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Volkswirtschaftliche Produktivitiit und volkswirt- schaftlicher Gesamtnutzen Von Otto Frhr. von Mering, Berlin Man kann einen wir~schaftlichen Vorgang unter dem Gesichts- punkt seines Einflusses auf die Produktivit~tt tier Votkswirtschaft oder aber unter dem Gesichtspunkt seines Einflusses auf die Giiter- verteilung betrachten. Beide Betrachtungsweisen sind alt; und es ist unbestritten, daR eine VergrSRerung der volkswirtscha~tlichen Produktivit~t mit grSl~erer Ungleichheit der Realeinkommensver- teilung einhergehen und daher yore Verteilungsstandpunkt tmgiinstig beurteilt werden kann. Derartige Gedankengange finden sich be- reits bei den Klassikern; ihre pessimistischen Ausbticke auf die Ge- staltung der Zukunft der Volkswirtschaft riihren ger~de daher, da~ sie eine unglinstige Realeinkommensverteilung bei gleicher oder nicht ausreichend gestiegener volkswirtschaftlicher Produktivit~t kommen zu sehen glaubten. Andererseits kam ihnen im allgemeinen nicht der Gedanke, dal~ die Befreiung der Wirtschaft yon allen hergebrachten Fesseln zwar die Produktivitat der Volkswirtschaft steigern, aber vielleicht eine ungiinstigere Einkommensverteilung herbeifithren kSnne. Das lag deshalb nahe, weil sic freie Beweg- lichkeit yon Arbeit und Kapital voraussetzten. Immerhin hat sp~ter K. Wicksell gezeigt, daR tier Schutzzoll auch unter tier Voraus- setzung freier Beweglichkeit von Kapital und Arbeit gegebenen- falls eine gleichmal~igere Verteilung des Einkommens bewirken kann. Nun ist aber eine Absch~ttzung der Vor- und Nachteile der Ande- rung der Produktivit~tt einerseits, der £nderung der Einkommens- verteilung andererseits nicht mSglich, solange es an einem brauch- baren Maflstab fehlt. Angenommen beispielsweise, die volkswirt- schaftliche Produktivit~tt, das heil~t das Realeinkommen aller Glieder der Volkswirtschaft zu, sammengenommen, sei infolge irgendeines Vorganges um 10% gestiegen, gleichzeitig abet das Realeinkommen der niedrigsten Einkommensklassen um 5% gefallen -- bei entspre- chend st~trkerer Steigerung des Realeinkommens anderer Einkom- mensklassen. Ist der auslSsende Vorgang in einem solchen Falle positiv oder negativ zu werten? Die Antwort ist willkfirlich. Soll

Volkswirtschaftliche Produktivität und volkswirtschaftlicher Gesamtnutzen

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Volkswirtschaf t l i che Produktivit i i t und vo lkswirt - schaft l icher Gesamtnutzen

Von

Otto Frhr. von Mering, Berlin

Man kann einen wir~schaftlichen Vorgang unter dem Gesichts- punkt seines Einflusses auf die Produktivit~tt tier Votkswirtschaft oder aber unter dem Gesichtspunkt seines Einflusses auf die Giiter- verteilung betrachten. Beide Betrachtungsweisen sind alt; und es ist unbestritten, daR eine VergrSRerung der volkswirtscha~tlichen Produktivit~t mit grSl~erer Ungleichheit der Realeinkommensver- teilung einhergehen und daher yore Verteilungsstandpunkt tmgiinstig beurteilt werden kann. Derartige Gedankengange finden sich be- reits bei den Klassikern; ihre pessimistischen Ausbticke auf die Ge- staltung der Zukunft der Volkswirtschaft riihren ger~de daher, da~ sie eine unglinstige Realeinkommensverteilung bei gleicher oder nicht ausreichend gestiegener volkswirtschaftlicher Produktivit~t kommen zu sehen glaubten. Andererseits kam ihnen im allgemeinen nicht der Gedanke, dal~ die Befreiung der Wirtschaft yon allen hergebrachten Fesseln zwar die Produktivitat der Volkswirtschaft steigern, aber vielleicht eine ungiinstigere Einkommensverteilung herbeifithren kSnne. Das lag deshalb nahe, weil sic freie Beweg- lichkeit yon Arbeit und Kapital voraussetzten. Immerhin hat sp~ter K. W i c k s e l l gezeigt, daR tier Schutzzoll auch unter tier Voraus- setzung freier Beweglichkeit von Kapital und Arbeit gegebenen- falls eine gleichmal~igere Verteilung des Einkommens bewirken kann.

