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VOM GOTTESHAUS IN DIE GASTSTUBE Taxifahrer, Reiseleiter, Croupier, Jurist – Niklas Raggenbass hat viele Berufe ausgeübt. Sein Glück fand er schliesslich als Priester. Doch auch dieses sollte nicht ewig währen, weil er sich in eine Frau verliebte. Jetzt führt er mit ihr eine Beiz. — Text Gabriela Meile Fotos Herbert Zimmermann Niklas Raggenbass im Johannesstübli des «Leuensterns» im luzernischen Hohenrain. D ie Spieluhr im Flur des alten Bauernhauses dreht Runde um Runde, während ihre Lichter blin- ken und sich Tierfiguren zur fröhlichen Musik auf und ab bewegen. Sie ist dem Karussell im Pariser Jardin du Luxem- bourg nachempfunden, das einst den Lyriker Rainer Maria Rilke zu einem Gedicht inspirierte. Für ihren Besitzer Niklas Raggenbass jedoch ist sie Sinnbild der eigenen Geschichte. Bewegt ist es, das Leben des Niklas Raggenbass. Er hat sich, so scheint es, oſt im Kreis gedreht. Hat Neues begonnen, verworfen, sich auf Altbekanntes beson- nen. «Manchmal wurde mir fast schwin- delig», sagt er. «Ans Ziel bin ich nicht gelangt.» Vielmehr ist er mit über sech- zig erneut in ein Abenteuer gestartet: Der ehemalige Pfarrer wurde Wirt. Dass sich Gottesmänner von ihrer vermeintlichen Berufung abwenden, ge- schieht immer wieder. Genaue Zahlen sind nicht bekannt. Häufig ist jedoch die sexuelle Enthaltsamkeit der Grund dafür. So auch bei Raggenbass. Er liebte sein Dasein als Geistlicher. Aber ebenso liebt er Frauen. Vor drei Jahren stand er nach langem innerem Kampf dazu und bekannte sich zu seiner Partnerin Maria Leu, 59, mit der er heute das Ku- linarik- und Kulturzentrum Leuenstern im luzernischen Hohenrain führt. Die offizielle Entlassung aus dem Dienst gewährte ihm der Vatikan erst diesen Frühling. Ein typischer Priester war Raggenbass nie, war vielmehr hin- und hergerissen zwischen dem Weltlichen und dem Geist- 27 SCHWEIZER FAMILIE 49/2018 26 SCHWEIZER FAMILIE 49/2018 MENSCHEN MENSCHEN

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Page 1: VOM GOTTESHAUS IN DIE GASTSTUBE - leuenstern.ch Familie_02… · die eng mit Carl Gustav Jung, dem Freund seines Vaters und seinem Vorbild, zusam mengearbeitet hatte. Weil sie fast

VOM GOTTESHAUS IN DIE GASTSTUBE

Taxifahrer, Reiseleiter, Croupier, Jurist – Niklas Raggenbass hat viele Berufe ausgeübt. Sein Glück fand er schliesslich als Priester.

Doch auch dieses sollte nicht ewig währen, weil er sich in eine Frau verliebte. Jetzt führt er mit ihr eine Beiz.

— Text Gabriela Meile Fotos Herbert Zimmermann

Niklas Raggenbass im Johannesstübli des «Leuensterns» im luzernischen Hohenrain.

Die Spieluhr im Flur des alten Bauernhauses dreht Runde um Runde, während ihre Lichter blin-

ken und sich Tierfiguren zur fröhlichen Musik auf und ab bewegen. Sie ist dem Karussell im Pariser Jardin du Luxem-bourg nachempfunden, das einst den Lyriker Rainer Maria Rilke zu einem Gedicht inspirierte. Für ihren Besitzer Niklas Raggenbass jedoch ist sie Sinnbild der eigenen Geschichte.

