger dürfen sich nicht frei bewegen, schon gar nicht geistig. Der Staat aber ist reich und häuft durch die grandiosen Wirtschaftsbeziehungen zum Rest der Welt immer grö-ßere Vermögen an. Einen großen Teil der Schuld an die-sen Zuständen müssen sich aber die großen, westlichen Industrienationen ans Revers heften; sie bedienen sich schamlos des hier vorhandenen, billigen Humankapitals, um den Bürgern ihres jeweiligen eigenen Landes Güter zu einem günstigen Preis, aber immer noch mit einem großen Gewinn für die eigenen Firmen und Händler, an-bieten zu können. Die Industrienationen nehmen dabei gleichzeitig billigend in Kauf, dass dieser Staat mangels Moral und Umweltbewußtseins seine Abgase nach eigenem Gut-dünken mehr oder weniger ungefiltert in die Luft bläst und damit die Erde verpestet. Der Haken an der Sache ist: Alle Menschen, egal von welchem Teil des blauen Planeten sie auch kommen mögen, haben zusammen nur eine Erde, ein Boot, in dem sie gemeinsam sitzen. Ich kann es nur immer wieder betonen: Egal, wer diese Erde letztendlich am meisten verpestet – alle leiden darunter. Abschließend sei betont, dass dieses große Land über ungenügend Ressourcen an Bodenschätzen, wie zum Beispiel Erdöl, verfügt und gleichzeitig aber ein wahrer

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Energiefresser ist. Die Menschen tauschen also sozusagen Humankapital gegen zu importierende Rohstoffe, die sie in noch viel größerem Maße verschlingen würden, wäre da nicht wieder ein anderes Interesse im Spiel, das hier einen Riegel vorschiebt: Die künstliche Regulierung des Marktes, die Verknappung der Rohstoffe, um den Preis dafür künstlich hoch zu halten. Ein Nachbarland, nicht weit von hier, ist einer der Erdölhauptlieferanten. Doch auch dort passiert etwas, was ganz und gar nicht mit dem Prinzip der Vernunft, des Miteinanders und schon gar nicht mit dem des wür-digen Lebens zu tun hat. Komm, Viktor, ich möchte dir auch das gerne einmal zeigen.«

Im nächsten Moment hob Orchid die Hand und mit sei-ner Körperbewegung setzte sich die Bank, auf der die beiden immer noch saßen, augenblicklich in Bewegung und raste mit hoher Geschwindigkeit Richtung Himmel.

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Wenige Momente später standen Viktor und Orchid inmitten einer kargen, eisbedeckten Landschaft. Über-all um sie herum Erdölförderanlagen mit vielen unter-schiedlich großen Bohrtürmen. Hunderte Menschen bewegten sich eng aneinan-der gedrängt und in dicke Kleider eingemummelt wie eine riesige Tierherde in Richtung des Firmentors eines großen Erdölkonzerns. Das Thermometer an einem der Bohrtürme zeigte Minus 21 Grad Celsius. »Willkommen in einer der kältesten Regionen der Welt. Hier verbergen sich mit die größten Erdöl-, aber auch Erdgasvorkommen, die auf der Erde zu finden sind. Von hier bezieht das riesige Land, in dem wir gerade wa-ren, große Teile seiner Energieversorgung. Das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass es der Bevölkerung hier finanziell sehr gut gehen müsste, aber das ist ganz und gar nicht der Fall. Es ist eben nicht alles Gold was glänzt. Die Menschen, die hier auf diesen Ölförderanlagen bei unwirtlichen Temperaturen, die im Winter bis minus fünfzig oder sechzig Grad Celsius sinken können, sind alles andere als reich, obwohl sie im Verhältnis zu den Durchschnittseinkommen ihres Landes schon sehr groß-zügig entlohnt werden. Sie sind ja schließlich auch wich-tig. Sie fördern das große Geld in Form von Öl zu Tage.« Viktor sah sich überall genau um. »Ich kenne diese Bilder aus dem Fernsehen.

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Ich weiß auch, dass hier immense Mengen an Öl und Gas schlummern.« »Ja, Viktor, aber nur ein paar ganz wenige Menschen profitieren von den Schätzen, die ihnen die Erde hier ge-schenkt hat. Dieses Land war einmal noch viel größer als es heute ist. Es war ebenfalls ein kommunistisches Groß-reich, das diktatorisch regiert wurde. Es war eine Plan-wirtschaft, die, wie alle anderen Planwirtschaften, die es davor irgendwo auf der Welt gab, oder heute noch gibt, nicht funktionierte. Politiker und Funktionäre hatten die Kontrolle über den Großteil des gesamten Volkskapitals; alles gehörte dem Staat, aber sie waren seine Repräsen-tanten und somit auch diejenigen, die das Geld verwal-teten und ausgaben, es vor allem für sich und ihre Fami-lien und Clans verschwendeten. Sie waren die Lenker und Denker, die mit ihrer Re-gierungsmacht das truppenstarke und modern bewaff-nete Militär des Landes hinter sich hatten und somit international als ernstzunehmender, politischer Faktor mit großem Druckpotential vom Rest der Welt sehr ernst genommen werden mussten. Keinesfalls verwunderlich, wenn man sein Staatskapital nicht in sein Volk, sondern vor allem in militärische Ausgaben und den privaten Reichtum einzelner steckt. Nur wirtschaftlich konnten sie, die Diktatoren, ein so großes Reich mit ihrer schmal-spurigen Planwirtschaft langfristig nicht halten. Die Res-sourcen des Landes an Rohstoffen waren immens, aber es gab kein vernünftiges Managementpersonal, kein Ma-nagementsystem, das mit der kommunistischen Ideo-logie zu vereinbaren gewesen wäre. Alle vernünftigen

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ökonomischen Mechanismen und Systeme funktionieren am besten ohne weitreichende staatliche Kontrolle und künstliche Regulierung. Somit fehlte es in diesem Land an menschlicher und geistiger Freiheit, die es ermöglicht hätte, die vorhandenen natürlichen Wirtschaftsgüter und Rohstoffe effizient zu vermarkten. Der damals politisch herrschenden Klasse und ihren Anhängern reichte die Effizienz der Vermarktung natürlich bei weitem aus. Sie lebten in Saus und Braus in ihren Stadtpalästen und auf ihren üppigen Landsitzen. Sie besaßen allen weltlichen Luxus, den es für Geld zu kaufen gab. Nur ihr Volk, das sie brutal ausbeuteten und hängen ließen, nagte an einem kargen Hungertuch. Das war schließlich auch der Grund dafür, dass der große Staat vor einigen Jahren in viele einzelne Teile zerbrach. Die Menschen hatten irgend-wann begonnen, sich unter Einsatz ihres eigenen Lebens gegen die Armut und die diktatorische Regierung aufzu-lehnen.« Orchid warf Viktor einen ernsten Blick zu. »Wenn der Leidensdruck zu groß wird, und ein wür-diges Leben nicht mehr möglich ist, beginnt der Mensch sich mit anderen zusammen zu tun und gegen die Unter-drückung aufzubegehren. Bis zu diesem Zeitpunkt war es den Menschen beispielsweise nicht erlaubt, die Gren-zen des eigenen Landes zu verlassen. Eben wie in vielen anderen kommunistischen Staaten auch. Daraus ersiehst du schon ganz deutlich die Qualität eines solchen kom-munistischen Regimes. Ein Land, das seine Bürger ein-sperren muss, ihnen nicht erlaubt die Landesgrenzen zu verlassen, tut das nur, weil es Angst haben muss, dass

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die eigenen Leute nie wieder zurückkehren würden. Nicht einmal in ihre eigene, geliebte Heimat, die ihnen natürlich emotional enorm am Herzen liegt. Ein solcher Staat ist nicht gesund; er ist ganz und gar nicht das, wie ein Staat, wie die Heimat sein sollte. Ja, die Menschen begannen sich aufzulehnen, aber wirklich erst, als der Leidensdruck zu hoch geworden war. Und sie taten es erst, nachdem wenige mutige Men-schen aufstanden und die Führung der Gegenbewegung unter Einsatz ihres eigenen Lebens übernahmen. Bis da-hin suchte jeder noch nach seinem eigenen Vorteil. Das ist sicherlich eine Sache, die ebenfalls in der Natur liegt, nämlich: der Stärkere dominiert den Schwächeren. Den-noch hat sich die moderne Gesellschaft nach vielen Jah-ren ethischer, moralischer und kultureller Entwicklung darauf geeinigt, diese Unterschiede nicht mit der Faust oder einer Waffe auszutragen, sondern durch Geist und Fleiß. Da dies nicht die Domäne der meisten Wölfe ist und auch nicht effektiv genug, benutzen sie Gewalt, um sich durchzusetzen, um die Stärkeren zu sein. Hier, in diesem Land, veränderte sich, nachdem das große, alte, verkrustete Regime vermeintlich gestürzt war, so einiges, aber eigentlich auch wieder nichts. Die alten Seilschaften gab es nach wie vor, und die Möglich-keiten Repressalien gegenüber Widersachern einsetzen zu lassen, war ihnen immer noch geläufig. Doch es gab auch die von den Verborgenen sehr perfide gesteuerte Gründung einer neuen Oberschicht, die gegenüber den alten Seilschaften aufgestellt wurden. So verbindet ein nicht unerheblicher Teil dieser Verborgenen ihre religiöse

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Zugehörigkeit. Diese sehr mächtige Gruppe, die sicher-lich auch nicht ganz unbeteiligt am Zusammenbruch des alten Reiches war, ermöglichte nun jungen, gut gebildete Menschen aus ihren Reihen, sich unter anderem an die Spitze der, nennen wir es Rohstoffverwertenden-Konzer-ne zu setzen. Sie übernahmen nach dem Zerfall des alten Landes für Minimalbeträge die ehemaligen Staatskon-zerne und privatisierten sie. So war es möglich, dass sie in wenigen Jahren zu vielfachen Milliardären wurden. Verstehst du, Viktor? Es ist keine Kunst, Milliardär zu werden, wenn du ei-nerseits von einer so mächtigen Interessengruppe unter-stützt wirst, andererseits aber nichts anderes tust, als die dem Staat, sprich den Bürgern dieses Staates gehörenden Rohstoffe aufbereitest und auf dem Weltmarkt verkaufst. Das erwirtschaftete Geld steht nicht diesen neu geschaf-fenen Millionären und Milliardären zu, sondern allen Bürgern in diesem Land. Die einfachen Menschen, die Herde, wurde einmal mehr brutal betrogen. Der einzige, entscheidende Unterschied zum vorhe-rigen Zustand des einstmals noch größeren Reiches ist, dass es einige Millionäre und Milliardäre mehr gibt. Für die breite Masse hat sich nicht wirklich viel geändert. Noch nicht. Doch auch in diesem Land werden irgend-wann erneut mutige Leittiere eine Herde hinter sich ver-sammeln und die zahlreichen Wölfe attackieren, in die Flucht schlagen und besiegen. Dann hat auch hier das beliebige Betrügen, Stehlen und Morden ein Ende.« Viktor sagte kein Wort. Er wusste, dass dieses Land, in welchem sie sich gerade befanden, nicht für seine her-

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ausragenden demokratischen Eigenschaften bekannt war. Auch die Tatsache, dass das einst vermeintlich arme Land in so kurzer Zeit so viele Milliardäre hervorge-bracht hatte, war ihm stets suspekt gewesen. Doch wann immer in seinem Freundeskreis das Gespräch auf dieses Land kam, fielen Sätze wie “das ist das Werk von Mafia und Verbrechen“. »Ich weiß, was du meinst, Viktor.« Orchid hatte einmal mehr seine Gedanken verfolgt. »Doch eine verbrecherische Vereinigung, die in dei-nem Sprachgebrauch Mafia heißt, würde den Vorgängen, wie sie hier und überall auf der Welt durch Verborgene passieren, in keinster Weise gerecht. Mafia wie ihr sie definiert, wäre in meinem Sinn ein Wolfsrudel. Wölfe, die sich zusammentun, um ebenfalls in der Gemeinschaft und damit aus einer stärkeren Po-sition heraus, Verbrechen zu begehen und sich dadurch zu bereichern. Sie verdienen ihr Wolfsgeld mit Drogen, Glücksspiel, Prostitution und Schutzgelderpressung. Sie verdienen damit sehr viel Geld, aber im Vergleich zu den Verborgenen sind sie niemand; sie sind im Zweifel maxi-mal Erfüllungsgehilfen. Dagegen ist diese Situation hier in diesem Land nichts anderes, als das klare Werk der Verborgenen. Komm, Viktor, wir müssen weiter.« Orchid nahm Viktor an der Hand. »Schließe deine Augen.«

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Wenige Sekunden später fand sich Viktor bei warmen Temperaturen und strahlendem Sonnenschein in einem Straßenkaffee einer bekannten Metropole auf der Süd-halbkugel, direkt am Meer, wieder. Aus einer Strandbar dröhnten Sambarhythmen durch die ganze Strasse. Orchid saß lächelnd neben ihm und nuckelte an einer Tasse Tee. »Oh, Entschuldigung Viktor, ich habe vergessen, dich zu fragen, was du trinken möchtest.« Viktor rieb sich ungläubig die Augen. »Wo sind wir?« »An einem wunderbaren Ort, Viktor. Mit Meer, mit Sonne, mit gut gelaunten und freundlichen Menschen.« »Ich nehme ein Glas Wasser, bitte.« Viktor hatte es noch nicht ausgesprochen, als er es schon in der Hand hielt. »Ist es nicht herrlich?« Orchid lächelte genüsslich und zufrieden, während er sich in seinen Stuhl zurücklehnte. Viktor hatte sichtlich keine Einwände. »Gemessen an unserer letzten Station, würde ich sa-gen, es ist kein Vergleich.«

Im Hintergrund flanierten unaufhaltsam gutaussehende und fröhlich lachende Menschen an ihnen vorbei. Ein Bild, das Viktor nur aus dem Urlaub kannte und genau

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daran erinnerte ihn auch dieser Ort. »Das hier ist ein Urlaubsparadies, Orchid. Danke, dass du mir nicht nur die negativen Seiten unserer Welt zeigst.« Orchid lächelte. »Ja, dieser Platz hier ist wirklich ein Paradies.« In dem Moment kamen zwei sichtlich lebensfrohe “Café au Lait“-farbene, rassige Schönheiten mit dunk-len, lockigen Haaren am Café vorbei. Links und rechts flankiert von zwei finster dreinblickenden Begleitern in Sonnenbrillen und dunklen Anzügen. Die beiden Frauen waren aufgrund ihrer teuren und auffallenden Kleidung eindeutig der reichen Oberschicht dieses Landes zuzu-ordnen. Von den Männern im Café ernteten sie bewun-dernde Blicke. Auch Viktor begleitete die beiden attraktiven Mäd-chen mit seinen Augen. »Sehr schöne Frauen, nicht war, Viktor?« »Ja, in der Tat, Orchid, und dazu noch dieser wunder-bare Ort!« Viktor hatte seinen Satz noch nicht beendet, als plötz-lich ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit um die Ecke schleuderte und mit quietschenden Reifen neben den beiden Frauen anhielt. Zwei maskierte und schwer be-waffnete Männer sprangen heraus und eröffneten sofort das Feuer auf die beiden Begleiter der Mädchen. Die zwei Männer warfen sich vor die jungen Frauen, versuchten im Kugelhagel selbst noch ihre Schusswaffen zu ziehen. Doch sie waren ohne Chance und brachen von Maschi-nenpistolensalven durchsiebt, tödlich getroffen, zusam-

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men. Die Täter packten unterdessen die beiden Mädchen und schubsten sie in ihr Auto. Dann raste der Wagen mit hoher Geschwindigkeit davon. Viktor traute seinen Augen nicht. Die vermeintliche Idylle war in Bruchteilen von Sekunden zum Alptraum geworden. Die Menschen schrien, sprangen von ihren Plätzen auf. Andere liefen wild durcheinander. Wieder andere brachten sich einfach nur unter den Tischen in Si-cherheit. »Ja, Viktor, ich weiß, was du denkst. Das kann immer und überall passieren. Dennoch – woanders wäre es in dieser Form ganz sicher eine Ausnahmesituation. In die-sem wunderbaren Land hier ist es allerdings bedauer-liche Routine. Ich will nicht sagen, dass dies hier das einzige Land der Welt ist, in dem es häufig zu solchen Situationen kommt, nein, davon gibt es einige, aber es soll sinnbildlich für all die anderen Staaten stehen, die mit derselben fatalen Methodik geführt, regiert, verraten und verkauft werden. Komm, lass uns ein paar Schritte am Meer entlang gehen und ich erzähle dir, was ich dir damit sagen möchte.« Der weitläufige Strand war voller Menschen. Manche sonnten sich, andere trieben Sport. Wieder andere hatten sich einfach nur mit Freunden getroffen und unterhielten sich angeregt. Dazwischen spielten immer wieder Grup-pen von Jungs Fußball. Im Hintergrund vernahm man die ganze Zeit Sambaklänge, die ständig aus irgendeinem Lokal drangen. Obwohl gerade noch wenige Meter wei-ter zwei Männer erschossen und zwei Frauen entführt

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worden waren, schien schon nach wenigen Minuten alles wieder beim alten zu sein. Es wirkte in der Tat, als wären die Menschen hier an solche Vorfälle gewöhnt. »Ja, bedauerlicherweise sind solche Szenen für die Menschen trauriger Alltag geworden. In diesem Land, das ich, wie bereits erwähnt, stellvertretend für eine gan-ze Reihe Nationen beschreibe, ist die Schere zwischen Arm und Reich extrem groß. Ungefähr fünf Prozent der Bevölkerung verfügen über dasselbe Kapital wie der Rest des Volkes, wobei vom Rest des Volkes mehr als ein Drittel unter der schon wohlwollend definierten Armuts-grenze leben. Daraus ergibt sich eine doppelte Ghettobil-dung. Die Reichen leben in schwer bewaffneten und mit ho-hen Mauern umgebenen Villenvierteln – die Armen in verheerend anmutenden Stadtteilen mit schäbigen Hüt-ten aus Holz, Stein und Lehm. In diesen Elendsvierteln regiert das Chaos. Die Entführung der beiden jungen Frauen gerade eben ist eine natürliche Reaktion.« »Aber du willst mir doch nicht sagen, dass ich eine solche Handlung gut heißen soll, nur weil es in manchen Ländern eine extreme Kluft zwischen Arm und Reich gibt? Nach deiner Definition, Orchid, handelt es sich bei den Tätern ja auch um Wölfe, gegen die es sich als Schaf zu verwehren gilt.« »Du hast sehr recht, Viktor. Es sind Wölfe.« »Aber ist es nicht ein Unterschied, ob du als Wolf geboren wurdest, oder ob du erst quasi durch deine schlechten Lebensbedingungen zum Wolf wirst?« Orchid schmunzelte.

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»Meine Metapher mit den Schafen, den Wölfen und den Verborgenen ist nicht so zu verstehen, dass Schafe biologisch zu Wölfen mutieren. Nein, es ist eben eine Metapher. Generell sind sie alle Menschen, die dann durch ihre Lebensumstände, ihren eigenen Charakter oder das Umfeld möglicherweise erst zu Wölfen oder sogar zu Verborgenen werden. Die meisten bleiben aller-dings Schafe. Auch hier in diesem Land, selbst in diesem Ghetto.«

Orchid und Viktor verließen – wortlos nebeneinander herschlendernd – den Strand. Nach ein paar Minuten waren sie von den paradiesischen Zuständen am Strand weit entfernt. Überall türmten sich Müllberge zwischen den ärmlichen Behausungen und ein morbider Geruch der Verwesung hing in der Luft. Vereinzelt sah man älte-re Menschen, in Lumpen gehüllt, vorbeihuschen. Plötz-lich krachten Schüsse durch die einbrechende Nacht. Orchid packte Viktor am Arm und zog ihn hinter eine der Hütten. Durch das bereits zerbrochene Fenster konn-ten sie ins Innere blicken. Dort erkannte man die beiden jungen Frauen, die vorhin entführt worden waren, mit den Händen an einen Pfahl gefesselt und geknebelt. Ihre Kleidung war zerrissen, ihre Tränen hatten das Make-up im Gesicht verschmiert. Vor ihnen saßen drei junge Ghet-tobewohner auf Stühlen, ihre Schnellfeuerwaffen mit einem Ledergurt um den Rücken geschnallt. Sie ließen eine Flasche Tequila kreisen und amüsierten sich über ihre wehrlosen Gefangenen. »Orchid, wir müssen etwas unternehmen. Was pas-

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siert nun mit diesen Mädchen?« »Viktor, wir können hier nichts tun. Die Frauen wer-den überleben, wenn das von den Jungs geforderte Löse-geld schnell eintrifft. Wenn nicht, dann werden sie in die lange Liste der Opfer eingehen, welche die Schere zwi-schen extrem Arm und extrem Reich gefordert hat.« Viktors Blick schweifte von links nach rechts und wie-der zurück. Was er zu sehen bekam, war die leibhaftige Depression: Kinder, keine zehn Jahre alt, die bewaffnet durch die Strassen zogen, um andere zu überfallen und sich derer wenigen Habseligkeiten zu bemächtigen. Ju-gendliche, die Drogen kauften und verkauften, stahlen, raubten und mordeten. Weinende Mütter und die ver-steinerten zerfurchten Gesichter der Väter. »Es ist eine Tragödie. Mit diesem Land hätte es, wie mit vielen anderen vergleichbaren Staaten nie soweit kommen dürfen. Es ist einmal mehr das Werk der Ver-borgenen. Die Zweiklassengesellschaft kam schon mit der Kolonialisierung vor vielen hundert Jahren. Die Ko-lonialherren hielten sich die Ureinwohner als Sklaven. Die Schere zwischen Arm und Reich war geboren. Mit der industriellen Revolution drängte die arme Landbevölkerung in die Städte, um sich dort als billige Arbeitskräfte in den neu entstandenen Fabriken zu ver-dingen. Die ersten Elendsviertel waren geboren, da die Löhne zu gering waren, um sich davon normale Woh-nungen mieten zu können. Diese Elendsviertel wuchsen durch die weitere, starke Zuwanderung schnell an und mutierten zu kriminellen Ghettos. Sozialleistungen gab und gibt es in diesem Land nicht. Um zu überleben, sind

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die Menschen gezwungen, mehrere Jobs gleichzeitig an-zunehmen oder sie werden zu Wölfen und erbeuten in der Schattenwirtschaft ihr Auskommen. Einmal mehr ist es ein Werk der Verborgenen und von korrupten Poli-tikern, die den Verborgenen zuarbeiten. Es kann nicht gesund sein, wenn fünf Prozent der Menschen eines Landes genau so viel Geld besitzen wie der Rest der Be-völkerung zusammen.« Viktor war wütend. Er ballte seine Hände in der Ho-sentasche. »In diesem Zusammenhang zeige ich dir jetzt noch ein anderes Land. Dort sieht es noch viel düsterer aus. Auch wenn du das jetzt kaum glauben kannst, dort trei-ben die Verborgenen und die Wölfe das gleiche Spiel wie überall. Vor dem Hintergrund der Situation dieses Lan-des ist es jedoch noch viel unfassbarer, als das, was du gerade gesehen hast.«

Orchid und Viktor verschwanden hinter einem Abriss-gebäude, um sich einen Moment später auf einer Hoch-ebene mit paradiesischem Blick auf riesige Wasserfälle wieder zu finden.

