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Vollkommenheit – eine überwundene Rechtsidee? Götz Schulze „Deutlich erkennt man, daß die Entwicklung des Rechts ein langwieriger Prozeß von Erfahrung, Bewährung und Versuchen ist.“ Dies Zitat des Jubilars 1 aus dem Vorwort zu seiner deutschen Rechtsge- schichte in Lebensbildern zeigt den Blick des Rechtshistorikers, für den das Recht und seine Entwicklung unzertrennlich mit ihren Protagonisten, den bedeutenden Juristen, ihrer Zeit und den gesellschaftlichen Rahmenbedin- gungen ihres Schaffens verknüpft ist. In unnachahmlicher Weise hat Klaus- Peter Schroeder von diesem personalen Ansatz aus Generationen von Stu- denten, 2 Mitstreitern und Kollegen für die Ausbildung und für die Rechtsge- schichte als Professor in Heidelberg eingenommen und begeistert. Die nach- folgenden Ausführungen zu der vergessenen Vorstellung von einem voll- kommenen Recht, mit denen ich einen Gedanken aus meiner Habilitations- schrift über die Naturalobligation aufgreife und vertiefe, gehört rechtshisto- risch zu den gescheiterten Versuchen. In verwandelter Form werden sie im nichtpositivistischen Ideal eines vollkommenen Rechts heute jedoch wieder neu belebt. Ich werde die dahingehende These von Alexy zu Begriff und Natur des Rechts vorstellen (I.). Sodann wende ich mich den historischen Ursprüngen eines juridischen Vollkommenheitsdenkens zu (II), um vor die- sem Hintergrund das mit der Rechtslehre Kants verknüpfte vorläufige Ende dieser naturrechtlichen Vorstellung näher zu betrachten (III). Im Ausblick zeigt sich der mögliche künftige Stellenwert einer Vollkommenheitsvorstel- lung für die Rechtspraxis (IV.). I. Die Idee eines vollkommenen Rechts Der Kieler Rechtstheoretiker Robert Alexy hat die im Naturrecht entstande- ne Vorstellung eines vollkommenen Rechts jüngst aufgegriffen. 3 Mit ihr 1 Klaus-Peter SCHROEDER, Vom Sachsenspiegel zum Grundgesetz – Eine deut- sche Rechtsgeschichte in Lebensbildern, München 2001, S. 5. VIII. 2 Aufgrund der besseren Lesbarkeit und fehlender Differenzierungsabsicht benut- ze ich die (meist) maskulinen generischen Substantivformen. Sie beziehen sich auf eine gemischtgeschlechtliche Personengruppe. 3 Robert ALEXY, Inklusiver Nichtpositivismus. Zum Verhältnis von Recht und Moral, in: Christiana Albertina 81 (2015), S. 8, 12; DERS., Die Doppelnatur des Rechts, in: Der Staat 50 (2011), S. 389.

Vollkommenheit – eine überwundene Rechtsidee? · Prozeß von Erfahrung, Bewährung und Versuchen ist.“ ... rechten bürgerlichen Gesellschaft. Vollkommenheit ist hier die Verbindung

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Vollkommenheit – eine überwundene Rechtsidee?

Götz Schulze

„Deutlich erkennt man, daß die Entwicklung des Rechts ein langwieriger Prozeß von Erfahrung, Bewährung und Versuchen ist.“

Dies Zitat des Jubilars1 aus dem Vorwort zu seiner deutschen Rechtsge-schichte in Lebensbildern zeigt den Blick des Rechtshistorikers, für den das Recht und seine Entwicklung unzertrennlich mit ihren Protagonisten, den bedeutenden Juristen, ihrer Zeit und den gesellschaftlichen Rahmenbedin-gungen ihres Schaffens verknüpft ist. In unnachahmlicher Weise hat Klaus-Peter Schroeder von diesem personalen Ansatz aus Generationen von Stu-denten,2 Mitstreitern und Kollegen für die Ausbildung und für die Rechtsge-schichte als Professor in Heidelberg eingenommen und begeistert. Die nach-folgenden Ausführungen zu der vergessenen Vorstellung von einem voll-kommenen Recht, mit denen ich einen Gedanken aus meiner Habilitations-schrift über die Naturalobligation aufgreife und vertiefe, gehört rechtshisto-risch zu den gescheiterten Versuchen. In verwandelter Form werden sie im nichtpositivistischen Ideal eines vollkommenen Rechts heute jedoch wieder neu belebt. Ich werde die dahingehende These von Alexy zu Begriff und Natur des Rechts vorstellen (I.). Sodann wende ich mich den historischen Ursprüngen eines juridischen Vollkommenheitsdenkens zu (II), um vor die-sem Hintergrund das mit der Rechtslehre Kants verknüpfte vorläufige Ende dieser naturrechtlichen Vorstellung näher zu betrachten (III). Im Ausblick zeigt sich der mögliche künftige Stellenwert einer Vollkommenheitsvorstel-lung für die Rechtspraxis (IV.).

I. Die Idee eines vollkommenen Rechts

Der Kieler Rechtstheoretiker Robert Alexy hat die im Naturrecht entstande-ne Vorstellung eines vollkommenen Rechts jüngst aufgegriffen.3 Mit ihr 1 Klaus-Peter SCHROEDER, Vom Sachsenspiegel zum Grundgesetz – Eine deut-

sche Rechtsgeschichte in Lebensbildern, München 2001, S. 5. VIII. 2 Aufgrund der besseren Lesbarkeit und fehlender Differenzierungsabsicht benut-

ze ich die (meist) maskulinen generischen Substantivformen. Sie beziehen sich auf eine gemischtgeschlechtliche Personengruppe.

3 Robert ALEXY, Inklusiver Nichtpositivismus. Zum Verhältnis von Recht und Moral, in: Christiana Albertina 81 (2015), S. 8, 12; DERS., Die Doppelnatur des Rechts, in: Der Staat 50 (2011), S. 389.

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erläutert Alexy seine Grundposition in der immerwährenden rechtsphiloso-phischen und rechtstheoretischen Debatte zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht (sog. Nichtpositivismus). Das Recht besitze danach neben den Elementen der autoritativen Gesetztheit und der sozialen Wirksamkeit als notwendig drittes Element das der moralischen Richtigkeit. Der zu erheben-de objektive Anspruch auf Richtigkeit4 sei orientiert an einem moralischen Ideal der Gerechtigkeit (Richtigkeit erster Ordnung) und deren Verknüpfung mit dem positivistischen Prinzip der Rechtssicherheit (Richtigkeit zweiter Ordnung). Das auf Rechtssicherheit beruhende positive Recht erfahre so eine notwendige Ergänzung durch die diskursiv zu erschließende Gerechtigkeit. Bei ihr gehe es um Fragen der richtigen Verteilung und des richtigen Aus-gleichs (iustitia distributiva und commutativa),5 die in schwierigen Fällen als Gründe der Entscheidung herangezogen werden müssten. Schwierige Fälle seien solche, die nicht allein mit autoritativen, auf Quellen gestützten Grün-den entschieden werden könnten und daher in einem Offenheitsbereich lä-gen.6 Hier greife die Diskurstheorie des Rechts, die in praktischer Rationali-tät (Vernünftigkeit) durch Abwägung des formalen Prinzips der Rechtssi-cherheit gegenüber dem materiellen Prinzip der Gerechtigkeit praktische Erkenntnis ermögliche. Diese Doppelnatur des Rechts verlange, so Alexy, dass das Ideale und das Reale in ein richtiges Verhältnis gesetzt werde:7

„In dem Maße, in dem dieses richtige Verhältnis erreicht wird, entsteht Harmonie im Rechtssystem.“

Die Details der Begründung sind hier nicht von Bedeutung. Für den Rückbe-zug auf ein vollkommenes Recht tritt die Gerechtigkeit als die ideale Dimen-sion des Rechts8 in den Vordergrund. Diese ideale Dimension leitet Alexy aus der Rechtsphilosophie Kants ab, die auf der Vorstellung einer vollkom-menen Rechtsordnung aufbaut, jedoch historisch – wie nachfolgend zu zei-gen ist – auch deren Ende markiert. Vollkommenheit, so Alexy, sei Aus-druck einer Idee von etwas.9 Eine praktische Idee ist nach Kant das, was ein 4 Zur Differenz zwischen privatem Anspruch und objektivem Anspruch Robert

ALEXY, Recht und Richtigkeit, in: The Reasonable as Rational? On Legal Ar-gumentation and Justification. Festschrift for Aulis Aarnio, hrsg. v. Werner Krawietz u.a., Berlin 2000, S. 3, 4.

5 ALEXY, Inklusiver Nichtpositivismus, S. 8, 14. 6 ALEXY, Inklusiver Nichtpositivismus, S. 8, 13f. 7 ALEXY, Inklusiver Nichtpositivismus, S. 389, 398. 8 Zu den normtheoretischen und praktischen Vorzügen der Annahme eines idea-

len Sollens, s. Robert ALEXY, Ideales Sollen, in: Grundrechte, Prinzipien und Argumentation, hrsg. v. Laura Clérico und Jan-Reinard Siekmann, Baden-Baden 2009, S. 21, 32

9 Robert ALEXY, Ralf Dreiers Interpretation der Kantischen Rechtsdefinition, in: Integratives Verstehen. Zur Rechtsphilosophie Ralf Dreiers, hrsg. v. Robert Alexy, Tübingen 2005, S. 95, 106.

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„Maximum zum Urbilde aufstellt“ und die möglichst weitgehende „Annähe-rung zur Vollkommenheit“ fordert.10 Für Alexy geht es in Entsprechung zu seinem normtheoretischen Prinzipienbegriff um die Maximierung der als Ideen vorgestellten Rechtssicherheit und der Gerechtigkeit. Die Idee des Rechts umfasse sowohl die Friedensidee als auch die Idee eines gerechten Rechts. Die Idee der Vollkommenheit sei hierbei die abstrakteste Idee, gleichsam die Idee der Idee.