Nun ist aber eine Absch~ttzung der Vor- und Nachteile der Ande- rung der Produktivit~tt einerseits, der £nderung der Einkommens- verteilung andererseits nicht mSglich, solange es an einem brauch- baren Maflstab fehlt. Angenommen beispielsweise, die volkswirt- schaftliche Produktivit~tt, das heil~t das Realeinkommen aller Glieder der Volkswirtschaft zu, sammengenommen, sei infolge irgendeines Vorganges um 10% gestiegen, gleichzeitig abet das Realeinkommen der niedrigsten Einkommensklassen um 5% gefallen - - bei entspre- chend st~trkerer Steigerung des Realeinkommens anderer Einkom- mensklassen. Ist der auslSsende Vorgang in einem solchen Falle positiv oder negativ zu werten? Die Antwort ist willkfirlich. Soll

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die Willkiir vermieden werden, so darf man nicht mit dem Begriff tier Einkommensverteilung arbeiten, sondern mul~ an seine Stelle den Begriff des Nutzens, und zwar, wie gleich ausgefiihrt werden soll, in der Form des v o l k s w i r t s c h a f t l i c h e n G e s a m t n u t z e n s setzen.

Wir verstehen - - durchaus im Sinne tier herrsehenden Theorie - - unter Gesamtnutzen den Nutzen einer Giitermenge (des Realein- kommens) ftir den Besitzer als Funktion der ihm zur ¥erfi igung stehenden Giitermenge und unter Gren~nutzen den Nutzen der letzten TeilquantitKt dieser Giitermenge (des Realeinkommens) M mathematisch gesprochen: die Ableitung des Gesamtnutzens nach der Giitermenge. - - Unter volkswirtschaftliehem Gesamtnutzen wollen wir die Summe der Gesamtnutzen aller einzelnen Glieder einer Volkswirtschaft als Funktion der den einzelnen zur Ver- fiigung stehenden Gfitermengen verstehen, und unter durchschnitt- lichem 'Gesamtnutzen einer Bevfilkerung oder Bevfilkerungsgruppe die Summe der Gesamtnutzen der einzelnen Glieder einer Bevfilke- rung oder BevSlkerungsgruppe dividiert dutch die Anzahl tier Glieder ats Funktion der allen Gliedern zusammen zur Verfiigung stehenden Giitermengen dividiert dureh die Anzahl der Glieder.

Offenbar ist der volkswirtsehaftliche Gesamtnutzen ebenso wie der Gesamtnutzen irgendeiner Bev6lkerungsgruppe eine wohl.be- stimmte Gr5t~e, deren VerKnderung die VerKnderung der materiellen Wohlfahrt einer Personenmehrheit besser darzulegen vermag als der unbestimmte Begriff einer mehr oder weniger gleiehmal~igen Einkommensverteilung, bei dem irgendwie der Gesichtspunkt tier Produktivitgt mit in Betraeht gezogen werden mug. Nur der Be- griff des volkswirtschaftliehen Gesamtnu~zens gestattet es, volks- wirtschaffliche Produktivit~t und Einkommensverteilung zugleich zu erfassen, da der volkswirtschaftliche Gesamtnutzen sowohl yon dem einen wie yon dem anderen Umstand abhangig ist. Aueh der Begriff des volkswirtschaftlichen Gesamtnutzens hat gelegentlich in der Literatur, wenn aueh nieht unter dem bier gewahlten Namen, ¥erwendung gefunden. Man denke etwa an den Grundsatz des minimum sacrifice in der praktischen Steuerlehre yon F. Y. E d g e - w o r t h oder an die Untersuchungen yon K. W i c k s e l l fiber die Be- ziehungen zwischen dem Maximum an Produktivitat und dem Maxi- mum an Bediirfnisbefriedigung. Aber der Begriff des volkswirt- sehaftlichen Gesamtnutzens ist noch weitergehender Anwendung fKhig als bisher geschehen ist. Er kann nicht nur in der Steuer- politik, sondern in der Wirtschafispotitik iiber.haupt, insbesonders in der ~ul~eren Handelspolitik nutzbringend verwendet werden, was nunmehr gezeigt werden soll.

