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n ngiyaw eBooks Otto Ernst Vom grün-goldnen Baum

Vom grün-goldnen Baum

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Otto Ernst

Vom grün-goldnen Baum

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© 2008 Peter M. Sporer für ngiyaw eBooks.Földvári u. 18, H – 5093 Vezseny ([email protected]).

Gesetzt in der Baskerville Book.

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Nach der Ausgabe

Otto Ernst

Vom grün-goldnen Baum

Humoristische Plaudereien

L. Staakmann Verlag, Leipzig, 1910

Cover unter Verwendung eines Gemäldes von Otto Mueller.

Otto Ernst

Vom grün-goldnen Baum

Das vier bei nige Geschenk.

Auch ein Tage buch.

Sie besitzt bereits einen gan zen Tier park, unsere

Jüng ste, Tiere von Holz, Stein, Leder, Papier -

ma ché und Metall, kurz von allem mög li chen

Mate rial und in jeder erdenk li chen Her stel -

lungs art; end lich aber läßt sich der Drang nach

dem Leben di gen nicht mehr zurück halten, und

zur näch sten Weih nacht will sie einen wirk li -

chen Hund haben.

Ros witha, welch ein Begeh ren!

Ich habe die Hunde gern, soweit sie vier Beine

haben, und soweit sie vier Beine haben, schei -

nen sie diese Zunei gung auch zu erwi dern; diese

Tiere haben wie die klei nen Kin der einen

Instinkt für das Wohl wol len – aber einen Hund

als Haus ge nos sen –? Mein Weib und ich erhe -

ben die ernst lich sten Sau ber keits- und Gesund -

heits be den ken.

Wir erschöp fen unsere Phan ta sie in der Aus -

ma lung kolos sa ler Unan nehm lich kei ten und

Gefah ren, die ein Hund mit sich brin gen kann;

Ros witha sieht auch alles ein, wie es sich für ein

pie tät vol les Kind geziemt, und wenn wir sie

dann fra gen, was sie sich also statt eines Hun des

wün sche, dann sagt sie: »’n Hund.«

Wir ver su chen es anders herum: wir brei ten

vor ihrer Phan ta sie die wun der bar sten Dinge

aus: Ganze Pup pen häu ser mit Was ser lei tung

und Zen tral hei zung, pracht volle Parks mit

Spring brun nen und lust wan deln den Paa ren, die

man aus einer ein zi gen Schach tel her vor zau bern

kann, voll stän dige Eisen bah nen mit sämt li chen

moder nen Ver kehrs er schwe run gen, kurz: alles,

was ein kind lich Herz erfreuen kann, und artig

und folg sam erklärt Ros witha denn auch end -

lich: Ja, das alles möchte sie gern haben, und

außer dem natür lich einen Hund.

* * *

Er ist da. Der Hun de see len ver käu fer hat den

Judas lohn ein ge steckt und ist gegan gen. Es ist

ein Dackel; er steht da und sieht sich rat los im

Kreise um wie ein Unter se kun da ner in der

ersten Tanz stunde. Ros witha ist nicht zuge gen.

Wir las sen sie unter irgend ei nem gleich gül ti gen

Vor wande rufen. Sie kommt, und nun ereig net

sich ein Wun der. Das Tier springt mit einem

jauch zen den Bell laut an ihr hin auf und will ihr

das Gesicht belec ken. Ros witha ist hoch be -

glückt und fragt: »Wo kommt der her? Wem

gehört der?«

»Der gehört dir.«

Das Wei tere ist nicht zu beschrei ben. Es gibt

eine Freude, bei der dem Zuschauer die Trä nen

ins Auge tre ten. Men schen freude ist so ergrei -

fend wie Men schen leid.

* * *

Es ist kein Zwei fel mehr, Ros witha und

Männe sind durch Schick salsschluß von Ewig -

keit her für ein an der prä de sti niert. Er spielt auch

gern mit den andern Kin dern; er zeich net mich

aus, indem er, wenn er unter mei nem Schreib -

tisch liegt und schläft, sich mit schmei chel haf ter

Ver trau lich keit auf meine Füße bet tet, deren

ani ma li sche Wärme ihm sehr brauch bar

scheint; er schätzt meine Frau noch höher; denn

sie, nur sie, reicht ihm regel mä ßig das Fut ter,

und wenn er seine Schüs sel leer geleckt hat –

»nicht jedes Mäd chen hält so rein« – so schenkt

sie ihm einen pracht vol len Kno chen; wenn die

lieb lich sten Düfte der Küche in ihren Klei dern

hän gen, so folgt er ihr, wohin sie will, und auch

sonst gehorcht er ihr nicht sel ten (für einen

Dackel eine enorme Lei stung) – und doch:

wenn diese Frau zum Schein die Hand gegen

Ros wit hen erhebt, als wolle sie sie schla gen, so

blafft er sie wütend an und schnappt nach ihrer

Hand. Der edle Grund satz: »Wes sen Brot ich

esse, des sen Lied ich singe,« gilt bei den Hun den

nicht. Ich möchte wis sen, wer auf die törichte

Idee gekom men ist, das Wort »Hund« als

Schimpf wort zu gebrau chen. Ich wills gewiß

nicht wie der tun.

* * *

Sobald das Dienst mäd chen am Mor gen seine

Kam mer geöff net hat, rast er – zeigt mir einen

Men schen, der mit so krum men Bei nen so

rasend lau fen kann – rast er die Treppe zu Ros -

wit hens Schlaf zim mer hin auf. Ich weiß nicht,

wie ich dies Ren nen bezeich nen soll – etwa wie

wir ein Zünd holz anrei ßen: rrt! – ist er oben und

win selt vor ihrer Tür. Wenn ihm das Mäd chen

die Tür geöff net hat, läuft er an Ros wit hens Bett

und schaut hin ein, und wenn sie schläft, legt er

sich still auf den Bett vor le ger nie der und war tet.

Sowie sie erwacht und sich leise regt, springt er

an ihrem Bett empor, reißt den Mund auf bis an

die Ohren und lacht.

Bei der Toi lette und beim Früh stück weicht er

nicht von ihrer Seite, und wenn sie zur Schule

fährt, beglei tet er sie zum Bahn hof. Wenn er die

Mit tel hätte, würde er ihr jeden Mor gen ein

Veil chen bou quet in den Wagen rei chen.

Anfangs wollte er mit fah ren; aber bald hat er

ein ge se hen, daß das nicht mög lich ist, und hat

resi gniert. So ein Dackel kann resi gnie ren wie

ein Phi lo soph. Nur daß er dem Zuge weh mü tig

nach schaut, bis er den Bahn hof ver las sen hat.

Ros witha winkt mit dem Taschen tuch und will

bemerkt haben, daß er mit den Ohr lap pen

zurück winkt. Dann steht er noch einen Augen -

blick ver sun ken da, das Haupt auf die Seite

geneigt und mit einem Blick – einem Blick! – ich

muß immer an den Prim gei ger einer Zigeu ner -

ka pelle den ken, der mit geneig tem Ohr die

schwer mü tig-schmel zen den Töne sei ner Geige

ein saugt. Dann tappt er heim wärts. Das Leben

hat vor läu fig kei nen Sinn und Zweck mehr als

den, ver schla fen zu wer den. Zu jeder ihm pas -

sen den Zeit kratzt er an meine Tür, ob ich

dichte oder nicht, und ich oder jemand anders

macht ihm auf: denn ich habe die Wei sung

gege ben:

»Die ser Rit ter wird künf tig unge mel det vor ge -

las sen.«

Er geht gera des wegs unter mei nen Schreib -

tisch, legt sich mit melan cho li scher Unver -

schämt heit quer über meine Füße und schläft.

Schläft und schnarcht wie ein akti ver Kam mer -

prä si dent. Stunde auf Stunde. Wenn er gar zu

hef tig zu mei nen Ver sen schnarcht, ver setz ich

ihm aus ver letz ter Auto ren ei tel keit einen Stoß

und rufe: »Männe. Mäßige dich.« Dann hört das

Schnar chen für eine Minute auf, um dann mit

neuer Kraft zu begin nen. Wer so schla fen

könnte! Wer die Zeit dazu hätte! Die Tür klin gel

mag läu ten und die Haus tür mag gehen, so oft

sie will – er schläft und schnarcht. Ver rückt, so

etwas »ein Hun de le ben« zu nen nen!

Aber Männe könnte wie der Mann des

Seidl-Löwe schen Lie des sin gen:

Ich trage, wo ich gehe,

Stets eine Uhr bei mir –

Gegen zwei Uhr wird sein Schlaf unru hig.

Von Zeit zu Zeit zucken seine Ohren – es wet -

ter leuch tet in sei nen Zügen, wie ein ordent li cher

Roman schrei ber sagen würde – plötz lich hebt er

den Kopf, rast – rrt! – nach der Tür, kratzt und

win selt: »auf ma chen, auf ma chen.« – rrt! an die

näch ste, eben falls geschlos sene Tür und heult:

»auf ma chen, schnel ler, schnel ler.« – rrt! an die

Haus tür und bellt: »diese ekel haf ten Türen!«

saust wie ein abge schos se ner Dackel durch den

Gar ten und in die Arme sei ner ver göt ter ten

Her rin. Er hat sie gehört, gespürt, geahnt, mit

zwei tem Gesicht gese hen, bevor wir nur das

Gering ste hör ten. Wie sie sich begrü ßen, wie sie

mit ein an der durch den Gar ten tol len – ja, das ist

Liebe! Er lacht Trä nen vor Wonne, und sein

Schwanz, das Per pen di kel sei nes Her zens,

macht zehn Schwin gun gen in der Sekunde.

Wenn sie ihre Schul ar bei ten macht, wenn sie

mit ihren Pup pen spielt – er liegt selig blin zelnd

zu ihren Füßen. Wehe, wenn ein ande rer das

Zim mer betritt! »Wer wagt es, in den Dunst -

kreis mei ner Her rin zu tre ten!« fährt er grol lend

auf und beru higt sich nur lang sam, wenn es ein

Mit glied oder ein Freund des Hau ses ist. Er

erlaubt uns, mit Ros wit hen fami liär zu ver keh -

ren, läßt aber durch blic ken, daß ihm diese Ver -

trau lich kei ten im Grunde sei nes Her zens nicht

gerade ange nehm sind.

* * *

Ein mal aber kam sie nicht nach Hause, weil

sie gleich von der Schule zu ihrer Freun din auf

Logier be such gegan gen war. Um zwei Uhr lief

er an die Haus tür, horchte und wit terte und

dachte: »Nanu?!« Er setzte sich nie der und war -

tete bis drei, bis vier, bis fünf. Er aß nicht, kau -

erte sich zusam men und ver fiel in einen unru hi -

gen Halb schlum mer. Er fuhr empor, sobald er

drau ßen etwas hörte – und sank trau rig wie der

in sich zusam men. Um sie ben Uhr saß er noch

auf dem Vor platze,

und das Ant litz noch, das blei che

nach dem Fen ster sah.