„Bezieht man sie [die Idee der Vollkommenheit] auf das Recht, entsteht die Idee des vollkommenen Rechts. [...] Kant spricht von der vollkommen ge-rechten bürgerlichen Gesellschaft. Vollkommenheit ist hier die Verbindung von größtmöglicher Freiheit als auch der Idee der größtmöglichen Sicher-heit. Die Idee des Rechts ist ein überwölbender Begriff, d.h. er fasst ver-schiedene konkurrierende Prinzipien in sich und fordert als Idee ihre optima-le Realisierung, wobei die ideale optimale Realisierung ihre vollkommene Realisierung wäre.“11

Das Recht steht danach unter einem verkehrsbezogenen und einem morali-schen Optimierungsgebot. Das vollkommene Recht imaginiert eine voll-kommen gerechte bürgerliche Gesellschaft, auf welche alle Rechtssätze durch den mit ihnen erhobenen Anspruch auf Richtigkeit auszurichten sind. Es gehöre, so Alexy, zur Natur der Idee der Vollkommenheit, dass sie in der Wirklichkeit nur approximativ realisiert werden könne. Der Verweis auf die Idee des vollkommenen Rechts sage wenig darüber aus, was das Recht in der Wirklichkeit sei. Eine mögliche Antwort könnte die Annahme einer unendli-chen Kluft zwischen vollkommener Idealität und vollständiger Faktizität sein.12 Der im Rechtsbegriff eingeschlossene Dualismus von Faktizität und Idealität13 soll auch für die Rechtsanwendung bedeutsam sein.14 Der uralte Glaube an das Absolute und Vollkommene lebt also fort.

10 Immanuel KANT, Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. Wilhelm Weischedel,

Werksausgabe III., S. 323 (B 372). 11 ALEXY, Interpretation, S. 95, 106. 12 ALEXY, Interpretation, S. 95, 107. Zu Alexys Verständnis des idealen Sollens in

Bezug auf die Diskursprinzipien Carsten BÄCKER, Die diskurstheoretische Not-wendigkeit der Flexibiltät im Recht, in: Objektivität und Flexibilität im Recht, hrsg. v. Carsten Bäcker und Stefan Baufeld, Stuttgart 2005, S. 96, 101.

13 Ähnlich deutet Thomas Bonacker den rechtstheoretischen Entwicklungsstand im Hinblick auf einen modernen rechtstheoretischen Naturalismus. Das Recht wer-de auf einen idealisierten Zustand hin entworfen, hinter dem es stets zurückblei-ben muss; BONACKER, Die Unvollkommenheit des Rechts. Was kann die sozio-logische Rechtstheorie von der Dekonstruktion lernen?, in: ZRSoz 22 (2001), S. 259, 261; im Ansatz jetzt auch Christoph MÖLLERS, Die Möglichkeit der Normen: Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, Berlin 2015.

14 ALEXY, Interpretation, S. 95, 109.

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Schaut man zurück, so ist die Rede von vollkommenem und unvollkomme-nem Recht eine Vorstellung des Naturrechts des 17. und vornehmlich 18. Jahrhunderts. Sie ist vor dem Hintergrund einer religiös verstandenen Voll-kommenheitsvorstellung zu verstehen, die schrittweise vernunftrechtlich abgelöst wurde und nach Kant überwunden schien.

II. Historische Ursprünge eines rechtlichen Vollkommenheitsdenkens

Der sündige Mensch bildet den Ausgangspunkt für die frühen Naturrechts-lehren. Die aus der Ursünde abgeleitete Verschuldung gegenüber Gott be-gründet die religiöse Gebundenheit des Menschen.15 Ihr Herrschaftsband hat universellen Charakter. Sie rechtfertigt angeborene (natürliche) Pflichten des Menschen, aus denen sich – ebenso angeborene – (natürliche) Rechte ablei-ten lassen. Die innerliche obligatio in conscientia ist religiöse Bindung16 aber zugleich die Basis für soziales Handeln und damit für die Begründung von Rechtspflichten. Das Moralprinzip der Vollkommenheit bildet den Rahmen für die naturrechtliche Vorstellung eines göttlichen17 oder später kraft menschlicher Vernunft erschließbaren Idealzustandes. Hieran schließt Alexy nahtlos an und ersetzt die metaphysische Vernunft durch den (idealen) rational rechtlichen Diskurs.

1. Vollkommenheit und Pflichtbegriff

Das auf Aristoteles zurückgehende dynamische (entelechiale) Prinzip der Vollkommenheit versucht das Wesen eines Gegenstands durch die adäquate Erfassung seines Zwecks zu bestimmen. Es meint mit vollkommen (teleion) das Ganze, alles, bezogen auf menschliches Verhalten das Gutsein im höchs-ten Grade, die vollkommenste Tugend.18 Auch der antike Naturbegriff ist auf

15 Zur theologischen Herleitung des Obligationsverhältnisses des Menschen ge-

genüber Gott, Gerald HARTUNG, Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obliga-tio vom 17. bis 20. Jahrhundert, 2. Auflage Freiburg i.Br./München 1998, S. 19ff.

16 Der Begriff des forum internum entstand in der spätmittelalterlich verrechtlich-ten Beichtpraxis, Christoph BERGFELD, Zur Jurisprudenz des forum internum, in: Ius Commune XVI (1989), S. 133, 134. Als solitäre Gewissenpflicht begeg-net sie noch heute im katholischen Beichtwesen sowie dem Gelübde und Ver-sprechenseid des Codex Can. 1200 § 1.

17 Bei Thomas von Aquin als ius naturae primaevum, vgl. Dieter SCHWAB, Der Staat im Naturrecht der Scholastik, in: Naturrecht und Staat, hrsg. v. Diethelm Klippel, München 2006, S. 1, 2.

18 RICKEN, Stichwort: teleion (vollkommen), in: Aristoteles-Lexikon, hrsg. v. Otfried Höffe, Stuttgart 2005, S. 574f. Eine noch frühere Erwähnung der „voll-kommenen Tugend“ findet sich bei Hesiod (Werke 276–280, etwa 700 v. Chr.).

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Vollkommenheit angelegt. Nach den platonischen Ideen meint „Natur“ die „Vollformen und Musterbilder der Sinnendinge“.19 Die Natur kann als Vor-bild einen normativen Gehalt entwickeln. Sie dient gleichsam der eigenen Zweckverwirklichung.20 Der Mailänder Bischof Ambrosius (339–397)21 legte seiner christlichen Pflichtenlehre den lateinischen Pflichtbegriff officium zugrunde, der neben dem – eher rechtstechnisch verstandenen – Begriff der obligatio verwendet wurde.22 In seiner 386 n. Chr. verfassten Schrift „De officium ministrorum“ unterscheidet Ambrosius die Pflichttypen: perfecta officia und media officia. Perfecta sind jene Pflichten, die aus der Barmherzigkeit und der Hilfsbereit-schaft folgen. Sie werden als Ratschläge (consilia) erteilt. Ihre Befolgung und Ausgestaltung sind der freien Wahl des Pflichtigen überlassen. Durch sie lässt sich Gnade und Verdienst erwerben.23 Die media officia sind dage-gen Schuldigkeiten und dienen der Vermeidung von Sünde. Derartige Schuldigkeiten umfassen die Verbote des Dekalogs sowie die praecepta iuris des römischen Rechts.24 Die neuzeitlichen Pflichtlehren des Naturrechts gehen in ihrem begrifflichen Rahmen auf Ambrosius zurück.25 Nach der kanonisch-mittelalterlichen Lehre der Vollkommenheit sollten die Menschen zu einem vollkommenen christlichen Leben geführt werden, es sollte ihnen

Dike, Tochter des Zeus und der Themis, verkörpert die Gerechtigkeit. Die Ge-rechtigkeit ist die „vollkommene Tugend, nicht Abend- noch Morgenrot seien so staunenswert“. Vgl. Heinrich HONSELL, Naturrecht und Positivismus im Spiegel der Geschichte, in: Beiträge zum Unternehmensrecht. Festschrift für Hans-Georg Koppensteiner zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Ernst A. Kramer und Wolfgang Schuhmacher, Wien 2001, S. 593f.

19 Platons metaphysischer Vollkommenheitsgedanke ist auf das von allen zu Er-strebende ganz und gar Gute gerichtet. Alles Seiende besitzt eine innere Ten-denz, ein Streben zu analogischer Vervollkommnung, zur Verähnlichung an sein in der Idee wahrhaft Seiendes, ideales Selbst, vgl. HOFFMANN, Stichwort: Voll-kommenheit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band. 11: U–V. Ba-sel 2001, Sp. 1115, 1116.

20 Miaofen CHEN, Zum Begriff der Natur der Sache. Von Ralf Dreiers Begriffsa-nalyse zu Philippa Foots Normbegründung, in: Integratives Verstehen, hrsg. v. Robert Alexy, Tübingen 2005, S. 63.

21 Max POHLENZ, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 1978, S. 466f.; zu Ambrosius Hans. V. CAMPENHAUSEN, Lateinische Kirchenvä-ter, 6. Auflage Stuttgart 1986, S. 128ff.

22 Der Begriff „officium“ wurzelt in der Stoa und führt über Cicero (106–43 v. Chr.) in die christliche Lehre. Zum Verhältnis von officium und obligatio Giu-seppe FALCONE, Obligatio est iuris vinculum, Torino 2003, S. 99.

23 KERSTING, Stichwort: Pflicht, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 7: P–Q. Basel 1989, Sp. 407.

24 Ulpian D.1,1,10,1. vgl. Ulrich MANTHE, Beiträge zur Entwicklung des antiken Gerechtigkeitsbegriffes II: Stoische Würdigkeit und iuris praecepta Ulpians, in: ZRG RA 114 (1997), S. 1, 23.