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Alles war grün und schön, die Temperaturen ange-nehm. Viktor sah sich beeindruckt um. »Eine wundervolle Gegend! Wo sind wir?« »Wir sind unweit des Äquators und doch sind die Be- dingungen hier eigentlich sehr wirtlich, da das Klima auf den Hochebenen fast das ganze Jahr sehr angenehm ist. Achtzig Prozent der Menschen dieses Landes arbeiten auch in der Landwirtschaft, aber sie verdienen damit kaum Geld. Dies hier ist aus vielen Gründen eines der ärmsten Länder der Welt.« Orchid griff nach Viktors Hand und beide begannen zu schweben. Sie segelten ruhig, in geringer Höhe, über die savannenartige Landschaft, als vor ihnen in kurzer Entfernung so etwas wie ein Dorf mit ruinenartigen, ärmlichen Unterkünften sichtbar wurde. Davor saßen Menschen, lethargisch blickend, auf dem staubigen Boden – Junge, Alte, Kinder. Weder Fröhlichkeit, noch Hoffnung in ihren Gesichtern. Es herrschte erdrückendes Schweigen. Nicht einmal die Kinder tollten umher. Sie stocherten mit kleinen Holzstückchen im Boden, mecha-nisch, fast alibihaft, um einmal mehr den Tag irgendwie hinter sich zu bringen. Orchid und Viktor landeten in der Mitte des kleinen Dorfes. Viktor schauderte der Anblick. Er brachte kein Wort mehr heraus. »In den letzten paar Jahren ist die durchschnittliche

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Lebenserwartung in diesem Land von zirka sechzig auf unter vierzig Jahre gesunken.« Orchid begann weiter über das Land auszuführen. »Schuld daran ist eine Seuche, der Virus HIV.« »Aids!«, warf Viktor ein. »Ja, Viktor, Aids. HIV ist Jahr für Jahr für unzählige Waisenkinder in diesem Staat verantwortlich. Die mei-sten von ihnen leben auf der Strasse. Nur ungefähr ein Prozent findet Unterschlupf in einem Waisenhaus. In wenigen Jahren wird es hier ungefähr eine Million Wai-sen geben. Bei einer Bevölkerung von insgesamt zwölf Millionen Menschen, kannst du dir vorstellen, was das bedeutet?« Viktors Herz schlug bis zum Hals. Das alles ging ihm sehr nahe. Für einen Augenblick hatte er seine beiden Kleinen vor Augen. Wie gut ging es ihnen – im Vergleich zu den Zuständen hier. »Ja, Viktor, das ist richtig, was du denkst. Dir, und deinen eigenen Kindern geht es sehr viel besser, als die-sen Menschen. Doch es könnte allen auf der Welt soviel besser gehen, wenn ihr begreifen würdet, dass es nur ge-meinsam geht. Doch zurück zu den Wölfen und den Ver-borgenen.« »Orchid, entschuldige, wenn ich dich unterbreche, aber in einem Land wie diesem, was wollen die Verbor-genen hier holen? Hier ist nichts.« »Du meinst, in einem Land, in dem mehr als sechzig Prozent der Bevölkerung von weniger als einem Dollar pro Tag leben, sei nichts zu holen? Das sollte man mei-nen. Doch die Verborgenen machen auch vor diesem

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Land nicht halt und sogar hier ist es für sie ganz ein-fach, sich zu bereichern. In diesem Fall, zum Beispiel, geschehen durch einen ausländischen Hedge Fond. Ihre Vorgehensweise ist so einfach wie erfolgreich und an Unmenschlichkeit schwer zu überbieten. Diese Fonds kaufen so genannten Industrienationen die Schuldti-tel ab, die sie gegenüber anderen, armen Staaten noch haben. Das heißt, sie kaufen ihnen Kredite ab, die noch nicht zurückgezahlt wurden. Damit du genau siehst, was ich meine, möchte ich dir ein konkretes Beispiel aus die-sem Land erzählen: Besagter Staat lieh sich bei einer reicheren Nation fünfzehn Millionen Dollar, um dafür landwirtschaftliche Geräte zu kaufen. Das Darlehen wurde gewährt, konn-te von diesem Land aber nie zurückgezahlt werden. Der kreditgebende Staat bot dem armen Land schließlich an, nur noch drei der ursprünglich fünfzehn Millionen, zurückzuzahlen; damit sei die Sache erledigt und der Kredit getilgt. Der Rest werde ihnen erlassen. Der Chef eines Hedge Fonds, hinter dem natürlich auch das Geld der Verborgenen steckt, wusste um die Sache, schaltete schnell und bot dem reicheren Staat an, die Schulden für das kleine, arme Land zu begleichen. Da ein solches Geschäft auch die Zustimmung des Schuldners, also der Regierung des kleinen Staates, benötigte, wandte sich der Manager an den Staatschef dieses Landes und bot ihm augenzwinkernd eine Spende für seine Nation in Höhe von zwei Millionen Dollar an, die er für einen be-liebigen Zweck verwenden könne, wenn er dem Deal zu-stimmte, dass der Fond gleichzeitig die Schulden seines

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Landes bei dem großen Land begleichen und damit den Schuldtitel erwerben werde.« »Moment, Orchid, habe ich richtig verstanden, der Fond bezahlt drei Millionen Dollar an das große Land und begleicht damit die Schulden des armen Staates? Gleichzeitig schenkt er dem armen Staat zwei Millionen Dollar zu freien Verwendung. Insgesamt reden wir also von fünf Millionen Dollar. Wie macht der Fond jetzt sein Geschäft?« »Ganz einfach, Viktor, das ist ja das Hochperfide an der Sache: Die zwei Millionen Dollar an das kleine Land waren Bestechungsgelder für den Staatschef und seine Regierung. Bestechungsgelder, die es ermöglichten, dass das kleine Land das Geld nun dem Fond und nicht mehr der Industrienation schuldete. Das Resultat war, die Schuld betrug nun wieder fünfzehn Millionen und nicht drei Millionen Dollar. Den Schuldenerlass und die Re-duzierung der Gesamtsumme hatte die große Nation ja nur angeboten, um nach vielen Jahren zumindest einen kleinen Teil ihres verliehenen Geldes wieder zurückzu-bekommen. Der Fond rechnete noch die handelsüblichen Zinsen für all die Jahre und eine Bearbeitungsgebühr oben drauf. So wurde am Ende daraus ein zu bezahlen-der Betrag von vierzig Millionen Dollar. Im nächsten Schritt ging der Fond vor ein internatio-nales Gericht, um die offene Forderung einzutreiben. Das Gericht erkannte den Einspruch dieses Landes hier an, dass der nunmehr ehemalige Staatschef und seine Regie-rung bestochen worden waren, und dass andernfalls ein derartiger Handel mit dem Fond nie zustande gekom-

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men wäre. Aus diesem Grund urteilte das Gericht, dass das arme Land nicht zur Zahlung der vollen Summe in Höhe von vierzig Millionen heranzuziehen sei, aber im-merhin zwanzig Millionen an den Fond zurückzahlen müsse. Geld, das dieses Land hier eigentlich nicht hat, durch den Schuldenerlass diverser anderer, reicher Län-der aber aufbringen kann und nun aus den Schul- und Sozialbudgets abzwacken muss.« Orchid senkte seine Stimme und fügte leise hinzu: »Dieses ist ein unglaublich perverses Spiel, jenseits je-der moralischen Vorstellungskraft; es findet jedoch jeden Tag irgendwo auf dieser Welt statt. Dies hier ist leider kein Einzelfall.« Viktors Blick hing an einem kleinen Mädchen, das ein schmutziges rosa Kleidchen trug. Sie kauerte am Stra-ßenrand und schenkte ihm für einen kleinen Moment ein fürchterlich trauriges, aber warmes Lächeln. Dabei blitzten ihre großen, braunen Augen melancholisch aus ihrem dunklen Gesicht. Viktor verdrückte wütend eine Träne. »Ich werde es ändern. Ich werde meinen Teil dazu beitragen«, sprach er leise vor sich hin. Dann wandte er sich an Orchid. »Gut. Zeig mir noch mehr. Ich will alles wissen, was ich wissen muss.« Orchid nickte zustimmend.

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Etwas später fanden sich die beiden in der Lobby eines großen, exklusiven Luxusressorts wieder. Viktor rieb sich die Augen. »Wo sind wir nun gelandet? Ich weiß, dass es diesen Luxus gibt, aber du hast mir erklärt, woher er maßgeb-lich geschöpft wird. Zeig’ mir die wichtigen Dinge. Ver-rate mir, wie und was ich unternehmen kann, um die Welt ein wenig besser zu machen.« »Ja, Viktor, das tue ich; diese Station hier gehört eben-falls dazu. Gewiss, das hier ist einmal mehr ein extremer Kontrast zu dem gerade Erlebten, aber es ist alles ein Teil dieser Welt – die Ärmsten wie die Reichsten. Das Ver-rückte daran ist, Extreme ähneln sich stets. Die Ärmsten haben mit den Reichsten mehr gemeinsam, als mit der grauen Mittelschicht. Die beiden extremen Gruppen ver-bindet auf ganz verblüffende Art und Weise dasselbe Problem – das Geld. Beide Gruppen haben stets das Ge-fühl, sie hätten zu wenig davon und doch trifft es nur bei den Armen zu. Doch zurück zu dem Ort hier. Wir sind in einem der teuersten Hotels der Welt. Hier findet an diesem Wochenende das Treffen des gesamten Vorstands einer der größten Banken statt. Komm’, wir schauen uns das Ganze einmal näher an.«

Einen kurzen Moment später standen Orchid und Viktor inmitten eines großen Konferenzsaals. Er war überladen

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mit Kunstpretiosen aus verschiedenen Jahrhunderten. Am Konferenztisch saßen insgesamt zehn Männer. Sie trugen alle dunkle, sehr teure Maßanzüge. Insgesamt handelte es sich um die neun Vorstände und ihren Chef, den Vorstandsvorsitzenden. Zunächst resümierte der Chef über das letzte Ge-schäftsjahr und bestätigte kurz einen Gewinn des Fi-nanzkonzerns in Höhe von vielen Milliarden Euro. Das Betriebsergebnis wäre jedoch im Sinne der Aktieneigner nicht optimal, man habe sich vor allem auf Seiten der Großaktionäre eine bessere Rendite erwartet. Der so ge-nannte Shareholder Value, sprich: die Wertschöpfung aus der Aktie für den Inhaber, müsse sich attraktiver gestal-ten. Der Vorstandsvorsitzende sprach kühl und sachlich, auch als er zu seinen Vorschlägen für eine Steigerung der Rendite kam. In ruhigem, emotionslosem Ton verkündete er, dass man nicht umhin kommen werde, weltweit insgesamt zwanzigtausend Stellen abzubauen. Als einer der Vor-stände kritisch anmerkte, dass er diese Zahl für nicht durchsetzungsfähig hielte, schmunzelte der Vorsitzen-de, um in einem Nebensatz anzufügen, dass er mit dem Aufsichtsrat einen Bonus vereinbart habe, der jedem Vorstand bei Erreichen des neu definierten Gewinnziels, eine Prämie in siebenstelliger Höhe zusichere. »Hast du das gehört, Viktor? Für jeden dieser Men-schen wird eine zusätzliche Prämie in deutlicher sieben-stelliger Höhe fällig, wenn man das Ziel – in dem Fall die Entlassung von zwanzigtausend Mitarbeitern – durch-setzt und im Sinne der Verborgenen erfüllt.«

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»Das ist völlig absurd«, schoss es Viktor direkt aus der Seele heraus. »Ich habe mehr als Verständnis dafür, wenn eine Firma, die sich gerade in einer finanziellen Schiefla-ge befindet, Personal abbauen muss, um das Unterneh-men zu retten. Ich habe aber überhaupt kein Verständnis dafür, dass, nur um einen ausgezeichneten und mehr als beachtlichen Gewinn zu einem Wucherprofit auszuwei-ten, zwanzigtausend Menschen ihre Jobs verlieren müs-sen. Das macht diese Welt kaputt.« Orchid stimmte Viktor voll und ganz zu. »Ja, Viktor, es ist im Sinne der Welt, beziehungsweise auch der Weltwirtschaft, völlig falsch, eine solche Ent-scheidung zu treffen, doch du siehst es ja selbst, wie es dazu kommt. Schau in die Gesichter der einzelnen Vor-stände. Nicht alle sind der Meinung des Vorsitzenden. Sie würden ihrem Herzen folgend lauter opponieren oder sich diesem Vorschlag sogar in den Weg stellen. Doch zwei entscheidende Dinge sprechen dagegen: Die üppige Prämie und die Angst, den hochbezahlten Job zu verlieren. Ich kann es dir verraten, Viktor. Hier, in diesem Raum befinden sich nur Schafe, kein einziger Wolf. Ins-gesamt zehn Leittiere. Zehn Leittiere, die ihre Herde ver-raten. Das geht nur noch solange gut, bis die Herde ihren antrainierten Respekt vor der vermeintlichen Obrigkeit zeigt. Sie wird aber sehr bald herausfinden, dass sie von ihren Leittieren verraten wurde und jeden Tag aufs Neue verraten wird. Dann werden sie irgendwann ihrem Unmut freien Lauf lassen und sich gegen die Führer auflehnen, teilwei-se gegenüber Leittieren auflehnen, die in Wahrheit keine

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Leittiere sind, sondern nur durch ihre Beziehungen und ihre finanzielle Ausstattung strategisch in bestimmte Po-sitionen gehievt wurden, um gute Erfüllungsgehilfen für die Verborgenen zu sein.« »Orchid, ich möchte gehen. Es widert mich an.« »Ich verstehe dich, Viktor. Am Ende unserer Reise wirst du noch besser verstehen, warum dieses Prinzip, bei dem sich die Leittiere an die Verborgenen verkauft haben, nicht funktioniert, nie funktioniert hat und lang-fristig nie funktionieren wird.«

Orchid und Viktor verließen den Saal. Sie hatten genug gesehen. Direkt neben der Hotelterrasse begann der Pri-vatstrand das edlen Hauses. Die beiden setzten sich in den warmen Sand und genossen für wenige Augenblicke die besinnliche Ruhe und den warmen Wind, der ihnen ins Gesicht blies. »Sieh’ hinaus aufs Meer, Viktor«, unterbrach Orchid die Sekunden der Stille. »Was glaubst du, welcher der Wassertropfen dieses Ozeans der wichtigste ist? Welches von den Wassermolekülen, glaubst du, hat es verdient, mit dem meisten Respekt behandelt zu werden?« »Keines, Orchid. Alle sind gleich, doch Wassermole-küle sind sicherlich keine Menschen und deshalb auch nicht mit Menschen vergleichbar.« »Das habe ich auch nicht gesagt, Viktor. Das war jetzt einzig und allein deine Interpretation. Eines steht jedoch fest und lässt sich auf alle Lebewesen und Or-ganismen übertragen, auch auf den Menschen: Halten sie zusammen, wie diese unzähligen Wassermoleküle,

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so sind sie wesentlich bedeutender, als ein einziges. Ein einziges Molekül ist völlig unfähig, etwas zu erreichen. Ein Ozean dagegen ist eine Naturgewalt, die niemand besiegen kann. Einzelne Moleküle schlossen sich bereits seit Entstehung der Erde zu Gruppen zusammen, um die Ressourcen des Planeten besser nutzen und sich in ihrer Umgebung behaupten zu können. Viele Menschen zu-sammen sind genauso unbesiegbar wie dieser Ozean. Ihr müsst nur mehr werden, die verstehen, dass ihr euch bündeln müsst. Wie ich am Anfang der Reise schon einmal sagte: Ihr müsst ein Meer sein! Vielleicht verstehst du das nun noch besser.« »Ja, Orchid, wenn ich eines verstanden habe, dann das: Wir Menschen können es nur gemeinsam schaffen. Das andere ist: Die ganze Welt scheint sich permanent aus-schließlich um einen gigantischen Berg Geld zu drehen, aber natürlich auch um Macht und Unterdrückung.« »Mächtig bist du aber nur mit Geld im Rücken. Je-manden erfolgreich unterdrücken, sprich: langfristig zum Schwächeren degradieren, kannst du auch nur über Geld«, fügte Orchid hinzu. »Und was ist dann mit Gewalt, mit reiner körperli-cher Gewalt, Orchid?« »Körperlich kannst du einen oder ein paar wenige Menschen unterdrücken und in Schranken halten. Willst du hingegen viele unterdrücken, so brauchst du Geld, um Menschen dafür zu bezahlen, dass sie dir dabei hel-fen, andere niederzuknüppeln. Oder – und jetzt kommen wir zu einem noch viel schockierenderen Thema, Viktor: Bald musst du keine Menschen mehr dafür bezahlen,

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bald werden die Verborgenen keine Menschen mehr brauchen, um andere zu unterdrücken. Jetzt komme ich zu ihrem größten Vorhaben, ihrem Masterplan. Viktor, ihr, die breite Masse der Menschheit, ihr schlagt gerade die entscheidende Schlacht gegen die Verborgenen, ohne es zu wissen. Die Schlacht findet auf dem Feld der Technik, genauer gesagt, auf der Ebene der Computer statt.« »Wie meinst du das, Orchid?« »Computer sind die neuen Erfüllungsgehilfen der Verborgenen. Sie sind günstig und zu jeder Zeit bereit, ihnen zu dienen. Die Verborgenen verfolgen damit einen weiteren, teuflischen Plan: Es gab in der wirtschaftlichen Entwicklung der Erde einige sehr wichtige technische Errungenschaften und Erfindungen, welche die Mensch-heit in ihrer Entwicklungsstufe sprunghaft und sehr entscheidend nach vorne brachten. Eine davon war bei-spielsweise die Erfindung der Eisenbahn. Damit konnten Orte, an denen Rohstoffe gefördert wurden, mit den Or-ten, an denen Rohstoffe gebraucht und verkauft wurden, verbunden werden. Der nächste Quantensprung in der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Welt ist im Moment noch nicht da, aber er ist vorgezeichnet und es wird nur noch wenige Jahre der Entwicklung brauchen, bis er er-reicht sein wird.« »Worüber sprichst du, Orchid?« »Ich rede darüber, dass in absehbarer Zeit Software selbst von Computern programmiert und entwickelt werden wird. Das bedeutet, Maschinen programmieren Software. Damit ist der Mensch diesbezüglich weitge-

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hend ersetzt und unnütz. Nur noch wenige hoch bezahlte und mit den Verborgenen kollaborierende Programmie-rer und Computerspezialisten werden dann gebraucht, um die meisten Vorgänge der Welt zu kontrollieren und zu erledigen. Ein anderer Quantensprung in der ökonomischen Entwicklung wird von der Biotechnologie beigesteuert werden. Die Verborgenen werden beginnen, Menschen in ihrem Sinne zu klonen. Zunächst werden sie es da-mit rechtfertigen, dass man diese Technologie nur dazu benutzen werde, um einzelne Organe zu reproduzieren und sie wie Ersatzteile für die Menschen zu züchten. Sie werden es plausibel erklären. Ihre Argumentation wird sein, dass man damit die Kosten der Gesundheitsversor-gung wieder bezahlbar machen könne. Davon würden dann schließlich alle profitieren. Auch die nicht so Wohlhabenden, die Normalsterbli-chen, könnten sich dann ihre Gesundheit wieder leisten. Für eine Leber-, Nieren- oder gar Herztransplantation müsse kein Spender mehr gefunden werden. Man kön-ne dann einfach das benötigte Organ in einer Klonfabrik bestellen und einbauen. Das alles ist aber nur ein Vor-wand.« Viktor folgte konzentriert Orchids Worten. »Merkst du, Viktor, was ich dir damit sagen möchte? Sowohl die Computer als auch Klonlebewesen werden irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, die unbeque-men und teuren Menschen ersetzen können. Es wird auch Maschinen geben, die auf biologischen Struktu-ren aufbauen und wie Menschen aussehen, aber Robo-

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ter sind.Viele der Science Fiction Filme, die deine Welt hervorgebracht hat, die sich mit diesem Thema befasst haben, liegen mit ihrer Phantasie nicht weit entfernt von der heutigen Realität. Aber was passiert dann mit der Menschheit? Men-schen kosten Geld, haben einen Charakter, wollen leben, stiften im Zweifel Unruhe. Sie begehren auf, wenn die Schmerzgrenze erreicht ist. Was passiert dann mit den Riesennationen, die im Moment so billige Waren pro-duzieren und weltweit verkaufen? Was geschieht, wenn ihre menschlichen Roboter im Vergleich zu echten Ro-botern zu teuer geworden sind? Was passiert mit den Industrienationen? Wozu werden dann Arbeiter und Angestellte, egal welchen Ranges, benötigt, wenn eine Maschine es deutlich besser und billiger kann? Ich sagte gerade vorhin: Computer werden die unbequemen und teueren Menschen ersetzen. Wer aber ist unbequem und teuer? Wo ist der Messgrad? Ich will es dir sagen, Viktor: Unbequem werden auf kurz oder lang alle sein, weil irgendwann jeder Einzelne verstehen wird, was auf seinem Planeten vorsich geht. Doch dann ist es wahrscheinlich zu spät, Viktor. Dann habt ihr diese Schlacht verloren. Ihr, diese eigentlich wunderbare Zivilisation auf diesem so grandiosen Pla-neten.« Viktor atmete tief durch. »Wie viel Zeit bleibt uns noch, Orchid?« »Nicht viel, Viktor. Auf jeden Fall müsst ihr sofort da-mit anfangen, etwas zu ändern. Los gehen wir!«Sie erhoben sich aus dem Sand. Orchid drehte den Zei-

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gefinger der rechten Hand propellerartig im Kreis. Dar-aufhin begannen sich Orchid und Viktor in rasender Ge-schwindigkeit wie ein Wirbelsturm um die eigene Achse zu drehen, sich schließlich quasi in Luft aufzulösen.