Das Freihandelsargument ,der Klassiker beruht auf dem Ge- danken, dalt das Gesamtprodukt (eigentlieh der Wert des Gesamt- produktes) bei freiem zwischenstaatlichen Austauseh maximal ist, und zwar sowohl vom Standpunkt aller am internationalen Handel

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teilhabenden Lander zusammen, als auch vom Standpunkt jedes ein- zelnen Landes fiir sich genommen. KSnnte man jedes Volk als ver- brauchende Einheit auffassen, so wiirde aus ~dieser Behauptung - - ihre Beweisbarkeit vorausgesetzt - - folgen, dali auch die materielle Wohlfahrt, gemessen am Gesamtnutzen, die grSlttmSgliche ware. Da tier Nutzen jedoch individuell empfunden wird, hat jene Auffassung keinen empirischen Sinn, und die Frage des Einfl~sses des Frei- handels auf die materielle Wohlfahrt eines Votkes kann sinnvoll nur so gesteltt werden, dali nach dem Einfluli auf den votkswirt- schaftlichen Gesamtnutzen gefragt wird. Wenn wir nun der Elm fachheit halber das Freihandelsargument so verstehen, da~ nicht nur der Wert des Gesamtproduktes eines Volkes sich infolge des Freihandels vergrSltert, sondern dab durch den Freihandel die Menge keiner Giiterart verkleinert und .die Menge mindestens einer Giiterart vergr~ltert wird, so ergeben sich .bei Anwendung des Nutzengeset:zes folgende allgemeine Schlultfolgerungen:

1. Wenn das Verhiltnis der durchschnittlichen Einkommens- grSfien der verschiedenen BevSlkerungsgruppen eines Volkes durch den Freihandel nicht verandert wird, so ftihrt der Freihandel zu einer VergrS~erung der materiellen Wohlfahrt des Volkes.

2. Wenn alas Verhiltnis der durchschnittlichen Einkommens- gr6tten der verschiedenen BevSlkerungsgruppen eines Volkes dutch den Freihandel verandert wird, so k a n n der Freihandel zu einer Verringerung der materiellen Wohlfahrt des Volkes fiihren.

Ausgehend yon der Annahme, daft sowohl die durch den Frei- handel geschadigte BevSlkerungsgruppe als aueh die iibrige Be- vSlkerung in sich homogen ,sei, wollen wit das durchschnittliche Realeinkommen der dutch den Freihandel geschidigten BevSlke- rungsgruppe vor bzw. nach Eintritt des Freihandels mit ~1 bzw. ~ (~1:>~), das durchschnittliche Realeinkommen der fibrigen BevSlke- rung vor bzw. nach Eintritt des Freihandels mit ~1 bzw. ~ (~:>~1) bezeichnen. Weiter seien ~ (~) bzw. ~ (~) tier durchschnittliche Ge- samtnutzen der geschidigten,Gruppe bzw. der [ibrigen BevSlkerung, K die Anzahl der zur geschidigten Gruppe gehSrigen Personen, L die Anzahl der iibrigen BevSlkerung. Dann gelten fiir den volks- wirtschaftlichen Gesamtnutzen F~ bzw. F:~ vor bzw. nach Eintritt des Freihandels folgende Definitionsgteichungen:

~ (~., ~) = g. I (~) + C. ~ (¢~). Wenn wir nun der Einfachheit halber den Differenzenquotienten

f(ir das IntervM1 ~ .bis ~i bzw. ¢i bis ¢~ gleich dem Differential- K

quotienten an der Stelle $~ bzw. ¢~ und K + L - k setzen, so gilt

unter tier Voraussetzung:

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f r

die SchluI~folgerung:

x;. [/(~) - - / (~)] > ( I - - k). [~ (C~) - - Ip (C~)] (2) also:

K . [i (~) - - / (~)1 > L . lip (C~) - - ~ (C~)] oder:

E 1 ~ F~.