25 KERSTING, Stichwort: Pflicht, Sp. 407.

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das Ideal des guten Menschen vor Augen gestellt und der Weg dorthin ge-zeigt werden.26 Damit war die christliche Tugendethik umrissen, auf deren Grundlage auch die (natur-)rechtlichen Pflichten entworfen und systemati-siert wurden.27 Unvollkommene Tugend meint dabei lediglich eine mindere Intensität im Streben nach Vollkommenheit. Die scholastische Tradition unterscheidet ferner nach der Äußerlichkeit des Rechts und der Innerlichkeit der Moral. Das äußere Recht betrifft die gute Handlung für andere oder für die Gesamtheit der anderen (ad alterum). Es ist für das gute Zusammenleben maßgebend, bleibt aber notwendig unvollkommen. Die Innerlichkeit der Moral bezieht sich dagegen auf den guten Wert einer moralischen Handlung. Sie meint das Gute schlechthin und assoziiert den Gedanken der Vollkom-menheit.28 Die innere Gewissensbindung steht nicht isoliert für sich, sondern bietet mit der Pflicht zu Wahrhaftigkeit und Treue die Grundlage für die Bindung an das Versprechen29 und damit an die rechtliche Vertragsobligati-on.30 Bei der Ausrichtung des Denkens nach Vollkommenheit ist zu sehen, dass es bis in das frühe 17. Jahrhundert hinein keinen strengen Gegensatz zwischen natürlichem und positivem Recht gab.31 Das religiös geprägte natürliche Recht war vollkommen; es bildete Ursprung und Maßstab für das positive Gesetz32 und war der Orientierungspunkt für ein Vollkommenheitsstreben.

26 Pseudo-Engelhart VON EBRACH, Das Buch der Vollkommenheit, hrsg. v.

K. Schneider, Berlin 2006 (Vorwort: Verbreitete Sammlung kleiner geistlicher Prosatexte, Dicta und Exzerpte, die zu einem guten Teil aus mystischem, spezi-ell dominikanischem Schrifttum stammen. Die reiche Überlieferung bis ins 16. Jahrhundert hinein bezeugt die Beliebtheit und Verbreitung dieser Erbau-ungstexte). Zur göttlichen Vollkommenheit im mittelalterlichen Denken s. HOFFMANN, Vollkommenheit, Sp. 1120–1123.

27 Hans WELZEL, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1962, S. 163; Kurt SEELMANN, Theologische Wurzeln des säkularen Naturrechts – Das Bei-spiel Salamanca, in: Die Begründung des Rechts als historisches Problem, hrsg. v. Dietmar Willoweit, München 2000, S. 215, 218.

28 Gustav RADBRUCH, Rechtsphilosphie, 3. Auflage 1932, S. 37f. 29 Bei Thomas VON AQUIN ist Vertragsbruch Lüge: „Mendacium est, si quis non

impeat, quod promisit“, Summa theologiae, Secunda secundae, qu. 110, art. 3, 5. Die spanischen Juristen der Spätscholastik sehen im Treubruch eine Sünde und entwickeln das nicht annahmebedürftige Versprechen, s. Reinhard ZIM-MERMANN, Vertrag und Versprechen, in: Festschrift für Andreas Heldrich, hrsg. v. Stephan Lorenz u.a., München 2004, S. 467, 468.

30 Franz WIEACKER, Die vertragliche Obligation bei den Klassikern des Vernunft-rechts, in: Festschrift für Hans Welzel, hrsg. v. Günter Stratenwerth, Berlin 1974, S. 7, 20.

31 Jan SCHRÖDER, Recht als Wissenschaft, München 2001, S. 18; SCHWAB, Der Staat, S. 1, 2.

32 Die Glaubenslehre konnte sich auch auf eine apriorische Gültigkeit eines natür-lich-göttlichen Gesetzes berufen, wie es im Römerbrief als Maßstab des göttli-

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Im Anschluss an Christian Wolff (1679–1754)33 hat man im 18. Jahrhundert mit allem Nachdruck betont, dass der Mensch dazu bestimmt sei, sich fort-während zu vervollkommnen.34 Die Vollkommenheit wird zu einem Schlüs-selterminus der deutschen Aufklärung. Auch das Recht dient der sittlich-moralischen Vollkommenheit. Sittlichkeit und Moralität35 entscheiden des-halb über die rechtliche Kategorienbildung. Dabei kommt es jedoch zu einer bedeutenden Umkehrung. Das durchsetzbare äußere Recht wird als das voll-kommene, während das innere, nichtdurchsetzbare als das unvollkommene Recht angesehen wird. Wolff kann von vollkommenen (äußeren) Rechts-pflichten sprechen, weil er Rechts- und Moralpflichten gleichsetzt. Die Ver-pflichtung zur Vervollkommnung (perfectio)36 legitimiere erst die Zwangs-befugnis. Durchsetzbare Rechte hat der Mensch von Natur aus auf alle Handlungen, die nötig sind, seine sittlichen Pflichten nach dem Prinzip der Vollkommenheit zu erfüllen.37 Die Vollkommenheit wird auf diese Weise unmittelbar mit der rechtlichen Durchsetzbarkeit verknüpft und nicht mehr entsprechend den Lehren des Ambrosius nach religiöser oder moralischer Wertigkeit bestimmt.38 Das im Vollkommenheitsstreben hervortretende Op-

chen Gerichts erhalten ist. Römerbrief 2, 14–15: Denn wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun, was das Gesetz fordert, so sind sie, obwohl sie das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie beweisen damit, dass in ihr Herz geschrieben ist, was das Gesetz fordert, zumal ihr Gewissen es ihnen bezeugt, dazu auch die Gedanken, die einander anklagen oder auch entschuldi-gen. (Luther-Bibel, Stuttgart 1985).

33 Wolff sah eine den einzelnen treffende fundamentale Verpflichtung zur Ver-vollkommnung (perfectio), Christian WOLFF, Philosophia practica universalis, Frankfurt 1751, Neudruck Hildesheim 1971, I. 2. § 128.

34 Norbert HINSKE, Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie, in: Die Philosophie der deutschen Aufklärung, hrsg. v. Raffae-le Ciafardone, Stuttgart 1990, S. 407, 424f.; der Wolff-Gegner Crusius meint, das Streben nach Vollkommenheit sei ursprünglicher als die Suche nach dem Glück, Christian August CRUSIUS, Anweisung vernünftig zu leben, Leipzig 1744 §§ 111f., Die philosophischen Hauptwerke, Band 1, hrsg. v. Giorgio Tonelli, Hildesheim 1969.

35 Die Trennung von Sittlichkeit und Moralität geht auf Kant zurück. Die Termini werden synonym benutzt, Stichwort: Sittlichkeit, in: Wörterbuch der philoso-phischen Begriffe, hrsg. v. Arnim Regenbogen und Uwe Meyer, Hamburg 1998, S. 608.

36 Christian WOLFF, Philosophia practica universalis, I. 2. § 128. 37 Christian WOLFF, Institutiones juris naturae et gentium, Halle 1754, § 82; zu den

natürlichen Grundlagen der Pflicht, s. Nele SCHNEIDEREIT, Christian Wolffs Lehre von den iura connata, in: Völkerrechtsphilosophie der Frühaufklärung, hrsg. v. Tilmann Altwicker u.a., Tübingen 2015, S. 165, 168.

38 Christian Wolff spricht von vollkommenen Rechtspflichten, wenn sie mit der Befugnis zu zwingen verbunden sind, Philosophia practica universalis, I. 2. § 235: Jus perfectum dicitur, quod conjunctum est cum jure cogendi alterum, si obligationi suae satisfacere noluerit., vgl. Hans-Ludwig SCHREIBER, Der Be-

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timierungsgebot wechselt seinen Bezugspunkt. Weg von der materialen Ge-rechtigkeit hin zu den Merkmalen der Rechtsicherheit. Die Friedensidee verschmilzt mit der Moral. Die Wolffsche Naturrechtslehre ist in der Rechtslehre weithin rezipiert wor-den. Der Wolff Schüler Daniel Nettelbladt (1719–1791) erklärte die natürli-che Rechtslehre zur Propädeutik der gesamten Rechtswissenschaft.39 Ebenso führt Joachim Georg Darjes (1714–1791) alle zivilen Rechts- und Obligati-onsmuster auf das naturrechtliche Grundprinzip Wolffs zurück.40 Das von Johann Stephan Pütter (1725–1807) und Gottfried Achenwall (1719–1772)41 verfasste und 1753 in Göttingen erschienene Naturrechtslehrbuch Elementa juris naturae entwickelt das Naturrecht in Anlehnung an Wolff unter dem Begriff der Verpflichtung nach dem Gebot der Selbstvervollkommnung.42 Der Vollkommenheitsbegriff war indes selbst nicht eindeutig bestimmt. Wolff veranschaulichte ihn an Beispielen aus der Architektur, etwa der op-timalen Fassadengestaltung.43 Das leitende Prinzip der angestrebten perfectio war der auf Leibniz zurückgehende consensus in varietate,44 die Überein-

griff der Rechtspflicht. Quellenstudien zu seiner Geschichte, Berlin 1966, S. 27f.

39 Daniel NETTELBLADT, Abhandlung von dem ganzen Umfange der natuerlichen und der in Teutschland ueblichen positiven gemeinen Rechtsgelahrtheit, Halle 1772, 2. Abschnitt, § 18, S. 20.

40 Joachim DARJES, Discours ueber sein Natur- und Voelckerrecht, Jena 1762, I, 4. ad §§ 152ff., S. 272ff.; HARTUNG, Naturrechtdebatte, S. 150ff.

41 Zur Person Joachim HRUSCHKA, Das deontologische Sechseck bei Gottfried Achenwall im Jahre 1767: zur Geschichte der deontologischen Grundbegriffe in der Universaljurisprudenz zwischen Suarez u. Kant, Göttingen 1986, Heft 2, S. 3.