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Die eher nüchterne Halle, in der die beiden einen Au-genblick später wieder auftauchten, schien unendlich groß zu sein. Größer, als mehrere aneinander gereihte Fußballfelder, viel größer. Sie war von oben bis unten vollgestopft mit unzähligen regalähnlichen Metall-Racks, die wiederum bis an die Decke mit einzelnen Compu-tern bestückt waren. Es war ein friedlicher Anblick. Bis auf das leise Summen der Rechnerarmada herrschte ge-spenstische Stille. »Diese Computer sind Server, also leistungsstarke, zentrale Netzwerkrechner. Das Ganze hier ist eine riesige Serverplantage«, durchbrach Viktor die Stille. »So ist es, Viktor. Diese Plantage allerdings ist das zentrale Rechenzentrum eines sehr großen und sehr do-minanten Staates dieses Planeten. Hier fließen unendlich viele Daten zusammen, die nahezu über jeden Bürger der Erde gesammelt werden. Im Augenblick sind diese Ma-schinen – und noch viel wichtiger – ihre Software noch nicht in der Lage, die vorhandenen und täglich hinzu-kommenden, riesigen Datenmengen allumfassend aus-zuwerten. Aber das wird nicht mehr lange dauern. All diese Computer in diesem Rechenzentrum sind jedoch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Von diesen Rech-nerplantagen gibt es weltweit bereits unzählige, und je-den Tag kommen neue hinzu. Wenn die Maschinen und die Software, wie ich dir versucht habe, zu erklären, einen

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bestimmten Entwicklungsstand erreicht haben, werden sie den Menschen perfekt überwachen und beherrschen. Komm, wir gehen ein paar Schritte. Lass diese immense Technik für einen Moment auf dich wirken.« Orchid und Viktor schlenderten durch das, wie ein Hochregallager bedrohlich anmutende, Serverzentrum. »Viktor, sie wissen jeden Tag mehr über euch Scha-fe, über jedes einzelne. Ihr, die gesamte Erdbevölkerung, müsst das in dieser Form stoppen, euch zusammentun und die Chancen, die der Computer und das Internet bieten, gegen die Verborgenen richten. Tut ihr das nicht, werden sie euch damit zunächst perfekt steuern und langfristig vernichten. Selbst die Wölfe unter den Com-puterspezialisten und Softwareentwicklern können die sich vereinigenden und auflehnenden Menschen nicht aufhalten. Manche von ihnen sind dadurch sehr reich geworden, dass sie ihr Know How und ihre Fertigkeiten den Verborgenen zur Verfügung gestellt haben. Sie sind selbst auf dem Weg, Verborgene zu werden. Doch selbst die haben keine Chance, die aufbegehrende Menge zu stoppen.« Viktor fixierte für einen Moment eine blinkende Leuchtdiode an einem der Server. Sie zeigte an, dass auf diesen Computer gerade zugegriffen wurde. »Was glaubst du Viktor, wie viele Daten über dich und deine Familie hier in diesem System bereits gespei-chert sind?« Viktor überlegte kurz und antwortete dann: »Ich denke nicht, dass wir sehr relevant für die Ver-borgenen sind.«

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»Oh doch, das seid ihr«, unterbrach ihn Orchid sanft. »Alle sind für sie wichtig. Denn nur, wenn sie nahe-zu alles über alle wissen, können sie euch nach Belieben steuern.« »Dennoch glaube ich nicht, dass sie sehr viele Daten über uns sammeln konnten. Wir sind eine völlig unauf-fällige kleine Familie.« »So, denkst du?, entgegnete Orchid skeptisch. »Dann lass’ uns das mal überprüfen.«

Orchid schnippte mit dem Finger. Eine Sekunde später spazierten die beiden eine nicht besonders belebte In-nenstadtstrasse entlang. Genau, als sie an einem Werbe-plakat für Bier vorbeikamen, begann dieses aus heiterem Himmel zu sprechen: »Hallo, Viktor, wie geht es dir heute? Wie wäre es mit einem kühlen Pils?« Viktor erschrak, starrte Orchid an, schüttelte dann den Kopf. »Das ist nicht real, Orchid. Alles, was du mir bislang gezeigt hast, war real, aber das hier ist es nicht.« »Oh doch, das ist es sehr wohl, Viktor. Es wird so nur noch nicht in der Öffentlichkeit eingesetzt. Noch ist die Technologie zu teuer, um sie für diese Art von Werbe-zwecken zu verwenden. Zur Überwachung auf Flug-häfen und anderen strategisch wichtigen Punkten wird diese Technik dennoch bereits sehr wohl verwendet. Es geht dabei um dein Auge, um die Iris. Sie ist einmalig.« Orchid zeigte auf das Plakat. »In dem Plakat ist ein Scanner eingebaut. So wird dei-

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ne Iris gescannt und mit vorhandenen Datensätzen über dich verglichen.« »Mit welchen Datensätzen?« »Schau mal, Viktor, du hinterlässt überall digitale Spu-ren und diese werden in Datenbanken abgelegt. Noch sind die Möglichkeiten der Computer nicht so komfor-tabel und weit entwickelt, dass sie all diese gesammel-ten Datenmengen in der kurzen Zeit auch allumfassend bewerten können. Dennoch, die Technologie kann schon sehr viel und die gesammelten Daten gehen ja grund-sätzlich auch nicht verloren. Vergleiche es mit einer rie-sigen Bibliothek, einer Menge Bücher, die du zu Hause angesammelt hast, aber bislang weder alle gelesen hast, noch alles, was du gelesen hast, sofort auf Kommando wieder abrufen kannst. Computer können das grund-sätzlich. Nur sind sie noch nicht schnell und schlau ge-nug. Doch, wenn sie bald soweit sein werden, sollten sie sich nicht nur in den Händen der Verborgenen befinden. Ich versuche es dir jetzt noch konkreter zu verdeutlichen, welche Spuren du permanent irgendwo hinterlässt, wie man dich jederzeit heute schon überwacht.«

Orchid hakte sich bei Viktor ein. Sie erhoben sich in die Lüfte und einen Augenblick später standen sie in der überfüllten Abflughalle eines Flughafens. Orchid zeigte auf die Überwachungskameras, die überall in der Halle montiert waren. »Siehst du die Kameras? Manche von ihnen sind ge-wöhnliche Überwachungskameras, deren gelieferte Bil-der vom Sicherheitspersonal auf Monitoren beobachtet

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und auf Videobändern aufgezeichnet werden. Solche Ka-meras gibt es seit langem in jedem Parkhaus, in vielen Geschäften, in privaten und öffentlichen Einrichtungen. Doch schon heute sind an vielfältigen Stellen High-Tech-Geräte platziert, die entweder mit der Iris Scan-Techno-logie arbeiten – oder aber die Physiognomie deines Ge-sichts bewerten. Das ist übrigens eine andere Methode, mit der ein Mensch eindeutig identifiziert werden kann. Jedes Gesicht ist einzigartig. Die Form, die Beschaffen-heit und der Abstand von Auge zu Nase zu Mund etc. geben genaue Auskunft über den jeweiligen Menschen. Jetzt muss nur noch von jeder Person auf der Welt ein Iris oder Gesichtsscan existieren und schon könnte man in kurzer Zeit, beim Stand heutiger Computertechnologie, einen Menschen fast lückenlos kontrollieren.« »Ja, Orchid, ich verstehe, aber da genau liegt für mich die Crux. Das ist Theorie und wird so nicht möglich sein. Wie soll man von allen Menschen so einen Scan anfer-tigen?« Orchid schmunzelte. »Unmöglich ist das ganz und gar nicht. Es wird ja bereits heute fleißig Auge um Auge, Gesicht um Gesicht erfasst. Schau, zum Beispiel, da drüben bei der Passkon-trolle. Das Dokument wird von dem Beamten in den Computer eingelesen und es wird überprüft, ob etwas gegen die entsprechende Person vorliegt. Gleichzeitig werden von jedem Menschen Fotos gemacht und Finger-abdrücke genommen, die dann ebenfalls mit der Com-puterdatenbank abgeglichen werden.« »Ich weiß durchaus, was du meinst, Orchid, aber

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die Erfassung der Daten passiert schließlich auch zum Schutz der Bürger. Diese Welt hat sich stark verändert. Es gibt ganz neue Formen von Verbrechen, von Terrorismus - wir müssen uns dagegen schützen.« »Das ist zumindest das, was man dir jeden Tag ein-bläut. Pass einmal auf.« Orchid griff in die Innentasche von Viktors Jackett, zog seine Brieftasche heraus und öffnete sie. Viktor bemerkte zunächst gar nicht, dass Orchid und er plötzlich in der belebten Filiale einer großen Bank standen. Hinter ihnen eine Schlange von Menschen an den Geldautomaten. Orchid nahm zwei Kreditkarten und zwei Bankkarten aus dem Portmonee und drückte sie Viktor in die Hand. »Sie wissen, was immer du wo kaufst. Sie wissen, wann du wie viel Geld von welchem Konto abhebst. Sie wissen aber auch, ob du noch weitere Konten hast und wo. Sie wissen einfach alles über dich, was mit Geld zu tun hat.« Orchid zog Viktors Mitarbeiterausweis aus der Brief-tasche. Viktor rieb sich die Augen, als sie im selben Mo-ment vor dem Hauptgebäude seiner Firma auftauchten. »Diese Karte ziehst du jeden Tag, wenn du in die Fir-ma kommst, durch das Lesegerät. Es zeigt an, wann du gekommen bist und wann du wieder gehst. Ist das rich-tig, Viktor?« »Ja, natürlich.« Viktor blickte irritiert, während im Hintergrund ge-rade Kollegen aus seiner Abteilung ihre Ausweise durch das Lesegerät zogen und die Firma betraten.

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»Kann deine Firma dieser Karte noch andere Informa-tionen über den jeweiligen Mitarbeiter entnehmen?« »Ich wüsste nicht, welche«, antwortete Viktor kopf-schüttelnd. »Pass gut auf, Viktor. Ich werde dir jetzt etwas zeigen, was du nicht glauben kannst.« Orchid zerbrach die Karte vor Viktors Augen. Dann zog er zwei Schichten auseinander und hielt Viktor einen kleinen, schwarzen Punkt vor das Gesicht. »Was denkst du, ist das?« Viktor blickte völlig entsetzt drein und stammelte: »Ich habe keine Ahnung, Orchid. Sag’ es mir.« »Es ist ein Sender. Ein kleiner GPS Peilsender. Das hier ist zwar fast überall noch illegal, aber technisch kein Problem. Deine Firma kennt offenbar keine Skrupel - wie viele andere Firmen heutzutage auch. Deine Firma weiß durch diesen Sender immer, wo sich ihre Mitar-beiter gerade aufhalten. Bist du, zum Beispiel, auf einer Geschäftsreise, kann dein Chef lückenlos feststellen, ob du während der Arbeitszeit möglicherweise auch andere Dinge unternommen hast. Oder die Firma weiß immer, wenn du dich zum Beispiel krank gemeldet hast, ob du wirklich zu Hause bist oder nicht. Dies soll sicherlich kein Plädoyer für faule Menschen sein, die ihren Beruf schwänzen oder in ihrer vereinbarten Arbeitszeit anderen Dingen nachgehen. Nein, es ist vielmehr ein Plädoyer für bestimmte Regeln – moralische Regeln und Vertrauen, ohne die eine Gesellschaft nicht funktionieren wird. Und überlege einmal weiter: Du trägst diesen Ausweis immer in deiner Brieftasche. So weiß die Firma auch immer, wo

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du am Wochenende warst. Denke darüber nach. Noch einmal abschließend: Das ist keine Fiktion, das ist deine Welt, in der du lebst, in der ihr alle, die ganze Mensch-heit, lebt.« Viktor sah immer noch schockiert auf seinen zerbro-chenen Firmenausweis, als Orchid auch schon zwei an-dere Karten in seiner Hand hielt. »Das hier sind Punkte, beziehungsweise Rabattkarten von Großketten und Handelszusammenschlüssen. Wann immer du an einer Kasse stehst, fragt man dich: Haben Sie eine Kundenkarte?« Orchid hatte diesen Satz nicht gesagt, vielmehr stan-den die beiden neben der Kasse eines großen Super-marktes, wo die Kassiererin diese Phrase routinemäßig abspulte. »Du hast natürlich auch eine, und nicht nur eine, wie man sieht. Damit wissen sie nicht nur, wann du bei ihnen einkaufen warst, sondern sie wissen ganz genau, was du gekauft hast und für wie viel Geld. Und warum benutzt du diese Karten? Für die Chance auf reduzierte Tickets für ein Popkonzert, oder weil du auf Rasierschaum und Damenbinden einer bestimmten Marke beim nächsten Einkauf zehn Prozent Rabatt bekommst? Komm, lass’ uns ins Freie gehen.« Orchid und Viktor setzten sich auf eine steinerne Treppe an einem großen Platz, der mit unzähligen Men-schen fast schon überfüllt war. Orchid fuhr fort: »Viktor, genau das Gleiche gilt im übrigen für deine Bewegungen im Internet. Man weiß genau, welche Sei-

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ten du dir angesehen hast und nach welchen Begriffen du, zum Beispiel, in einer Suchmaschine gesucht hast. Daraus kann man Rückschlüsse auf deine Interessen zie-hen. Ach, übrigens, ich würde den Kombi nehmen.« Orchid schmunzelte in sich hinein. »Was?« Viktor starrte ihn ungläubig an. »Du suchst doch ein neues Auto, sonst würdest du dir im Internet nicht all die Alternativen ansehen. Und der Kombi ist vom Preis-Leistungsverhältnis der Beste. Zu-mal auch deine Frau ihn aufgrund ihrer Internetbewe-gungen favorisiert.« Viktor blickte Orchid sprachlos an. »Das hat sie mir noch gar nicht gesagt!« »Oder, wenn du auf die Strasse gehst, beachtest du dann die unzähligen Überwachungskameras auf öffent-lichen Plätzen?« Orchid zeigte mit seiner Hand in die unterschied-lichsten Richtungen. Viktor suchte mit seinem Blick in der Entfernung die gut getarnten Geräte. »Was ist, wenn du Auto fährst und eine Mautstation oder eine Kreuzung oder etwa eine Blitzampel passierst – denkst du dann an die Verborgenen? Glaubst du nicht, dass auch dort dein Kennzeichen erfasst wird, ohne dass du es bemerkst? Oder, wenn du mit deinem Mobiltele-fon telefonierst, vielleicht eine SMS schickst oder eine Mail, glaubst du, sie können das nicht alles kontrollie-ren? Wusstest du, dass man dein Mobiltelefon auch or-ten kann, wenn es ausgeschaltet ist, weil es in bestimm-ten, zeitlichen Abständen ein stummes Signal schickt?

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Was ist mit all den verlockenden Angeboten für deinen Computer, per günstiger Flatrate Tag und Nach mit dem Internet verbunden zu sein? Das ist wie deine persönli-che Einladung an alle, die Lust verspüren, sich in dei-nen Computer einzuwählen und deine gesamten Daten, selbst deine intimsten, sensibelsten Dateien, problemlos zu lesen und zu verwerten. Und glaubst du vielleicht, dass all diese gesammelten Datensätze den Verborgenen nicht zur Verfügung stehen? Doch, Viktor, das tun sie.Politiker fordern diesbezüglich bereits, eine gesetzliche Legitimation zu erhalten, um online in Privatcomputer eindringen und ermitteln zu können. Natürlich ebenfalls unter dem Vorwand der terroristischen Bedrohung. Es gibt keine gesunde Balance zwischen Freiheit und Sicher-heit mehr. Aber wie ich dir schon sagte, die Entwicklung von Hard- und Software ist noch nicht ganz soweit, dass die-se Unmengen von einzelnen, jede Sekunde anfallenden, Datensätzen über nahezu jeden Menschen auf der Welt gänzlich analysiert oder eindeutig interpretiert werden könnten. Das geht im Moment nur, wenn sie konkret gegen Dich vorgehen wollen, aber ein allumfassendes Kontrollsystem, bei dem alle Server unterschiedlichster Unternehmen und Behörden miteinander vernetzt sind, existiert noch nicht. Noch nicht!« Viktor rieb sich nachdenklich mit dem Zeigefinger an der Nase. »Ich weiß sehr genau, Orchid, was du meinst, aber hat sich die Gesellschaft weltweit in den letzten Jahren nicht auch fürchterlich verändert? Haben nicht plötzlich

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auch terroristische Bedrohungen zugenommen? Sind wir nicht überall auf der Welt jeden Tag der Gefahr aus-gesetzt, von Terroristen ermordet zu werden? Brauchen wir nicht zumindest in Ansätzen diese Überwachung, um diese Menschen auszuschalten?« »Denkst du, Viktor, das dies wirklich so ist? Nach alldem, was ich dir bisher über deine Welt erzählt habe, möchte ich dich gerne fragen, ob du es dir vorstellen kannst, dass diese Terrorismusdiskussion möglicherwei-se auch inszeniert ist – von Verborgenen inszeniert, die damit ihren teuflischen Plan verfolgen und daran aus-schließlich profitieren? Was, wenn die Bedrohungen des Terrorismus als perfekter Vorwand benutzt werden, dich und all die anderen Schafe noch intensiver überwachen zu können, als es sowieso schon passiert? Sie können dann nahezu lückenlose Bewegungsprofile von dir er-stellen und lassen dich im übertragenen Sinne schließlich nur noch auf der Weide grasen, auf der sie dich ideal be-obachten können. Was würdest du sagen, wenn das alles eine Strategie ist, ein einziges, großes Theaterstück, das man dir und allen anderen Menschen auf der Welt vor-gaukelt? Du musst dir immer die wichtigste aller Fragen stel-len: Wem nützt eine Situation, ein Vorgehen, ein neues Gesetz am meisten? Es ist, wie wenn ich dich fragte: Wozu braucht man eine Glühbirne? Dann würdest du wohl kaum sagen: »weil sie den Raum erwärmt«, sondern du würdest sagen: »weil sie den Raum erhellt«. Dass die Birne auch eine Wärmewirkung hat, ist ein irrelevanter Nebeneffekt. Verstehst du? Was, wenn die Beseitigung

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der Terrorgefahr nur der Nebeneffekt ist? Was, wenn die Terrorgefahr geschürt wird, um all die Menschen auf der Welt durch die perfiden Methodiken der Angsteinflö-ßung zu konditionieren, um eine perfekte Überwachung zu etablieren?« Viktor spielte nervös an seinem Ehering. »Du meinst wirklich, zivilisierte Nationen würden bei so etwas mitspielen, würden einen vermeintlichen Terrorismus selbst inszenieren? Würden Tausende und Abertausende Tote in Kauf nehmen? Tote aus ihrem eige-nen Volk, aus ihrem eigenen Land? Nein, das glaube ich nicht. Niemals.« »Warum, lieber Viktor, werden dann die Überwa-chungsgesetze nur in eine Richtung verschärft, nämlich ausgehend vom Staat in Richtung der Bürger? Das ist doch sehr seltsam. Ihr alle, ihr Menschen, die ihr vor der terroristischen Bedrohung Angst habt, ihr solltet dann ebenfalls per demokratischem Gesetz gleichermaßen Zu-griff auf all die Daten haben. Jeder sollte Zugriff auf diese Daten haben. Findest du nicht? Wenn jeder auf der Welt diese Erkenntnisse hätte, dann könnte doch die Gemein-schaft die Bedrohung gemeinsam abwenden.« »Ja, Orchid, aber wenn es alle sehen könnten, dann könnten auch die Bösen, die Wölfe es sehen!« »Ja, und?«, Orchid zuckte mit den Achseln. »Millio-nen, nein Milliarden von Schafen, die Zugriff auf alle Da-ten haben, würden einen Anschlag nie entstehen lassen. Sie würden ihn selbst verhindern. Die Gruppe, die Herde würde das bereinigen. Doch Viktor und das ist der ei-gentliche Punkt, warum es nicht gemacht wird: Es wür-

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de die Verborgenen und ihre Vasallen nicht in die Lage versetzen, all die anderen Menschen zu unterdrücken, zu überwachen und sie, im Falle höchster Unbequemlich-keit, zu eliminieren.« Orchid legte seinen Arm um Viktors Schultern. »Komm’, wir haben noch eine lange Wanderung vor uns.«

Orchid hatte es kaum ausgesprochen, schon standen er und Viktor inmitten der blühenden Natur an einem son-nenbelohnten Tag auf einem einsamen Feldweg.