Dann begriff er: sie kommt nicht, und suchte,

ohne geges sen zu haben, mehr krie chend als

gehend, sein Lager auf.

In der Nacht begann er zu heu len, daß wir

erwach ten und nicht wie der ein schla fen konn -

ten. Ich stieg im tief sten Neg ligé die Trep pen

hin un ter und machte ihm beru hi gende Vor stel -

lun gen, schüt telte ihm sein Lager zurecht und

lud ihn ein, wie der Platz zu neh men und wohl

zu ruhen. Nach sol chen Exkur sio nen emp fin det

man die Bett wärme beson ders wohl tu end. Ich

hatte kaum drei Minu ten gele gen, als Männe

wie der zu heu len begann wie ein bes se rer

Schloß hund. Dies mal ent fuhr ich schnel ler dem

Bett, eilte die Treppe hin un ter und wurde in

mei nen Wor ten sehr unan ge nehm, in mei ner

Stimme äußerst dro hend. Ich sah nach dem Fut -

ter und dem Was ser napf – es war alles in Ord -

nung, stellte ihm das Ulti ma tum: jetzt Ruhe

oder Prü gel. und flüch tete klap pernd wie der in

mein Bett.

»Na, jetzt scheint er sich ja –«

»Zu beru hi gen,« wollte meine Frau sagen,

kam aber nicht dazu, weil der Herr Dackel wie -

der das Wort genom men hatte.

»Viel leicht will er hin aus,« meinte meine Frau.

Ich zog mich also an, ging hin un ter, schloß die

bei den Haus tü ren auf und sagte: »Hin aus.«

Rrrrt! war er drau ßen.

Ich schloß wie der zu, ging nach oben, ent klei -

dete mich und schlüpfte tief auf at mend und

zufrie den ins Bett. Da heulte und bellte er drau -

ßen, und schlim mer als zuvor.

»Jetzt weckt er auch die Nach barn auf,« sagte

meine Frau.

Ich zog mich aber mals an, dies mal aber lag in

der Art, wie ich die Hosen her auf zog, ent schlos -

se ner Ingrimm. Ich nahm einen gehö ri gen Stock

zur Hand, ging hin un ter, schloß wie der zwei mal

auf, rief den Hund mit wohl wol lend gefärb ter

Stimme ins Haus – rrt, lag er wie der in sei nem

Korb – und schloß wie ein bedäch ti ger Hen kers -

knecht wie der zu. Dann ging ich zu dem Hunde

und hob den Stock – aber das Tier sah mich mit

einem Paar Augen an – nie hab, ich in mensch li -

chen Augen eine so ergrei fende Angst und

Trau rig keit gese hen. Aus der Tiefe sei nes dunk -

le ren Daseins her auf fürch tet sich ein Tier viel -

leicht noch mehr, als ein Mensch sich fürch ten

kann. Ich warf den Stock hin, redete dem Tiere

wie der begü ti gend zu und ging wie der nach

oben. Wir muß ten uns end lich ent schlie ßen,

auch trotz Hun de ge heuls ein zu schla fen, und

wenn man muß und will, kann man auch das.

Als Ros witha näch sten Tages heim kehrte, ließ

Männe eine Art Bell heu len hören, das man

nicht näher bezeich nen kann; es schien ein wir -

res Pro dukt von Bel len, Wei nen, Jauch zen,

Heu len, Schluch zen und Hur ra ru fen, und in sei -

ner Begei ste rung rannte er so hef tig gegen sie

an, daß sie sich wider Wil len »bums« auf den

Rasen setzte. Diese Gele gen heit benutzte

Männe wider alles Ver bot, ihr immer abwech -

selnd Hals und Gesicht zu belec ken. Sein

Schwanz machte dies mal fünf zehn Schwin gun -

gen in der Sekunde.

* * *

Inzwi schen ist es Früh ling, ist es Som mer

gewor den, und Männe zieht Feld und Gar ten

dem Auf ent halt zu mei nen Füßen bei wei tem

vor. Wenn Kin der im Gar ten sind, vor allem,

wenn Ros witha dabei ist, bevor zugt er den Gar -

ten vor allen andern Plät zen. (Auch ein Beweis

für Män nes fei nen Instinkt, daß ihm die Kin der

lie ber sind als die Erwach se nen.) Er erlaubt

dann gütigst, daß man ihn spa zie ren fahre. Die

Kin der set zen ihn in den Block wagen, bedec ken

ihn bis an den Hals mit Bir ken, Erlen und Wei -

den kätz chen, so daß nur der inter es sante Kopf

her vor schaut; zwei zie hen und eines geht hin ter -

her und hält den Son nen schirm über ihn. Er

aber blickt um sich mit dem läs si gen Beha gen

eines Ele gants, der mit dem chick sten Gespann

der Welt durch das Bou log ner Wäld chen fährt.

Wenn keine Kin der da sind, bin ich ihm gut

genug, ja, wenn ich Miene mache, nach den Stie -

feln zu grei fen, macht er die hals bre chend sten

Ver su che, mich zu küs sen. Ich brau che von

dem Worte »aus ge hen« nur die erste Silbe zu

spre chen, so steht er schon won ne heu lend an

der Haus tür. Es ist der For scher drang, der ihn

hin aus treibt. Denn unter wegs gibt es kei nen

Gar ten und kein Gehöft, keine Tür und keine

Pforte, durch die er nicht ein dränge, um eine

gründ li che Loka lin spek tion vor zu neh men, so

daß ich mir schon gedacht habe, er sei im Stil len

mit der Abfas sung eines Adreß bu ches für

Hunde beschäf tigt. Man kann nie wis sen, was in

so einem Dackel steckt und was er vor hat.

Wenn weder die Kin der noch ich zu sei ner

Unter hal tung ver füg bar sind, liegt er auf dem

Rasen in der hell sten und hei ße sten Sonne. Es

ist nicht zu sagen, was solch ein Tier an Sonne in

sich auf neh men und an Faul heit her vor brin gen

kann. Dackel sind der schla gend ste Beweis

gegen die Theo rie, daß Wärme sich in Bewe -

gung umsetze. Männe nun gar hat die Faul heit

zur Genia li tät entwic kelt. Der träg ste Mau rers -

mann ist eine Biene im Ver gleich zu ihm, und

wenn Otto der Faule ein Denk mal erhal ten hat,

so ver dient Männe eine ganze Sie ges al lee. Halbe

Tage lang liegt er, den Kopf auf die Vor derp fo -

ten gestreckt, in der Sonne und schlürft das

Dasein in sich ein als ein Schlem mer, der die

ewige Selig keit durch einen Stroh halm ein saugt.

Nur zuwei len steht ihm der Sinn nach ande -

rem Plä sier. Dann kommt nie mand, auch der

harm lo se ste Spa zier gän ger nicht, an unserm

Gar ten vor bei, ohne daß ihn Männe ohne allen

Grund und Zweck auf die hef tig ste Weise ange -

bellt und ange schnauzt hätte. Er bleibt wohl -

weis lich hin ter dem Git ter; aber er schnauzt wie

toll: »Was haben Sie hier zu suchen! Sche ren Sie

sich augen blick lich fort, oder –!« Ich denke mir,

daß er in einem frü he ren Dasein Poli zei be am ter

in Deutsch land gewe sen ist, und daß es sich nur

um gele gent li che Rück fälle, um eine Art Ata vis -

mus han delt.

Wenn er auch die ses Ver gnü gens müde ist

und sich gar nichts ande res mehr bie tet, trot tet

Männe nach dem Hin ter gar ten und holt aus

einem Ver steck den ewi gen Kno chen her vor. Es

ist ein voll kom men abge nag ter, stein har ter,

gebleich ter Kno chen, von dem auch nicht das

Gering ste mehr her un ter zu bei ßen ist; aber

was will man dazu sagen? Man kann daran

nagen und kauen. So hat der Mensch die Erin -

ne rung . ...

* * *

In Alex an der Dumas wun der vol lem Lügen ro -

man »Der Graf von Monte Chri sto« gibt es

einen alten Mann namens Noir tier, der so

schwer vom Schlage gerührt ist, daß er weder

spre chen noch ein Glied rüh ren kann; aber

Augen hat er, Augen, in denen sich sein gan zer

Lebens rest kon zen triert. Mit allei ni ger Hilfe die -

ser Augen unter hält er sich, macht er Testa -

mente, ent larvt er Gift mi sche rin nen, führt er

Lie bende zusam men – ich erin nere mich nicht,

ob er auch Kla vier spielt; aber Dumas würde

auch das auf sich neh men – kurz: macht der alte

Herr Sachen, bei denen im Voll be sitz ihrer

Kräfte befind li che Men schen in Schweiß gera -

ten wür den. An die Augen des Noir tier muß ich

jedes mal den ken, wenn ich in Män nes Augen

schaue. Auch er macht und sagt mit den Augen

alles. Es gibt nichts Klü ge res und dabei Uner -

gründ li che res als Dackelaugen, nichts Aus -

drucks vol le res, Wech sel vol le res als ein

Dackelgesicht; denn der Dackel ist der je nige

unter den Hun den, der ein wirk li ches Gesicht

hat. Manch mal, wenn ich ganz allein bin und

kei nen andern Gesell schaf ter habe als ihn, spre -

che ich stun den lang mit ihm die tief sten Dinge

über moderne Lite ra tur und Kri tik. Das Resul -

tat die ser Dia loge gedenke ich ein mal als

»Unter hal tun gen mit einem Hunde« her aus zu -

ge ben. Wie köst lich sind auch seine Ant wor ten,

wenn er sich in mei ner Abwe sen heit eine Wurst

vom Früh stücks tisch geholt hat.

»Ach bitte, ver ehr ter Männe, komm doch mal

her!«

Seine ganze Reak tion besteht darin, daß seine

Ohren leise zucken.

»Männe!«

Er hebt lang sam den Kopf von den Pfo ten.

»Hörst du nicht, Männe?«

Er erhebt sich lang sam und streckt sich in den

Vor der bei nen.

»Hier her, Männe!«

Er wie der holt die selbe Frei übung in den Hin -

ter bei nen.

»Na?!«

Jetzt läßt er sich lang sam her bei.

»Wo ist die Wurst geblie ben?«

»Wie mei nen?« ver setzt er, indem er mit sanf -

tem Augen auf schlag den Kopf auf die Seite legt.

»Wo die Wurst geblie ben ist, will ich wis sen.«

»Sie ver zei hen, ich höre auf die sem Ohr nicht

gut,« erklärt er und neigt den Kopf auf die

andere Seite.

»Wer hat die Wurst hier weg ge nom men?«

»Gestat ten Sie eine Frage: Was ist Wurst?«

erwi dert er.

Ich ziehe ihn an sei nem Hals band an den

Tisch, stelle ihn auf einen Stuhl und deute auf

den Tel ler, um ihm seine Schand tat durch die

Sinne in Erin ne rung zu brin gen.