In Worten, mit tier durch die gew6hnliche Sprache bedingten Ungenauigkei t : Der Yer lus t an Gesamtnutzen des durch den Frei- handel gesch~digten BevSlkerungste i les ist grSt~er als der Gewinn an Gesamtnutzen der iibri~gen BevSlkerung, anders ausgedriickt, der volkswir tschaf t l iche Gesamtnutzen wird durch den Fre ihandel ver- r ingert , wenn der Grenznutzen des Realeinkommens des gesch~tdig- ten BevSlkerungste i les im Verh~ltnis zum Grenznutzen des Real- einkommens der i ibrigen BevSlkerung griil~er ist als die Realein- kommenszunahme der i ibrigen BevSlkerung im VerhRltnis zur Real- einkommensabnahme des geschadigten Beviilkerungsteiles.

Die Ungleichung (1) wird ceteris par ibus um so eher erffillt sein, e r s t e n s je grSl~er ~' (~) im Vergteich zu ~' (~1) ist, z w e i t e n s je k le iner $s--~1 im Vergleich zu ~ - - ~ s i s t , d r i t t e n s je gr~l~er k istl).

Bei der durch Gleichung (2) da~gestellten Schlu~folgerung haben wir eine Tatsache nicht beriicksichtigt, die entgegen der herr- schenden Betrachtungsweise s t renggenommen beriicksichtigt wer- den mii~te, nRmlich die Tatsache, da~ die Nutzeneinbu~e infolge Verschlechterung einer gegebenen Lebenshal tung grSl~er ist als der Nutzenzuwachs infolge Verbesserung einer gegebenen Lebenshal tung von gleichem Ausma~. Wenn beispielsweise A ein Einkommen von 1800 Mark, B ein Einkommen yon 2000 Mark hat, und infolge irgend- eines Vorgange,s sich das Einkommen von A v o n 1800 auf 2000 Mark erhSht, d~s Einkommen von B von 2000 auf 1800 Mark ermafiigt, so ist die materiel le Wohl fahr t yon A und B zusammengenommen vor Ein t r i t t des die VerRnderung herbeif i ihrenden Vorganges grSl~er als nachher. Der Begr i f f des Gesamtnutzens als Funkt ion des Real- einkommens ist daher zwar unentbehrl ich fiir eine exakte Beweis- fi ihrung, aber er ist nur ein n~herungsweiser , kein genauer Aus- druck fiir die materiel le Wohlfahr t ; und lediglich die Tatsache der

~) In Worten: Die Ungleichung (1) wird ceteris paribus um so eher erfiillt sein, e r s t e n s ~e grSfier der durchschnittliche Grenznutzen der ge- schRdigten BevSlkerungsgruppe im Vergleich zum durchschnittlichen Grenznutzen der iibrigen BevSlkerung ist, z w e i t e n s ~e kleiner die Zu- nahme des durchschnittlichen Realeinkommens der iibrigen BevSlkerung im Vergleich zur Abnahme des durchschnittlichen Realeinkommens der ge- schadigten BevSlkerungsgruppe ist, d r i t t e n s je grS~er der Anteil der geschadigten BevSlkerung an der Ge.~amtbevSlkerung ist.

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V e r a n d e r u n g in der Verteilung der Realeinkommen infolge Frei- handels kann eine Nutzeneinbul~e hervorrufen, die bei einem Ver- gleich der Gesamtnutzen vor und nach Eintritt des Freihandels auRer Ansatz bleibt. Freilieh ist diese Nutzeneinbulte zeitlich be- schr~nkt und hat daher ein vergleichsweise geringes Gewicht.