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Aus der Entfernung erkannte man, dass sich der Weg weiter vorne in zwei Richtungen gabelte. »Viktor, ich meine nicht, dass es so sein könnte. Ich weiß, dass es so ist und du könntest es auch wissen, denn die Spuren, die sie hinterlassen, sind da und nachvoll-ziehbar.« Orchid und Viktor schlenderten langsam auf die Weg-kreuzung zu. »Wir sind jetzt an einem Punkt unserer Reise ange-kommen, an dem du beide Seiten sehen kannst: Die Welt, in der du zu leben glaubst, liegt auf der einen Seite – die Welt, die ich dir beschreibe und von der ich behaupte, dass das die Welt ist, in der du wirklich lebst, ist auf der anderen Seite.« Orchid zeigte, während er so sprach, in die beiden entgegengesetzten Richtungen, in die sich der Feldweg an dieser Stelle aufspaltete. »Es liegt nun alles vor und an dir, Viktor. Du selbst sollst jetzt entscheiden, woran du glauben willst – an die, dir suggerierte, Simulation einer Wahrheit oder an die Wahrheit.« Viktor wollte etwas sagen, aber der Satz blieb ihm im Hals stecken. Die ganze Flut an Eindrücken und Erkennt-nissen schien ihn zu übermannen. Er ließ sich erschöpft am Wegrand nieder. Orchid setzte sich neben ihn.

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»Orchid, du siehst, wie ich mit mir hadere. Diese gan-ze Situation ist so surreal. Alles, was du mir erklärt hast, klingt wahnsinnig plausibel. Die Welt, in der ich gerade noch lebte, war es aber auf ihre Weise auch.« »Ja, Viktor ich weiß, aber glaube mir, du, und mit dir alle Menschen auf dieser Welt, ihr lebt in einer virtuellen Realität. Kennst du den Begriff PR?« »Ja, natürlich. Public Relations, Öffentlichkeitsarbeit eben.« »Was denkst du ,Viktor, welchen Einfluss PR auf dein tägliches Leben hat?« »Ich denke, einen gewissen, aber keinen wirklich sehr großen.« Orchid schüttelte den Kopf. »Und weißt du, was ich denke, Viktor? Sie beherrscht dich, wie all die anderen Menschen auch.« »Mal ganz ehrlich, Orchid, glaubst du nicht, dass sich manche Leute mehr Gedanken über die Zusammenhän-ge machen, als andere – du kannst nicht alle über einen Kamm scheren. Glaubst du nicht, dass Bildung und Le-benserfahrung einen großen Unterschied machen in der Wirkung von PR auf den einzelnen Menschen?« »Nein, Viktor, das denke ich nicht. Du bist einer der Menschen, die sich sehr viele Gedanken über diese Welt gemacht haben. Du bist das beste Beispiel für einen in-telligenten und gut ausgebildeten Menschen. Dennoch, du bist gefangen im Netzwerk ihrer Manipulation. Ihre Strategie ist unheimlich raffiniert und gleichzeitig sehr einfach. Sie haben das Geld und die Macht, die These wie auch die Antithese zu kreieren und zu realisieren.

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Daraus schaffen sie eine – in ihrem Sinne perfekte – Syn-these, die sie dann mit Hilfe von PR geschickt unter-schwellig und unerkannt in das Gehirn der Menschen einpflanzen. Das kann in politischen Dingen, aber auch in wirtschaftlichen oder sonstigen Angelegenheiten, angewandt werden. Es spielt überhaupt keine Rolle. Braucht man zum Beispiel einen Krieg, dann inszeniert man einen. Dabei sollte man aber stets, als vermeintlich Guter, darauf achten, nicht zum Aggressor zu werden. Ein Aggressor ist jedoch in der Regel leicht gefunden. Entweder werden Politiker dafür bezahlt, ihr jeweiliges, eigenes Land zu verraten und eine Attacke gegen den vermeintlich Guten zu vollziehen, oder aber eine Regie-rung ist dumm genug, auf die Provokationen einer an-deren Regierung hereinzufallen. Letzteres ist allerdings eher selten. Die Menschen, all die Schafe auf der ganzen Welt, bekommen dann in ihren täglichen Nachrichten die Ge-schehnisse so aufbereitet, wie sie diese auch glauben sol-len. Dafür sorgt eine perfekte Puplic Relation. PR ist im Grunde nichts anderes, als die subjektive Darstellung ei-nes Sachverhaltes aus der Sicht derer, die genug Kapital haben und die Wahrheit so gestalten und aussehen lassen können, wie sie es brauchen oder gerne sehen wollen. Ich spreche in der Endkonsequenz über die Verborgenen. Sie sind die Herrscher über die subjektive Wahrheit. Hast du dir, zum Beispiel, schon einmal Gedanken gemacht, Vik-tor, wer die ganzen Computerviren programmiert und sehr professionell verbreitet? Glaubst du, dass Hacker Wochen und Monate an einer Hydra oder einem Wurm

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tüfteln, nur um Millionen von Computerbenutzer zu verärgern? Denke einmal darüber nach, ob dir jemand einfallen könnte, der einen Nutzen, wie etwa einen ho-hen finanziellen Profit davon hat, wenn sich Viren im Internet tummeln? Das Gleiche gilt im übrigen für echte Bakterien und Erreger auch. Es wurde bei einer bestimmten Krankheit vor nicht allzu langer Zeit festgestellt, dass der Virenstamm in einem Labor gezüchtet wurde und nicht in der Natur entstand. Kurze Zeit später erschien bereits ein Medika-ment auf dem Markt, welches angeblich das einzige war, das gegen diesen Erregerstamm etwas ausrichten konn-te. Die durch gut ausgedachte PR-Horrorgeschichten aufgebauschte Verunsicherung der Menschen führte zumindest dazu, dass das Medikament zeitweise unter Lieferengpässen litt. Manchmal muss man sogar eine Krankheit völlig neu erfinden. Am leichtesten geht das bei einer psychologischen Störung. In der heutigen Zeit, in dieser konditionierten Gesellschaft, ist das kein Prob-lem. Hat irgendjemand Probleme mit seiner Karriere, ist sicherlich irgend ein psychologisches Stressphänomen daran schuld, welches die moderne Gesellschaft hervor-gebracht hat. Dafür findet man auch sehr schnell einen Oberbegriff und einen Hersteller für das entsprechen-de Psychopharmaka. Ich denke, du weißt, was ich da-mit sagen will. Und so wird es jeden Tag, immer wieder Beispiele geben, bei denen die Schafe, die menschlichen Schafe, zum Narren gehalten und verleitet werden, be-stimmte Dinge zu glauben. Es ist relativ einfach, das zu erreichen, weil es so perfekt inszeniert ist.«

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»Dann sind die Medien gewissermaßen daran schuld«, warf Viktor plötzlich ein, »die Zeitungen, Zeit-schriften, TV-Kanäle oder Radiostationen, die diese In-halte letztendlich verbreiten und somit die Menschenbe-einflussen.« »So würde ich das nicht sehen, Viktor. Es gibt sicher-lich unter den Medienmachern Wölfe und ganz im Hin-tergrund gehören die großen Konzerne natürlich wieder den Verborgenen. Dennoch sollte man nicht das Auto da-für verurteilen, das einen Menschen überrollt hat, wenn wiederum ein anderer Mensch es gesteuert hat. Medien werden gesteuert – im Moment noch von den Verborge-nen. Doch, die Gemeinschaft der menschlichen Schafe kann diesen Zustand ändern. Die Medien sind der ver-längerte Arm derer, die das Sagen haben. Ich hoffe, bald werdet ihr alle gemeinsam diese Funktion übernehmen. Hätte jeder Mensch auf der Welt gleichermaßen die Mö-glichkeit, auf die vorhin beschriebenen Computerda-ten zuzugreifen, und somit selbst die Gelegenheit, die Wahrheit zu überprüfen, so wären die Verborgenen sehr schnell am Ende und der Rest der Menschheit würde auf einem guten Weg sein. Das kann ich dir versprechen, Viktor. So, in welche Richtung wollen wir nun unsere Reise fortsetzen?« Viktor blickte nach rechts und erkannte im Hinter-grund ein schneebedecktes Bergmassiv. Auf der linken Seite schien der Weg in ein blühendes Tal zu führen. »Wohin sollen wir gehen, Orchid?« »Auf den Berg und dahinter, falls du die ganze Wahr-heit über die Erde und über mich wissen willst, oder in

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das Tal, wenn du das Gefühl hast, dass du genug gesehen hast und wir unseren Ausflug hier beenden sollten.« Viktor senkte den Kopf zwischen beide Hände und schloss die Augen. Nach einigen Sekunden stand er langsam auf, atmete tief durch und antwortete mit dem Brustton der Überzeugung: »Du hast mir bereits sehr viel gezeigt. Jetzt möchte ich auch noch den Berg bezwingen und die ganze Wahrheit erfahren.« Orchid lächelte. »Das freut mich.« Viktor half Orchid beim Aufstehen. »Also gut, dann lass uns gehen!« Orchid und Viktor machten sich auf den Weg durch die malerische Landschaft am Fuße der Gebirgskette. »Du weißt, dass eine große Aufgabe auf dich zu-kommt, Viktor.« »Ja, ich weiß, Orchid, aber mir ist auch klar, dass einer damit anfangen muss. Ich bin dazu bereit.« »Es ist ein weites Feld, Viktor. Unterschiedliche Län-der und Kontinente haben unterschiedliche Kulturen und Hintergründe. Sie haben verschiedene Religionen und völlig abweichende Vorstellungen von Familie und Be-ziehung. Es gibt Länder, einige der so genannten Indus-trienationen, in denen es nur um Karriere, Sex und das schnelle Geld, für Männer und für Frauen gleichermaßen, geht. Ein Beispiel ist das Land, aus dem du kommst. Unsere Gesellschaft hat seltsame Früchte hervorge-bracht und absurde Entwicklungen nach einiger Zeit als

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schick deklariert. Ich erwähne nur die Tatsache, dass ab einer bestimmten Phase unseres Landes die Menschen keine Kinder mehr bekommen wollten. Jeder wollte un-bedingt Karriere machen und sich in seiner Freizeit be-dingungslos amüsieren. Im Grunde geht es aber eigent-lich darum, dass keiner mehr bereit ist Verantwortung für einen anderen, für die Gemeinschaft zu übernehmen, sondern versucht sein egoistisches Leben zu führen. Was ist das schon, in einem Unternehmen Karriere zu machen? Die meisten erfüllen einen Job, den sie in der Regel nur durchschnittlich gut beherrschen und nicht wirklich lieben. Sie machen es des Geldes willen; sie füh-len sich oft ihr ganzes Leben lang unterbezahlt und nicht genug gewürdigt. Manche wenige erreichen irgendwann einen höheren Rang in ihrem Unternehmen. Dafür müs-sen sie aber – wenn auch nur zum Schein, bis spät am Abend in der Firma bleiben, um dem Chef ihre bedin-gungslose Bereitschaft zu signalisieren. Sie verdienen damit letztendlich so viel Geld, dass sie sich die Woh-nung oder das Haus leisten können, das sie sich immer erträumt haben. Sie fahren in der Regel das Auto, wel-ches sie immer haben wollten. Ein kleiner Prozentsatz entscheidet sich dann doch für Familie und Kinder. Die Kinder lernen Tennis und Golf und die Ehefrauen den Tennis- und den Golflehrer besser kennen. Viele Familien zerbrechen und die Kinder sind die Leidtragenden. Nur die allerwenigten schaffen es jedoch mit viel Glück in die Unternehmensspitze. Die meisten bleiben, trotz bedingungslosem Einsatz für Ihre Karriere, in einer beruflichen Sackgasse stecken. Allen, egal welche Hirar-

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chie- oder Gehaltsstufe sie auch erreichen, wird letztend-lich durch die Medien vorgegaukelt, dass sie in einer hei-len Welt leben und alles so sein müsse wie es ist. Tja...« Viktor lachte. »Sie werden, wie du es gesagt hast, Orchid – kondi-tioniert. Wir alle wurden und werden konditioniert. Uns wird nach wie vor eingebläut, welches Auto wir fahren müssen, um cool zu sein, welches Parfüm wir auftragen sollen, welches Hemd und welcher Anzug im Trend ist. Man zeigt uns all die Marken, die wir besitzen müssen – jede Stunde, jeden Tag unseres Lebens.« »Ja, Viktor, das stimmt«, unterbrach Orchid Viktors Redefluss, »das sind Auswüchse einer gesellschaftlichen Entwicklung, aber bis dahin noch völlig harmlos, solan-ge das Konstrukt im Hintergrund nicht existiert. In je-der freien Gesellschaft gibt es Angebot und Nachfrage. Und man wird sicherlich in einer freien Marktwirtschaft immer versuchen, seinem Angebot den entsprechenden Nachdruck zu verleihen, sprich: Werbung dafür zu ma-chen. Das ist unproblematisch. Das gab es immer und wird es immer geben. Auch da, wo ich herkomme.« Viktor blieb urplötzlich stehen, blickte zum Gipfel des Berges, dann sah er Orchid an. »Ja, Orchid, wäre es jetzt nicht langsam an der Zeit, mir zu sagen, wer du bist und woher du kommst?« Orchid lächelte vielsagend. »Noch nicht, Viktor, aber sehr bald. Wenn wir hinter dem Berg sind, dann ist es nicht mehr sehr weit, und ich werde dir alle deine Fragen beantworten. Bitte gedulde dich noch ein wenig.«

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Viktor akzeptierte, und die beiden setzten ihren Weg in Richtung des Bergmassives weiter fort. »Du wirst sehen, Viktor, diese Art der psychologi-schen Konditionierung durch dein Umfeld, in der es nur darum geht: Was trägt der für ein Hemd? Was hat der für ein seltsames Auto? werden sich von ganz alleine ver-ändern, wenn ihr ein neues System für euren Planeten gefunden habt.« Viktor wanderte einen Moment lang, in seinen Ge-danken versunken, ruhig vor sich hin. »Du denkst gerade über dein bisheriges Leben nach?« Viktor nickte zustimmend. »Was quält dich an deinem Leben am meisten? Was bereitet dir die meisten Sorgen?« Viktor musste dafür nicht nachdenken, er wusste es in der Sekunde der Frage und Orchid konnte es in seinen Gedanken sehen, dennoch schwiegen beide für einen langen Moment. »Ich sehe, wie sehr es dich quält, Viktor. Du sprichst nicht gerne darüber, so wie die meisten Menschen ge-genüber Dritten darüber nicht gerne sprechen. Es ist dir peinlich, weil du das Gefühl hast, dass du ein Versager bist. Dein Selbstwertgefühl steht und fällt mit deiner wirtschaftlichen Situation.« »Orchid, ich brauche wirklich nicht viel, aber die Existenzängste bringen mich um. Wenn ich ein fauler Mensch wäre, ein Nichtsnutz, ein Tagträumer, der sich nur auf sein Glück verlässt, dann empfände ich die Situ-ation vielleicht anders. Das bin ich aber nicht. Ich arbeite,

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so viel ich kann; ich bin allerdings kein guter Politiker. Die Gehaltserhöhung für außergewöhnliche Leistungen unserer Abteilung bekommt meistens mein Chef, weil er alles so vertritt, als habe er es erfunden. Ich bin wirklich nicht auf den Mund gefallen und der Geschäftsführer unseres Unternehmens mag mich auch sehr gerne, aber ich dachte, als ich in der Firma anfing, dass ich nicht gleich fordern, sondern zunächst Leistungen erbringen sollte. Ich rechnete damit, dass man das in der Chefeta-ge erkennen und mich dann vielleicht befördern würde. Das war leider eine Fehleinschätzung meinerseits. Ich habe daraus gelernt: Nicht derjenige, der Recht hat, be-kommt Recht, sondern nur derjenige, der am lautesten brüllt, geht als Sieger hervor. Eben das „Tue Gutes und rede darüber Prinzip“. Das Reden darüber ist mir aber eher peinlich. Wie auch immer, ich liege oft nachts wach und wälze mich in meinem Bett von links nach rechts. Manchmal wacht dadurch meine Frau auf und fragt be-sorgt: »Schatz, was ist los?« Das beantworte ich dann immer mit einem lapidaren »Nichts, alles ist okay. Ich habe nur schlecht geträumt.« Aber in Wirklichkeit sieht es in mir natürlich ganz an-ders aus. Ich würde meiner Familie doch so gerne ein besseres Leben bieten, ein sorgenfreies. Für mich selbst brauche ich nicht viel. Meine Frau erwartet von ihrem Leben ebenfalls keine Extravaganzen, kein Luxusleben. Sie ist stolz auf unsere kleine Familie und auch auf mich. Dafür lebt sie und dafür liebe ich sie. Um sie nicht zu ver-unsichern, halte ich viele Probleme von ihr fern. Ich ver-suche es zumindest. Insgeheim habe ich jedoch immer

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das Gefühl, dass sie genau spürt, was mit mir los ist.« »Viktor, sei versichert, sie weiß, was dich quält und das quält sie. Sie weiß, dass es finanziell nicht immer zum Besten steht. Sie weiß auch, dass der Kredit für euer Haus die Familienkasse eigentlich zu stark belastet. Sie weiß das alles, Viktor, und sie steht zu dir. Sie würde sich oft wünschen, dass du mit ihr darüber sprichst.« »Ja, aber sie hat doch schon genug Stress damit, für die Kinder da zu sein und unsere kleine Familie zu orga-nisieren.« »Wieso, hilfst du ihr dabei etwa nicht?« »Doch, Orchid, natürlich, aber...« »Nein, Viktor, kein Aber. Du hilfst ihr, wenn du von der Arbeit nach Hause kommst. Im Gegenzug schließt du sie aber aus deinen Sorgen aus, obwohl es euer beider Sorgen sind. Das ist falsch, weil sich Dinge viel besser im Team lösen lassen. Alleine kommt man nicht weit, und eine Partnerschaft von zwei Menschen ist das kleinst-mögliche Team. Sprich´ mit Deiner Frau.« Viktors stummes Kopfnicken war als nachdenkliche Zustimmung zu verstehen. »Weißt du, Viktor, zum Thema Team will ich dir noch ein paar andere Dinge mit auf den Weg geben: Was denkst du, sind die entscheidenden Eigenschaften in ei-nem Team?« »Loyalität?«, sprudelte es spontan aus Viktor heraus. »Richtig, Viktor, was noch?« »Aufrichtigkeit den anderen gegenüber?.« Orchid stimmte Viktor wortlos zu. »Man sollte bedingungsloses Vertrauen zu den ande-

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ren Teammitgliedern haben können.« »Ja, auch das ist richtig; aber je größer das Team, desto schwieriger wird es, diese Dinge in den Griff zu bekom-men. Stimmst du mir da zu, Viktor?« Viktor überlegte kurz, um es schließlich deutlich zu bejahen. »Schau mal, Viktor. Das kleinste Team besteht aus zwei Personen. Zum Beispiel eine geschäftliche Partner-schaft oder eben eine Ehe – so wie bei dir und deiner Frau. Das größtmögliche Team auf dem Planeten Erde ist die Gesamtheit aller Menschen. Die Aufgaben des klei-nen Teams und die Gesamtaufgabe aller Menschen auf dieser Erde sind natürlich völlig unterschiedliche. Doch eine Grundregel gilt für jede Gemeinschaft, für jedes Team, das aus Menschen zusammengesetzt ist: Ein Team besteht, analog zu einer Kette, die aus vielen einzelnen Gliedern zusammengesetzt ist, aus lauter einzelnen Menschen, aus Individuen. Und eine Kette ist immer so stark wie ihr schwächstes Glied. Wenn sie bricht, bricht sie am schwächsten Glied. Was muss demnach die vor-dringlichste Aufgabe sein, um seine Kette zu stabilisie-ren? Ganz klar: Du musst das schwächste Glied stärken. Dadurch wird ein anderes Glied zum schwächsten wer-den, welches dann wiederum gestärkt werden muss. Auf die Erde bezogen, heißt das: Wenn ihr die Schwächsten stärkt, wird es der Gemeinschaft immer wesentlich besser gehen. So könnt ihr, die Menschheit, das Niveau und die Lebensqualität der gesamten Welt deutlich erhöhen. Wenn einzelne oder, bei so vielen Men-schen, Gruppen oder Interessenverbände versuchen,