»Ich danke,« bemerkt er, »ich habe kei nen

Appe tit.«

»Pfui, Männe,« ruf, ich, indem ich ihn schüt -

tele, »du stiehlst Wür ste? Schäm, dich, du

Lump!«

Er blickt mich voll an mit den Augen des

Herrn Noir tier und ver setzt: »Auf die sen Ton

ein zu ge hen ver bie ten mir Erzie hung und Selbst -

ach tung.«

Kurz, es ist ihm nicht bei zu kom men. Er stellt

sich kon se quent auf den Stand punkt: »Solange

man unschul dig tut, kann man noch Dumme

fin den, die’s glau ben«, und erin nert mich dann

immer an den bekann ten bie de ren, krumm bei -

ni gen Bür gers mann, der es faust dick hin ter den

Ohren hat und die all ge meine Ach tung sei ner

Mit bür ger genießt.

Nun wird mir viel leicht der eine oder andere

mei ner Leser ein wen den, ich über triebe und

schätzte die Intel li genz mei nes Dackels denn

doch gar zu hoch ein. Sol chen Oppo nen ten will

ich noch ganz was ande res sagen. Die Men schen

haben jahr tau sen de lang die Erde für das Zen -

trum des Welt ge bäu des gehal ten und sind

furcht bar damit hin ein ge fal len. Dann hat es

noch lange Zeit Leute genug gege ben, die da

hoff ten, daß wenig stens der Mensch das Zen -

trum der Welt sei. Ihre Bla mage hat nicht auf

sich war ten las sen. Daß er Gip fel und Zen trum

der orga ni schen Erden welt sei, das glaubt der

Mensch noch heute. Wie aber, wenn er eines

Tages auch von die sem selbst ge zim mer ten

Throne ver jagt würde und in irgend einem Tier

eine weit intel li gen tere und ehren wer tere Gat -

tung erken nen müßte? »Oho!« hör, ich einige

rufen. Bitte: ich stand vor eini ger Zeit vor dem

Laden fen ster eines gro ßen Ban kiers, allwo man

Mün zen in Sil ber und Gold und unzäh lige

Bank no ten und Wert pa piere aus aller Her ren

Län dern, alles in allem ein beträcht li ches Ver -

mö gen aus ge stellt sah. Da kam ein rie si ger

Hund daher, und was tat die ser Hund? Er warf

einen kur zen Blick in das Schau fen ster und

nahm dann die sen Schät zen gegen über eine Stel -

lung ein, wie sie die Hunde an Ecken, Bäu men,

Later nen pfäh len u. dgl. nicht sel ten ein neh men.

Kann ein zyni scher Phi lo soph eine grö ßere

Über le gen heit bewei sen? Ja, noch mehr; die -

selbe Stel lung sah ich bald dar auf einen Hund

vor einem Bücher la den ein neh men, und zwar

genau an der Stelle, wo das Buch eines mei ner

lite ra ri schen Geg ner – ich will den Namen nicht

nen nen – aus ge legt war. Wo fin det man bei

Men schen ein so siche res Urteil? Nun ja, wen -

det viel leicht ein Mann von gro ßer Ver nunft

ein: der Hund weiß eben nicht, wel chen Wert

eine Obli ga tion der Öster rei chisch-unga ri schen

Staats bahn reprä sen tiert; man halte ihm aber

eine Wurst hin, und man wird sehen, wo seine

Über le gen heit bleibt. Das ist ja eine sehr ver -

nünf tige und ernst hafte Bemer kung; indes sen:

ich habe Hunde nach einer Wurst sprin gen,

schnap pen und lun gern sehen, und habe Poli ti -

ker, Künst ler und Gelehrte nach einem Orden

sprin gen, schnap pen und lun gern sehen, und

ich muß euch sagen: ich habe stets die Bewe gun -

gen des Hun des anmu ti ger und wür di ger gefun -

den. Und dann, wie gesagt, wenn ich Männe

soeben eine Got haer Zer ve lat wurst geschenkt

habe und im näch sten Augen blick auf Ros witha

los fahre, als wollte ich ihr ein Leids tun, so

schnappt er nach mir mit wüten dem Gebell.

Bringt mir ein Ana lo gon aus der Men schen welt.

Nein, ich laß es mir nicht neh men: der Hund,

wenig stens der Dackel, besitzt Qua li tä ten, die

ihn sogar zu hohen Stel lun gen in unse rem

Staats we sen berech ti gen. Männe zum Bei spiel

liebt es in Win ter szei ten, sich, wenn er nicht

über meine Füße ver fü gen kann, mög lichst

unmit tel bar vor den glü hen den Ofen zu legen.

Da ich das für unge sund halte, so pflege ich es

nicht zu dulden.

»Na –?« ruf ich dann in ziem lich ener gi schem

Tone, wor auf er leise mit den Ohren zuckt und

über die Pfo ten hin weg nach mir hin schielt.

(Ver glei che die Dar stel lung von vordem.)

»Na, Männe?!« ruf ich lau ter, wor auf er lang -

sam den Kopf hebt, ganz wie oben und wie

immer.

Ich muß also erst zu ihm her an tre ten und mit

nicht miß zu ver ste hen der Gebärde rufen:

»Gehst du jetzt augen blick lich fort?!«

Dann erhebt er sich, dreht sich ein mal lang -

sam um sich selbst und legt sich wie der nie der.

Er glaubt damit bei mir die Täu schung zu erzie -

len, daß er vom Ofen weg ge rückt wäre.

»Männe, wenn du jetzt nicht sofort –!!«

Da erhebt er sich aber mals, dreht sich ein mal

auf der Stelle, legt sich wie der hin und spricht zu

mir mit den Augen eines Engels:

»Sie sehen, ich tue alles, was Sie von mir wün -

schen.«

Da frage ich: man ver wen det die Hunde jetzt

auf allen Gebie ten, bei wis sen schaft li chen For -

schun gen, bei der Poli zei, in der Armee – warum

nicht in der Diplo ma tie?!

Um aber vol lends ernst zu reden: Wenn ich

gese hen habe, wie Tiere von Men schen gequält,

geschun den und mit Müh sal über la den wur den,

wenn ich den Blick gese hen habe, mit dem ein

Pferd die Roheit sei nes Herrn erträgt, ohne zu

ver gel ten, wie es doch wohl könnte, dann ist mir

mehr als ein mal der Gedanke gekom men: sie

befol gen die Phi lo so phie, die die Men schen von

den Kan zeln pre di gen: Lie bet eure Feinde und

wider stre bet nicht dem Übel; denn ihm wider -

stre ben, heißt es ver meh ren. Und dann ist mir

noch immer vor mei ner Gott ähn lich keit bange

geworden.

In Summa: ich lerne Ros wit hens Sym pa thien

täg lich mehr ver ste hen, und jetzt find, ich auch,

daß Männe schön ist, schön wie Engel voll Wal -

hal las Wonne, und weiß auch, woher er die

krum men Beine hat. Er wäre sonst zu schön

gewe sen, darum krümmte ihm der Neid der

Olym pi schen die Beine. Zwar finde ich, daß er

bei der guten Kost etwas in die Breite geht, daß

er einer Nudel walze ähn lich wird wie ein zu gut

gepfleg ter erster Held und Lieb ha ber; aber Ros -

wit hens Liebe ist blind. Sie hat mir auch ganz

heim lich, damit es Männe nicht höre, ins Ohr

geflü stert, was sie ihm zur bevor ste hen den

Weih nacht ver eh ren will. Sie will ihm ein Hals -

band stic ken, ihm eine Wurst und ein Tan nen -

bäum chen schen ken. Das Bäum chen hat sie

schon leise her bei ge schafft, als er schlief, und

wenn sie an dem Hals band stickt und Männe

zur Tür her ein kommt, ver birgt sie es schnell

unter dem Tisch. Auch hat sie mir bereits anver -

traut, was sie sich zur wie derum nahen den

Weih nacht wünscht: ein Lamm, eine Ziege,

zwei Kanin chen, einen Laub frosch, einen Kana -

rien vo gel und noch einen Dackel. »Weiß du

warum, Pappi? Denn krie gen sie für leicht Junge,

un denn krie gen wir immer mehr Dackel.«

Von zwei er lei Ruhm.

Man che Leute erwei sen mir die Ehre, mich für

berühmt zu hal ten. Und ich glaube sogar, daß

ich es bin. Ich sage das ganz unge niert, weil der

Ruhm, um den es sich hier han delt, eigent lich

gar kein Ruhm ist. Wirk li cher Ruhm – wenig -

stens Dich ter ruhm – kann eigent lich erst nach

dem Tode ent ste hen. Darin irren unsere Kri ti -

ka ster (wenn sie es auch bestrei ten wer den): lei -

sten kann ein Dich ter schon bei Leb zei ten etwas;

sogar Faust und Ham let wur den vor dem Tode

ihrer Ver fas ser geschrie ben; aber berühmt, rich -

tig berühmt kann ein Dich ter erst nach sei nem

Hin gang wer den. Der Graf Zep pe lin ist bei

leben di gem Leibe berühmt gewor den; denn der

Wert eines brauch ba ren Luft schif fes leuch tet

ohne wei te res ein; Kunst werke aber sind ima gi -

näre Grö ßen. »Herr lich,« sagt der eine, »scheuß -

lich« der andere, und bewei sen kann kei ner von

bei den, daß er recht habe. Erst wenn ein Kunst -

werk nicht nur zu den Zeit ge nos sen, wenn es

auch zum nach le ben den Geschlecht, ja zu meh -

re ren Geschlech tern mit war men Lip pen

gespro chen hat, erst wenn die Zeit, die alle vor -

lau ten Mei nun gen belä chelt, ihr aner ken nen des

Urteil gespro chen hat, erst dann beginnt den

Grab stein des Künst lers jenes magi sche Licht zu

umwit tern, das wir mit andäch ti gem Schauer

den »Ruhm« nen nen.

Die andere Sorte von Ruhm darf uns mit

gerin ge rer Andacht erfül len. Es ist näm lich die

durch unser aus ge dehn tes Zei tungs- und Ver -

kehrs we sen ins Unge wöhn li che gestei gerte

Bekannt heit des Namens. Ich wie der hole: des

Namens. Die Namen Max Klin ger und Wil helm

Raabe sind gewiß in weite Volks kreise gedrun -

gen, und wenn man sie nennt, wer den wei te ste

Volks kreise rufen: »Ah – Max Klin ger. Alle

Ach tung. – Ooh – Wil helm Raabe – das wollt,

ich mei nen!« Aber bei nähe rem Nach for schen

wird man bald bemer ken, daß große Mas sen

die ser Kreise nicht genau wis sen, ob Klin ger

und Raabe berühmte Par la men ta rier oder

berühmte Che mi ker sind, oder ob sie gemein -

sam eine berühmte Kor sett fa brik betrei ben.

Nur, daß sie »berühmt« sind, das weiß man.