42 Johann Stephan PÜTTER/Gottfried ACHENWALL, Elementa juris naturae additis juris gentium europaearum practici primis lineis, (Anfangsgründe des Natur-rechts), Göttingen 1753, 5. § 171 ff.; zit. nach HARTUNG, Naturrechtsdebatte, S. 162.

43 Die Wolffschen Anleihen an der Baukunst sind ein Beleg für die Annahme, dass ästhetische Vollkommenheit und rechtliche Vollkommenheit eine psychologisch gemeinsame Basis im Schönheits- und Gerechtigkeitssinn haben, wie dies Al-bert A. EHRENZWEIG, Ästhetik und Rechtsphilosophie. Ein psychologischer Versuch, in: Dimensionen des Rechts. Gedächtnisschrift für René Marcic, hrsg. v. Michael Fischer u.a., Berlin 1974, Band 1, S. 3ff. darlegt. Für eine postmo-derne Theorie der Rechtsvergleichung Erik JAYME, Narrative Normen, Tübin-gen 1993, S. 36; DERS., Identité culturelle et intégration: Le droit international privé postmoderne – Cour général de droit international privé, Recueil des Cours 1995, S. 9, 31.

44 Clemens SCHWAIGER, Vollkommenheit als Moralprinzip bei Wolff, Baumgarten und Kant, in: Vernunftkritik und Aufklärung: Studien zur Philosophie Kants und seines Jahrhunderts, hrsg. v. Michael Oberhausen, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. 317, 318.

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stimmung in der Mannigfaltigkeit. Die Vollkommenheit auf den Menschen bezogen45 konkretisiert Wolff:46

„Der Inbegriff der sittlichen Gesetze ist das Prinzip der Vollkommenheit.“

Eine abweichende Ausrichtung des Vollkommenheitsgedankens erfolgte durch den Wolff Schüler Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762).47 Nach Baumgarten sind Zielsetzungen, die dem Vollkommenheitsstreben eine sachliche oder eine ästhetische Richtung geben, nicht notwendig. Es genüge die thematische Gemeinsamkeit (Zusammenstimmung), die die Vollkommenheit als einen Brennpunkt (focus) paralleler Lichtstrahlen be-schreibt, welche in einen Punkt zusammenlaufen. Entsprechend zu verstehen sei die Unvollkommenheit. Sie sei defizitär und meine den Mangel an Über-einstimmung oder das Fehlen eines Brennpunkts überhaupt.48 Ebenfalls auf Baumgarten geht die Unterscheidung in eigennützige und fremdnützige Vollkommenheit zurück. Die Selbstvervollkommnung ist Zweck an sich selbst und zugleich Mittel (zum Zwecke anderer).49 Die Differenzierung kehrt in der Matrix unvollkommener und vollkommener sittlicher Pflichten gegen sich und andere in Kants Ethik wieder.50

45 Allgemein bestimmt Wolff die moralische Qualität des Handelns mit Bezug auf

den Vollkommenheitsbegriff: Was unsern so wohl innerlichen, als äusserlichen Zustand vollkommen machet, das ist gut; hingegen was beyden unvollkommener machet, ist böse; WOLFF, § 42, zit. nach Dieter HÜNING, Gesetz und Verbind-lichkeit. Zur Begründung der praktischen Philosophie bei Samuel Pufendorf und Christian Wolff, in: Gedächtnisschrift für Dieter Meurer, hrsg. v. Eva Graul und Gerhard Wolf, Berlin 2002, S. 525, 534.

46 WOLFF, § 43, dazu Klaus LUIG, Die Pflichtenlehre des Privatrechts in der Natur-rechtsphilosophie von Christian Wolff, in: Libertas, Symposion Franz Wieacker, hrsg. v. Okko Behrends und Malte Diesselhorst, Ebelsbach 1991, S. 209, 214.

47 S. zu Baumgarten Ursula NIGGLI, in: Baumgarten, Alexander Gottlieb: Die Vorreden zur Metaphysik, hrsg. v. ders., Frankfurt a.M. 1998, S. XVII-XLV.

48 Alexander Gottlieb BAUMGARTEN, Metaphysica, Halle 1757, § 121, S. 34f., SCHWAIGER, Vollkommenheit, S. 317, 324 Fn. 22 und Fn. 5. Wolff hatte die Unvollkommenheit noch als die Gegenläufigkeit der Tendenzen bei der Erlan-gung ein und desselben Dinges definiert, Christian WOLFF, Ontologia, 2. Aufla-ge Leipzig 1736, Neudruck Hildesheim 1962, § 504 S. 391, dazu SCHWAIGER, Vollkommenheit, S. 318 u. Fn. 4.

49 Alexander Gottlieb BAUMGARTEN, Ethica philosophica, Halle 1763, Neudruck Hildesheim 2000, § 10 S. 4.

50 Tugendlehre, Erste Einteilung der Ethik nach dem Unterschiede ihrer Subjekte und ihrer Gesetze, Immanuel KANT, Metaphysik der Sitten Werkausgabe Band VIII, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1989, S. 546, (A 59).

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2. Der status naturalis als Grundlage für ein vollkommenes natürliches Privatrecht

Für das Privatrecht bestand die Vorstellung, es beruhe auf einer vorpositiven Grundlage, dem sog. status naturalis. Ein gesellschaftlicher Urzustand aus dem heraus sich das Recht entwickelt.51 Die Vorstellungen schwankten al-lerdings bereits in der Antike zwischen der Löwengesellschaft und einem paradiesischen Ideal menschlicher Gemeinschaft.52 Auch im 17. und 18. Jahrhundert hat sich das römischrechtlich geprägte Bild eines nur unter den Bürgern geltenden Zivilrechts erhalten und einen obrigkeitsfernen „natürli-chen Privatrechtsbegriff“ ausgebildet.53 Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts vollzieht die Mehrzahl der deutschen Naturrechtler bei der Beschreibung des Naturzustandes einen Bildwechsel:54 weg von Hobbes radikaler Konzeption eines wilden Kriegszustandes aller gegen alle, hin zu einer vorstaatlichen Gemeinschaft, die die kontraktuelle Entstehung des Staates als naturgegebe-nen Vergesellschaftungsprozess begreift. Samuel von Pufendorf (1632–1694)55 spricht von friedlicher Gemeinschaftlichkeit.56 Im 18. Jahrhundert wird der menschliche Vergesellschaftungstrieb betont. Der sog. Hang zur 51 Diethelm KLIPPEL, Das „natürliche Privatrecht“ im 19. Jahrhundert, in: Natur-

recht im 19. Jahrhundert (Naturrecht und Rechtsphilosophie in der Neuzeit 1), Goldbach 1997, S. 221, 228f.

52 Man unterscheidet 1. den epikureischen Naturzustand: Freiheit, Gleichheit, Ver-einzelung, Barberei, Recht- und Friedlosigkeit, 2. den aristotelisch-thomis-tischen Naturzustand: das Goldene Zeitalter (Vollendung des Menschen nach göttlich-natürlichen Gesetzen) und 3. den stoisch-patristischen Naturzustand: Paradiesischer Idealzustand nach natürlichem Recht. H. HOFMANN, Stichwort: Naturzustand, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 6: Mo–O, Ba-sel 1984, Sp. 653.

53 Klaus LUIG, Natürliches Privatrecht. Die Rolle des Privatrechts in den natur-rechtlichen Gesellschaftsentwürfen des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Europäi-sche Rechts- und Verfassungsgeschichte, hrsg. v. Reiner Schulze, Berlin 1991, S. 103, 106f.

54 Jan ROLIN, Der Ursprung des Staates. Die naturrechtlich-rechtsphilosophische Legitimation von Staat und Staatsgewalt im Deutschland des 18. und 19. Jahr-hunderts, Tübingen 2005, S. 16.

55 Zur zeitgeschichtlichen Einordnung, seinen Lebensdaten und einem systemati-sierten Naturrechtsdenkens, s. SCHROEDER, Sachsenspiegel, S. 63, 74f.

56 Zu Pufendorfs Bild friedlicher Gemeinschaftlichkeit (socialitas) vgl. Hans ME-DICK Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, die Ur-sprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozial-wissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith, Göttingen 1973, 83ff.; und vgl. HOFMANN, Stichwort: Naturzustand, Sp. 654f. (bei Locke handelt es sich um einen ungesicherten Friedenszustand, bei Rousseau nimmt der Naturzustand idyllische Züge an und geht bei Pufendorf in einen Kulturzu-stand des Menschen über).

Vollkommenheit – eine überwundene Rechtsidee ? 397

Geselligkeit habe die Menschen zu einem Leben in Gemeinschaften veran-lasst, die sie über Familien und Stammesgemeinschaften57 hin zu Staatsge-meinschaften führt.58 Wolff ist es auch, der erstmals angeborene, unbedingte und unentziehbare Rechte des Einzelnen aus der geselligen Natur des Men-schen selbst herleitet.59 Den natürlichen Pflichten korrespondieren die natür-lichen Rechte (iura connata). Sie folgen aus der natürlichen Gleichheit und der Freiheit des Menschen. Sie begründen das Recht sich zu wehren und zu verteidigen sowie das Recht zu strafen.60 Natürliche Pflichten des Men-schen61 sind hingegen Gott zu ehren und zu gehorchen, sich selbst zu lieben, zu erhalten und zu vervollkommnen, andere Menschen (wie sich selbst) zu lieben, niemanden zu schädigen, jedem das Seine zuzuteilen sowie Pflichten der Menschlichkeit und Wohltätigkeit. Auch auf die Vertragsgemeinschaft findet das Bild eines ursprünglichen Zustandes Anwendung. Die libertas naturalis konnte durch Vertrag geregelt werden. Ein derart natürliches Ver-tragsrecht62 leitet die bindende Kraft von menschlichen Handlungen unab-hängig von einem Gesetzgeber ab.63 Der Entwicklungsschritt von der Natur zur Kultur und damit zum Recht wird im aufgeklärten Naturrecht sodann wiederum über den Terminus Vollkommenheit vollzogen, denn diese werde erst in der staatlich verfassten Gemeinschaft erreicht. Dem status naturalis wird ein status civilis hinzugestellt, der nach den Präzisierungen Kants64 57 Die societas domestica (einträchtiges Zusammenleben einer Vielzahl von Fami-

lien) ist des Menschen ursprünglicher wahrer status naturalis: „Jeder nur unter der Freyheit der patribus familias lebet.“ Johann Jacob SCHMAUSS, Neues Sys-tema des Rechts der Natur, Göttingen 1754 (Nachdruck Goldbach 1999), S. 456f.