Bewegt ist es, das Leben des Niklas Raggenbass. Er hat sich, so scheint es, oft

im Kreis gedreht. Hat Neues begonnen, verworfen, sich auf Altbekanntes beson-nen. «Manchmal wurde mir fast schwin-delig», sagt er. «Ans Ziel bin ich nicht gelangt.» Vielmehr ist er mit über sech-zig erneut in ein Abenteuer gestartet: Der ehemalige Pfarrer wurde Wirt.

Dass sich Gottesmänner von ihrer vermeintlichen Berufung abwenden, ge-schieht immer wieder. Genaue Zahlen sind nicht bekannt. Häufig ist jedoch die sexuelle Enthaltsamkeit der Grund dafür. So auch bei Raggenbass. Er liebte

sein Dasein als Geistlicher. Aber ebenso liebt er Frauen. Vor drei Jahren stand er nach langem innerem Kampf dazu und bekannte sich zu seiner Partnerin Maria Leu, 59, mit der er heute das Ku-linarik- und Kulturzentrum Leuenstern im luzernischen Hohenrain führt. Die offizielle Entlassung aus dem Dienst gewährte ihm der Vatikan erst diesen Frühling.

Ein typischer Priester war Raggenbass nie, war vielmehr hin- und hergerissen zwischen dem Weltlichen und dem Geist- →

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Fotos: Getty Images, Hanspeter Bärtschi, Privatarchiv Raggenbass

lichen. Als Junge war er auf einem klös­terlichen Internat in Matran bei Freiburg. Nachher arbeitete Raggenbass als Abfall­stampfer, Taxichauffeur, Reiseleiter, Crou­pier, Journalist und Jurist. Erst mit fast vierzig trat er als Novize ins Benediktiner­kloster Engelberg ein, bevor er Theologie studierte, doktorierte und sich mit 48 zum Priester weihen liess. Mit 59 wurde er Pfarrer in der Stadt Solothurn, wo er immer wieder unkonventionelle Predig­ten hielt, zum Beispiel im Narrenkostüm oder mit Verkehrstafeln, die als symbo­lische Wegweiser für die Gemeinde die­nen sollten.

Mit elf verlor er den HaltRaggenbass ist von Neugier getrieben. «Ich habe nie gelernt, Beständigkeit aus­zuhalten», sagt er, während die Spieluhr unablässig rotiert. Er kramt in seinen Erinnerungen nach Rilkes Worten: «Und das geht hin und eilt sich, dass es endet, und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.» Ob er nun, mit 64, endlich an seinem Ziel angekommen ist, vermag er nicht zu sagen.

Auf dem Herd köchelt eine Kürbis­suppe, draussen drückt die Sonne durch den milchigen Herbsthimmel. Raggen­bass nimmt einen Schluck Weisswein und beginnt, von seiner Kindheit im thur­

Als sein Vater 1965 mit sechzig an Krebs starb und seine Mutter Martha, damals 37, mit zwei Kindern zurückliess, trat ein erster Wendepunkt im Leben des noch jungen Niklas ein. Er war elf, als «ich den Halt verlor und deshalb einen Neu­start suchte». Er ging fort von Mutter und Schwester, fand im Freiburger Internat neue Vaterfiguren in den Mönchen. Er mochte die musischen Fächer, spielte Theater, malte und musi zierte. Das Gym­nasium aber schloss er nicht ab. Die Noten in Latein und Mathematik waren zu

schlecht, die Versuchungen der frühen Siebzigerjahre zu ver lockend. Viele der Freunde des inzwischen Sechzehnjähri­gen waren älter, setzten sich abends um ein Lagerfeuer, spielten Gitarre, träumten von der grossen Freiheit und nahmen LSD. «Ich fühlte mich dazugehörig. Wie­der glaubte ich, einen neuen Familienan­schluss gefunden zu haben», sagt Raggen­bass und dreht sein Glas zwischen den Fingern. Statt an seine Zukunft zu denken, lebte er in den Tag hinein, arbeitete als Abfallstampfer und fuhr später Taxi. Im­merhin: Den Drogen schwor er ab, als seine damalige Freundin an einer Über­dosis starb.