Ich wollte vor kur zem einen Freund besu -

chen, der in einem gro ßen Bank hause beschäf -

tigt ist. Ich wandte mich an einen Kol le gen mei -

nes Freun des und sagte:

»Wür den Sie die Güte haben, Herrn X. zu

sagen, daß ich da bin? Mein Name ist Otto

Ernst.«

»Ah,« rief er ehr furchts voll, »der Kom po -

nist!?«

»Ganz rich tig,« sagte ich, »der Kom po nist der

Salome.«

»Aaah!« machte er mit tie fer Ver beu gung,

»darf ich bit ten, Platz zu neh men; ich werde

Herrn X. sofort ver stän di gen.«

Diese Art von Ruhm meinte ich mit der zwei -

ten Sorte. Sie bekun det sich u. a. durch die mehr

oder weni ger stünd lich ein lau fen den Auto -

gramm ge su che. Wenn man in einer Auto gra -

phen samm lung unter kei nen Umstän den feh len

darf, dann ist man unrett bar berühmt. Ich bin in

kei ner Hin sicht Samm ler; aber ich kann es ver -

ste hen, daß jemand die Schrift züge eines Men -

schen besit zen möchte, des sen Werke ihm lieb

gewor den sind; denn ein gewis ses Cha rak ter isti -

kum des Men schen liegt wohl auch in sei ner

Schrift. Wenn ich merke, daß einer sich wirk lich

mit mei nen Arbei ten befaßt hat, pflege ich des -

halb sei nen Wunsch nach einem Auto gramm

wohl zu erfül len. Aber die Anrede »Hoch ver ehr -

ter Mei ster!« und die all ge meine Ver si che rung,

daß man meine »sämt li chen Werke mit grö ß ter

Begei ste rung gele sen habe«, über zeugt mich

nicht, beson ders dann nicht, wenn der Brief -

schrei ber mich kon se quent »Herr Otto Erich«

nennt. Die Auto gra phen samm le rei hat sich

näm lich zu einem kom plet ten Blöd sinn, zu einer

förm li chen Land plage entwic kelt, und 80 Pro -

zent der Samm ler denkt gar nicht daran, jemals

einen Blick auf das Werk derer zu wer fen,

»deren Schrift züge ihnen die kost bar ste Berei -

che rung ihres Albums« sein wür den. Die lie ben

klei nen Mäd chen sind natür lich hier wie in all

der glei chen Din gen die Gerie be nen. Sie appel -

lie ren an die Eitel keit des Man nes im Künst ler;

er soll ihnen glau ben, daß sein Bild immer über

ihrem Schreib tisch, über ihrem Bett hänge, daß

ein Auto gramm von ihm »der sehn lich ste

Wunsch ihres Lebens« sei und sie »unend lich

selig« machen würde usw. usw. Man sieht förm -

lich die armen Wesen sich in schlaf lo sen Näch -

ten auf den trä nen durch nä ß ten Kis sen wäl zen

und den Tag ihrer Geburt ver flu chen, weil sie

noch immer das Autogramm nicht haben. Es

gibt allerdings auch andere. So schrieb eine –

ohne jegliche Anrede –

»Da ich eine eif rige Auto gra phen samm le rin

bin, so bitte ich höf lichst um Ihre Schrift züge.

Erna . ...«

Es fehlt nur noch der Zusatz: »wid ri gen falls

unver züg lich zur Pfän dung geschrit ten wer den

wird.«

Sehr viel Freude hatte ich auch an dem Brief

einer klei nen Eng län de rin. Sie schrieb:

»Im Anschluß, der von Ihnen so entzuk -

kenden geschrie be nen Schrift stuc ken kann ich

es nicht unter las sen, einige Zei len an Sie hoch ge -

ehr ter Herr zu rich ten. Schon lange war es mein

sehn lich ster Wunsch (siehe da!) ein Auto -

gramm von ihnen zu besit zen« usw. usw.

Als ich meine Schreib weise von einer sol chen

Ken ne rin unse rer Spra che aner kannt sah, kam

ich mir unge mein berühmt vor.

Was die sen Bitt ge su chen noch eine beson dere

Pikan te rie ver leiht, ist, daß sie häu fig mit Straf -

porto bela stet sind. Eine Zug abe, die auch viele

der täg lich ein lau fen den, zur Beur tei lung ein ge -

sand ten Dra men, Romane und Gedichte

auszeichnet.

Die Begleit briefe die ser Sen dun gen fan gen so

gut wie aus nahms los fol gen der ma ßen an:

»Sie wer den sich fra gen, wie ich, ein Ihnen völ -

lig Unbe kann ter, dazu komme, Ihnen, der Sie

gewiß mit ähn li chen Anlie gen über schwemmt

wer den, beschwer lich zu fal len (ach nein, ich

frage mich schon gar nicht mehr; ich kenne

meine Ant wort) und Ihre gewiß kost bare Zeit

(er schickt aber doch!) für die wohl wol lende

Prü fung des bei fol gen den Dra mas in Anspruch

zu neh men. Ich würde es auch nicht wagen,

wenn ich mir nicht sagen dürfte, daß hier ein

Fall vorliegt –«

Der Fall liegt näm lich immer vor. Ich kann

aber ohne Über trei bung ver si chern, daß ich,

wenn ich alle diese »Aus nah me fälle« lesen und

gewis sen haft prü fen wollte, auf jede eigene Pro -

duk tion ver zich ten müßte. »Nu, wenn schon –«

wer den man che der Ein sen der den ken; aber so

denke ich eben nicht. Man tut ja, was man kann;

obwohl Gustav Falke recht hatte, als er mich vor

kurzem fragte:

»Hast du denn deine Erst linge an Berühmt hei -

ten zur Prü fung geschickt?«

»Nein,« sagte ich.

»Na also; ich auch nicht,« sagte Falke.

Aber gleich wohl, man tut, was man kann,

wenn einem die »Berühmt heit« nicht gar zu

sauer gemacht wird. Das kommt aber vor. Einer

z. B. ver langte die ser Tage ach ter lei von mir: Ich

sollte

sein Stück lesen,

des sen Män gel besei ti gen,

es bei einer Bühne anbrin gen,

einen Ver le ger besor gen,

die Höhe der mut maß li chen Tan ti èmen

ange ben,

mich bei gewis sen Zei tun gen für ihn ver wen -

den usw. usw.

Vor schuß ver langte er von mir nicht. Aber

auch das gibt es. Zu einem mei ner Freunde kam

ein Mann und sagte:

»Ich habe eine glän zende Schwan ki dee; die

könn ten wir gemein sam bear bei ten. Der Erfolg

ist sicher.« (Ist immer sicher.) »Solch ein

Schwank bringt erfah rungs ge mäß 60 000 M.

ein. Strec ken Sie mir meine 30 000 M. vor.«

»Wieso?« sagte mein Freund, »strec ken Sie

mir meine 30 000 M. vor.« Aber so sicher schien

dem Männe der Erfolg nicht. Er hatte wohl

auch nicht so viel bei sich.

Einige die ser Her ren Kol le gen bestim men

gleich die Zeit, inner halb deren die Prü fungs ar -

beit zu lei sten ist.

»Soeben meine Komö die been det,« heißt es in

einem sol chen Schrei ben mit küh ner Parti zi pi al -

kon struk tion, »richte ich an Sie die erge ben ste

Bitte, ob Sie gewillt wären, mit mir die ses Stück

ein mal an Aben den näch ster Woche durch zu ge -

hen.« Und um sein Vor ge hen zu recht fer ti gen,

schreibt derselbe Herr:

»Hat Schil ler, Deutsch lands Lieb lings dich ter,

nicht immer seine Werke nach der Been di gung

erst sei nem Freunde, dem geist vol len Goe the

zur Durch sicht gege ben? – ja, und Letz te rer

nahm diese Ehre auch mit gro ßem Danke an.«

(Die Fol ge rung ergibt sich von selbst.) »Glei ches

taten noch fer ner viele andere Dichterfürsten.«

»Wer kann da wider ste hen?« hat er sich

gedacht. Am hüb sche sten hab ich in die sem

Briefe immer den »geist vol len Goe the« gefun -

den. Es ist so, als wenn man sagte: »Der streb -

same Beet ho ven« oder »der anstel lige

Bismarck«.

Die reso lu te sten Herr schaf ten die ser Art

schrei ben ein fach: »Ich werde mir erlau ben, am

näch sten Sonn tag zu Ihnen zu kom men und

Ihnen das Stück vor zu le sen.« Dar auf pflege ich

frei lich zu ant wor ten: »Sie wer den nicht, mein

Herr oder meine Gnä dige.« Ich halte das für

qua li fi zierte Erpres sung. Ein mal habe ich das

durch lebt. Es war ein armes Weib, dem ich

nichts Ange neh mes sagen konnte und nichts

Unan ge neh mes sagen mochte. Die Mar tern des

Gua ti mo zin sind ein Son nen bad gegen sol che

Qua len. Seit dem bringt mich ein Besu cher

dieser Art nicht mehr zum Sitzen.

Ganz etwas ande res ist es, wenn, wie vor eini -

gen Jah ren, ein Mann zu mir kommt und

erklärt: »Ich bin ein Dich ter, wie er in hun dert

Jah ren nur ein mal vor kommt. Mit Dich ter lin -

gen wie Haupt mann und Suder mann bitte ich

mich nicht zu ver wech seln. Mein Stück steht auf

glei cher Höhe mit dem »Ham let«, nur, daß es

weit dra ma ti scher ist.« Eine sol che Unter stüt -

zung ver ein facht die Arbeit bedeu tend; man

stimmt einfach zu.

Und ebenso klar lagen die Ver hält nisse bei

einem jun gen Mäd chen, das mir schrieb:

»Hier mit erlaube ich mir, Ihnen sechs mei ner

von mir ver fa ß ten Gedichte zu über mit teln; ich

schrieb die sel ben ohne jeg li ches Vor stu dium und

brauchte für jedes Gedicht zirka zehn Minu ten .

... Wenn ich mich der Schrift stel le rei voll stän dig

widme, werde ich nur humo ri sti sche Skiz zen

schrei ben, da ich auf dem humo ri sti schen

Gebiet zu Hause bin.«

Das ist sie ohne Zwei fel, und das hab, ich ihr

auch geschrie ben.

Die feste Über zeug theit ist auch ein durch ge -

hen des Merk mal derer, die nicht mit fer ti gen

Schöp fun gen, son dern mit »bril lan ten Stof fen«

an den »Berühm ten« her an tre ten. »Das ist wirk -

lich pas siert!« – mit die sem Satze glau ben sie

jeden Einwand beseitigt.

»Das ist Wort für Wort Tat sa che!« erklärte

mir solch ein Mann. »Sie glau ben gar nicht, wie

gemein sich die Ver wand ten mei ner Frau gegen

sie benom men haben.«

»Das kann ich mir den ken,« sagte ich höf lich.