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sich gegen das Wohlbefinden der ganzen Welt aus ego-istischen Motiven durchzusetzen und damit das Wohl-gefühl der Gesamtheit drastisch belasten, müsst ihr alle zusammen massiv eingreifen und es unterbinden. Jeder muss etwas für die Gesellschaft leisten. Es darf nicht sein, dass einer nur nimmt und ein anderer nur gibt. Die Balance zwischen Geben und Nehmen muss schon beim Individuum ausgeglichen sein. Ein Schwacher gibt natürlich, gemessen an einer Volkswirtschaft, weniger, als ein Starker. Aber seine ei-gene Bilanz muss stimmen. Er muss gleich viel in die Ge-meinschaft geben, wie er ihr entnimmt. Nur dann funkti-oniert das System und dennoch existiert eine Hierarchie, die auch nötig ist. Es sind nicht alle gleich. Dabei müssen die Wölfe, die nur ihren eigenen Vorteil suchen und be-reit sind, ihn mit Gewalt durchzusetzen oder auch die faulen Schafe, die einfach immer nur aus der Gesellschaft nehmen und nicht bereit sind, ihr etwas zurückzugeben, aussortiert und durch die Gemeinschaft wieder auf den richtigen Weg gebracht werden. Viktor, überlege einmal: Du möchtest Orangensaft pressen und du hast zehn Orangen. Eine davon ist bitter. Alle anderen sind süß und wohlschmeckend. Diese eine Frucht verdirbt den Geschmack des gemeinsamen Saftes; ein einziges Individuum verbittert das Werk, das all die anderen in der Gemeinschaft positiv gestaltet haben.«

Orchid und Viktor waren nun am Fuße des Berges ange-kommen und standen vor der ersten Anhöhe. »Wollen wir beide ein Team sein und diesen Berg ge-

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meinsam erklimmen? was meinst Du?« »Ja, Orchid, gerne. Ich freue mich, dich in meinem Team zu haben.« Orchid lächelte stolz. Dann begannen die beiden langsam den mühsamen und steilen Weg nach oben zu stapfen. »Was dich also am meisten quält, ist das Geld? Viktor atmete schwer und versuchte sich auf den an-strengenden Weg zu konzentrieren. »Ja, ich denke, Geld ist, was alle Menschen am meis-ten quält. Im positiven, wie im negativen Sinne. Fast alle haben zu wenig oder denken, sie hätten zu wenig oder wünschen sich, sie hätten mehr. Manchmal nur noch aus purer Raffgier und nicht, weil sie mehr bräuchten. Ich ha-be ein paar Freunde und Bekannte, die durch ihre Eltern schon reichlich mit Geld ausgestattet wurden. Das sind genau diejenigen, die permanent Existenzängste haben. Mindestens so schlimme, wie ich. Das ist dann der Mo-ment, an dem ich mich frage, warum das nur so ist.« »Und hast du eine Antwort darauf gefunden?« »Na ja, ich denke, sie sehen, dass es ihnen sehr gut geht und sie im Grunde ein sehr privilegiertes Leben führen. Sie wollen, dass das so bleibt und haben immen-se Angst, dass es einmal nicht mehr so sein könnte. Sie haben deshalb Angst davor, weil sie vielleicht genau wissen, dass es ganz und gar nicht leicht ist, sich einen solchen finanziellen und damit einhergehenden, gesell-schaftlichen Status zu erarbeiten. Sie wissen, dass es nur ererbt ist und sie sonst möglicherweise in der gesell-schaftlichen Struktur sehr viel weiter unten wären.

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Das sind die Existenzängste der Wohlhabenden. Meine dagegen sind ganz anders. Leider konnten mir meine Eltern nie das entsprechende Startkapital geben. So ist alles, was ich mir erarbeite, das, was ich besitze. Das Pro-blem ist nur, dass ich ständig im Verzug bin. Da ich mir mit meinem Einkommen bestimmte Dinge nicht leisten könnte, sprich: sie nicht kaufen kann, nehme ich Kre-dite bei meiner Bank auf und bezahle diese ab. Dazwi-schen passieren unerwartete Dinge, wie zum Beispiel, dass mein Auto in die Werkstatt muss oder neue Reifen braucht, am Haus etwas kaputt geht, Arztkosten anfal-len, welche die Krankenkasse nicht übernimmt, und so weiter. Dann muss ich immer wieder bei der Bank bet-teln, dass man mir kurzfristig den Kredit erweitert, damit ich die Zusatzausgaben dann eventuell mit dem Weih-nachtsgeld begleichen kann. Es ist ein endloser Kreislauf, bei dem es nur immer darum geht, dass ich einfach nicht genug verdiene. Bei der derzeitig angespannten Arbeits-marktlage bin ich trotzdem froh, dass ich überhaupt eine Anstellung habe. Im Grunde bezahle ich aber die meiste Zeit immer nur Zinsen und meine Schulden bei der Bank verringern sich kaum.« Orchid hakte sich bei Viktor unter. Gemeinsam stütz-ten sie sich an der vor ihnen liegenden, steilen Passage des Weges, der nun eigentlich kein Weg mehr – sondern ein Pfad mit einer unebenen Geröllschicht war. »Lass uns einen Moment rasten, Viktor.« Die beiden setzten sich auf einem kleinen Grashang neben dem Pfad nieder und blickten ins Tal. Erst jetzt bemerkte Viktor, dass sie schon eine nicht unerhebliche

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Strecke zurückgelegt hatten. Unter ihnen lag die Natur anmutig und schön. Die Sonne strahlte über die saftige Weide, auf der sich die Rinder zu einem Mittagsnicker-chen hingelegt hatten. »Du hast Recht, Viktor, es sind die Zinsen, die dich umbringen. Sie behindern ein Leben lang den Großteil der bei der Geburt Mittellosen dabei, sich nur mit der Qualität ihrer Arbeit und ihren intellektuellen Mög-lichkeiten ein eigenes Vermögen schaffen zu können. Du, Viktor, hängst – wie die meisten Menschen auf der ganzen Welt – am Tropf der Verborgenen. Sie sind in der Endkonsequenz diejenigen, die dir das Geld leihen und all die anderen Mechanismen erschaffen haben, die ich dir auf unserer Reise bislang gezeigt habe. Sie haben das alles erschaffen, um die menschlichen Schafe dieser Welt als unfreie, versklavte, minderwertige Gegenstände zu züchten und sie in ihrem Sinne vegetieren zu lassen. Ich weiß, dir ist mittlerweile auch klar geworden, dass es völlig egal ist, welchen Pass du hast, welchem politi-schen System, welcher Gesellschaftsform oder welcher Religion man angehört, das Geld fließt immer in dieselbe Richtung. In Richtung derer, die Geld gegen Zins ver-leihen. In Richtung der Verborgenen. Sie verdienen an allem mit, was all die Schafe dieses Planeten leisten. Für sie ist Geld die mächtigste aller Reli-gionen. Für sie ist Geld der höchste Richter über die Mo-ral. Geld ist für die Verborgenen Gott und sie sind seine Propheten.« »Ich habe das so nie gesehen, Orchid. Ich war, wie du es beschrieben hast, ein einfältiges Schaf, das zum Gehor-

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sam erzogen wurde. Erzogen von meiner Familie, meiner Umwelt, der Gesellschaft um mich herum, die ebenfalls wiederum von ihren Familien, der Gesellschaft und ih-rem Umfeld geprägt wurden; erzogen, vor bestimmten Personen Respekt zu haben. Jeder Anwaltsbrief oder je-des Schreiben einer Behörde lässt mich immer noch er-zittern. Der Gedanke, dass der Kreditsachbearbeiter mei-ner Bank anruft und mir die Kreditlinie in Frage stellen könnte noch viel mehr. Es macht mich fertig. Man hat mich so erzogen, weil schon meine Eltern genauso wie meine Großeltern vor diesen Menschen, beziehungswei-se ihren Funktionen, Angst hatten.« »Ich weiß, Viktor. Das ist es auch, was ich mit Konditi-onierung immer meinte. Ab jetzt wirst du anders denken und diesen Anforderungen anders gegenüber stehen. Und mit dir all diejenigen, denen du die Wahrheit über diese Welt erzählen wirst. Jeder einzelne, der anfängt, sich mehr Gedanken über das zu machen, was täglich um ihn herum auf dieser Welt passiert, vollbringt einen kleinen Sieg für diesen Planeten. Jeder einzelne, der nicht mehr bereit ist, in blindem Gehorsam unbewusst den Verborgenen zu dienen, wird sich der Gruppe anschlie-ßen, die du ins Leben rufen wirst. Jeder Mensch, der die Wahrheit über diese Erde er-fährt und beginnt, die für ihn vermeintlich normalen Dinge zu hinterfragen, jeder dieser Menschen wird Ant-worten finden – Antworten, die ihn zunächst erschüt-tern, aber langfristig befreien werden.« »Viele werden sich aber auch vor dieser Wahrheit ver-schließen«, unterbrach Viktor Orchids Worte. »Das ein-

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fachste Mittel für Menschen, der Wahrheit nicht beding-ungslos ins Auge sehen zu müssen, ist eine kurfristige Flucht in den Rausch. Alkohol und Drogen helfen ihnen dabei, ihr Leben für einen Augenblick nicht so schwer zu nehmen. Sie betäuben ihren Seelenschmerz.« »Ja, Viktor, in der Tat spielen Rauschmittel eine große Rolle. Aber auch hier gibt es auf der Erde gravierende Unterschiede in der Interpretation und Auffassung zum Gebrauch oder Missbrauch von Drogen. Es gibt auch völlig unterschiedliche gesetzliche Regelungen und kul-turelle Gebräuche. Ist es, zum Beispiel, für bestimmte In-dianervölker in tropischen Gebieten völlig normal, Ko-kablätter gegen Schmerz zu kauen, so ist in den großen Industrienationen Kokaingebrauch unter schwerer Strafe verboten. Warum? Warum ist dort dagegen der Konsum von Alkohol legal? Hast du dich das einmal gefragt?« Viktor zuckte mit den Achseln. »Ich denke, dass der Genuss von Alkohol in den meis-ten Kulturkreisen eine lange Tradition hat und durch die-sen Gewohnheitsmechanismus nicht den Nimbus einer Droge in sich birgt, auch wenn Alkohol gleichermaßen gesundheitsschädlich ist und ein sehr großes Suchtpo-tential hat, wie es die ständig steigende Zahl von Alko-holkranken zeigt.« »Ich denke, in diesem Punkt sind sich die Verborge-nen nicht ganz sicher, wie sie sich positionieren sollen; ist es doch ein sehr zweischneidiges Schwert. Einerseits beruhigen, betäuben und euphorisieren Alkohol und Drogen ihre Schafe. Das lenkt sie von zuviel Grübelei über ihr eigenes, bescheidenes Leben wie auch über die

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Unbalance der Dinge auf der Erde ab. Andererseits wird gerade im Bereich der Drogen sehr viel Geld verdient. Es ist eine, von Wölfen dominierte, Schattengesellschaft entstanden. Aber, wenn du jetzt denkst, die Verborgenen haben hierbei keinen Zugriff, dann täuschst du dich. Sie verwalten natürlich ebenso das Geld dieser Drogenba-rone. Sie entscheiden, wie intensiv gegen sie staatlicher-seits vorgegangen wird. Sie bestimmen das Leben dieser Mafiakönige genauso wie sie deines bestimmen, auch wenn die Wölfe das nicht immer wahrhaben wollen. Manchmal werden sogar Institutionen, die souve-ränen Staaten zuzurechnen sind – natürlich unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit – im Drogenhandel aktiv. Es ist lukrativ und aus den Gewinnen lassen sich wieder Kriege finanzieren, mit denen sich schließlich noch mehr Geld verdienen lässt. Ein Teufelskreis der Per-version.« Viktor ließ seinen nachdenklichen Blick über das vor ihnen liegende Tal schweifen. »Komm, Viktor, lass uns aufbrechen, wir haben noch ein Stück Weg vor uns.«

Viktor half Orchid auf die Beine, dann kletterten sie wei-ter den Berg hinauf.

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Auf den Wiesen konnte man nun schon die ersten Schneeflecken erspähen, die in dieser Höhe noch vom Winter übrig geblieben waren. »Es ist ein weites Feld, Viktor, und es ist so angelegt, dass einer alleine es nicht überblicken kann. Die gesam-ten Vorgänge auf dem Planeten Erde sind sehr komplex miteinander verwoben und verstrickt. Wir haben vorhin über das Thema Computer gesprochen. Der Computer wurde und wird von Menschen geschaffen und ent-wickelt – noch. In nicht allzu ferner Zukunft wird sich der Computer, wie ich dir erzählt habe, selbst weiter entwickeln und den Menschen weitgehend überflüssig machen. Wenn du mir aufmerksam zugehört hast, weißt du, dass damit der Computer vor allem den Verborgenen nützt. Wenn allerdings der Computer, und mit Compu-ter seien an dieser Stelle alle durch künstliche Intelligenz gesteuerten Maschinen, so auch Roboter, gemeint, die meisten Arbeiten übernimmt, wird es immer weniger Arbeit für die Menschen geben. Was passiert dann mit all den Menschen? Sie hängen am finanziellen Tropf, müssen Geld verdienen, aber es gibt keine Arbeit mehr. Damit kommen wir zu einem weiteren, damit indirekt zusammenhängenden, sehr schlimmen Kapitel über die Intentionen der Verborgenen. Schon jetzt siehst du in vielen Industrieländern, wie zum Beispiel auch dem, aus dem du entstammst, Viktor, dass

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das Bildungsniveau einer breiten Bevölkerungsschicht drastisch gesunken ist und ständig weiter absinkt. Man zieht damit einerseits eine breite Masse an Menschen he-ran, die eigentlich nicht überlebensfähig sind, und auf der anderen Seite eine kleine Elite, die unbewusst den Verborgenen zu Diensten ist. Allerdings auch nur so-lange – wie man sie braucht. Der breiten Masse fehlen zunehmend Kenntnisse über die einfachsten Dinge des Lebens, weil sie es nie gelernt haben. Sie könnten sich nicht einmal selbst versorgen, nicht einmal, wenn man ihnen ein Dach über dem Kopf und ein Stück Ackerland zur Verfügung stellte. Sie wüssten nicht einmal, was sie pflanzen könnten, geschweige denn, wie sie die Pflanzen aufziehen sollten. Durch die Medien allerdings wird ihnen mit der PR der Verborgenen, unter anderem in Form von Politiker-lügen suggeriert, dass alles bestens ist. Die Arbeitslosen-zahlen, die Weltwirtschaft – alles ist gut. Doch die Rea-lität sieht sehr viel anders aus. Was macht man mit all diesen ungebildeten Menschen und der nächsten Gene-ration, die sie hervorbringen, und mit der übernächsten? Mit jeder Generation werden sie ein Stück degenerierter sein. Und nur, dass wir es nicht vergessen oder aus den Augen verlieren: Ich spreche gerade von den vermeint-lich reichen Ländern, den Industrienationen. All die an-deren Krisenherde und armen Teile der Welt kommen in diesem Punkt mehr als gravierend hinzu. Schon heute ist Bildung auf eurer Erde ein sehr teures Gut geworden. Um an den besten Schulen zu lernen, an den besten Uni-versitäten zu studieren, muss man wohlhabend sein.«

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Während Orchid eindringlich auf Viktor einrede-te, wurde der Weg immer steiler, das Gelände immer unwegsamer. Die beiden waren auf einer Art felsigem Hochplateau angekommen, das nach und nach immer mehr von Schnee bedeckt war. »Ja, Orchid, das Thema Ausbildung ist ein sehr kriti-sches geworden. In meiner Generation zählte die Bildung noch sehr viel. Meine Großmutter sagte schon, als ich noch ein kleiner Junge war, immer zu mir: Lerne schön brav, mein Junge, denn, was man kann, das kann einem keiner mehr nehmen. Wissen ist Macht!« Orchid lächelte. »Nach all dem, was du mir beigebracht hast, Orchid, ist das zwar nicht ganz richtig, denn Geld ist Macht, aber auf der anderen Seite ist gebündeltes Wissen doch auch mächtig – oder nicht?« »Ja, Viktor, du hast es sehr genau verstanden. Du kannst die momentane Macht des Geldes nur durch Wissen brechen. Wenn, wie ich dir sagte, das schwächs-te Glied im Team, in der Kette gestärkt wird, und ihr gemeinsam dasselbe Ziel verfolgt, diese Erde für alle lebenswerter zu machen, dann wird es gelingen. Deine Großmutter war sehr weise. Sie wusste, wohin dein Weg dich einmal führen würde.« Viktor zuckte unsicher mit den Achseln. »Ja, Orchid, aber, um noch einmal auf die Ausbildung zurück zu kommen: In meiner Generation war mein Staat darauf bedacht, dass man eine gute Ausbildung absol-vierte. Heute ist es anders. Man versucht, das Niveau ab-zusenken und die Menschen ruhig zu stellen. Man hängt

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sie in manchen Ländern lieber an den sozialen Tropf. Wer als Politiker mehr Sozialleistungen verspricht, wird wiedergewählt.« »Exakt, Viktor. Und den ungebildeten Mob, der zu-nehmend immer weniger weiß, lenkt man dadurch im-mer leichter. Die Macht der PR in den Massenmedien trägt das Ihre dazu bei. In Talkshows blamieren sich ungebildete Menschen gegen Minihonorare zur Belusti-gung von anderen ungebildeten Menschen. In anderen Shows werden Models und Sänger gecastet. Es wird suggeriert, dass das Leben eines Popstars erstrebenswert ist. Tausende und Abertausende unbegabter junger Men-schen melden sich, um sich vor der breiten Masse aufs Äußerste lächerlich zu machen. Dem Gewinner bleibt ein halbes Jahr zweifelhaften Ruhmes und öffentlicher Aufmerksamkeit, um danach wieder im Dickicht der So-zialhilfeempfänger zu verschwinden. Selbsternannte kluge Menschen kommentieren dieses TV Phänomen mit den Worten: Ein Volk bekommt eben das Fernsehprogramm, die Unterhaltung, die es verlangt oder verdient. Damit wird aber die Volksverdummung noch gerechtfertigt und begründet. Dieser Satz ist eine gefährlich dumme Floskel, ja, ein schallendes Eigentor. Es müsste jedem einleuchten, dass ein Volk bei steigen-dem Bildungsniveau ganz sicher nicht um diese Art medialer Unterhaltung betteln würde. Das Gleiche gilt für den Glauben, die Religion. Je hoffnungsloser die Si-tuation in den Industrienationen wird, desto mehr Men-schen werden sich wieder dem Glauben, ihrer Religion, zuwenden. Sie suchen eine Hoffnung, suchen Antworten

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auf ihre Fragen. In vielen, armen Teilen der Erde war es nie anders. Das führt natürlich auch dazu, dass die Ge-folgschaft, die schlecht gebildet und arm ist, auch im Sin-ne von Religion, von radikalem, religiösem Fanatismus lenkbar und zu instrumentalisieren ist.« Viktor stimmte Orchid wortlos zu, während sie unter-dessen über eine große verschneite Gletscherplatte wan-derten. In diesem Moment donnerte ein tief fliegender Helikopter über die Köpfe von Orchid und Viktor hin-weg, um hinter dem Gebirgsmassiv im nächsten Tal zu verschwinden. Viktor bemerkte durch den Lärm des Rotors aus sei-nen Gedanken aufgeschreckt, dass sie nicht mehr weit vom Gipfel entfernt waren. Als die beiden gerade ihren Weg weiter fortsetzen wollten, störte in der nächsten Se-kunde bereits ein weiterer Hubschrauber die Ruhe der friedlichen Bergwelt. Wenige Minuten später ein weite-rer, dann wieder einer und noch einer. Die kommende Viertelstunde fühlte sich Viktor wie in der Einflugschnei-se der wohl weltweit größten Helikopterversammlung. Wie in einem Bienenstock flog eine Maschine nach der anderen dicht über ihre Köpfe hinweg, um schließlich hinter dem nahen Bergkamm im nächsten Tal zu ver-schwinden. »Du wunderst dich über all die Hubschrauber?« »Ja, was wollen die hier alle auf diesem wunderschö-nen Bergmassiv?« Viktors Blick schweifte über die Schneefelder, die sie gerade überquert hatten, bis hinunter ins Tal. Der Nach-mittag war unterdessen schon fortgeschritten und die

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Sonne – in Form eines großen, rötlich-gelben Balles – be-gann langsam ihren Abstieg. Ein wahrlich traumhafter Blick über dieses Wunder der Natur. »Hinter dem Gipfel, im nächsten Tal, findet ein Tref-fen statt,« merkte Orchid an. »Einige Teilnehmer der Veranstaltung reisen mit dem Hubschrauber an. Diese Versammlung hier ist das Ziel unseres Weges, unseres Aufstiegs.« Viktor verstand zwar nicht, was Orchid damit sagen wollte, akzeptierte es aber fraglos, weil Orchid seinen Worten bislang stets Taten hatte folgen lassen. Es waren jetzt nur noch wenige Minuten bis zur Bergspitze. Viktor spürte seine Beine vor Müdigkeit fast nicht mehr, aber irgendwie schien es ihm nichts auszumachen. Auf einmal begann Orchid aus heiterem Himmel herzlich zu lachen. Er lachte so, wie er es Viktor gegen-über noch nie getan hatte. »Was ist los, Orchid?« »Ach, Viktor, bevor wir den Gipfel erreichen, muss ich noch über eine Sache mit dir reden, die sehr wichtig ist und die wir bislang noch nicht besprochen haben; ich habe mich in dem Zusammenhang gerade an eine Situa-tion mit dir erinnert, die einfach sehr lustig war.« Viktor runzelte fragend die Stirn. »Was meinst du, Orchid?« »Ich spreche über das Thema Glück.« Viktor verstand nur Bahnhof. »Gut, Glück – ja, aber was ist daran so lustig?« Orchid lachte noch einmal herzlich. »Nichts, Viktor, nichts ist an den Begriffen Glück oder