Praktisch werden die Ungleichung (1) und damit die Un- gleichung (2) dann nicht verwirklicht sein, wenn die Steigerung der volkswirtschaftlichen Produktivit~t, mit anderen Worten, die Steigerung des Realeinkommens der gesamten BevStkerung zusam- mengenommen, sehr grol~ ist. Eine etwaige .ungiinstige ¥erschiebung in der Verteilung des Einkommens wird dann durch die Steigerung der volkswirtschaftlichen Produktivit~t iiberkompensiert. Im gegen- teiligen Falle kann die Steigerung der Produktivitat durch Ver- sehlechterung der Einkommensverteilung mehr als ausgeglichen werden. Damit berfihren wit einen wesentlichen Umstand, der ge- eignet ist, die wachsende Verdr~ngung der grollen Freihandelsbe- wegung des 19. Jahrhun4erts dutch schutzzSllnerische Tendenzen mit zu erklaren. Zu Beginn tier Freihandelsiira war die fiir die Be- teiligten zu erwartende Steigerung der volkswirtschaftlichen Pro- duktivitat in vielen Fallen sehr grolt. Der Gesichtspunkt der Steige- rung der Produktivitat gab den Ausschlag. Heute und sehon seit Jahrzehnten haben die unter dem Gesichtspunkt der Produktivitat zu erhoffenden Vorteile geringeres Gewicht; das Moment der Ver- iinderung der Einkommensverteilung tritt in den Vordergrund und wird mehr und mehr entscheidend. Die Verringerung oder Ver- nichtung der Grundrenten des l~tndlichen Groltgrundbesitzes beein- tr~ichtigte seinerzeit den volkswirtschaftlichen Gesamtnutzen ver- gleichsweise wenig. Heute und schon seit llingerer Zeit ist die Lage der selbst~ndigen landwirtschaftlichen BevSlkerung in vielen L~n- dern so, dal~ ihr Realeinkommen dasjenige der industriellen Ar.beiter- schaft nicht mehr iibersteigt, oft dahinter zuriickbleibt. Es leuchtet ein, dal~ in diesem Falle eine Senkung des Lebensstandards der bauerlichen BevStkerung zugunsten der Masse der stadtischen Ken- sumenten den volkswirtschaftlichen Gesamtnutzen verringert. So kann der Agrarzoll -- s o g a r vom rein wirtschaftlichen Standpunkt -- gerechtfertigt werden, auch wenn er die votkswirtschaftliche Pro- duktivit~t vermindert. - - Es braucht kaum hervorgehoben zu wer- den, da~ durch das vorstehende, auf dem Gesichtspunkt des volks- wirtschaftlichen Gesamtnutzens beruhende Schutzzollargument die auf dem Gesichtspunkt der volkswirtschaftl'ichen Produktivit~t be- ruhenden Schutzzollargumente unberiihrt bleiben.

Die Ungleichung (1) weicht insofern yon den empirisch ge- gebenen Voraussetzungen ab, als in Wirklichkeit dem Gesamtnutzen des geschi~digten BevSlkerungsteiles in der Regel nicht einfach der Gesamtnutzen der gesamten iibri,gen Beviilkerung gegeniibersteht, sondern die einzelnen Gesamtnutzen einer mehr oder weniger grofien Anzahl von BevSlkerungsgruppen, die durch den Freihandel einen

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verschieden grofien Vorteil erlangen. Bezeichnen wir zwecks Be- riicksichtigung dieses Umstandes alas gesamte Realeinkommen der dutch den Freihandel gesch~tdigten Bev61kerungsgruppe vor Ein- tritt des Freihandels mit ~l, nach Eintrit t des Freihandels mit ~ , die zugehSrige Gesamtnutzenfunktion mit g, ferner das gesamte Realeinkommen jeder durch den Freihandel begiinstigten BevSlke- rungsgruppe vor Eintritt des Freihandel, s mit ~l, ~ P . . ~ l , nach Eintritt des Freihandels mit ~l=, ~2~... ~,,2, die zugeh6rigen Gesamt- nutzenfunktionen mit ~i, ~ - . . Y&, und setzen wir wiederum den Differentialquotienten gleich dem Differenzenquotienten, das heif t

g (,~i)--g (~) g' (~,.) ----

sowie

(qt + q= + . . . + q~, = 1; q ist pa, ssend gew~hlter Wichtigkeitskoeffi- zient des zugehSrigen Grenznutzens), so gilt unter der Voraus- setzung:

~,' ( ~ ) • p

ql~z (~li) + 'h V'" (C=l) ÷ , . - + %tg-' (C,u)

die Schlultfolgerung-" (~) -- ~ (~)

> ['#])I (CI~) - - '~i (C11)] -'I- ['~2 (C~2) - - '~1'~ (C~1)] -{- " " " + ['~n (Cn~) - - '/Pn (Cnl)l (4)