58 Aus diesen Gesellschaften sind dann „ganz natürlich Staaten und Republiken entstanden“, Johann Georg SULZER, Vermischte Philosophische Schriften, Leipzig 1773, Nachdruck Hildesheim/New York 1974, S. 392.

59 WOLFF, Institutiones juris naturae et gentium, übersetzt von Gottlob Samuel Nicolai (Grundsätze des Natur- und Völkerrechts), 1754; näher SCHNEIDEREIT, Christian Wolffs Lehre, S. 165, 166ff.

60 Zur Bedeutung des natürlichen Privatrechts für die Herausbildung von Freiheits- und Menschenrechten aus natürlichen Urrechten, vgl. KLIPPEL, Das „natürliche Privatrecht“, S. 221, 242f.

61 Die Pflichtenkataloge der maßgeblichen Naturrechtslehrer des 18. Jahrhunderts stimmen insoweit überein: Johann Gottlieb HEINECCIUS, Grundlagen des Natur- und Völkerrechts, 2. Auflage 1738, Nachdruck Frankfurt/Leipzig 1994, S. 319; Gottfried ACHENWALL/Stephan PÜTTER, Anfangsgründe des Naturrechts (Ele-menta iuris naturae), Göttingen 1750, dt. Übs. Jan SCHRÖDER, Frankfurt a.M./ Leipzig, 1995, S. 82; Johann Jacob SCHMAUSS, Systema, S. 458.

62 Johann Gottlieb HEINECCIUS, Grundlagen des Natur- und Völkerrechts, S. 322: ... es gab kein festeres Band, die Menschen in jenem Naturzustand miteinander zu verbinden, als die Heiligkeit der Verträge.

63 KLIPPEL, Das natürliche Privatrecht, S. 221, 233f. 64 Kant stellt dem Privatrecht im natürlichen Zustand das des bürgerlichen Zu-

stands gegenüber: „Aus dem Privatrecht im natürlichen Zustand geht nun das

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seine Grundlage im öffentlichen Staatsrechts hat.65 Die öffentlichen Gesetze schützen die bürgerlichen Rechte des Mein und Dein durch Machtbefugnisse zu ihrer Durchsetzung; sie begründen vollkommene Verbindlichkeiten.66

3. Vollkommene und unvollkommene Verbindlichkeiten

Die im Naturrecht sich überlagernden Normbereiche des Rechts und der Ethik werden begrifflich in vollkommene und unvollkommene Verbindlich-keiten getrennt, weil dieser Unterschied67

„bey der Gränzenbestimmung zwischen der eigentlichen Rechtswissenschaft und der Sittenlehre in vorzügliche Erwägung kommt“.

Das Naturrecht gehört als vernunftmäßig erschlossenes Universalrecht neben dem Gesetzes- und Gewohnheitsrecht zu der „eigentlichen Rechtswissen-schaft“.68 Es muss gegenüber Religion, Sitte und Moral abgegrenzt werden. Ebenso ist aus dem Blickwinkel der (moralischen) Sittenlehre das Naturrecht auszugrenzen. Für beide erfolgt dies über die vollkommene rechtliche Ver-bindlichkeit69 gegenüber dem nicht einklagbaren nexum conscientiae, der unvollkommenen Gewissenspflicht.70 Die naturrechtliche Aufteilung in voll-

Postulat des öffentlichen Rechts hervor: du sollst, im Verhältnisse eines unver-meidlichen Nebeneinanderseins, mit allen anderen, aus jenem heraus, in einen rechtlichen Zustand, d.i. den einer austeilenden Gerechtigkeit, übergehen. Der Grund dafür lässt sich analytisch aus dem Begriffe des Rechts im äußeren Ver-hältnis ... entwickeln“. Vgl. KANT, Metaphysik der Sitten, S. 424 (AB 157). Zum Vorläufer dieses Postulats bei Hobbes im sechzehnten Satz des Natur-rechts; d.i. das naturrechtliche Gebot, sich dem Spruch eines Schiedsrichters zu fügen, vgl. Joachim HRUSCHKA, Kriterien eines bürgerlichen Zustandes in Kants Rechtslehre, in: Festschrift für Wilfried Küper, hrsg. v. Michael Hettinger u.a., Heidelberg 2007, S. 183, 192.

65 Der bürgerliche (gesetzliche) Zustand. HRUSCHKA, Kriterien, S. 183, 185f. u. 189.

66 HRUSCHKA, Kriterien, S. 183, 189 mmN. 67 Johann Christian Georg SCHAUMANN, Kritische Abhandlung zur philosophi-

schen Rechtslehre, Halle, 1795, Nachdruck Brüssel 1969, S. 50. 68 SCHRÖDER, Recht als Wissenschaft, S. 103. 69 Erst durch seine Verdeutschung und mit dem Aufkommen des Verbindlich-

keitsbegriffs im 18. Jahrhundert wird die obligatio von der Verbindlichkeit ab-gelöst. Das Preußische ALR (1794) spricht erstmals von Verbindlichkeit. Ver-bindlichkeit ist ein im 18. Jahrhundert aufgekommenes Kunstwort, das noch das lateinische Vorbild (obligatio) erkennen lässt; vgl. Eugen BUCHER, ‚Schuldver-hältnis‘ des BGB: ein Terminus – drei Begriffe, in: Festschrift für Wolfgang Wiegand, hrsg. v. Eugen Bucher u.a., Bern/München 2005, S. 93, 105 u. 109.

70 Hans HATTENHAUER, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, 2. Auflage Mün-chen 2000, S. 89; Maximilian FUCHS, Naturalobligation und unvollkommene Verbindlichkeit im BGB, in: Festschrift für Dieter Medicus, hrsg. v. Volker Beuthien u.a., Köln u.a. 1999, S. 123, 125.

Vollkommenheit – eine überwundene Rechtsidee ? 399

kommene und unvollkommene Verbindlichkeiten entsteht dabei jedoch aus einem theoretischen und nicht aus einem rechtspraktischen Erkenntnisinte-resse. Einmal galt es den Verpflichtungsgrund und die Quelle für die obligie-rende Kraft von Gesetzen zu bestimmen (Gott, Vernunft, weltlicher Herr als Gesetzgeber).71 Zum andern ging es um die Erfassung aller Pflichten des Menschen, die unter der Vorstellung von Vollkommenheit systematisiert wurden. Die Trennung von rechtlichen und außerrechtlichen Pflichtstellun-gen sowie die neuzeitliche Segmentierung in verselbständigte normative Systeme (Recht, Gesellschaft, Religion) nimmt hier ihren Anfang.72 Gleich-zeitig werden die Grundlagen für die Ausbildung von Strukturmerkmalen des Pflichtbegriffs73 gelegt. Dogmengeschichtlich gibt die mit Kant endende Diskussion über vollkommene und unvollkommene Pflichten Aufschluss darüber, welche Eigenschaften eine Pflicht haben muss, um als vollkomme-ne Rechtspflicht (Verbindlichkeit) anerkannt werden zu können. Ferner geht es um die Frage, worin sich unvollkommene ethisch moralische Pflichten von Rechtspflichten unterscheiden und ob beide eine gemeinsame Grundlage im göttlichen Recht, im natürlichen Recht oder im Sittengesetz besitzen. Die Betrachtung löst sich von den jeweiligen Anwendungsfällen und richtet sich auf die Grundlagenfrage nach einer theoretisch befriedigenden und ebenso naturalistisch bildhaften Vorstellung der Rechtspflicht selbst.

III. Pflichtenkonstruktion nach Vollkommenheit

Christian Thomasius (1655–1728)74 und die ihm folgenden aufgeklärten Naturrechtslehren bis einschließlich Kant konstruieren die vollkommene Pflicht über den Zwang oder über die Bestimmtheit des Pflichtinhalts.

71 Im Geiste der Scholastik ging es um das Beweisprogramm für den Nachweis

des göttlichen Ursprungs allen Rechts, namentlich um das menschliche Be-wusstsein moralischer Schuld und einer daraus resultierenden Verpflichtung ge-genüber Gott, dem Mitmenschen und sich selbst, vgl. HARTUNG, Naturrechtsde-batte, S. 81.

72 Entsprechend setzt sich die Vorstellung vom Vorrang des positiven Rechts ge-genüber dem Naturrecht in dieser Zeit durch, Jan SCHRÖDER, Politische Aspekte des Naturrechts in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die Begründung des staatlichen Rechtserzeugungsmonopols, in: Naturrecht und Staat, hrsg. v. Diet-helm Klippel, München 2006, S. 19, 30.

73 Näher Götz SCHULZE, Die Naturalobligation, Tübingen 2008, S. 93 u. S. 340ff. 74 LUIG bezeichnet ihn als den Begründer der deutschen Frühaufklärung, in: Juris-

ten, hrsg. v. Michael Stolleis, München 1995, S. 613. Zur Anknüpfung an Pufendorf, s. HARTUNG, Naturrechtsdebatte, S. 84ff.