»Nein, das kön nen Sie sich gar nicht den ken.«

»Dscha – wenn Sie mei nen –«

»Ja, und nun woll ten wir gern ’n Roman dar -

aus gemacht haben. Meine Frau könnte das ja

auch machen; aber sie hat keine Zeit zu so was.«

»Und nun mein ten Sie, daß ich ...«

»Ja.«

»Na – schrei ben Sie ein mal alles auf, was Sie

erfah ren haben, recht klar und wohl geord net«

(in die sem Augen blick bemerkt man regel mä ßig

auf dem Gesicht des Besu chers eine deut li che

Ent täu schung) »und dann schic ken Sie’s mir

durch die Post; dann werde ich Ihnen eben falls

durch die Post meine Mei nung schrei ben.« Dies ist

die ein fach ste Methode.

Oder ich schic ke sie, in dem christ li chen

Gefühl, daß man auch sei nen Kol le gen ein Ver -

gnü gen gön nen soll, zu einem andern. »Gehen

Sie mal nach Blan ke nese, da wohnt Gustav

Frens sen, der macht es Ihnen sofort, oder, wenn

der nicht will, gehen Sie zu Lilien cron, der tut’s

sicher. Grü ßen Sie die Her ren von mir.«

Sehr nett war auch der Mann, der mit der

unge mein dra ma ti schen Idee »Grün Tuch« zu

mir kam.

»Im ersten Akt,« rief er begei stert, »ist es das

grüne Tuch des För sters. Im zwei ten das grüne

Tuch des Bure au ti sches. Im drit ten das grüne

Tuch von Monte Carlo. Im vier ten« – hier

wurde er schmel zend – »das grüne Tuch der

Natur – Früh ling. – ver ste hen Sie?«

»Voll kom men. Und –?«

»Das wird kolos sa len Erfolg haben, Sie wer -

den sehen. Wol len Sie das bear bei ten? – Ich

würde Ihnen natür lich einen Teil der Ein nah -

men abge ben!«

Immer hin war die ser grüne Stoff noch reich li -

cher bemes sen als der »Stoff« eines Jüng lings,

der mir schrieb:

»Ein talent vol ler jun ger Mann, dem es seine

Eltern an Aus bil dung nicht haben feh len las sen,

der aber beson de rer Umstände hal ber trotz dem

das väter li che Geschäft erlernt, glaubt auf

Grund sei ner Fähig kei ten zu etwas Höhe rem

gebo ren zu sein, wird aber durch seine Eltern

jedes mal abge hal ten und gezwun gen, sein

Geschäft wei ter zu ver rich ten. Die Lösung die -

ser Frage bleibt ja nun dem Bear bei ter die ses

Wer kes (näm lich mir) über las sen, und ist der

Phan ta sie weitester Spielraum gelassen.«

Unver kenn bar. Diese Sub lie fe ran ten haben

aber mit un ter noch eine Kehr seite. Neh men wir

an – nicht die ser junge Mann; ich kenne ihn

nicht und will ihm nicht unrecht tun – aber

irgend einer wäre mit der sel ben Idee zu Schil -

lern gekom men und Schil ler hätte dann seine

Jung frau von Orleans geschrie ben, so hätte

Schil ler ganz wohl erle ben kön nen, daß jener

ihn öffent lich des Pla gi ats oder doch der unlau -

te ren Benut zung sei ner Ideen bezich tigt hätte.

Man hat Beispiele.

Natür lich sind alle sol che Peten ten »begei -

sterte Ver eh rer und Bewun de rer« unse rer sämt -

li chen Werke. Und es ist nett, wenn man dann

gele gent lich merkt, daß sie einen mit Tol stoi

oder mit der Ver fas se rin der »Ber li ner Range«

ver wech seln. Das Hüb sche ste lei stete aber doch

der Ungar, der mich über set zen wollte. Er

schrieb mir:

»Ich bin einer Ihrer Schwär mer und möchte

gern Ihr rei zen des Stück »In Behand lung« über -

set zen.«

Nun ist »In Behand lung« wirk lich ein rei zen -

des Stück; aber es ist von Max Dreyer. Ich

schrieb denn auch zurück, daß ich gegen die

Über set zung nicht das Gering ste ein zu wen den

hätte.

Und da wir ein mal bei der öster rei -

chisch-unga ri schen Mon ar chie sind, so will ich

noch erzäh len, was sich – sagen wir: in Graz

ereig nete. Es war nicht Graz; aber sagen wir

eben des we gen »in Graz«. Ich hatte eine Vor le -

sung gehal ten, und nach der Vor le sung kam ein

stür mi scher Stu dent zu mir, ein jugend li cher

Idea list. und bat mich, ich möchte doch mit ihm

zur Frau v. G. kom men, sie sei sehr geist reich

und eine große Ver eh re rin von mir; sie lasse

mich zum Sou per bit ten; es kämen noch sechs

oder sie ben andere Herr schaf ten, die alle dar auf

brenn ten, mich per sön lich ken nen zu ler nen. Ich

hatte meine Erfah run gen, sträubte mich hef tig

und erklärte, daß ich viel lie ber mit ihm und sei -

nen Kom mi li to nen einem zwang lo se ren Ver -

gnü gen oblie gen würde; aber ich merkte bald,

daß ein Preis auf mei nen Kopf gesetzt war und

daß er sich anhei schig gemacht hatte, mich tot

oder leben dig ein zu lie fern. Ich wurde schwach

und ließ mich hin schlei fen. Es waren auch wirk -

lich eine ganze Anzahl Damen und Her ren da,

die mich sämt lich, einer nach dem andern, frag -

ten, ob ich schon ein mal in Graz gewe sen sei.

Natür lich mit Abwechs lung in der Form, aber

mit merkwürdiger Übereinstimmung des

Grundgedankens:

»Sind Sie zum ersten mal in Graz?« oder

»Waren Sie schon mal in Graz?« oder

»Sie sind wohl nicht zum ersten mal in Graz?«

usw.

Ein bizar rer Geist fragte mich, in wel chem

Hotel ich abge stie gen sei. Nun hab, ich gar

nichts gegen sol che Fra gen als Gesprächs ein lei -

tung; aber die ganze Unter hal tung bestand aus

sol chen Ein lei tun gen. Es fiel mir auch auf, daß

die Dame des Hau ses mich als »Herr Otto« vor -

stellte – so ver traut waren wir doch noch gar

nicht – aber ich dachte mir: sie hat sich ver spro -

chen. Das Essen in die sem rei chen Haufe war

depri mie rend, nie der schmet ternd und über -

zeugte mich davon, daß die gnä dige Frau mich

nur sehr ober fläch lich ken nen müsse. Der stür -

mi sche Stu dent tat, was ich selbst ver ständ lich

nie mals tue: er brachte das Gespräch auf meine

Schrif ten, und ich bemerkte deut lich, daß die

gnä dige Frau an mei ner Seite unru hig wurde.

Aus Mit leid mit ihr suchte ich dem Gespräch

eine andere Wen dung zu geben; aber der Stu -

dent war hart näc kig; er faßte immer wie der

nach. Da sah ich es plötz lich hell auf leuch ten im

Ant litz der Dame, ein erlösender Gedanke

mußte ihr gekommen sein.

»Sie sind doch gewiß aus einer Wald ge gend,

nicht wahr?« sprach sie zu mir mit begei ster tem

Lächeln.

Ich blick te unwill kür lich an mir hin un ter, ob

ich etwas Wald mensch li ches an mir hätte.

»Warum mei nen Sie das, gnä dige Frau?«

»Nun, Ihr neue stes Stück spielt doch mit ten im

Walde, nicht wahr? Ich konnte lei der nicht zur

Pre miere kom men –«

»Im Walde?« wie der holte ich stau nend.

»Theo!« rief sie jetzt ihren Gat ten an, der

bereits vor Ver le gen heit schlot terte und die

Augen ver drehte, »du erzähl test mir doch von

dem För ster und dem Gut sherrn, die im Streit

mit ein an der lie gen, und der För ster schießt

dann den Sohn des andern tot ...«

Die ganze Gesell schaft saß »kalt durch graut«,

und Theo starrte sein Weib an wie Bel sa zar die

Wand mit der Flam men schrift. Die Bejam -

merns wür dige meinte den »Erb för ster«. Meine

Ver eh re rin hielt mich für des sen Ver fas ser, der

aller dings auch Otto heißt.

Ich glaube, daß ich nun deut lich genug jene

mum pi ziöse Art des Ruh mes gekenn zeich net

habe, die mit dem Men schen, sei nem Werk und

sei nem Ver dienst nicht das Gering ste zu tun hat,

die nichts ist als eine Reso nanz in hoh len Köp -

fen und offe nen Mäu lern, und die des halb aller -

dings vor treff lich in unsere Zeit paßt. Und ich

hoffe, nicht den Ver dacht erweckt zu haben, als

wollte ich Erha ben heit über die Aner ken nung

der Mit le ben den posie ren. Die Dich ter, die uns

ver si chern, daß es ihnen voll kom men gleich gül -

tig sei, ob ihre Bücher gekauft und gele sen wür -

den, bewun dere ich aus inner stem Her zen; aber

ich glaube ihnen nicht. Ich las noch in die sen

Tagen wie der die herr li chen Briefe Th. Fon ta -

nes an seine Fami lie. Der feine, beschei dene,

adlige Mann freute sich von Her zen jedes ehr li -

chen Lobes, und erhielt mit bit ter sten, kräf tig -

sten Wor ten nicht zurück, wo Unverstand und

Bosheit es ihm versagten.

Der Tages ruhm – das hab, ich zu sagen ver -

ges sen – zer fällt eben auch wie der in zwei Unter -

ab tei lun gen. Als ein zeit ge nös si scher Dich ter

nach der Pre mi Pre sei nes Stüc kes die Räume

eines deut schen Hof thea ters ver ließ, fiel ihm ein

jun ges, frem des und oben drein hüb sches Mäd -

chen um den Hals und drück te ihm einen kräf ti -

gen Kuß auf die Lip pen. Solch eine Tro phäe

würde ich bis ans Lebens ende bewah ren und

kei nem andern gön nen. Den »Ruhm« aber, den

ich in die ser Plau de rei beschrie ben habe, würde

ich an etwaige Reflek tan ten mit Ver gnü gen

abge ben. Ohne Ent gelt. Bei Abnahme des

ganzen Postens liefere ich frei ins Haus.

Die späte Hoch zeits reise.

Als sie sie ben Jahre ver hei ra tet waren, mach ten

sie ihre Hoch zeits reise. Es ging nicht eher. Sie

hat ten näm lich gehei ra tet, als er ein Ein kom men

von 1500 Mk. jähr lich hatte. Das kann man

Frech heit nen nen; man kann es aber auch Liebe

nen nen. Zwar erhielt er nach etwa einem Jahr

ein Schrift stel ler ho no rar, für das sie hät ten rei -

sen kön nen, wenn nicht ein Kind gekom men

wäre und sofort die Hand auf die ses Geld gelegt

hätte. Im näch sten Jahre aber gelang es ihm, als

Vor le ser bei einem alten Herrn einen hüb schen

Neben ver dienst zu erwer ben, der gerade für das

zweite Kind reichte. Da fiel ihm im drit ten Jahre

ein Preis für eine wis sen schaft li che Arbeit zu, für

den sie sicher eine Reise gemacht hät ten, wenn

das dies jäh rige Kind das Gei stes kind nicht auf -

ge wo gen hätte. Die näch sten zwei Jahre brach -

ten kei nen Neben ver dienst und nur ein Kind.