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auch Schicksal lustig. Lustig waren für mich nur deine Gedanken am Anfang deiner Reise, noch bevor wir uns trafen. Als du in dem Haus aufwachtest, zuerst in dem Glauben, möglicherweise mit dem Flugzeug abgestürzt und im Krankenhaus wieder zu dir gekommen zu sein. Danach bist du hinaus auf die Wiese gelaufen und das Haus war plötzlich weg. Da hast du mit deinem Glück gehadert. Du sagtest, dass dein Chef einfach immer mehr Glück hätte als du, selbst beim Sterben.« Orchid schmunzelte. »Ja, aber so sehe ich das auch.« »Auch jetzt noch, nach unserer Reise?« »Orchid, ich weiß eigentlich nicht, ob...?« »Ob Du nicht vielleicht doch tot bist und dein Chef wieder einmal das ganze Glück für sich gepachtet hat?« Viktor biss sich auf die Lippe und schwieg. »Nein, keine Angst, du bist nicht tot und die Sache mit dem Glück, dem Schicksal und dem Hadern, darü-ber möchte ich mit dir reden.« Viktor stapfte wortlos weiter durch den Schnee in Richtung Gipfel. In der Zwischenzeit donnerten immer wieder Helikopter über sie hinweg. »Hast du das Gefühl, Viktor, dass dein Leben vorbe-stimmt ist?« »Das ist keine einfache Frage. Einerseits denke ich mir, dass etwas dran ist, dass irgendein Masterplan ab-läuft, den ich als kleine, menschliche Ameise nicht über-sehen kann – auf der anderen Seite motiviere ich mich je-den Tag aufs Neue und sage mir, dass ich selbst für mein Leben und das Leben meiner Familie verantwortlich bin

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und deshalb sehr wohl Einfluss nehmen, beziehungs-weise mein Leben eigenständig und eigenverantwortlich gestalten kann. Und wie ist es wirklich?« »Nach meinen Erkenntnissen ist es eigentlich so, wie du es gerade erklärt hast, Viktor. Du hast den Verlauf dei-nes Lebens gewissermaßen in der Hand, doch eben nur gewissermaßen. Die Einschränkung mache ich deshalb, weil es ein energetisches Miteinander auf der Erde gibt, und nicht nur dort, sondern im gesamten Weltall. Das be-deutet, es spielt eine Rolle, wie die Planeten zueinander stehen, welchen Abstand und welches Energieverhältnis sie zueinander haben. Es ist wie bei aller Materie, die es zum Beispiel auf der Erde gibt. Sie wird in ihrer atomaren Struktur wie die Planeten im Sonnensystem quasi durch energetische Verhältnisse miteinander verbunden. Es ist sehr vereinfacht gesagt, so, dass es gewisse Entsprechun-gen im Makrokosmos und Mikrokosmos, sprich: in der Dimension Planeten und Weltall gegenüber den Mikro-organismen in Körper- und Materialzellen gibt. Was ich dir eigentlich damit nur andeuten möchte, ist, dass im Moment deiner Geburt eine bestimmte Planeten-stellung zueinander und somit ein bestimmtes Energie- und Kräfteverhältnis herrschte. Das bedeutet, die Sterne am Himmel standen in gewissem Abstand zueinander; und das hat wiederum einen Einfluss auf dein Leben, auf deine Charakteristika. Der Startpunkt, wo und wann du die Welt betreten hast, spielt eine große Rolle. Versuche es dir einmal so vorzustellen: Du hast eine große, senkrechte Holzplatte. Auf der ganzen Platte sind – immer im Abstand von wenigen

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Zentimetern – unzählige Nägel eingeschlagen. Dann, als Symbol deiner Geburt, wirft man eine Kugel, die kaum kleiner ist, als der Abstand zwischen den einzelnen Nä-geln, von oben ins Spiel. Der Schwerkraft gehorchend, sucht sich die Kugel den Weg nach unten. An jedem Na-gel, auf den sie trifft, fällt allerdings eine folgenschwere Entscheidung: Links oder rechts? Schließlich entscheidet das energetische Verhältnis und die Kugel bewegt sich in eine bestimmte Richtung weiter. So ist das auch mit deinem Leben, den Begriffen Glück und Schicksal. Laut meiner Erkenntnis ist nicht global vorherbestimmt, was, wie, wo passiert. Doch jeden Moment, jeden Tag, musst du dich entscheiden, welchen Weg du einschlägst. Dein momentaner Gemütszustand in der jeweiligen Situation leitet dich weiter voran. Lass uns bei dem Symbol mit dem Holzbrett bleiben! Wenn die Kugel unten am Brett angelangt ist, schließlich das Brett verlässt und zu Boden fällt, dann bist du auch am Ende deines Lebens angekommen. Das Ende des Brettes soll deinen Tod symbolisieren. Doch wo deine Kugel es verlässt, ob mehr links oder mehr rechts, ent-scheidet sich im Laufe deines Lebens. Dein energetischer Anfangszustand, die zum jeweiligen Zeitpunkt „X“ herr-schenden Energieverhältnisse und dein eigenes Handeln sind für den Verlauf und Ausgang deines Lebens verant-wortlich.« »Das heißt, ich habe einen gewissen Einfluss auf den weiteren Verlauf?« »Ja, einen gewissen, aber keinen endgültigen. Es sind zu viele Faktoren, zu viele Dinge, die jeden Tag passie-

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ren, die deinen Entwurf, deinen Plan durchkreuzen können. Dagegen bist du nicht gefeit. Das ist der Zufall des Moments. Empfindest du ihn positiv, nennst du ihn Glück, empfindest du ihn negativ, heißt er Pech. Suchst du einen Überbegriff, dann ist es Schicksal. Es ist aber nicht so, dass einzelne, kleine Dinge dei-nes Lebens vorherbestimmt sind. Ganz sicher nicht. So kannst du Dir auch erklären, dass ein charakterlich fieser und unpassabler Mensch möglicherweise ein gesundes und wohlhabendes Leben führen kann; dagegen stirbt oft ein wunderbarer, guter Mensch, der ein Leben lang unter Armut und Unterdrückung gelitten hat, vielleicht noch allzu früh an einer Krankheit. Es gibt alle Varianten und daher schau positiv nach vorne. Mach dir nicht zu viele Gedanken, denn es kommt nach der reinen Wahrscheinlichkeit oft ganz anders. Lebe dein Leben und nimm die Probleme - genau wie die schönen Momente – so, wie sie kommen und konkret auftauchen. Genieße die positiven Erlebnisse, lebe sie in-tensiv und löse dich davon, darüber nachzudenken, wie dein Leben sein wird, wenn sie wieder vorbeigegangen sind.« Viktor sah Orchid zustimmend an. »Danke, Orchid, das hilft mir sehr. Aber wenn das wirklich so ist, wie kamst du dann auf mich; wie wuss-test du, dass ich derjenige bin, dem du das alles erzählen sollst? Du sagtest, du hast mich auserwählt.« Orchid grinste. »Sehr gut kombiniert, Viktor, und hier kommt meine ehrliche Antwort: Ja, ich habe dich auserwählt, weil du

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alle Anforderungen erfüllst; du bist aber natürlich nicht der einzige auf der Welt, auf den das zutrifft. Doch du warst im entscheidenden Moment, also in dem Moment, in dem ich mich entscheiden musste, derjenige, der mir zur Verfügung stand.« Dieser Gedanke gefiel Viktor. »Also hatte ich doch einmal Glück!« Orchid lächelte. »Freut mich, dass du das jetzt so siehst.«

Unterdessen waren Orchid und Viktor nach ihrer Wan-derung über die Schneefelder am Gipfel angekomen. Nur noch wenige Schritte davon entfernt, hielt Orchid an und verharrte für einen Moment schweigend. Dann nahm er Viktor an der Hand und ging mit ihm zusam-men die letzten paar Meter. Vor ihnen lag eine Hochebe-ne, wunderschön in das Bergmassiv eingebettet. Viktor erblickte ein Bergdorf, wie man es aus den Pro-spekten zu den schönsten Skigebieten der Welt kennt: Chalets und Hotels, wohin man sah. In der Mitte des Ortes eine kleine Dorfkirche. Neben dem Ort – auf ei-ner weitreichenden Fläche – parkte ein Helikopter neben dem anderen. Viktor rieb sich die Augen. So etwas hatte er wahrlich noch nie gesehen. »Was ist hier los, Orchid?« Viktor konnte seinen Blick nicht von dem kleinen Ort mit den vielen Hubschraubern abwenden. »In dem Dorf findet eine Konferenz statt. Eine Kon-ferenz der Mächtigen, der Engagierten und der Blender.

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Hier wird über die Welt diskutiert, über Umweltver-schmutzung und Wirtschaftsprobleme, über Armut und Klimawandel – über die Globalisierung der Erde. Es ist die PR Abteilung der Verborgenen. Hier trifft sich Politik und Gesellschaft. Die Wasserträger und Erfüllungsgehil-fen der Verborgenen. Die Wichtigtuer und die Verräter, die ihre Herde im Stich lassen, um von den Verborgenen für ihre Dienste gelobt zu werden.«

Orchid machte eine gleitende Handbewegung. Plötz-lich hingen er und Viktor in einem Lenkdrachen und sie schwebten hinunter in Richtung Ort. »Orchid, sind hier auch Verborgene?« »Ich zeige es dir gleich, Viktor, schau genau hin.« Orchid steuerte den Paraglider an einem Konferenz-saal, eigentlich mehr einer mittelgroßen Halle, entlang. Vor dem Bau waren überall unzählige Sicherheitskräfte und Bodyguards postiert. Wie durch Geisterhand betrie-ben, stoppte das Fluggerät neben einem der großen Fens-ter und blieb in der Luft stehen. »Sieh hinein, Viktor.« Viktor erkannte Hunderte Konferenzteilnehmer; viele von ihnen waren ihm durchaus aus dem Fernsehen be-kannt: Politiker, Wirtschaftskapitäne, Journalisten. Orchid schnippte mit dem Finger. In derselben Sekun-de waren die Menschen im Saal wieder mit Tierköpfen zu sehen. Alles, wie es Viktor schon kannte: Die meisten waren Schafe, einige Wölfe und nur ein einziger der An-wesenen hatte keinen Kopf. Viktor hatte sich aber sehr genau gemerkt, wer an dieser Stelle saß.

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Er sah Orchid mit ernster Miene fragend an: »Das ist ein sehr bekannter Mann – er ist wirklich ein Verborgener?« »Ja, Viktor, und er ist von allen anwesenden Politikern der einzige Verborgene. Doch es gibt noch einen zweiten. Schau mal, der Wolf, der genau neben unserem Verbor-genen steht, hast du dir gemerkt, wer sich hinter dieser Wolfsmaske verbirgt?« »Ja, er ist ebenfalls einer der mächtigsten Politiker dieser Erde!« »Genau, Viktor, und einer der skrupellosesten. Er hat sich durch seine politischen Instrumentarien in die Po-sition gebracht, sich gegen den einen oder anderen Ver-borgenen massiv aufzulehnen und auf seine Art zu ent-machten. Er ist nun kurz davor, selbst ein Verborgener zu werden, weil es ihm gelungen ist, das Vermögen dieser ehemaligen Verborgenen auf sich umzuverteilen.« Viktor hatte verstanden.

Orchid beschleunigte den Gleiter, so dass der sich schnell in die Lüfte hob. Er überquerte das Tal, überflog den ge-genüberliegenden Gipfel und steuerte geradewegs auf das dahinter sichtbar werdende Bergmassiv zu. Auf der Spitze des Berges erkannte man eine Burg. Orchid und Viktor näherten sich sehr schnell. Als ihr Fluggerät über dem Schloss einschwebte, war Viktor doch einigermaßen verblüfft. Neben dem historischen und wunderschönen Gebäude auf einer schneebedeck-ten Fläche erkannte er ebenfalls mehrere Helikopter. »Diese Hubschrauber sind vorhin auch über unse-

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re Köpfe hinweg geflogen, doch sie sind hier, auf dem Nachbarberg, und nicht im Dorf gelandet!« Der gesamte Bereich der Festung war von schwer be-waffnetem Sicherheitspersonal hermetisch abgeriegelt. Orchid landete den Gleiter im Innenhof des Schlosses. »Komm, Viktor, wir haben es fast geschafft!« Viktor folgte Orchid durch einen Nebeneingang ins Gebäude. Auch im Schlossinneren waren überall Body-guards postiert, die mit finsterem Blick vor den Türen warteten. Orchid und Viktor öffneten am Ende der Eingangs-halle die massive Tür zu einem großen Saal. Dort amü-sierten sich ungefähr fünfzig gut gelaunte Menschen – Frauen, Kinder, Jugendliche. Sie saßen an mehreren Tischen verteilt; sie plauderten, feixten und aßen Kuchen und Eis. Viktor betrachtete alles genau an. »Die Familien haben bei den Geschäften der Männer nichts verloren. Ihre Männer bilden den Rat der 23. Sie treffen sich alle paar Wochen an den schönsten Plätzen der Welt, um dann die weiterführende Strategie zu be-sprechen.« Viktor hörte aufmerksam zu, warf noch einmal einen Blick in den Saal, bevor Orchid die Tür wieder schloss. »Folge mir!« Orchid steuerte auf eine andere Holztür am Ende der Empfangshalle zu, die ebenfalls von zwei schwer be-waffneten Männern bewacht wurde. Er öffnete sie und trat ein. Viktor folgte ihm auf dem Fuße. Sie befanden sich nun in einem Gewölbegang, der nur durch ein paar

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wenige Fackeln spärlich beleuchtet war. Eine Steintreppe führte steil nach unten. Orchid und Viktor stiegen vorsichtig die Stufen hin-ab und vernahmen aus einiger Entfernung auch schon Männerstimmen. Kurz darauf standen sie plötzlich un-vermittelt auf einer felsigen Empore mit Blick auf einen höhlenähnlichen großen Verliesraum, der ebenfalls nur von Feuerstellen und Fackeln erleuchtet war. An einem ringförmigen, modernen Holztisch mit ungefähr zehn Metern Durchmesser saßen 23 Männer in dunklen An-zügen. Von oben betrachtet, aus Orchids und Viktors Position, war zu sehen, dass der Tisch einen Ring sym-bolisierte, der am Kopfende nicht ganz geschlossen war. An dieser Stelle erkannte man symbolisch die Gestalt ei-nes Diamanten. Es war der Sitzplatz des Präsidenten des Rats der 23. »Hier sind wir nun, Viktor, im Herzen der Verborge-nen! Hier, und nicht unten im Tal, werden die Entschei-dungen getroffen. Hier, und nicht in den Parlamenten der einzelnen Staaten, wird bestimmt, wohin der schöne, blaue Planet, deine Heimat, steuert.« Viktor nahm Orchids Worte zur Kenntnis. Sein Blick und seine Aufmerksamkeit blieben jedoch bei den Män-nern am runden Tisch. Er verfolgte ihre Diskussion sehr konzentriert. Sie unterhielten sich gerade über ein Mit-glied der Regierung eines Entwicklungslandes, das sig-nalisiert hatte, das großzügige, finanzielle Angebot des Rats der 23 anzunehmen, um eintreffende Entwicklungs-hilfegelder in Produkte zu investieren, die wiederum dem Rat der 23 zum finanziellen Vorteil gereichten.

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Viktors Blick wanderte von Mann zu Mann. Er be-trachtete jeden einzelnen der Herren sehr intensiv. Sie waren alle ungefähr im Alter zwischen Mitte vierzig und siebzig Jahren, trugen teure Maßanzüge und wertvolle Uhren. Bei manch einem mag die Krawattennadel mehr gekostet haben, als der Neuwagen eines durchschnittli-chen Menschen. Auffallend war auch, dass bei allen der-selbe Siegelring am Ringfinger der rechten Hand prang-te, der symbolisch die 23 in lateinischen Ziffern zeigte. »Jetzt weißt du, wie die Verborgenen aussehen. Diese 23 Menschen regieren in Wirklichkeit die Welt.« Viktor, dessen Blick immer noch bei den Männern am runden Tisch war, schloss für einen Moment die Augen und neigte seinen Kopf nach hinten; er atmete tief durch und sah Orchid ernst an. »Diese Männer«, Viktor zeigte aufgebracht in Rich-tung der Versammlung, »diese Männer sind nie und nimmer Verborgene.« Orchid runzelte überrascht die Stirn. »Diese Männer da unten sind wie all die anderen, die wir getroffen haben, missgeleitete Schafe und ein paar Wölfe. Keine Verborgenen! Oder doch, entschuldige, Or-chid, einer vielleicht.« Viktor fixierte einen ungefähr sechzig Jahre alten Mann, der unscheinbar mit am Tisch saß. »Ja einer, der da drüben.« Viktor zeigte in die Richtung des Mannes. »Aber das ist sicherlich nicht die Versammlung der Verborgenen dieser Erde. Das würde keinen Sinn ma-chen. Das ist vielleicht irgendeiner dieser Geheimbünde,

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die glauben, sie würden den Gang der Welt maßgeblich mitbestimmen können, nur weil sie sich gegenseitig in bestimmte Positionen hieven und protegieren, sich ge-genseitig Aufträge zuschanzen. Nein, Verborgene wür-den sich nicht so auffällig verhalten, mit Kind und Kegel auf eine einsame Burg auf einen Berg fliegen. Nein, wenn irgendwas von dem, was du mir erklärt hast, wahr ge-wesen ist, Orchid, dann würden diese Menschen sich so nicht benehmen.« Viktor war mehr als aufgewühlt, spürte er doch plötz-lich so ein komisches Gefühl in sich hochkommen. Woll-te Orchid ihn die ganze Zeit nur in die Irre führen? Seine Gedanken kreisten in Lichtgeschwindigkeit. Er bemühte sich um Konzentration, hielt sich dabei die Hände vors Gesicht. Plötzlich berührte Orchids Hand Viktor an der Schulter. Ein wohlig warmes Gefühl durchströmte ihn. Orchid schloss Viktor fest in seine Arme. Als er seine Augen wieder öffnete, sah er, wie Orchid ein paar Tränen über die Wange kullerten. Viktor spürte die Magie des Moments. Orchid räusperte sich: »Ich gratuliere dir, Viktor. Du hast es geschafft. Das hier ist keine Versammlung der Verborgenen. Du hast es sofort gespürt. Dein sechster Sinn hat dir den Weg gewiesen. Du hast den einzigen Verborgenen ebenfalls sofort erkannt. Das wird dir helfen auf dem Weg, dei-nem Planeten einen unbezahlbaren Dienst zu erweisen. Die Verborgenen treten viel unauffälliger miteinander in Kontakt. Sie hinterlassen keine Spuren mit großem Tam-tam. Sie sind zwar als Einzelpersonen, wie du auf unse-

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rer Reise gesehen hast, schon überall vertreten, aber in ihrer Gesamtheit wirst du sie nie auf einem Haufen an-treffen. Diese Männer hier sind nur Erfüllungsgehilfen, ohne es zu wissen. Sie leben in dem Irrtum, sie, der Rat der 23, kontrollierten die Vorgänge auf der Erde. Das ist eine krasse Fehleinschätzung. Sie sind nichts anderes, als wohlhabende Geschäftsleute mit einem Hang zur Welt-verschwörungsromantik. Deine Aufgabe wird es sein, die Schafe unter ihnen wieder auf Kurs zu bringen und ihnen klar zu machen, dass die Menschheit sie als Leitschafe braucht. Die Wölfe werdet ihr in der Gemeinschaft besiegen und die Verbor-genen, die werdet ihr...« Orchid schaute Viktor lächelnd an. »Was werden wir, Orchid? Du hast noch einige Fra-gen nicht beantwortet.« »Keine Angst, ich weiß; dazu kommen wir jetzt, auf der letzten Station unserer Reise. Lass uns gehen!« Viktor warf noch einmal ein Blick zurück auf die Män-ner. Wie klar ihm jetzt alles erschien und wie traurig zu-gleich. Es war nicht mehr die Welt, die er bislang gekannt hatte, aber es war die Welt, in der er, und mit ihm seine geliebte Familie, lebte und auch weiterhin leben musste. Urplötzlich erschien vor ihnen ein gläserner Fahr-stuhl, dessen Tür sich im selben Moment öffnete. Die beiden betraten schweigend den Lift, der sich auch un-mittelbar danach sofort in Bewegung setzte. Der Fahrstuhl verließ die Burg und entschwebte in hoher Geschwindigkeit in Richtung Himmel. Nur einen Wimpernschlag später waren sie bereits am Ziel.

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Sie waren dort wieder angekommen, wo ihre Reise ur-sprünglich begonnen hatte.

Viktor und Orchid standen nahe der einsamen Bank am Meer, bei der sie sich kennengelernt hatten.