400 Götz Schulze

1. Pflichtbegründung und Zwang

Das äußere Zwangskriterium gibt nach Thomasius an, was zur Sitte und was zum Recht gehört.75 Nur was erzwungen werden darf, gehört zum Recht. Das gesamte natürliche und göttliche Recht (lex naturalis) wird aus dem Blickwinkel des Rechts dagegen zu einer unvollkommenen sittlichen Pflicht. So wird das Recht nicht mehr ethisch, sondern aus Macht, Zwang und Furcht heraus begründet (imperium).76 Gottlieb Hufeland (1760-1817) bejahte über-dies eine Verpflichtung, die eigenen vollkommenen Rechte gegen andere durchzusetzen.77 Die Erzwingung eigener Rechte ist nicht bloß erlaubt, son-dern unter dem Gesichtspunkt der Vollkommenheit geboten. Das rechtliche System wird auf den Vollkommenheitsgedanken hin entworfen und durch individuelle Recht-Pflichtstellungen durchgesetzt.

2. Pflichtverstärkung und Zwang

Wie Gottfried Achenwall (1719–1772) im Anschluss an Wolff hervorhebt, sind äußere, erzwingbare Rechtspflichten grundsätzlich zugleich innere, auf den Willen Gottes zurückgehende, mit dem natürlichen Verstand erkennbare Gewissenspflichten.78 Die vollkommene Verbindlichkeit verpflichtet zu-gleich innerlich und äußerlich. Die innere, moralische Gewissenspflicht bil-det den Kern einer sie umschließenden äußeren vollkommenen Rechts-pflicht, die auf der Furcht vor Zwang beruht.79 Achenwall verändert damit die Einteilung in äußere und innere Pflichten hin zu einer Binnendifferenzie-rung der einheitlich betrachteten sittlich-rechtlichen Pflicht. Ludwig Julius

75 Christian THOMASIUS, Fundamenta iuris naturae et gentium, I, 5, § 34, Halle

1718, Nachdruck Aalen 1979, S. 68: Lex naturalis divina magis ad consilia per-tinet, lex humana proprie dicta non nisi de norma imperii dicitur, Hinrich RÜPING, Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule, Bonn 1968, S. 43.

76 Der Herrscher ist Quelle des Rechts und Ursprung der obligatio. THOMASIUS, Fundamenta, I, 1, § 100; SCHREIBER, Rechtspflicht, S. 20; RÜPING, Naturrechts-lehre, S. 41ff.

77 Gottlieb HUFELAND, Versuch über den Grundsatz des Naturrechts, Leipzig 1785, S. 243: Verhindere, dass deine Vollkommenheit nicht gemindert, d.h. dir nicht ein Theil derselben genommen werde. Daraus folgen dann „alle Verbind-lichkeiten, andere zu zwingen“.

78 Gottfried ACHENWALL, Prolegomena Juris naturalis, 7. Auflage Göttingen 1774, § 98 u. § 89, zit. nach Schreiber, Rechtspflicht, S. 31f.

79 Gottfried ACHENWALL, Jus naturae, 7. Auflage Göttingen 1774, § 51 Ziff. 2.

Vollkommenheit – eine überwundene Rechtsidee ? 401

Höpfner (1743–1797)80 stellt erstmals auf die Folgen der Erzwingbarkeit ab. Er differenziert unter dem Gesichtspunkt der Verpflichtungskraft:81

„Bey den vollkommenen Pflichten ist immer ein starker Beweggrund mehr, als bey den unvollkommenen; der Gedanke: Dein Mitmensch ist befugt, Dich zu zwingen.“

Bei den zwangsbewehrten vollkommenen Pflichten besteht mithin größere Sicherheit, dass sie erfüllt werden.82 Höpfner sieht im Zwang kein pflichten-begründendes Merkmal, sondern den Handlungsanreiz für den Schuldner, durch Pflichterfüllung den Zwang zu vermeiden. Damit ist Zwang lediglich ein Mittel zur Sicherung der Pflichterfüllung.

3. Pflichtenkonstruktion nach der Bestimmbarkeit des Pflichtinhalts

Bei Johann Georg Sulzer (1720–1779) tritt das Merkmal der Bestimmtheit der Pflicht hervor. Kennzeichen der unvollkommenen Liebespflicht sei ihre Unbestimmtheit. Sulzer grenzt in dem 1773 erschienen „Versuch einen fes-ten Grundsatz zu finden, um die Pflichten der Sittenlehre und des Natur-rechts zu unterscheiden“ nach der praktischen Universalisierbarkeit einer Pflicht ab. Er nennt dies die Gesetzesfähigkeit der Pflicht. Die Gesetzesfä-higkeit zeige sich im konkret bestimmbaren Pflichtinhalt.83 Erst aus der Kenntnis des eigenen Vermögens, der eigenen Kräfte und Fähigkeiten könne sie genau bestimmt werden.84 Moses Mendelssohn (1729–1786) hat das Be-stimmtheitskriterium weiter verfeinert. Er fragt nach dem Entscheidungs-

80 Michael PLOHMANN, Ludwig Julius Friedrich Höpfner (1743–1797). Naturrecht

und positives Privatrecht am Ende des 18 Jahrhunderts, Berlin 1992, der Höpf-ner gar als Begründer der Trennung von Recht und Moral einstuft (Ebenda, S. 48). Krit. dazu Gunter WESENER, Aequitas naturalis, ‚natürliche Billigkeit‘, in der privatrechtlichen Dogmen- und Kodifikationsgeschichte, in: Der Gerech-tigkeitsanspruch des Rechts. Festschrift für Theo Mayer-Maly zum 65. Geburts-tag, hrsg. v. Margarethe Beck-Mannagetta u.a., Wien 1996, S. 81, 95.

81 Ludwig Julius Friedrich HÖPFNER, Naturrecht des einzelnen Menschen, der Gesellschaften und der Völker, 6. Auflage Gießen 1801, S. 332.

82 KERSTING, Stichwort: Unvollkommene/Vollkommene Pflichten, in: Histori-sches Wörterbuch der Philosophie. Bd 7: P–Q. Basel 1989, Sp. 439 mit dem Hinweis, dass auch der frühe Kant den in der Zwangsvermeidung liegenden mo-tivationspsychologischen Unterschied im Auge gehabt habe, als er die Prinzi-pien der vollkommenen und der unvollkommenen Pflichten entwarf. Kant spricht hier vom stärkeren Gesetz der Schuldigkeit gegenüber dem schwächeren der Gütigkeit.

83 Zitiert nach dem Abdruck in SULZER, Vermischte Schriften, S. 389, 390. 84 SULZER, ‚Versuch einen festen Grundsatz zu finden, um die Pflichten der Sitten-

lehre und des Naturrechts zu unterscheiden‘, in: Vermischte Schriften, S. 392.

402 Götz Schulze

spielraum des Pflichtigen. Gibt es mehrere Pflichterfüllungsmöglichkeiten (sog. „Collisionsfall“), deren Auswahl bloß dem Pflichttragenden zusteht, so ist die Pflicht unvollkommen. Sofern die Schuld nur auf eine ganz bestimmte Art erfüllt werden kann, ist die Pflicht vollkommen.85 Nach Mendelssohn kann aber jede unbestimmte Liebespflicht zu einer Zwangspflicht werden, weil es hierfür nur der geeigneten Gesetzgebung aus der Vernunft bedürfe.86

4. Pflichtbestimmung aus der Vernunft

Auch Immanuel Kant (1724–1804) definiert die Rechtspflicht über die Fest-stellung ihrer Vollkommenheit.

a. Vollkommenheit bei ausnahmsloser Gültigkeit oder bloßer Bestimmtheit der Pflicht Vollkommen und daher erzwingbar ist diejenige Pflicht, die „keine Aus-nahme zum Vorteil der Neigung verstattet“87. Die ausnahmslose Gültigkeit dient Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) als Kom-pass zur Beantwortung der Frage, ob eine Pflicht gegen sich oder gegen an-dere in ihren Maximen generalisierbar ist. Wenn sie ausnahmslos gilt, weil sie in ihren Maximen generalisierbar ist, ist sie zugleich erzwingbar. Gestat-tet sie Ausnahmen, so handelt es sich um eine unvollkommene Pflicht. Die damit vollzogene Verschiebung des Zwangskriteriums in die Rechtsfolge („…ist erzwingbar“) ermöglicht Kant zugleich die Bildung seiner vierten Pflichtenklasse, die (nicht erzwingbaren) vollkommenen Pflichten gegen sich selbst.88 Damit ist der Vollkommenheitsbegriff nicht mehr im strengen 85 Moses MENDELSSOHN, Von vollkommenen und unvollkommenen Rechten und

Pflichten, 1781, Ges. Schriften (Jubiläumsausgabe) 3/1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, S. 281f.; die unvollkommene Pflicht ähnelt damit der supererogatorischen Handlung der Scholastik, vgl. Wolfgang KERSTING, Das starke Gesetz der Schuldigkeit und das schwächere der Gütigkeit, in: Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, hrsg. v. Wolfgang Kersting, Frankfurt a.M. 1997, S. 74, 95.

86 Moses MENDELSSOHN, Von Rechten und Pflichten, S. 284. 87 KANT, Akademieausgabe Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV, 1903,

S. 422, wobei Kant sich in einer Textanmerkung die Einteilung der Pflichten für die spätere Metaphysik der Sitten ausdrücklich vorbehält und das Kriterium der Ausnahmslosigkeit dann auch zugunsten der Bestimmtheit wieder aufgibt (siehe nachfolgend).