Stets auf der SucheWeil sich seine Mutter dennoch Sorgen machte, griff sie ein: Sie verschaffte ihrem Sohn eine Stelle als Croupier bei der Spiel­bank im deutschen Baden­Baden. «Mitte zwanzig verdiente ich für meine Verhält­nisse astronomische Summen», sagt er. Erfüllung fand er allerdings nicht. Also stieg er wieder aus, um noch einmal von vorne zu beginnen, eine neue Runde zu drehen. Er holte die Matura nach und stu­dierte anschliessend in Genf und Zürich Jura. Über Umwege lernte er Aniela Jaffé kennen, eine Psychologin und Autorin, die eng mit Carl Gustav Jung, dem Freund seines Vaters und seinem Vorbild, zusam­mengearbeitet hatte. Weil sie fast erblin­det war, las Raggenbass ihr regelmässig vor. Sie wurde ihm eine liebe Bekannte und eine Stütze. «Als sie 1991 starb, verlor ich erneut einen wichtigen Halt.»

Er kritzelt auf ein Stück Papier, wäh­rend er auf sein bisheriges Leben zurück­blickt, und reflektiert, weshalb er stets auf der Suche war – und vielleicht noch immer ist. «Meine Schwester Dorena ist ganz anders als ich», murmelt er, überlegt kurz und fügt an: «Stabiler.» Woran das liege, könne er nicht erklären. Dorena Raggenbass, 61, vermutet, dass ihr Bru­der wechselnde Herausforderungen sucht: «Niklas geht intensiv auf Menschen und

Situationen ein. Sein Naturell veranlasst ihn aber auch zur Flucht, wenn er das Gefühl hat, zu sehr vereinnahmt zu werden.»

Erinnerung an GeborgenheitNach dem Tod der Psychologin Aniela Jaffé, deren Sterben er begleitete, brach Niklas Raggenbass sämtliche Beziehun­gen ab. Er war bald vierzig und mit einer Frau liiert, die ernsthafte Absichten hatte. «Doch ich wollte keine Verantwortung für ein Zusammensein oder gar eine Fa­

milie übernehmen», erzählt Raggenbass. Er erinnerte sich an das Gefühl von Ge­borgenheit, das ihm die Mönche im In­ternat nach dem Ableben seines Vaters vermittelt hatten, daran, dass er gerne Menschen in Notsituationen helfen wollte und ihn die Glaubensgemeinschaft im Kloster faszinierte. «Ich dachte, wenn ich Mönch würde, regle sich mein Leben praktisch von selbst.» Er sollte sich irren. «Mit dem Zölibat tat ich mich schwer. Und hoffte doch immer, irgendwann meine Sexualität und die Sehnsucht

«Ohne die Pflicht zur Enthaltsamkeit hätte ich als katholischer Priester vielleicht

auch meinen Platz gefunden.»Niklas Raggenbass

Pfarrer Raggenbass predigte auch mal mit Verkehrstafeln oder nahm an der Fasnacht im Narrenkostüm teil.

Persönlichkeiten wie Schriftsteller Erich

Kästner (u.) und Psychoanalytiker

C. G. Jung (r.) waren Gäste in Raggenbass’

Elternhaus.

Niklas Raggenbass und Maria Leu hegen mit Liebe ihre Rosen.

gauischen Kreuzlingen zu erzählen. Er schwärmt vom offenen Haus und von den Bekannten seines Vaters Otto, der als Leh­rer und Politiker ein vielfältiges Netzwerk pflegte. Grössen wie die deutschen Schrift­steller Erich Kästner und Carl Zuckmayer oder der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung sowie Angehörige der Adelsfamilie Zeppelin gingen bei den Raggenbass ein und aus. Karin Gräfin Bernadotte von der Blumeninsel Mainau war Patin von Niklas Raggenbass. «Ich wuchs in einer illustren Gesellschaft auf», sagt er.