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Orchid und Viktor blickten hinaus auf die unendlichen Weiten des Meeres. Viktor atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen. Ihn durchflutete eine Brise des Windes, der die Wellen landeinwärts an die Felsen klatschen ließ, eine Brise, die sich anfühlte, wie die per-fekte Freiheit. Dieses Gefühl durchdrang seinen ganzen Körper, bewegte sich langsam aufwärts in Richtung sei-nes Kopfes, bis die Frische dieses unbeschreiblich erhabe-nen Gefühls sich sogar in den Haarspitzen breit machte. »Wir sind am Ende unserer Reise angekommen«, durchbrach Orchids warme Stimme den wohligen Mo-ment. »Es gäbe zwar noch weit mehr, was ich dir hätte zeigen wollen, aber wir haben leider nicht soviel Zeit. Du hast die Welt nun gesehen, wie sie wirklich ist. Du hast gesehen, wie du tagtäglich manipuliert wirst und mit dir all die anderen menschlichen Schafe da draußen.« »Ja, Orchid, ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, danken dafür, dass du mir endlich die Augen geöffnet hast. Doch das war alles sehr viel auf einmal. Ich weiß gar nicht, wo und vor allem, wie ich anfangen soll«, fügte Viktor leise hinzu. »Ich habe auch noch nicht gesagt, dass wir ganz fer-tig sind«, erwiderte Orchid. »Unsere kurze Reise ist zwar hier zu Ende, aber abschließend muss ich dir – wie die ganze Zeit über versprochen, ein paar Geschichten über mein Volk erzählen. Über all die Dinge, die wir genauso

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falsch gemacht haben, wie ihr, die Menschen des Plane-ten Erde, es im Moment tut. Wer sind wir?, wirst du dich jetzt fragen oder wer bist du, Orchid? Ich bin ein Mensch, ein Mensch wie du, Viktor. Gebo-ren und aufgewachsen auf einem Planeten, welcher der Erde sehr ähnlich ist. Der Planet heißt „Simbar“ und ist viele tausend Lichtjahre von der Erde entfernt. Simbar war im Laufe von Tausenden von Jahren langer, humaner Entwicklung auf dieselben Enden der vermeintlichen Zi-vilisation gestoßen wie eure Zivilisation nun hier auf der Erde. Das war aber lange vor meiner Zeit. Ich bin in dem Simbar aufgewachsen, das nach der großen Revolution entstanden ist und heute noch Bestand hat. Ich bin Wissenschaftler, und als mein Chef auf Simbar mich fragte, ob ich bereit wäre, mich der Erde-Observa-tionsabteilung anzuschließen, sagte ich sofort zu. Viktor verstand nicht ganz. »Der Erde-Observationsabteilung?, was meinst du damit, Orchid?« »Als vor vielen tausend Jahren eine Expedition von Simbar aufbrach, war ihr Ziel, einen anderen Planeten im Weltall ausfindig zu finden, der den Lebensbedingungen auf unserem Heimatplaneten ähnlich war. Meine Vorfah-ren wollten damals herausfinden – im übrigen genau wie ihr Menschen – ob es noch anderes Leben irgendwo im Weltraum gibt. Schließlich erreichte die Expedition den Planeten Erde. Als sie zurück nach Simbar kamen, be-richteten sie begeistert von ihrer Entdeckung. Alles war damals hier auf der Erde noch in der Entstehung. Der blaue Planet schien ein perfekter Lebensraum zu sein.

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Wir, auf Simbar, hatten zu diesem Zeitpunkt die große Revolution ebenfalls noch vor uns. »Welche große Revolution?«, unterbrach ihn Viktor. »Ich werde dir gleich darüber erzählen. Aber jetzt sieh mich zunächst an.« Viktor richtete seinen Blick konzentriert auf Orchid. »Was du hier siehst, Viktor...«, Orchid zeigte auf sei-nen Körper, »Was du siehst, ist nichts anderes als eine Computersimulation. Das soll nicht heißen, dass ich nicht real bin. Nein, ganz und gar nicht. Ich bin so real wie du, nur ist mein wahrer Körper auf Simbar.« Viktor zuckte zusammen. Seine Gedanken schienen einmal mehr mit ihm Karussell zu fahren. »Siehst du, Viktor, das ist, was ich die ganze Zeit ver-meiden wollte, dich zu verwirren. Ich musste dir zuerst die wichtigen Dinge über deine Welt zeigen. Aber, wie versprochen, erfährst du jetzt von mir die ganze Wahr-heit, auch wie es möglich war, dass wir in wenigen Mi-nuten die ganze Welt bereist haben, mitten in Konflik-therden unterwegs waren, ohne selbst betroffen, verletzt, oder gar entdeckt worden zu sein. Die Situationen, in de-nen wir uns befanden, waren real. Sie waren keine Com-putersimulation.« »Warum bist du dann nicht real, Orchid? Das gibt mir kein gutes Gefühl. Es ist wie in einem Traum, eben nicht wirklich.« »Für dich, mein lieber Viktor, soll das auch ein Traum sein. Du wirst zurückkehren in deine Welt, aber du hat-test diesen Traum. Dieser Traum wird in deinem Leben noch eine große Rolle spielen. Doch lass mich dir noch

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kurz erklären, was ich damit gemeint habe, dass ich nur eine Simulation bin und mein realer Körper sich auf Sim-bar befindet. Es ist ganz einfach. Simbar ist Tausende von Lichtjahren von der Erde entfernt. Eine reale Reise von Simbar zur Erde dauert trotz unseres hohen technischen Entwicklungsstandes viele Jahre. Daher haben wir ein Verfahren entwickelt, welches es uns ermöglicht, in Form einer Realprojektion anwesend zu sein, ohne wirklich die lange Reise physisch antreten zu müssen. Diese Technologie wird bei euch auf der Erde ebenfalls einmal eine große Rolle spielen. Da bin ich mir ganz sicher.« »Und deine Gestalt, Orchid, ist das deine wahre Ge-stalt? Bist du wirklich blind?« Orchid lachte herzlich. »Mein lieber Viktor, ich bin mittlerweile einhundert-zwanzig Jahre alt. Was du vor dir siehst, ist meine wirk-liche Gestalt. Ja, ich sehe so aus.« Orchid schmunzelte erneut. Auch Viktor konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Dass ich nicht blind bin, habe ich dir versucht zu er-klären. Ich habe nur vor einigen Jahren mein Augenlicht eingebüßt und kann daher meine Augen nicht mehr als Sinnesorgane benutzen. Die Augen sind aber in unserer Entwicklungsstufe nicht mehr von so großer Bedeutung, wie sie es für dich sind. Bei uns ist das so genannte geis-tige Auge, der sechste Sinn, dafür sehr ausgeprägt. Auch wir, auf Simbar, haben diesen sechsten Sinn zunächst zu-rück gebildet, die anderen Sinne, wie hören, schmecken, riechen, tasten oder auch sehen, weiterentwickelt. Doch

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als unser Planet eine ähnlich katastrophale Entwicklung nahm, wie die Erde heute, begann mit unserer großen Revolution auch die Rückbildung und Wiedererlangung der Intuition, des sechsten Sinnes, auch das geistige Auge, genannt. Hast du dir jemals Gedanken gemacht, warum der sechste Sinn so bedeutend ist?« »Es hat sicherlich mit der so genannten Bauchent-scheidung zu tun. Manche Dinge tut man, weil man es so fühlt und überstimmt so manchmal seine eigenen Beden-ken. Man tut etwas, was man vielleicht nicht tun würde, hätte man es vollends versucht, zu durchdenken.« »Ja, Viktor, du hast auch das gerade eben intuitiv rich-tig bewertet, ohne es wahrscheinlich vollends durch-dacht zu haben. Ich versuche, es dir einmal so zu erklä-ren: Jede Sekunde des Lebens strömen auf dein Gehirn Tausende verschiedener Informationen ein. Du hörst verschiedene Dinge, du siehst verschiedene Dinge, du riechst, fühlst, schmeckst. All diese Wahrnehmungen auf einmal, könnte dein Gehirn in der Kürze der Zeit, man-gels Kapazität, gar nicht rational erfassen, auswerten, um damit eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Die Verarbeitung all dieser „Daten“, wie man es in der Spra-che der Computer nennt, würde deinen Zentralrechner überfordern. Je mehr verschiedene Eindrücke auf dich einströmen, um so weniger wird es dir gelingen, die Da-tenmengen zu bewältigen. Dies bedeutet: In einer großen Stresssituation entscheidet der Mensch auf Basis einer Fähigkeit seines Gehirns, über die er sich nicht mehr im Klaren ist. Dann benutzt er seine Intuition, seinen sechs-ten Sinn. Damit hat die Natur dem Menschen, wie auch

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vielen Tieren, eine fantastische Fähigkeit zugespielt, um in kürzester Zeit eine optimale Entscheidung treffen zu können, obwohl man die bewussten Sinne weitgehend nicht auswerten kann. Viele Menschen sagen, sie hätten die Entscheidung aus dem Bauch heraus getroffen, ande-re erzählen, sie hätten ihr Herz entscheiden lassen. Es ist immer dasselbe damit gemeint: Der sechste Sinn – das Sinnesorgan im Inneren deines Ichs.« »Ja, ich weiß Orchid. Ich habe mein ganzes Leben im-mer auf meine innere Stimme gehört, darauf vertraut und wurde von dieser Intuition nie enttäuscht.« »Siehst du, noch eine andere Umschreibung: Dei-ne innere Stimme. Und das ist genau der entscheiden-de Unterschied zwischen Mensch und Computer. Der Computer hat diesen sechsten Sinn nicht und kann ihn auch nicht entwickeln. Darin wird ihm das menschliche Gehirn immer überlegen sein. Wir sind jetzt ein wenig vom Thema abgekommen, aber ich wollte dir nur kurz erläutern, warum die Augen allein dich nicht zu einem Sehenden oder gar zu einem Blinden machen können.Doch zurück zu deinen Fragen und zur Erklärung, was heute mit dir passiert ist. Spürst du, wenn ich meinen Arm um deine Schultern lege?« Viktor bewegte kontrollierend seinen Oberkörper, sah dann Orchid zustimmend an. »Ja, ich spüre deinen Arm.« »Also bin ich doch auch real, Viktor, oder nicht?« »Ja, ich habe das auch nicht angezweifelt, aber du sag-test, dass dein wahrer Körper eigentlich auf Simbar, und das, was ich sehe nur eine Art Simulation ist.«

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»Ja, Viktor, aber du spürst mich, weil du auch eine Simulation bist, sprich dein Körper ist gerade ebenfalls ganz woanders.« Viktors Augen weiteten sich. Er verstand in dieser Se-kunde nicht wirklich, was mit ihm geschah. »Gut, gut. Also wir sind beide eigentlich nicht hier. Dennoch plauschen wir miteinander, schauen auf das Meer, spüren die Brise des Windes und ich fühle, dass du deinen Arm um mich gelegt hast. Orchid erwiderte ein trockenes aber freundliches: »Ja, ja, so ist es. Alles ist in bester Ordnung Viktor. Um es noch einmal in deiner Sprache auszudrücken: Du träumst gerade. Dennoch wirst du diesen Traum nicht vergessen haben, wenn du wieder in deiner Welt zurück sein wirst. Für uns beide ist es in der Tat eine reale Be-gegnung. Du hast Erkenntnisse gewonnen und wirst deinen Planeten anders sehen. Du wirst ihn durch dein Handeln verändern. Du weißt alles über die Schafe, die Wölfe und die Verborgenen. Du weißt, welche Ängste geschürt werden, welche weltlichen, aber auch religiösen Repressalien benutzt werden, um die Menschen gefügig zu machen. Du hast gesehen, wozu Leitschafe fähig sind. Sie verraten ohne Gewissensbisse die Herde. Sie tun all das für eine einzige Sache, und die heißt “Geld“! Es geht also ausschließlich um das Geld! Dieser Planet wird sterben und mit ihm die Bewohner, wenn ihr nicht aufhört, ausschließlich des Geldes willens zu leben.« »Das habe ich sehr wohl verstanden, Orchid«, unter-brach ihn Viktor, »doch, was soll ich tun, was kann ich

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tun, um das zu ändern? Gerade ich, eines dieser Schafe, die weder reich – noch einflussreich sind.« Orchid führte Viktor wortlos zur Bank. Die beiden setzten sich. »Ich habe dich ausgewählt, Viktor, weil du ein sehr guter Mensch bist. Ist es dir noch nicht aufgefallen, wann immer einer deiner Freunde ein Problem hat, sie kom-men zu dir, um sich Rat abzuholen. Wann immer einer deiner Kollegen nicht weiter weiß, er kommt zu dir, um sich helfen zu lassen. Deine Frau, und deine Kinder, sie lieben dich. Für sie bist du der Größte, der beste Mann und Vater der Welt. Und weißt du, was? Du bist es auch. Schau, und selbst dein Chef, er vertraut dir und verlässt sich auf dich, auch wenn er dann deine Ideen als seine ei-genen verkauft. Er ist ein armes Schaf, viel ärmer als du, aber er ist nicht wirklich böse. Er ist einfach ein Phrasen-drescher. Doch auch ihn, so wie alle anderen, kannst du wachrütteln; du kannst diese Menschen aufwecken und ihnen klar machen, dass sie alle zusammenhalten müs-sen, dass sie furchtlos sein müssen, dass sie gemeinsam alle Wölfe und auch alle Verborgenen besiegen können. Aber eben nur gemeinsam!« Orchids Worte erwärmten Viktors Herz. Noch nie hatte irgendjemand ihn so gelobt. Es stimmte, die ande-ren kamen zu ihm, wann immer sie irgendwo der Schuh drückte, aber gelobt wurde er dafür kaum und revan-chiert hatte sich bislang ebenso selten irgendjemand. »Das liegt daran, dass du stark bist, Viktor. Die ande-ren hatten nie das Gefühl, dir helfen zu müssen. Viel-mehr warst du für sie immer der Fels in der Brandung.«

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»Aber ich war doch nie etwas Besonderes. Ich bin kein Politiker, kein Filmstar, nichts dergleichen.« »Und dennoch sind sie alle zu dir gekommen. Vers-tehst du?« »Vielleicht, weil ich ihnen zugehört habe.« »Nein, nicht nur deshalb, sondern, weil du auch im-mer einen Rat oder eine Lösung für sie hattest, Viktor!« Orchid umschloss Viktors rechte Hand. »Viktor, du bist ein Führer, ein Leitschaf. Du kannst es ändern. Du kannst diese Welt zu einer besseren machen. Glaube an deine Gabe. Glaube an deine Möglichkeiten! Glaube an die Menschheit und höre nie auf, zu kämpfen. Es wird schwierig und es wird eine Weile dauern, doch höre nie auf, an dich und diesen Planeten zu glauben.« »Was soll ich tun? Wie soll ich anfangen?« Orchid schmunzelte. »Es ist ganz einfach. Die große Revolution in meiner Heimat, dem Planeten Simbar, wurde ebenfalls ausgelöst von einer einzigen Person, einem Mann, namens Mo-nard. Er war sehr klug und in unserer damaligen Gesell-schaft eine große Ausnahme. Die Gesellschaftsform, wie wir sie hatten, die Struktur der Aufteilung des Planeten in Hoheitsgebiete einzelner Nationen, mit Hunderten einzelner souveräner Staaten, verschiedenen Religionen und der Macht des Geldes war identisch mit den heuti-gen Zuständen auf der Erde. Monard war, gemessen an dem was er tat und wie er lebte, eigentlich Philosoph, verdiente seinen Lebensun-terhalt aber als Kaufmann. Hätte er es gewollt, er wäre sicherlich ein sehr reicher Mitbürger Simbars geworden.

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Sein Augenmerk galt aber nicht seinem eigenen Reich-tum, oder rücksichtslosen und egoistischen Belangen, sondern allen Bürgern und Lebewesen von Simbar – nicht nur einer kleinen, erlesenen, kapitalen Oberschicht. Wir hatten damals zudem dasselbe Problem mit der Verschmutzung unserer Umwelt wie ihr. Auch wir blie-sen all die giftigen Abgase in unsere wunderbare Atmo-sphäre. Tausende Dichter und Denker, aber auch Wis-senschaftler und Journalisten warnten vor dem völligem Kollaps unseres Planeten. Sie warnten, sie kritisierten, sie rüttelten wach, aber sie hatten weder den Mut, noch die Idee, etwas zu ändern. Bestimmte Regionen waren zwischenzeitlich so unwirtlich geworden, dass die Be-wohner in gigantischen Völkerwanderungen in andere Länder einfielen und sich dort niederließen. Dies führte schließlich zu politischen Konflikten, aber auch zu krie-gerischen Auseinandersetzungen, Armut, Tod und Ver-nichtung. Wir hatten ebenfalls eine Hand voll, den gesamten Planeten dominierende Länder, beziehungsweise Regie-rungen. Sie suchten, genau wie bei euch auf der Erde, nach ihrem jeweiligen Vorteil. Aber, glaube jetzt nicht, dass die Politiker nach dem Vorteil für ihr Land suchten. Nein, sie suchten nach dem Vorteil für die Menschen im Hintergrund, die ihre Wiederwahl mit ihrem Kapital si-cherstellten. Sie suchten nach dem Vorteil für diejenigen, die wir nach der Revolution die Verborgenen nannten.« »Und was hat dieser Monard dann getan? Wie konnte er wirklich etwas bewegen, obwohl er, wie du sagtest, doch nur ein kleiner Kaufmann war?«

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»In wenigen Sätzen gesagt: er hat ein sehr durchdach-tes System erarbeitet. Das Prinzip ist recht einfach, weil es natürlich ist. Die Umsetzung dagegen, da hast du schon Recht, Viktor, ist äußerst schwierig, weil du zunächst das Bewusstsein in den Köpfen der Menschen schaffen und sie aus ihrer Lethargie wecken musst. Doch lass mich dir zunächst über die Inhalte erzählen. Monard hatte erkannt, dass die Verborgenen, bezie-hungsweise ihr Kapital und ihr unerbittliches Abziehen des Kapitals, von den übrigen Bewohnern Simbars zu ei-ner extremen gesellschaftlichen Disbalance geführt hat-te. Wie auch bei euch auf der Erde war das größte gesell-schaftliche Übel, das es auf Simbar gab, die Tatsache, dass Geld gegen Zins verliehen wurde. Ich möchte dir anhand eines kleinen, bildlichen Rechenexempels, welches ein kluger Mensch deines Planeten einst durchspielte, die Macht des Zinses und des Zinseszinses verdeutlichen: Hätte einer deiner Vorfahren vor ungefähr zweitau-send Jahren ein Körnchen Gold mit dem Wert eines ein-zigen Pfennigs zu nur fünf Prozent Zinsen angelegt, hät-test du im Jahre 1749 bereits allein durch die Verzinsung einen Goldklumpen in der Größe der Erde erhalten. Im Jahre 1990, also weitere, nur 250 Jahre später, wäre dein Vermögen auf 134 Milliarden Kugeln Gold in der Größe des Planeten Erde angewachsen. Verstehst du, was ich dir sagen möchte? Es bedeutet, dass der Besitzer des Ka-pitals nicht durch Arbeit sein Geld vermehrt, sondern das Geld wächst von selbst. Geld verdient somit Geld. Geld allerdings ist nur ein toter Gegenstand, ein vom Menschen eingeführtes Tauschmittel, und nichts als das,

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sollte es auch sein. Hätte ein Kaufmann damals den Pfen-nig in Ware investiert, und wäre es ihm nicht gelungen, sie bald wieder gewinnbringend zu verkaufen, wäre die Ware nach einiger Zeit alt, gebraucht und minderwertig oder verdorben und verrottet gewesen. Schon ein paar Tage, Monate, eventuell Jahre später wäre das, je nach Art der Ware, eingetreten. Sieh es aus deiner heutigen Sicht: Du kaufst ein Auto und verleihst es gegen Geld. Du verdienst Geld durch den Verleih, aber der Gegenstand, das Auto selbst, wird alt und hat bald keinen Wert mehr. Beim Verleihen von Geld gegen Zins ist das allerdings anders, denn Geld wird nicht schlecht und nicht alt. So verleihst du, was Geld angeht, immer dieselbe Ware, die nie abnutzt und nie kaputt geht. Das ist auch klar, weil Geld ist eben keine Ware, sondern ein Tauschmittel und Tauschmittel wur-den ganz und gar nicht dazu geschaffen, Profit dadurch zu erzielen, dass man sie verleiht. So forderte Monard ein Gesetz für den ganzen Pla-neten Simbar, in welchem Geld nicht mehr gegen Zins verliehen werden durfte. Geld müsse ein neutrales Tauschmittel bleiben. Übrigens, Viktor, wenn du in der Geschichte des Planeten Erde zurück gehst, wirst du herausfinden, dass genau das über weite Strecken der Menschheitsgeschichte und in den meisten Religionen verboten war, nämlich: Geld gegen Zins zu verleihen. Zins nannte man damals übrigens Wucher. Und wuchern wird beispielsweise einem Tumor zugeschrieben.« Die Rädchen in Viktors Gehirn rotierten. Tausend ver-schiedene Gedanken schossen Ihm durch den Kopf.