Als er dann aber zum zwei ten Male einen

Preis errang und als sein Gehalt um zwei hun -

dert Mark erhöht wurde, und als ihre Ehe schon

zwei Jahre lang unfrucht bar gewe sen war, da

beschlos sen sie, für drei hun dert Mark eine

Reise nach Thü rin gen zu machen.

»Deutsch land ist das Herz Euro pas«, das hatte

er als klei ner Junge in der Schule gehört. Es

klang etwas anma ßend; aber ein Deut scher

mocht, es immer hin glau ben. Thü rin gen mußte

nach allem, was er davon gehört und in Bil dern

gese hen hatte, das deut sche ste Land der Deut -

schen, mußte das Herz des Her zens sein. Und

dort zog es die beiden hin.

Sie ben und fünf zig Abende hin durch arbei tete

er an den Plä nen, und bei allem mußte er den -

ken: Was wird sie für Augen machen, wenn sie

das sieht. Hätte er alle Genüsse die ser Gedan -

ken reise bezah len müs sen – ein lan ges Leben

voll Arbeit hätte nicht gereicht, die Zin sen die ser

Schuld zu erzwin gen. In den letz ten Tagen ging

er wirk lich daran, die Kosten zu berech nen. Da

fand sich, daß, wenn er sehr spar sam zu Werke

gehe, etwa ein Zehn tel sei ner Pläne ver wirk licht

werden könne.

Und in den letz ten Tagen wurde sein tap fe res

Weib chen feige. Der Junge habe so heiße Wan -

gen und das Jüng ste habe in der letz ten Nacht

ein mal gehu stet. Ihr Herz konnte sich nicht von

den Kin dern lösen. Er stellte ihr vor, wie sehr sie

einer Erho lung bedürfe – das ver schlug gar

nichts. Da spielte er mit roten Backen und glän -

zen den Augen den voll stän dig Ange spann ten,

Über mü de ten, Nie der ge bro che nen. »Es gibt für

eine Fami lie keine bes sere Kapi tals an lage als die

sorg fäl tig ste Pflege des Ernäh rers,« machte er

ihr klar. Das sah sie ein. Der Abschied von den

Kin dern, die unter der Obhut ihrer Schwe ster

blie ben, war nichts de sto wen iger noch eine Kata -

stro phe und erschien ihr wie bethlehemitischer

Kindermord.

Aber in der Eisen bahn wurde sie völ lig ande -

ren Sin nes. Es ist etwas Eige nes um die Eisen -

bahn. Sie hat etwas Fort rei ßen des, Uner bitt li -

ches, Unwi der ruf li ches. Aus stei gen wäh rend

der Fahrt ist bei Schnell zü gen nicht anzu ra ten,

und so fin det man sich schnell in das Unab än -

der li che. Auch sie erfa ßte nun der ganze, sprin -

gende Jubel des Los ge bun den seins, der den Rei -

se be ginn zu einer so unver gleich li chen Freude

macht, und die bei den benah men sich wie aus -

ge ris sene Schul kin der. Zwei Minu ten lang

saßen sie rechts, drei Minu ten lang links; fünf

Minu ten lang fuh ren sie vor wärts, vier Minu ten

lang rück wärts; bald saß sie auf sei nem Schoß,

bald er auf ihrem, bis sie ihn auf stöh nend fort -

stieß: »Uff, geh, weg, du dicker Mensch.« –

Dann lach ten sie, dann küß ten sie sich, dann

tanz ten sie, dann küß ten sie sich wie der, kurz: es

war ein großes Glück, daß sie das Abteil ganz

für sich allein hatten.

Als der Zug zum ersten Male hielt, öff nete ein

Mann die Tür und machte Miene ein zu stei gen.

Das Gesicht der jun gen Frau zeigte gren zen lose

Über ra schung, wie wenn jemand unge ru fen bei

einer Köni gin ein ge tre ten wäre; seine Augen

aber schleu der ten Blic ke, die auch der ein ge -

fleisch te ste Opti mist nicht als Ein la dung auf fas -

sen konnte. Über das Gesicht des Frem den

huschte ein lächeln des Ver ste hen: Aha – Hoch -

zeits rei sende. Er schloß die Tür und suchte sich

einen andern Platz.

»Das ist ein guter Mensch!« sprach sie mit

from mer Rüh rung.

»Ein vor neh mer Cha rak ter,« bestä tigte er.

Aber als sie wei ter fuh ren, kamen sie in eine

Gegend mit gemei nen Cha rak te ren, die ein stie -

gen und lange sit zen blie ben. Wann wer den wir

end lich Kupees für Hoch zeits rei sende haben!

Auf dem Bahn hof einer gro ßen Sta tion nah -

men sie das Mit tags mahl ein. Suppe, Fisch, Bra -

ten und Pud ding für eine Mark fünf und sieb zig.

Er beta stete das dicke Porte mon naie in sei ner

Tasche und bestellte ½ Fla sche Mosel.

»Hast du dir das jemals träu men las sen, daß

wir noch ein mal wie die Für sten dinie ren wür -

den?« flü sterte er ihr ins Ohr.

»Nein.« sagte sie mit lang sa mem Kopf schüt -

teln und blick te träu mend über ihr Glas hin weg

ins Weite.

Er kam sich vor wie ein Par venu und gelobte

sich, sei nen Wohl stand mit Geschmack zu tra -

gen.

Die Nichts wür dig keit der Bevöl ke rung schien

mit dem Qua drat der Ent fer nung zu wach sen;

bald saß das ganze Kupee voll, und drau ßen im

Schat ten waren es 30 Grad. Zwei dicke Bau ern -

wei ber saßen da in dicken Woll klei dern und die

Kopfe in dicke Woll tü cher gewic kelt; sie woll -

ten nicht dul den, daß ein Fen ster geöff net

werde. Dar über geriet ein cho le ri scher Herr in

die grö ßte Auf re gung; aber unser Paar ver -

mochte kein Mit ge fühl für ihn auf zu brin gen;

denn erstens: warum war er ein ge stie gen? und

zwei tens: wie kann man sich ärgern, wenn man

durch lau ter Sonne fährt, wenn man sozu sa gen

geradeswegs in die Sonne hineinfährt?

So kamen sie nach Eise nach, und bevor sie ein

Hotel such ten, such ten sie mit ihren Blic ken die

Wart burg. Da ragte sie aus Wald wip feln empor

ins Abend licht. Wel cher Deut sche sucht nicht

schon in Kin der ta gen mit den Augen der Seele

die Wart burg? Von wei tem hör ten sie die

Stimme Walt hers von der Vogel weide und

Wol frams von Eschen bach, sahen sie das stille

Gemach des Bibel über set zers und sahen sie die

flam men den Feuer der Bur schen schaft wie

brau sen den Auf schwung jun ger Her zen in alt -

ge wor de ner, bittertrauriger Zeit.

Und tief ent täuscht waren sie, als sie am fol -

gen den Tage mit vie len andern durch die

Räume der Burg geführt wur den und der »Füh -

rer« in schau der haf tem Deutsch aller lei unge wa -

sche nes, unnüt zes Zeug schwatzte. Warum gab

man den Besu chern nicht einen Zet tel mit dem

Nötig sten in die Hand? Wenn man ihnen schon

ein Not wen di ges zum Schauen nicht gewäh ren

kann: Ein sam keit, warum gewährt man ihnen

nicht wenig stens das Not wen dig ste: Schwei gen?

Wer spricht denn laut, wenn Wolf ram singt und

Dr. Mar ti nus sinnt? Und wenn zwei Lie bende

das Geschenk sol cher Stun den mit einem ein zi -

gen, einem ver dop pel ten Her zen emp fan gen,

und wenn eines von ihnen, in der Furcht, es

möchte den noch dem andern ein Hauch des

Glüc kes ent ge hen, den Mund auf tun muß, wird

er nicht flü stern vor der Gegen wart des Ver gan -

ge nen? Wie wenig, deut sches Volk, kennst du

deine Schätze, wenn du sie nicht besser zu

zeigen verstehst.

So waren sie nicht in der Wart burg, als sie

drin nen waren; erst als sie wie der bergab stie gen

und zwi schen grü nem Laub nach ihr zurück -

schauten, da lag sie wie der vor ihnen im Mor -

gen rot der Sage, da wag ten sie wie der ein zu tre -

ten und ein Jahr tau send lang durch ihre Räume

zu wandeln.

Und Gott sei Dank. Vor dem Denk mal

Johann Seba sti ans störte nie mand den Zwie ge -

sang ihrer Her zen, mischte sich nie mand ein, als

sie entrück ten Ohres sin gen hör ten: »Kom met,

ihr Töch ter, helft mir kla gen« und »Wir set zen

uns mit Trä nen nieder.«

Auf dem Markte kauf ten sie Kir schen, und am

Abend saßen sie am offe nen Fen ster ihres Hotel -

zim mers, sahen den Mond aus dem Hör sel -

berge her vor stei gen und scho ben die besten Kir -

schen, die sie fan den, ein an der in den Mund.

Oder sie faßte den Stiel einer Kir sche mit den

Zäh nen, und er pflück te mit dem Munde die

Frucht von ihren Lippen.

»Sind wir nicht viel zu ver liebt für so alte Ehe -

leute?« fragte sie furcht sam.

»Wenn du noch ein mal so etwas sagst,

benehme ich mich gesetzt,« drohte er.

»Hast du mich noch so lieb wie vor sie ben Jah -

ren?« fragte sie, die Hände auf seine Schul tern

legend.

»Sie ben mal so toll,« sagte er. »Und so wird es

wei ter wach sen mit den Jah ren.«

»All mäch ti ger!« rief sie erschroc ken. Aber

dann schmiegte sie sich in sei nen Arm und

fragte: »Glaubst du, daß schon jemals ein Paar

eine so schöne Hoch zeits reise gemacht hat?«

»Nie!« ver setzte er mit voll kom me ner Be -

stimmt heit. Und er mußte wie der sin nend in die

Ver gan gen heit blic ken, die im Mond licht auf

den Ber gen lag. Er machte eine Hoch zeits reise.

Mit vol ler Börse. An der Seite eines sol chen

Wei bes sah er Thü rin gen, die Wart burg, sollte

er Wei mar sehen, Wei mar. Und jetzt, in die sem

rei zen den Hotel zim mer, saß er mit ihr allein am

Fen ster. Bei sol chem Mond schein. Und aß die

schön sten Kir schen. Du lie ber Gott, wie viele

Men schen gab’s denn, denen das zuteil wurde.