Das unablässige Rotieren des Karussells ist für

Niklas Raggenbass ein Sinnbild seines Lebens.

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nach einer Beziehung unter Kontrolle zu bringen.»

2008, Raggenbass war seit 16 Jahren ein Geistlicher, begegnete er zum ersten Mal Maria Leu, seiner heutigen Partnerin. Damals betreute Pater Niklas, wie er ge­nannt wurde, im Kloster Engelberg Gäste, unter anderem ihre Eltern. Sie erzählt: «Manchmal besuchte er meinen Vater und meine Mutter, während auch ich bei ihnen war. Ich fand ihn interessant.» Gegen tie­fere Emotionen habe sie sich aber ge­sträubt. «Einen Geistlichen zu lieben, ge­hört sich nicht.»

Von neuem beginnenDennoch kamen sie sich allmählich näher und wurden 2011 ein Paar. Ein Versteck­spiel begann. Auch als Raggenbass längst Solothurns Stadtpfarrer war, hielten sie die Beziehung aufrecht. Beinahe wäre er an der Heimlichtuerei zerbrochen. 2015 ertrug er die Last des Geheimnisses nicht mehr. Er überlegte sich gar, ob er seinem Leben ein Ende setzen wollte. Raggenbass zog die Notbremse: Er reichte beim Bi­schof und beim Kirchenpräsidenten seine Demissionierung ein. Trotzdem war er nicht sicher, ob er sein geistliches Dasein völlig aufgeben sollte. Über drei Monate zog er sich zurück und versuchte, sich über seine Zukunft klar zu werden. Maria Leu erinnert sich: «In all dieser Zeit wollte ich

ihn nicht beeinflussen, war aber erleich­tert, als er mir schliesslich mitteilte, er werde nicht mehr auf mich verzichten.»

Sprechen Raggenbass und Leu über die vergangenen Jahre, versuchen sie, sachlich zu bleiben. «Wir haben sie hinter uns ge­lassen, sind im Hier und Jetzt», sagt sie. «Was die Zukunft bringt, müssen wir abwarten», sagt er. Den Alltag durchzu­stehen, auch schwierige Situationen aus­zuhalten, ist für den getriebenen Raggen­bass nicht einfach. Faktisch ist er derzeit

arbeitslos, seine Rente wird nächstes Jahr klein ausfallen, da er als Mönch lange nicht in die Pensionskasse einbezahlt hat. Raggenbass ist auf die Einnahmen aus dem «Leuenstern» und den Lohn seiner Partnerin angewiesen. Nebenbei schreibt er an seiner Biografie, um das Erlebte zu verarbeiten. Die Beziehung zu Gott hat er nie in Frage gestellt. Er glaube, dieser ver­urteile ihn nicht. Umso mehr schmerzt ihn, dass er, der «ehrlich war und zu mei­nen Fehlern stand», seinen Beruf als Pfarrer nicht mehr ausüben kann. «Ich wünschte mir, die katholische Kirche würde die Sehnsüchte von Priestern und Mönchen ernst nehmen und das Zölibat überdenken», sagt Raggenbass. «Ohne die Pflicht zur Enthaltsamkeit hätte ich als ka­tholischer Priester vielleicht meinen Platz gefunden.»

Doch stattdessen hat Raggenbass mit über sechzig wieder von vorne begonnen, dreht eine neue Runde – wie das kleine Karussell in seinem Flur, das unaufhörlich rotiert.

KULINARIK- UND KULTURZENTRUMDas Gasthaus Leuenstern ist jeden Sonntag von 10 bis 20 Uhr oder von Montag bis Samstag auf Voranmeldung ab vier Personen geöffnet. [email protected], 041 910 11 54 www.leuenstern.ch

Fliegt er durch die Lüfte, oder liegt er im Schnee? Pater Niklas 1993 auf einem Bild, das später in einem Fotobuch des Klosters Engelberg erschien.

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ab Seite 46

#12 / Dezember 2018

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