Bei der Berechnung tier GrSfe der Nutzenver~nderung ist die Feststellung yon Bedeutung, welcher Art die Giiter sind, mit denen die Volkswirtsehaft durch den Freihandel reichlicher bzw. billiger versorgt wird. Handelt es sich um Giiter, die ihrer Natur nach yon der irmeren Bev(}lkerung nicht verbraucht werden, so wird die auf der einen Seite durch den Freihandel bedingte Nutzenvergr~lterung vergleichsweise gering sein, so daft die auf der anderen Seite ein- tretende Nutzenverringerung infolge Realeinkommensverringerung der betroffenen Produzenten leicht das ~bergewicht erhalten kann. Wenn beispiel,sweise in Deutschland die Einfuhr yon Spielwaren durch ZSlle unterbunden wird, so kommen diese ZSlle zum grofen Tell kleinen Gewerbetreibenden (Heimarbeitern) mit bescheidenen Einkommen zugute, w ~ r e n d im wesentlichen nut die wohlhabendere BevSlkerung einen Nachteil erleidet. Selbstverst~tndlich wird auch hier vorausgesetzt, daf eine anderweitige Beschaftigung der Ge- werbetreibenden nicht offer nicht in vollem Umfange durchfiihr- bar ist.

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Die vorstehenden Gesichtspunkte lassen sich sinngemall auf die innere Wirtschaftspotitik, insbesondere die M i t t e l s t a n d s - p o l i t i k anwenden. Zum Beispiel kann die Errichtung und der Betrieb yon Warenh~usern und Einheitspreisgeschaften eine An- h~iufung von Realeinkommen in der Hand weniger Personen zur Folge haben zu Lasten des Realeinkommens vieler setbst~indiger Handel- und Gewerbetreibender, bei nur geringer VergrStterung des Realeinkommens aller Glieder der Volkswirtschaft ,zusammengenom- men; das Ergebnis der freien Wirtschaftspolitik kann dann, selbst wenn man annimmt, dati auch viele Konsumenten einen kleinen Vorteil erzieten, eine Verringerung des volkswirtscha~tlichen Ge- samtnutzens im Vergleich zu dem Zustand sein, der eingetreten ware, wenn man die Gewerbefreiheit zugunsten des sogenannten Mittelstandes beschriinkt hi~tte. Ware Kapital und Arbeit viiltig frei, alas heii~t ohne jede Einbulte beweglich, so kSnnte tier gesch~ftlich gesch~digte Tell des Mittelstandes einen Ausgleich erreichen; so aber wird er vielfach auf seinem Posten ausharren und sich mit einem mehr oder weniger stark verringerten Einkommen begniigen miissen mit dem soeben dargelegten Ergebnis hinsichtlich des volks- wirtschaftlichen Gesamtnutzens. Auch hier wird man feststellen miissen, dal~ die Verh~ltnisse heute anders liegen als um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Der gewaltige Auftrieb, den die volk swirt- schaftliche Produktivitat durch Einfiihrung der Gewerbefreiheit da- mal,s erhielt, hatte, wie man bestimmt annehmen kann, zur Folge, da[l die durch ¥ergrSlterung und Verbilligung tier Produktion be- dingte Nutzenvergriilterung der Verbraucher die durch die Ver- schiebung der Einkommensverh~iltnisse ,bedingte Nutzenverminde- rung iiberwog. Bei der viel geringeren Vergriilterung der Produk- tivit~it, die in der Gegenwart vonder unbedingten Aufrechterhaltung der ,Gewerbefreiheit zu erwarten ist, besteht durchaus die MSgtich- keit, gegebenenfalls ,die Wahrscheinlichkeit, dalt die Verringerung des Gesamtnutzens infolge ungiinstigerer Verteilung des Einkom- mens die VergrSl~erung des Gesamtnutzens infotge VergrSlterung der volkswirtschaftlichen Produktivitat iiberwiegt.

Es ware verfehlt, aus dem Gesichtspunkt des volkswirtschaft- lichen Gesamtnutzens, wie er hier ausgefiihrt wurde, ohne ein- gehende Untersuchung der tats~chlichen Verh~iltnisse praktische wirtschaftspolitische Schlul~folgerungen zu ziehen. In dieser Hin- sicht wird man nur mit grol~er Vorsicht zu Werke gehen diirfen. Aber es ist kaum zu bezweifeln, daii manche tatsachlich ergriffenen wirtschaftspolitischen Mal~nnahmen sich so, wie in diesen Zeilen dar- gelegt, rechtfertigen lassen.