»Und es ward aus Abend und Mor gen ein

Tag«; wer immer im Rausch ist, der bedarf

kaum des Schla fes; sie nipp ten vom Schlaf wie

Vögel aus dem Bach: ein Tröpf chen und husch

– davon. Es war nicht ein Rausch wie vom

Wein, nein: viel leich ter und darum viel seli ger,

ein Luft rausch, ein Licht rausch, ein Lebens -

rausch. Sie ent schlum mer ten spät unter halb ge -

träum ten Wor ten, und ihr frü hes Erwa chen war

nur ein anderer Traum.

Frei lich, im Licht rausch kann man sich über -

neh men, wenn es sich um phy si sches Licht han -

delt: das soll ten sie erfah ren. Sie hat ten sich

beim Früh stück ver spä tet – es plauschte sich so

unend lich gut mit ihr beim Mor ge nim biß – und

mach ten sich erst um neun auf den Weg. Alles,

wes sen sie auf ihrer kur zen Reise bedurf ten,

führ ten sie mit sich; eine strot zende Rei se ta sche

hatte er sich umge hängt; ein Köf fer chen tru gen

sie bald gemein sam, bald trug er’s allein. Sie hät -

ten es wohl mit der Post voraus schic ken kön -

nen; aber man mußte spar sam sein. Es war eine

sei ner Schwä chen, daß er sich ein Talent zum

Spa ren ein bil dete. So schrit ten sie schlank ein

mun te res Tal hin auf, ein Tal voll blin ken der

Was ser unter hän gen dem Gezweig, voll moo si -

ger Fel sen und blit zen der Schwal ben, ein Tal

voll Sonn tag. Die Bur schen stan den im Sonn -

tags putz vor den Türen zusam men und

schmauch ten mit fei er täg li cher Umständ lich -

keit; die Mäd chen schaff ten noch an Herd und

Brun nen, im Gang und im Blick schon den

kom men den Tanz. Was Wun der, daß unser

Paar alsbald zu singen begann. Und was anders

konnten sie singen als:

»Ich hört, ein Bäch lein rau schen

Wohl aus dem Fel sen quell,

Hinab zum Tale rau schen

So frisch und wun der hell«

und

»Eine Mühle seh ich blin ken

Aus den Erlen her aus,

Durch Rau schen und Sin gen

Bricht Räder ge braus«

und das selt same Lied mit der wun der sa men

Stelle:

»Und da sitz, ich in der gro ßen

Runde,

In der stil len, küh len Fei er stunde,

Und der Mei ster spricht zu allen:

Euer Werk hat mir gefal len«

ein Lied, das aus der Werk statt kommt und

wie aus einer Kir che klingt und uns mit unbe -

greif li chem Zau ber offen bart, daß Arbeit Schön -

heit und daß Ruhe nach der Arbeit ein from mer

Gesang ist. Nie begreift, wer es aus sol chen Lie -

dern nicht begreift, daß es ein eige nes Ding ist

um das deut sche Vater land. Ja, sie waren alt mo -

disch, diese bei den Hoch zeits rei sen den; sie san -

gen Franz Schu bert und Wil helm Mül ler, die

man in unse ren Kon zer ten kaum noch hört,

weil sie nicht neu genug sind. Hier waren ihre

Lie der jeden falls neu; hier spran gen sie plät -

schernd aus dem Stein her vor; hier wuch sen sie

ihnen von jedem Zweig wie Kir schen in den

Mund; hier sang sie jeder Vogel, und jeder Fels

hallte sie wie der. Da, vor dem Tor am Brun nen

stand der Lindenbaum, und da – horch:

»Von der Straße her das Post horn

klingt!

Was hat es, daß es so hoch auf -

springt,

Mein Herz?«

Und als der sie ben jäh rige Ehe mann im Walde

sang:

»Durch den Hain, durch den Hain

Schalle heut ein Reim allein:

Die geliebte Mül le rin ist mein, ist

mein!«

da klang es so merk wür dig, daß die zwan zig

Schritt vor ihm her wan delnde Geliebte ste hen

blei ben und sich nach ihm umschauen mußte,

obwohl sie nie in ihrem Leben Mül le rin gewe -

sen war. Er aber machte die zwan zig Schritt in

dreien, warf den Kof fer ins Moos und gab ihr

einen ein zi gen Kuß, der aber unter Ver lieb ten

seine zwölfe wert war.

»O Kuß in eines Walds geheim stem

Grund!

Fern oben über Wip feln rauscht die Welt

Und weiß es nicht, daß unten, Mund auf

Mund,

Zwei Welt- und Selbst ver ges sene ver sin -

ken!

Der Lip pen Duft wie jun ges Tan nen grün,

Und tief im trun ken-stil len Blick ein Licht,

Das hoch herab von hei li ger Wöl bung

fällt!

O ster nen dunk ler Abgrund, ende nicht

Und laß uns ewig deine Däm me rung trin -

ken –«

Indes sen: der Abgrund tat ihnen nicht den

Gefal len; sie tra ten aus dem Hain auf eine

Chaus see. Chaus seen kön nen sehr schön sein,

wenn sie wol len; aber gewöhn lich wol len sie

nicht. Es war Mit tag gewor den, und bis zu dem

Orte, wo sie die Eisen bahn errei chen woll ten,

waren es noch zwei Stun den. Nach unge fäh rer

Schät zung muß ten es jetzt einige Grade über

drei ßig im Schat ten sein; aber das inter es sierte

hier um des wil len nicht, weil die Chaus see kei -

nen Schat ten hatte. Immer hin konnte man,

wenn man nicht kurz sich tig war, das Ende der

Land straße abse hen, und dann – über haupt:

konnte man sie mit Son nen schein schrec ken?

»Sonne ist gerade was Fei nes,« rie fen sie und

schrit ten mit höh ni schem Trotz in den Zügen

für baß. Sie schätz ten die in wei ß glit zern dem

Lichte vor ihnen lie gende Straße auf eine gute

Vier tel stunde; aber man unter schätzt diese

Land stra ßen. Nach einer guten hal ben Stunde

erreich ten sie das Ende; aber dieses Ende war

ein neuer Anfang.

»So knüp fen ans fröh li che Ende

Den fröh li chen Anfang wir an«

sang er, und sie schrit ten wei ter. Vor sich ti ger

gewor den, schätz ten sie das vor ihnen lie gende

Stück auf eine kleine halbe Stunde; aber man

unter schätzt diese Land stra ßen. Nach ¾ Stun -

den kamen sie end lich ans Ende; aber die ses

Ende war ein neuer Anfang. Sie waren offen bar

auf einen wei ten Umweg gera ten; die Augen

eines jun gen Wei bes sind eben keine Land karte.

Sie schrit ten wei ter; aber sin gen tat er nicht

mehr; das Klima war der Stimme nicht gün stig.

Immer hin war es ein Trost, daß das Stück vor

ihnen höch stens eine halbe Stunde sein konnte;

aber man unter schätzt diese Land stra ßen.

Selbst ver ständ lich trug der spar same Mann

schon seit lan gem das ganze Gepäck; aber das

drück te ihn nicht; ihn drück te das Gefühl: sie

über an strengt sich. Frei lich ver si cherte sie auf

seine Fra gen immer wie der lachen den Gesichts,

sie fühle sich voll kom men wohl und frisch; aber

das beru higte ihn nicht; sie, die Wahr haf tig keit

selbst, konnte, wenn es ihm Beschwer den zu

ver ber gen galt, lügen wie ein Dich ter, das wußte

er. Nach drei vier tel Stun den sahen sie Dächer.

Ha, das Ziel. Als sie aber an das Dorf kamen, da

hieß es ganz anders. Sie erfuh ren, daß sie bis zu

ihrem Ziel »nur« noch eine halbe Stunde zu

gehen hät ten. Er wollte sie über re den, in die sem

aller dings wenig ver spre chen den Dorfe zu

rasten; aber sie sagte: »Wenn ich jetzt sitze, steh

ich nicht wie der auf. Jetzt hal ten wir schon aus

bis ans Ende.« So war sie. Wenn sie die Aus -

drucks weise der Land be woh ner bes ser gekannt

hät ten, hät ten sie gewußt, daß diese immer nur

halb mit der Spra che her aus kom men. Nach

einer hal ben Stunde sahen sie den ersehn ten Ort

aus der Ferne. Er ver trieb ihr und sich die Zeit

mit einem anmu ti gen Spiel. Bei jedem fünf ten

Schritt nick te er mit dem Kopfe, und dann fiel

von sei ner Stirn ein Schwei ß trop fen in den

Sand. Eins, zwei, drei, vier, fünf – ein Trop fen;

eins, zwei, drei, vier, fünf – ein Trop fen usw. Sie

lachte, und so kamen sie end lich in den erstreb -

ten Ort, in das erhoffte Wirts haus, in die

ersehnte schat tige Stube und auf die in visio nä -

ren Wüsten träu men erschaute Bank. So. Der

Rest war Schwei gen. Hier woll ten sie den Rest

ihrer Tage verbringen. Hier sollte man sie

abholen, wenn man sie einmal begraben wollte.

Sie stütz ten den Kopf in beide Hände und

starr ten ein an der an wie zwei, die sich schon

irgendwo ein mal gese hen haben müs sen. Der

Kell ner fragte, ob die Herr schaf ten etwas zu

spei sen belieb ten.

»Trin ken,« gur gelte er.

»Was ser,« sagte sie drei Minu ten spä ter.

»Mit Kognak!« fügte er nach zwei Minu ten

schnell hinzu.

Dann schob er ihr ein Stück chen von dem

drei mal wöchent lich erschei nen den Kreis blatt

zu, das auf dem Tische lag und das heute, am

Sonn tag, mit zwei Sei ten Text und vier Sei ten

Anzei gen erschie nen war. Er las, daß der Bauer

Hen ne berg ein Paar Och sen bil lig ver kau fen

wolle. Sie las, daß Dr. Miquel einen Urlaub

ange tre ten habe. Dann las er, daß Frau Hasen -

bek seine Her ren wä sche über nehme. Und dann

las sie, daß der Amts ge richts se kre tär Ranke in

den Ruhe stand getre ten sei. Und dann las er

wie der, daß der Bauer Hen ne berg ein Paar Och -

sen bil lig ver kau fen wolle; denn vor dem hatte er

es nicht ganz erfaßt. So saßen sie zwei Stun den

lang ein an der gegen über. Dann dach ten sie ans

Essen und erho ben sich, um sich von dem Staub

der Wan de rung zu befreien. Als sie zur Tür

schrit ten, mach ten sie in ihren Bewe gun gen

jenen rüh ren den Ein druck, den wir bei

Betrachtung Philemons und seiner Baucis

empfangen.

»An die sem Tage gin gen sie nicht wei ter.« Sie

fuh ren mit der Eisen bahn, und als sie in ihr Zim -

mer geführt wur den, erleb ten sie ein Wun der.