88 Kant unterscheidet in der Tugendlehre vollkommene Pflichten gegen sich und andere und unvollkommene Pflichten gegen sich und andere, Erste Einteilung der Ethik nach dem Unterschiede ihrer Subjekte und ihrer Gesetze, KANT, Me-taphysik der Sitten, S. 546, (A 59). Zu den vollkommenen Pflichten gegen sich zählen etwa die physische und die moralische Selbsterhaltung und die Selbster-kenntnis. Eine vergleichbare Einteilung der Pflichten gegen sich und andere fin-

Vollkommenheit – eine überwundene Rechtsidee ? 403

Sinne mit dem Zwang korreliert. Die Pflichtenbegründung nach dem Krite-rium der ausnahmslosen Gültigkeit hat Kant in der Metaphysik der Sitten (1797) jedoch wieder geändert. Maßgeblich ist nun das von Sulzer und Mendelssohn bereits verwandte Bestimmtheitsmerkmal. Abgestellt wird auf die Bestimmtheitsdifferenz der Pflichtarten.89 Die Rechtspflicht ist eine Handlungsnorm, die inhaltlich genau bestimmt und darum vollkommen ge-nannt wird. Tugendpflichten sind unvollkommen, weil sie auf einem Zweck-prinzip beruhen. Die Zweckorientierung macht sie notwendig unbestimmt und daher unvollkommen. Nur das subjektive Zweckprinzip wird von den Maximen gesteuert und gebietet dem einzelnen die verdienstlich gute Hand-lung.90 Die unvollkommene Verbindlichkeit nennt Kant daher Tugendpflicht (officium ethicum).91 Das Handeln aus Maximen ist notwendig subjektiv und unbestimmt:92

„Die Schuldigkeit [...] hat ein bestimmt maaß, die Liebespflicht keines.“

Die Differenz von Rechtspflicht und Tugendpflicht liegt danach in voll-kommenen Handlungsnormen gegenüber unvollkommenen Zweckprinzi-pien. Die ethische Pflichterfüllungssituation besitzt die Undeutlichkeit des Mehr oder Weniger. Moralität beruht auf dem Motiv der Achtung93 und be-deutet ein prinzipiell unbegrenztes Optimierungsgebot. Auch die Rechts-pflichten beruhen auf ethischen Pflichten, aber sie fixieren den nach Ver-nunftmaximen generalisierten Zweck und machen eine Maximenbildung überflüssig:94

det sich bereits bei WOLFF, 1754, §§ 132f., der die Pflichten gegen sich selbst unter der Selbstliebe zusammenfasst, vgl. dazu LUIG, Pflichtenlehre, S. 209, 219.

89 KERSTING, Das starke Gesetz, S. 74, 105 u. 108. 90 KANT, Akademieausgabe, S. 421: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch

die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Dagegen zeichnet sich der kategorische Imperativ des Rechts dadurch aus, dass er ohne Maximenbildung auskommt.

91 KANT, Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten, 2. Teil: Metaphysische Anfangs-gründe der Tugendlehre, Akademieausgabe, Band XXIII, 1955, S. 371, 394.

92 KANT, Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, Akademieausgabe Band XX, 1942, S. 157.

93 Eine moralische Handlung muss aus dem Motiv heraus geschehen, sie wegen ihrer Moralkonformität auszuführen, Harald KÖHL, Kants Gesinnungsethik, Berlin 1990, S. 115. Kant identifiziert das moralische Gefühl als ein Gefühl der Achtung. „Achtung“ ist bei ihm der Titel für die spezifisch moralische Motiva-tionsquelle. Moralische Handlungen geschehen aus der Achtung für das morali-sche Gesetz und haben die Funktion einer Theorie moralischer Motivation, ebenda, S. 118.

94 KANT, Vorarbeiten, S. 371, 394.

404 Götz Schulze

„Alle Verbindlichkeit setzt nämlich ein Gesetz voraus. Geht dieses Gesetz bestimmt und unmittelbar auf eine Handlung, so dass die Art wie? und der Grad wie viel? in ihr ausgeübt werden soll im Gesetz bestimmt ist, so ist die Verbindlichkeit vollkommen (obligatio perfecta) und das Gesetz ist stricte obligans; [...] Gebietet aber das Gesetz nicht unmittelbar die Handlung son-dern nur die Maxime der Handlung, lässt es dem Urteil des Subjects frey, die Art wie und das Maas in welchem Grad das Gebotene ausgeübt werden sol-le, nur dass so viel als uns unter den gegebenen Bedingungen möglich ist davon zu thun nothwendig sey, so ist die Verbindlichkeit unvollkommen und das Gesetz nicht von enger, sondern nur weiter Verbindlichkeit (late obli-gans)“.

Die juridische Gesetzgebung bestimmt den Pflichtinhalt ohne Rücksicht auf ein Handeln nach Maximen nach dem kategorischen Imperativ des Rechts.95 Kant unterscheidet Rechtspflichten und Tugendpflichten dabei nach den Triebfedern, die die Gesetzgebung mit dem Gesetz verbinden. Die Moral verlangt, dass die Pflicht die einzige Triebfeder ist, um praktisch wirksam zu werden, während das Recht auch andere Triebfedern zulässt. Das Recht be-gnügt sich bei der Befolgung seiner Gebote mit der Legalität, während die Sittlichkeit auch die Moralität fordern muss. Die Handlung aus Pflicht96

„... hat ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab, sondern bloß von dem Prinzip des Wollens, nach welchem die Handlung, unangese-hen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens, geschehen ist.“

Das Erfordernis intrinsischen Pflichthandelns aus Pflicht ist damit die diffe-rentia specifica der Moral gegenüber dem Recht97. Die Differenzierung nach Vollkommenheit spielt keine Rolle mehr. Bei der (vollkommenen) Rechts-

95 KANT, Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Band VIII, hrsg. v. Wilhelm Wei-

schedel, Frankfurt a.M. 1989, S. 338 (AB 34). „… handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem all-gemeinen Gesetz zusammen bestehen könne“.

96 KANT, Akademieausgabe, IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1903, S. 399f.

97 Winfried BRUGGER, Grundlinien der Kantischen Rechtsphilosophie, in: JZ 1991, S. 893, 894; Otfried HÖFFE, Königliche Völker. Zu Kants kosmopoliti-scher Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a.M. 2001, S. 112: Kant meint mit der Unterscheidung von Legalität und Moralität nur eine subjektive Differenz; KERSTING, Das starke Gesetz, S. 19, 25: Die spezifische Differenz von Recht und Moral ist von Kant motivationspsychologisch ausgelegt. Sie zeigt sich ein-zig und allein „in Ansehung der Triebfeder“.

Vollkommenheit – eine überwundene Rechtsidee ? 405

pflicht bleibt gerade die Gesinnung des Pflichtigen gleichgültig98. Sie regu-liert die Erfüllungsmotivation nicht mehr und bleibt damit moralisch indiffe-rent, während die Tugendpflicht gerade auf dieser Motivation aufbaut. Dem Recht genügt ein Verhalten, das mit der Rechtsnorm äußerlich überein-stimmt, denn die Rechtsordnung soll nach Kant nicht sittlich sein; sie soll aber Sittlichkeit ermöglichen.99

b. Der ethische Gehalt der Rechtspflichten Kant leitet vollkommene Rechts- und unvollkommene Tugendpflichten ein-heitlich aus dem Sittengesetz her. Darunter versteht er eine allgemeingültige praktische Regel, die aus der Vernunft100 entwickelt wird.101 Sie richtet sich auf die Freiheitsermöglichung durch sittliches Handeln und bildet die Grund-lage des Rechts102 und der Moral.103 Die religiöse Dimension zeigt sich noch 98 Otfried HÖFFE, Ist Kants Rechtsphilosophie noch aktuell?, in: Immanuel Kant,

Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg. v. Otfried Höffe, Mün-chen 1999, S. 279, 281.

99 Horst DREIER, Kants Republik, in: Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbe-griffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit. Symposion für Hasso Hofmann, hrsg. v. Horst Dreier, Berlin 2005, S. 151, 157; BRUGGER, Grundlinien, S. 893, 894.

100 Die Vernunft ist bei Kant dem Verstand übergeordnet. Der Verstand ordnet das sinnliche Anschauungsmaterial durch Sinneseindrücke und Denkformen (Kate-gorien wie Raum und Zeit sowie Kausalität) und bildet Verstandesbegriffe. Die Vernunft ist das Vermögen, Prinzipien aufzustellen, um dadurch die Verstan-desbegriffe zu einem höheren Ganzen unabhängig von jeder Erfahrung zu ord-nen, vgl. Immanuel KANT, Kritik der reinen Vernunft, Band 1, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Werkausgabe Band III, 1988, S. 311ff. (A 298–302, B 355–359); vgl. Stichwort: Vernunft, in: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. v. Arnim Regenbogen und Uwe Meyer, Hamburg 1998, S. 705.

101 Die Metaphysik der Sitten wird durch das Sittengesetz strukturiert. Das Sitten-gesetz beruht auf der Annahme einer Kausalität durch Freiheit. Das Gesetz der Kausalität durch Freiheit gebietet kategorisch ohne Rücksicht auf empirische Zwecke. Stichwort: Sittengesetz, in: Philosophisches Wörterbuch, neu bearb. v. Georgi SCHISCHKOFF, 21. Auflage Stuttgart 1982, S. 640. Die Freiheit ist prima causa und Seinsgrund des moralischen Gesetzes (ratio essendi). Das Sittenge-setz folgt aus der Freiheit, weil sie selbige voraussetzt. Zum anspruchsvollen Beweisprogramm Kants über die Notwendigkeit der Freiheitsvoraussetzung für den vernünftigen Willen, Dieter HENRICH, Die Deduktion des Sittengesetzes, in: Denken im Schatten des Nihilismus, Festschrift für Wilhelm Weischedel, hrsg. v. Alexander Schwan, Darmstadt 1975, S. 55, 68. Kant schwanke zwischen lo-gischer Ableitung und tautologischer Behauptung, ebenda.