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»Das ist ein Märchen, Orchid. Das wird nie funktio-nieren. Genau so wenig, wie ein kommunistisches Re-gime Erfolg haben kann, in dem alle Menschen gleichviel besitzen. Das hast du mir ja selbst noch einmal deutlich vor Augen geführt.« »Falsch, Viktor. Das ist etwas völlig anderes. Ich spre-che nicht von zwanghaft auferlegtem, sondern von dem natürlichen Fluss der Dinge. Festzusetzen, dass jeder das gleiche besitzen soll, ist schwachsinnig und völlig wider die Natur. Die Natur sieht vor, dass es Schwächere und Stärkere gibt. Es sind nicht alle gleich und es sollen nicht alle gleich sein. So ist der natürliche Fluss. Ein Mensch, der fleißiger oder schlauer ist, als ein anderer, wird durch seine Arbeit sicherlich mehr verdienen als ein fauler be-ziehungsweise ein dummer Mensch. Das ist völlig natür-lich und in Ordnung. Aber, warum soll eine Tauschwäh-rung, symbolisiert und repräsentiert durch eine Münze, ein Stück Papier oder wie in der heutigen Zeit nur noch durch eine Zahlenkolonne im Computer, warum sollte diese Sache Geld verdienen können? Das alleine ist wi-dersinnig. Denn das bedeutete, dass die künstlich einge-führte Tauschwährung gegen Geld, sprich Zins, verlie-hen oder man könnte sogar sagen, vermietet würde. Somit ist Geld in der Lage, eigenständig Geld für je-manden zu verdienen, der nichts dafür kann, nichts dafür geleistet hat und nichts dafür leisten wird. Jemand, der möglicherweise – und das kommt jetzt noch zusätzlich erschwerend hinzu – nicht in der Lage wäre, im Sinne eines natürlichen Flusses stark zu sein. Lass es mich hart formulieren: Ein Dummkopf ist damit qua seines ererb-

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ten Vermögens unendlich besser gestellt, als ein kluger und fleißiger Mensch, der durch seinen Einsatz und sei-nen Geist die Erde weiter bringen würde. Monard hat es damals auf Simbar nicht nur erkannt, sondern dann langfristig auch durchgesetzt, dass Geld wieder seinen ursprünglichen Sinn eines Tauschmittels versieht und nicht missbraucht werden darf, um sich wi-dernatürlich zu bereichern und damit den Planeten zu geißeln.« Viktor überlegte. Er versuchte zu durchdenken, was es für die Erde bedeutete, wenn man dasselbe Prinzip hier auf dem blauen Planeten durchsetzen könnte. »Monard bediente sich, um seine Theorie zu verbrei-ten, einer Errungenschaft, die ihr mittlerweile auch hier auf der Erde zur Verfügung habt, nämlich eines Compu-ternetzwerkes, mit dem er in Sekunden die Einwohner von ganz Simbar erreichen konnte. Hier, auf der Erde, habt ihr mit dem Internet ein ähnliches Konstrukt, das von keiner Regierung der Welt komplett beherrscht wer-den kann. Monard wusste, dass es ein brutaler und uner-bittlicher Kampf gegen die Verborgenen werden würde. Sie würden ganz sicher alles daran setzen, um zu ver-hindern, dass sie ihres, über viele Jahre, nein Jahrhun-derte ergaunerten Vorteils, und der damit den Planeten beherrschenden Position beraubt würden. Monard wusste auch, dass er seine Theorien klar for-mulieren und dann über die Kanäle des Computernetz-werkes verbreiten musste. Er richtete gleichzeitig einen virtuellen Planeten im Netzwerk ein, auf dem sich die Bewohner von Simbar zusammenschließen konnten.

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Das Computernetz war nun die einzige Chance, die Kraft der einzelnen kleinen Schafe zu bündeln. Du kannst dir vorstellen, Viktor, dass die Verborgenen anfangs, als sie hörten, dass da ein kleiner Kaufmann zur Revolution des ganzen Planeten aufrief, ihn nicht beson-ders ernst genommen haben. Sie haben ihn nicht einmal belächelt, sondern sie haben ihn einfach nicht wahrge-nommen, nicht beachtet; ganz einfach, weil es noch nie einer wirklich gewagt hatte, eine in ihren Augen abstruse Theorie durchzusetzen. Die Planetenordnung auf Sim-bar war wie in Granit gemeißelt. Es war identisch wie bei euch hier auf der Erde. Keiner hinterfragte mehr ir-gendetwas. Es war einfach so. Kredite aufzunehmen, um etwas zu kaufen, war ganz normal. Der natürliche Fluss war, sinnbildlich gesprochen, irgendwann leise und über viele Jahre einfach umgeleitet worden. Unnatürliches wurde als Gesetz definiert; von Leuten definiert, die ei-nen Vorteil davon hatten. Es sollten jedoch nicht nur eini-ge, wenige Menschen einen Vorteil von einer politischen Entscheidung haben, vielmehr sollten alle in den Genuss kommen. War das nicht einmal so gedacht? Von der Na-tur? Was meinst du, Viktor?« Viktor nickte zustimmend. »Doch die Verborgenen sollten sich in ihrem Größen-wahn irren. Sie sollten sich deshalb irren, weil Monard nichts Unnatürliches forderte, sondern sich mit der na-türlichsten Sache der Welt an seine Herde wandte: Er führte ihnen ihre Situation vor Augen; verdeutlichte, dass sie sich im Laufe der vielen Jahre immer mehr zu Skla-ven oder eigentlich noch zu viel weniger als das haben,

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machen lassen: Zu ersetzbaren, billigen Gegenständen, die gemolken wurden, vorallem finanziell. Gleichzeitig wurde ihnen auf politischer, religiöser und emotionaler Basis simuliert, dass es nur diesen Weg gebe. So sei der Lauf der Welt, der Lauf des Lebens. Monard erklährte ihnen deutlich, dass dies eine per-fide Suggestion sei und dass sich alle viel besser fühl-ten, wenn sie all ihren Mut zusammen kratzten, um sich gegen das System aufzulehnen. Er erklärte der Be-völkerung des weiteren, dass die Gemeinschaft all der menschlichen Schafe da draußen die Wölfe und Verbor-genen leicht werde bezwingen können, wenn sie es nur wollten. Sie müssten sich nur zu einer großen Herde zu-sammenschließen. Dann benannte er die drei unabding-baren Eckpfeiler seines Maßnahmenkataloges: 1) Geld darf kein Geld mehr verdienen. Das Nehmen von Zins und Zinseszins ist verbrecherisch und unter ho-her Strafe verboten. 2) Der Einwohner jeder Republik auf Simbar hat, unabhängig von seiner Staatenzugehörigkeit, ein pla-netarisches Recht, welches dem jeweiligen Staatenrecht übergeordnet wird. In diesem planetarischen Recht sei festgehalten, dass jedem Einwohner von Simbar bei Ge-burt ein Stück Bauland zugesprochen werde. Dadurch gehört zu Lebzeiten jedem Einwohner sein eigenes Stück Land, auf dem er ein Haus bauen kann. Mit seinem Tod erlischt das Eigentum und es fällt an das jeweilige Land zurück. Den Nachkommen sollte jedoch die Möglichkeit gegeben werden, per Erstoption das Land für die Dauer ihrer Lebenszeit wieder vom Staat zu erwerben.

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3) Jeder Einwohner von Simbar ist verpflichtet, pau-schal zwanzig Prozent seines mit Arbeit verdienten Gel-des an den jeweiligen Staat im Sinne einer Steuer zur Er-haltung des Gemeinwohls zu bezahlen. Nicht mehr und nicht weniger. Weitere Steuern gibt es nicht mehr. Darüber hinaus, und das war eine der wichtigsten Errungenschaften unserer Revolution auf Simbar, wurde jeder Einwohner dazu verpflichtet, seinen sechsten Sinn wieder zu trainieren und auszubilden. Dazu wurden zunächst Kurse angeboten, gleichzeitig wurde es in den Kindergärten und Schulen unterrichtet. Dies sollte sich bereits eine Generation später auszahlen. Die Einwoh-ner hatten ihren Sinn in der Breite bereits soweit wieder ausgebildet, dass sie spürten, wo Gefahr lauerte, und ob jemand etwas Böses im Schilde führte. Die Kriminalitätsrate schnellte schon nach wenigen Jahren drastisch nach unten; nach einer einzigen Gene-ration war sie dann schon fast bei null. Ein Wolf hatte, wie ich dir am Anfang unserer Reise auf dem großen Kreuzfahrtschiff zeigte, keine Chance mehr, sich in ei-nem Schafspelz zu verstecken. Jedes humane Schaf, das seinen sechsten Sinn wieder erlangt hatte, erkannte nun sofort, ob es sich um einen Wolf oder um einen Wolf in einem Schafspelz handelte. Die gesamte Bevölkerung von Simbar wurde durch diese Maßnahme zu Ehrlich-keit und Aufrichtigkeit erzogen. Da sie den anderen nun bewusst spürten und er sie gleichermaßen spürte, war es unmöglich den anderen zu betrügen. Wenn das Ge-genüber wie ein offenes Buch vor dir liegt, gibt es keinen Grund, den andern hintergehen zu wollen.

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So entstand dadurch bald ein zuvor nie dagewesenes Gemeinschaftsgefühl.« Orchid wandte sein Gesicht Viktor zu, der regungslos aufs offene Meer starrte. »Viktor, die Menschen hier auf der Erde müssen sich ganz und gar nicht gefallen lassen, was mit Ihnen im Mo-ment passiert. Sie können sich genauso zusammentun wie meine Vorfahren auf Simbar und sich gegen die Ver-borgenen auflehnen. Es bedarf ganz sicher einiger Opfer und auch einiger mutiger Menschen. Doch es wird nicht umsonst sein! Die Welt wird sich dadurch zum wesent-lich Besseren verändern.« Viktor hatte verstanden. »Was ist mit den Verborgenen, den Wölfen, und was ist vor allem mit Monard passiert? Wie geht die Ge-schichte weiter?« Orchid räusperte sich. »Was die Wölfe betrifft: Sie gab es danach nicht mehr. Durch den neu erlangten sechsten Sinn hatten sie keine Chance, ihre verbrecherischen Machenschaften weiter zu verfolgen. Die Verborgenen versuchten zunächst ihren Einfluss geltend zu machen, indem sie all ihre zur Ver-fügung stehenden Mittel aktivierten, um die Revolution zu verhindern. Als sie einsehen mussten, dass es zu spät war, dass die Stimmung umgekippt war und sie verloren hatten, benutzten sie ihr Kapital, um unterzutauchen. Die meisten von ihnen verließen den Planeten Simbar und verschwanden in den Weiten des Weltalls.« »Wo sind sie hin?« »Viktor, ganz ehrlich, wir wissen es nicht.«

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»Aber, Orchid, kann es sein, dass damals auch einige von ihnen hier auf der Erde gelandet sind?« Orchid zögerte einen Moment. »Ja, Viktor, wir können das in der Tat nicht ausschlie-ßen, auch wenn es keine konkreten Anzeichen dafür gibt, außer dass hier auf der Erde genau dasselbe pas-sierte wie in meiner Heimat. Das ist auffällig, aber kein Beweis. Wir haben auf jeden Fall keine einzige konkrete Spur eines Verborgenen aufspüren können, dessen Vor-fahren aus Simbar stammten. Vielleicht kannst du das ja einmal in der Zukunft.« »Was passierte mit Monard?« »Monard wurde Ratspräsident des planetarischen Rates. Er ist der bekannteste Einwohner, den Simbar je hatte. Sein Sohn war mein Vater. Monard war also mein Großvater. Eines der höchsten Prinzipien meines Groß-vaters war im übrigen die Unterbindung der Vettern-wirtschaft. Jeder andere hätte seinen Sohn oder seinen Enkel protegiert. Monard tat das nicht. Er gab meinem Vater alle Liebe, die er geben konnte, und durch seine weisen Ratschläge die Chance auf ein gutes Leben. Nie-mals hätte er es aber zugelassen, seinen Sohn ohne Leis-tung in ein Amt zu heben. Genau so hat es mein Vater mit mir gemacht. Ich habe mich dann als junger Wissenschaftler, wie ich dir erzählte, dafür entschieden, die Erde zu beob-achten, Erkenntnisse zu sammeln und diese mit der Ent-wicklung unseres Planeten zu vergleichen. Es ist aber leider alles so gekommen, wie wir es nicht erhofften. Al-les hat sich ganz genau gleich entwickelt, wie seinerzeit

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auf Simbar. Die Zeit war nun reif, wie wir in der Erde-Observationsabteilung fanden, höchste Zeit, auf deinem Planeten helfend einzugreifen. Wir haben jede Menge Menschen beobachtet, sie analysiert und versucht, den-jenigen der Erdbewohner zu finden, der die Fähigkeiten von Monard hat. So sind wir auf dich gestoßen.« Viktor runzelte ungläubig die Stirn. »Warum gerade auf mich? Monard hatte eine Idee, eine Philosophie. Ich habe keine. Warum habt ihr dann gerade mich erwählt?« Orchid lächelte milde, fuhr Viktor mit seiner knochi-gen Hand über das Haar und nahm ihn fest in den Arm. »Weil du es hast, Viktor. Daran gibt es überhaupt kei-nen Zweifel.« Orchid erhob sich von der Bank. »Mein Vater erzählte mir einmal, dass auch Monard bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in seinem Leben ein ganz normaler Kaufmann war. Dann hatte er, so erzählte es mein Vater, einen Traum. In diesem Traum erfuhr er von einem Fremden die Geheimnisse über Simbar.« Orchid atmete tief durch. »Lebe wohl, Viktor. Es war eine Ehre für mich, dich kennen gelernt zu haben. Nun liegt alles in deiner Hand und ich weiß, dass du es schaffen wirst.«

Orchid wandte sich von Viktor ab und entfernte sich langsam den Weg hinunter, der an den Klippen entlang führte. Viktor sprang aufgewühlt auf. »Orchid, bitte geh nicht. Was soll ich jetzt nur tun? Lass mich bitte nicht alleine hier zurück!«

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Orchid drehte sich noch einmal lächelnd um. »Gott helfe dir!«

Mit der letzten Silbe seines Satzes verschwand er im Nichts. Viktor stolperte hektisch ein paar Schritte zu der Stelle, an der Orchid gerade noch gestanden hatte. Dann drehte er sich taumelnd im Kreis und sah sich überall panisch nach ihm um. Schließlich stieß er einen verzweifelten Schrei in Richtung des offenen Meeres – hinaus in die Unendlichkeit: »ORCHID!!!«

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»Verehrte Passagiere, wir haben gerade unsere Reise-flughöhe verlassen und befinden uns bereits im Lande-anflug. Bitte, schnallen Sie sich wieder an und stellen Sie Ihre Sitze senkrecht. Wir bitten Sie, jetzt auch alle elektro-nischen Geräte abzuschalten. Vielen Dank!« Die freundliche Stimme der Stewardess weckte Viktor aus seinem Traum. Schlaftrunken rieb er sich die Augen. Sein Herz klopfte laut in seiner Brust. Aufgeregt blickte er auf den Platz neben sich. Sein Chef blätterte in einem Magazin. Als er bemerk-te, dass Viktor aufgewacht war, konnte er sich einen Kommentar nicht verkneifen: »Ach, der Herr Brandtner ist auch wieder wach. Ihren Schlaf möchte ich haben! Selbst die heftigsten Turbulen-zen konnten Sie nicht aufwecken.« Viktors Chef schüttelte lächelnd den Kopf und vertief-te sich gleich darauf wieder in seine Illustrierte. Viktor war wie betäubt, er kehrte nur langsam in die Wirklich-keit zurück. Sein Traum hatte immense Spuren hinterlas-sen. Er atmete tief durch. »Geht es ihnen nicht gut?« Viktors Chef konnte sich des Eindrucks nicht erweh-ren, dass Viktor trotz seines tiefen Schlafes ziemlich gerä-dert aussah. »Wo sind wir?« fragte Viktor unsicher. »Gleich da, Herr Brandtner. Vielleicht werfen sie aber

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noch einmal einen Blick in ihre Unterlagen. Wir wollen uns doch bei unserem Kunden nicht blamieren, oder? »Nein, natürlich nicht«, stammelte Viktor, während er unter dem Sitz nach seiner Aktentasche kramte.

Kurze Zeit später verließen Viktor und sein Chef die Flughafenhalle. Sie eilten in Richtung Taxistand. Viktor war immer noch gedanklich weit weg. Alles, was Orchid ihm gezeigt und erklärt hatte, raste noch ein-mal in Lichtgeschwindigkeit vor seinem geistigen Auge vorbei. Noch nie im Leben hatte er so intensiv geträumt und noch nie hatte er sich danach an jede Kleinigkeit er-innern können. »Herr Brandtner, würden sie sich bitte auch einmal um ein Taxi bemühen?« Die Stimme seines Chefs riss ihn erneut aus seinen Gedanken. Sein Vorgesetzter stand – wild fuchtelnd – am Straßenrand und versuchte, ein Taxi anzuhalten. Viktor nickte. Gerade, als er die Hand ausstrecken wollte, um einen Wagen heranzuwinken, entdeckte er auf der anderen Straßenseite einen Mann, einen alten, schlanken Mann mit einem Spazierstock, in einem hellen Leinenanzug, der ihm freundlich zulächelte. Viktor traute seinen Augen nicht. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Orchid – es war Orchid. Eilig griff er in seine Jackentasche und tastete zitternd nach seinem Werksausweis. Tatsächlich, da lag er, zer-brochen in kleinen Stücken, auf seiner Handfläche. In der Mitte blitzte ein schwarzer Punkt mit dem Peilsender. Viktor nickte, hob dann glücklich lächelnd die Hand

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zum Gruß. Gerade, als er Orchid etwas zurufen wollte, hielt ein Taxi neben ihm an. »Na, geht doch, Herr Brandtner. Ein blindes Huhn findet eben auch ab und zu einmal ein Korn.« Der Chef sprang, über seinen eigenen lockeren Spruch höchst amüsiert, eilig in das Fahrzeug. Viktors lächeln-der Blick blieb allerdings bei Orchid. Dieser zwinkerte ihm zu und nickte grüßend mit dem Kopf, als ein Linien-bus auf der anderen Seite der Strasse anhielt und Orchid einstieg. Viktor sah dem Bus noch einen Moment hinterher, als er aus dem Taxi-Inneren schon wieder seinen Chef ge-nervt nölen hörte: »Herr Brandtner, was zum Teufel ist jetzt schon wie-der los?« Viktor grinste über sein ganzes Gesicht, dann beugte er sich zu seinem Vorgesetzten hinunter und warf den zerborstenen Firmenausweis neben seinen Chef auf die Rücksitzbank des Taxis. »Tut mir leid, Chef, ich habe jetzt keine Zeit für den Termin. Es gibt noch sehr viel Wichtigeres zu tun. Ach ja und übrigens, ich kündige hiermit.« Viktors Chef traute seinen Ohren nicht. »Brandtner, machen Sie keinen Mist. Was soll das? Das wird Konsequenzen für Sie haben. Ich kann mich dann nicht mehr vor Sie stellen, hören Sie...« Viktor lächelte; er fühlte sich wie befreit, warf die Ta-xitür zu und gab dem Fahrer das Zeichen, loszufahren. Dann knöpfte er seine Krawatte auf und steckte sie sich in die Jackentasche, während er das Flughafenterminal

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wieder betrat, um den nächst möglichen Flug nach Hau-se zu seiner Familie zu erwischen.

ENDE

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Nachwort

Er saß dort in diesem Café, rührte monoton in seinem Milchkaffee und verfolgte die Nachrichtensendung auf einem Flachbildfernseher, der nur wenige Meter von ihm entfernt an der Wand hing. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm abwenden. Er hatte mich noch nicht einmal flüchtig angesehen, obwohl ich seitlich nur ein paar Schritte von ihm entfernt alleine saß und in einer Zeitschrift blätterte. Viel zu sehr schien er in die Sendung im Fernsehen vertieft zu sein. Ich schlug Seite um Seite meines Magazines um, aber konnte mich nicht auf den Inhalt konzentrieren. Ich war wie in Trance. Ich interessierte mich für diesen Menschen da drüben, der mich nicht beachtete und den ich nicht kannte. Urplötzlich wandte er seinen Blick von dem Fernseh-gerät ab, sah mich an, stand auf und kam die wenigen Schritte herüber zu meinem Tisch. »Entschuldigen Sie, darf ich mich zu Ihnen setzen?« Ohne auf meine Anwort zu warten, nahm er auf dem mir gegenüberliegenden Stuhl Platz. »Mein Name ist Viktor Brandtner. Sie haben mein Sig-nal empfangen.« Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ein Si-gnal empfangen? »Ja, Sie haben sich darüber gewundert, warum ich Sie nicht angesehen habe.«

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Ich legte mein Journal zur Seite und besah mir mein Gegenüber für einen Moment. »Ja das waren meine Gedanken«, bemerkte ich ver-blüfft. »Haben Sie einen Moment Zeit? Ich würde Ihnen ger-ne eine Geschichte erzählen.« Viktor begann über sein Leben zu sprechen. Über sei-ne Frau, seine Kinder, seine Ängste und über seinen Chef mit dem er an besagtem Morgen auf dem Flughafen ver-abredet war, über Orchid und seine Reise.

»Schatz, bist du soweit. Wir müssen bald los.« Die vertraute Stimme gehörte meiner Frau. Wir waren am Abend mit Freunden verabredet und ich war für ei-nen Moment auf dem Sofa eingenickt.

Am nächsten Morgen begann ich die Geschichte aufzu-schreiben, die Viktor in mich hineingeträumt hatte. Als ich fertig war und sie mir noch einmal von vorne bis hinten durchgelesen hatte, spürte ich die Kraft dieses Traums. Es war kein Traum. Es war die Realität. Es ist unser Leben.

Lassen Sie uns das Meer sein.

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