102 KANT, Metaphysik der Sitten, S. 336 (AB 33) definiert: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“

103 Hier meint Sittengesetz das einer Ordnung entsprechende Verhalten, während die Moralität das den Einzelnen betreffende subjektiv ethische Verhalten be-

406 Götz Schulze

im Gewissen jedes einzelnen Menschen. Für die Pflichtbegründung kommt es aber auf Gott nicht mehr an.104 Der göttliche Wille bleibt nur als regulati-ve Idee in der aus dem Sittengesetz deduzierten Pflichtenlehre bestehen.105 Die Vorstellung apriorischer Vernunft macht natürliche Pflichten überflüs-sig. Der Gedanke ursprünglicher Verschuldung wird vom Freiheitspostulat abgelöst. Kant fasst das Naturrecht von der selbstgesetzgebenden Vernunft aus neu und zerstört so das naturrechtlich-philosophische Konzept der Voll-kommenheit. Kants Pflichtenlehre hat auch kein inhaltliches Kriterium der Vollkommenheit hervorgebracht. Unvollkommene Pflichten sind keine Pflichten minderer moralischer Dringlichkeit.106 Umgekehrt besitzen alle (vollkommenen) Rechtsgebote dieselbe sittlich verpflichtende Kraft. Kant führt also nur die Begrifflichkeit fort; sie hat aber keine inhaltliche Bedeu-tung mehr.

IV. Aufgabe des Vollkommenheitstheorems

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) lehnt eine Pflichtendifferenzie-rung unter dem Gesichtspunkt der Vollkommenheit ab. Die Einteilung nach vollkommenen Rechtspflichten und unvollkommenen Moralpflichten hält er für missverständlich.107 Was nach dem Recht gefordert werden könne, sei Schuldigkeit mit äußerlicher Notwendigkeit. Pflicht aber sei etwas, insofern es aus moralischen Gründen zu beobachten sei.108 Eine Rechtspflicht verbin-det damit die äußere Notwendigkeit mit den moralischen Inhalten. Hegel hält es ferner für falsch, die Sitte als unvollkommen zu bezeichnen. Man könne ebenso das Umgekehrte sagen und das Recht für unvollkommen halten, da die „Rechtspflicht als solche nur eine äußerliche Notwendigkeit fordert“109.

trifft. Vgl. Stichwort: Sittlichkeit, in: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. v. Arnim Regenbogen und Uwe Meyer, Hamburg 1998, S. 608 und ferner zur Position Hegels unten.

104 HARTUNG, Naturrechtsdebatte, S. 201. 105 KANT, Metaphysik der Sitten, S. 334 (AB 29, 30): „Das Gesetz was uns a priori

und unbedingt durch unsere eigene Vernunft verbindet, kann auch als aus dem Willen eines höchsten Gesetzgebers, d.i. eines solchen, der lauter Rechte und keine Pflichten hat (mithin dem göttlichen Willen), hervorgehend ausgedrückt werden, welches aber nur die Idee von einem moralischen Wesen bedeutet, des-sen Wille für alle Gesetz ist, ohne ihn doch als Urheber desselben zu denken.“

106 KERSTING, Pflichten, Sp. 438. 107 Adriaan PEPERZAK, Hegels Pflichten- und Tugendlehre. Eine Analyse und In-

terpretation, §§ 142–156, in: G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. Ludwig Siep, 3. Auflage Berlin 2014, S. 167, 170.

108 Georg HEGEL, Philosophische Propädeutik I, Rechtslehre, hrsg. v. Eva Molden-hauer, Frankfurt a.M. 1959, § 32.

109 Georg HEGEL, ebenda. Damit knüpft Hegel an die scholastische Tradition an, die die Äußerlichkeit des Rechts als Handlung für andere oder die Gesamtheit

Vollkommenheit – eine überwundene Rechtsidee ? 407

Die Sittlichkeit zeigt sich nach Hegel in objektiver Gestalt. Sie ist verkörpert in den gesellschaftlichen Institutionen, in welche das Subjekt eingebunden ist (Ehe, Familie, Staat).110 Die objektive Sittlichkeit fundiert das Recht und steht auch von daher in keinem Stufenverhältnis nach Vollkommenheit. Die Moralphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts hat für das Lehrstück von den unvollkommenen und vollkommenen Pflichten und für eine Meta-physik der Vollkommenheit111 keine ernsthafte Verwendung mehr112. Die Ablehnung des Naturrechts durch die historische Rechtsschule dürfte dafür mitverantwortlich sein.113 Die Unterscheidung der Pflichten in vollkom-men/unvollkommen wird nur noch vereinzelt und ohne systematische Aus-formung verwendet.114 Die sukzessive Aufgabe naturrechtlichen Denkens und eine Integration des Naturrechts in das positive Recht im 19. Jahrhun-dert115 nimmt der Vorstellung unterschiedlicher Rechtsquellen (Natur und

der anderen ansah, während die Innerlichkeit den guten Wert einer moralischen Handlung schlechthin bezeichnete, vgl. RADBRUCH, Rechtsphilosophie, S. 37f. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass Hegels Konzeption der objektiven Sitt-lichkeit einen völlig anderen Ausgangspunkt nimmt. Die Bindung folgt aus dem sittlichen Sein der Wirklichkeit verbunden mit der negativen Freiheit des Sub-jekts, von ihr abzuweichen. Sie ist wohl auch deshalb nicht mehr mit der Sitt-lichkeit des Subjekts und der daran anknüpfenden Lehre von den unvollkomme-nen Pflichten zu vereinbaren. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich HEGEL, Grundli-nien der Philosophie des Rechts, 1821, hrsg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1995, § 150: Der Mensch muß in einem sittlichen Gemeinwesen, um tugendhaft zu sein, nichts anderes tun, als „…was in seinen Verhältnissen vorgezeichnet, ausgesprochen und bekannt ist. Die Rechtschaffenheit in das Allgemeine …“

110 HEGEL, Grundlinien, §§ 142–145, dazu Dieter HÜNING, Die Sittlichkeit der Ehe, in: Festschrift für Wolfgang Kersting, hrsg. v. Claus Langbehn, Paderborn 2006, S. 287, 290 ff.

111 HOFFMANN, Vollkommenheit, Sp. 1126: Kant hat die Metaphysik der Voll-kommenheit zu ihrem einstweiligen Ende gebracht, weil er an ihre Stelle das funktionale Bestimmtheitserfordernis gesetzt hat.

112 Das materiale Vollkommenheitsdenken tritt im 20. Jahrhundert immer weiter zurück und weicht dem Funktionalismus oder technischen Perfektibilismus. Fritz MAUTHNER, Wörterbuch der Philosophie, 2. Auflage Leipzig 1924, S. 372 (Vollkommenheit) hat den Begriff zu einer Wortleiche erklärt, die nicht mehr totgeschlagen werden müsse.

113 Friedrich Carl VON SAVIGNY setzt an die Stelle unvollkommener Rechtspflich-ten wieder den römisch-rechtlichen Terminus der obligatio naturalis, Land-rechtsvorlesung. Drei Nachschriften, 1826, Nachdruck Frankfurt a.M. 1998,. 3. Buch: Obligationen, Natur und Inhalt der Obligation, § 31, 1. Begriff und Ar-ten, S. 422.

114 Zu den noch vereinzelten Bezugnahmen ohne Übernahme des gesamten Pflich-tenkonzepts bei Mill und Dilthey vgl. KERSTING, Pflichten, Sp. 439.

115 Zum bleibenden Einfluss des Naturrechts unter veränderten Rahmenbedingun-gen und dem maßgebenden Einfluss des Kantischen Freiheitsgedankens, vgl. Joachim RÜCKERT, Kant-Rezeption in juristischer und politischer Theorie (Na-turrecht, Rechtsphilosophie, Staatslehre, Politik) des 19. Jahrhunderts, in: John

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Gesetz) ihre Grundlage. Die historische Entwicklung zeigt, dass die Pflicht-lehren der Vollkommenheit für das heutige Verständnis jedenfalls für das Zivilrecht keine Bedeutung mehr haben. Für die fortgeführte schuldrechtli-che Bezeichnung „unvollkommene Verbindlichkeit“ ist dies insofern von Bedeutung, als sie die Aufgabe des Begriffes nahe legen.116 Hält man den rationalrechtlichen Diskurs für geeignet, die beste aller mögli-chen Rechtslösungen hervorzubringen und richtet ihn auf die Ideen maxima-ler Rechtssicherheit und maximaler Gerechtigkeit aus, so läßt sich mit Alexy wieder an das vollkommene Recht glauben und als Leitbegriff allen Rechts verwenden.

Locke und Immanuel Kant, hrsg. v. Martyn P. Thompson, Berlin 1991, S. 144ff.; DERS., Zur Legitimation der Vertragsfreiheit im 19. Jahrhundert, in: Naturrecht im 19. Jahrhundert (Naturrecht und Rechtsphilosophie in der Neu-zeit 1), hrsg. v. Diethelm Klippel, Goldbach 1997, S. 135, 150ff., Rückert arbei-tet hier die wesentlichen Positionen der vertragsrechtlichen Legitimation heraus und zeigt die naturrechtlichen Implikationen. Die Pflichtenlehren werden nicht mehr erwähnt.

116 Der Gesetzgeber des Jahres 2001 hat „Unvollkommene Verbindlichkeit“ als amtliche Überschrift des 19. Titels des 8. Abschnitts im zweiten Buch des BGB für Spiel, Wette, Lotterie und Ausspielung eingefügt (§ 762f. BGB), abl. SCHULZE, Die Naturalobligation, S. 153 u. S. 652f.; dafür FUCHS, Naturalobliga-tion, S. 139.

ISBN 978-3-942189-18-7 ISSN 1432-9298 (Abhandlungen zur Geschichte der Pfalz) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut-schen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2017 Stiftung zur Förderung der pfälzischen Geschichtsforschung, Hei-nestraße 3, 67433 Neustadt an der Weinstraße Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Nicolaus Cramer und Matthias Schüll, Heidelberg Herstellung: Druckmedien Speyer GmbH, Heinrich-Hertz-Weg 5, 67346

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