Unter ihrem Fen ster, unter mäch ti gen Bäu men

rauschte der Bach über ein brei tes Wehr. Da

stan den sie nun und waren ganz befan gen von

sol chem Zau ber. Der Nie der deut sche kennt

kein rau schen des Was ser. Er hat breite, still flie -

ßende Was ser und brül lende, don nernde Meer -

flut; aber er kennt nicht den ewi gen Gesang rau -

schen der Bäche, kennt nicht diese uner müd li -

chen Mär chen er zäh ler des Gebirgs, die von den

Höhen, aus den Wäl dern kom men mit immer

neuer, nie gehör ter Sage. Und so konn ten sie

sich, so müde sie waren, nicht satt trin ken an

die sem Gesang, aus dem sie immer und immer

wie der deut li che Worte zu ver neh men glaub -

ten, und als sie sich schon zur Ruhe gelegt

hatten und sie leise vor sich hinsang:

»Was sag, ich denn vom

Rau schen?«

da fiel er sogleich ein:

»Das mag kein Rau -

schen sein!

Es sin gen wohl die Nixen

Tief unten ihren Reih’n –«

und so ver flocht sich ihnen der sanfte Zau ber

des Abends mit dem fro hen Wan der glück der

Frühe, und es ward aus Abend und Mor gen ein

andrer Tag.

Auf der näch sten Sta tion ihrer Reise stürz ten

sie nach dem Post amt. Es waren Briefe da vom

Hause. Auch einer von ihrer Schwe ster. Sie riß

das Kuvert auf und las. Er stand ein wenig hin -

ter ihr und sah, wie ihr eine dicke Träne die

Wange her un ter lief.

»Ist was gesche hen?« rief er.

»Nein, nein!« rief sie lächelnd.

Ach so! Die Schwe ster berich tete natür lich

über die Kin der, und da reg ten sich Sehn sucht,

Heim weh und Gewis sen im Her zen die ser

neuen Medea, die ser Dop pel-Medea; denn sie

hatte vier Kin der. Er sagte sich, daß er als Rei se -

mar schall die sem Rück fall durch beson dere

Mun ter keit und ein beson ders hin rei ßen des

Tages pro gramm begeg nen müsse. Sie reichte

ihm den Brief; er war zur Bestä ti gung der Anga -

ben der Tante von sämt li chen Kin dern »eigen -

hän dig« unter zeich net, auch vom zweijährigen.

»Fabel haft begab tes Geschlecht!« rief er.

Aber die Kin des mör de rin aus Ver gnü gungs -

sucht rea gierte nicht auf sei nen Scherz; sie

wandte sich ab und befa ßte sich ein ge hend mit

ihrem Schnupf tuch. Und – o weh! – als sie wie -

der ins Freie tra ten, da weinte auch der Him mel

über seine Kin der! Und ganz im Ver hält nis

ihrer Anzahl! Flucht ins Hotel – das war der ein -

zige annehm bare Gedanke.

Da saßen sie nun am offe nen Fen ster und

freu ten sich am Regen und freu ten sich, wenn

die Berg kup pen aus den Wol ken her vor dran -

gen und wenn sie wie der ver schwan den. Es gibt

Men schen, die nur klare Berg spit zen und weite

Fern sich ten lie ben. Und es gibt Men schen, die

auch zu umwölk ten Höhen mit ahnen der

Andacht hin auf schauen, die es lie ben, wenn

Berge mit Wol ken rin gen. Sol cher Art waren

sie. Stun den lang schau ten sie hin ein in das

wogende Grau, das ihren Augen nichts weni ger

war denn ein Einer lei. Sie hatte leise ihre Hand

in die seine gelegt; da mußte er daran den ken,

wie sie an jedem Abend seine Hand suchte,

bevor sie ent schlum merte. Er erhob sich, ging

an den Tisch und begann zu schrei ben. Nach

eini ger Zeit kam er mit einem Blatt zu ihr und

sagte:

»Ich hab, was.«

»Ja?!« rief sie leuch ten den Auges. Sie wußte,

was er habe; sie schmiegte sich in sei nen Arm

und er las:

Was Ortrun sprach.

Gib wie immer deine liebe Hand,

Eh, ich ein tret in des Schlum mers Land.

Sollst im Dun kel mir zur Seite ste hen,

Mit mir durch des Trau mes Gar ten gehen.

Sieh, das ist das Süße ste vom Tag,

Daß ich deine Hand noch fas sen mag,

Wenn des Tages Äng ste von mir sin ken

Und des Schlum mers milde Schat ten win ken.

»Meine Zuflucht«, klingt in mir ein Wort,

»Meine Zuflucht«, klingt es immer fort.

Alle, die dich lie ben, die dich has sen,

End lich müs sen sie dich mir nun las sen.

Deine Hand nur fühl ich noch allein;

Alles Andre mag ver lo ren sein.

Ach, in man cher Nacht war mir’s ver lie hen,

Dich im Traum mit mir hin weg zu zie hen:

Auf den Lip pen noch ein Wort vom Tag –

Leise dann des Trau mes Flü gel schlag –:

Schon mit dir in schwei gen dem Umschlin gen

Hört, ich ewig-stumme Sterne sin gen.

Und in fer nen Him meln noch emp fand

Ich den lei sen Druck der teu ren Hand,

Wie ein vol les, hei li ges Umfas sen:

»Schreite fest, ich will dich nicht ver las sen.«

Soll mir deine Hand erhal ten sein,

Tret ich gern in jedes Dun kel ein;

Muß es doch nach allen Schrec ken brin gen

Einen Traum, in dem die Sterne sin gen. –

Er schwieg und fragte dann zärt lich: »Ist es

so?«

»So ist es,« sagte sie leise, ihm voll in die Augen

blic kend. »Woher wißt ihr’s nur, ihr Dich ter, ihr

Schreck lichen?«

Als er nun sah, daß er ihr Herz getrof fen hatte,

da ergriff ihn das Lyri ker-Deli rium. Der

gewöhn li che, fried li che Bür ger hat keine Vor -

stel lung von dem Freu den wahn sinn, der den

Men schen ergreift, wenn er meint, daß ihm ein

Lied gelun gen sei. Ein Lyri ker mag mit Büh nen -

wer ken die reich sten Lor bee ren errun gen, er

mag für seine Romane alles emp fan gen haben,

was die Mit welt zu geben ver mag; er mag als

Staats mann ein Reich gegrün det, als Feld herr

ein Dut zend Schlach ten gewon nen und als

Erfin der einen voll kom me nen Flug ap pa rat

erdacht haben – kein Tri umph und kein Flug ap -

pa rat wird ihn so hoch erhe ben wie der

Gedanke: ein Lied, ein Lied ist mir gelun gen.

Ein Lied ist ihm das Köst lich ste, was er vom

Him mel emp fan gen, und das Köst lich ste, was er

an seine Mit men schen wei ter ge ben kann. Ein

gro ßer Lyri ker war es, der eines Tages sagte:

»Wenn mir ein Gedicht geglückt ist, kann ich

mich vor Jubel nicht fas sen; ich muß etwas

haben, das ich umarme, und wenn ich kei nen

Men schen habe, so nehme ich einen Stuhl und

press, ihn ans Herz.« Man sagt, daß die Frauen

nach der Geburt eines Kin des ein Gefühl unend -

li chen Jubels und selig ster Ermat tung über -

komme. Genau so ist es den Lyri kern nach der

Ent bin dung; nur daß sie durch nichts in der

Welt zu bewe gen sein wür den, still zu lie gen wie

die Frauen. Wenn unser jun ger Ehe mann ein

Gedicht voll en det hatte, dann tanzte der hohe

Wöch ner von einem Zim mer ins andere, vom

untern Stock werk ins obere und vom obe ren

wie der ins untere, küßte sein Weib und seine

Kin der ab, tanzte mit ihnen Rin gel rei hen, um sie

plötz lich los zu las sen und wie der abzu küs sen,

holte die Fla sche Wein aus dem Kel ler, wenn sie

noch da war, machte an dem Turn reck zwan zig -

mal die Bauch- und die Rückenwelle, spielte

durch Haus und Gar ten Haschen mit Weib und

Kin dern und schrie dabei wie in sei nen blü hend -

sten Fle gel jah ren, und wenn er aus ge gan gen

war, kehrte er mit Geschen ken für die Sei ni gen

bela den wie der heim. Der Gedanke: »Ein Denk -

mal habe ich mir errich tet, dau ern der denn

Erz«, läßt keine öko no mi schen Beden ken auf -

kom men; wer ein Gedicht gemacht hat, ist der

reich ste Mann des Weltalls, wenn er sich auch

48 Stunden später überzeugt, daß es mit dem

neuen Gedicht verteufelt wenig auf sich habe.

Als die Tisch gloc ke ertönte, spran gen sie

Hand in Hand die Trep pen hin un ter, und da sie

ihn noch immer strah lend anblick te, fragte er

heim lich: »Also hat’s dir gefal len?« Und als sie

viel sa gend eif rig nick te und ihm unter dem

Tische die Hand drück te, daß es weh tat, da rief

er:

»Na, dann, Kell ner, eine ganze Fla sche Mar -

ko brun ner.« Am Not wen dig sten sparte er nicht

gern.

Der Kell ner ver neigte sich mit güti gem

Lächeln und flü sterte dem Wirt ins Ohr: »Eine

Mar ko brun ner – für die Hoch zeits rei sen den.«

Als der Wein ein ge schenkt war, führte er sein

Glas mit der Miene des Ken ners an die Nase. Es

war Mar ko brun ner für Hoch zeits rei sende; aber

unser Freund schien von dem Resul tat der

Unter su chung äußerst befrie digt, und er sagte

leuch ten den Auges:

»Herz, laß uns dar auf trin ken, daß es unsern

Kin dern ein mal ebenso ergehe. Aber« – fügte er

schnell hinzu – »es soll ihnen nicht in den Schoß

fal len; sie sol len sich’s erkämp fen wie wir; das ist

das Köst lich ste, was wir ihnen wün schen

können.«

Dann brachte er ihr zu Ehren einen Damen -

toast aus; dann trank sie auf sein jüng stes

Gedicht; dann tran ken sie auf die Freunde, die

»lei der« nicht dabei sein könn ten, und end lich

rief er:

»Von der Quelle bis ans Meer

Mah let man che Mühle;

Und das Wohl der gan zen Welt

Ist’s, wor auf ich ziele.«

Und dann spran gen sie anmu tig beschwipst –

es war ein kräf ti ger Mar ko brun ner gewe sen –

wie der hin auf in ihr Zim mer und hol ten aus

ihrem Gepäck ein Bänd chen Goe the hervor.

Der Him mel schien noch heute bis auf den

letz ten Trop fen bezah len zu wol len, was die

Hitze der vor her ge hen den Tage an Feuch tig kei -

ten kon tra hiert hatte. Und selt sam: es war

unsern Rei sen den gar nicht mehr unlieb. Wenn

zwei Lie bende sechs Jahre lang von sehr leben -

di gen Kin dern und sehr leben di gen Pflich ten,

Sor gen und Mühen umschwirrt gewe sen sind

und sich dann plötz lich in der Ferne, ein ge reg -

net, in einem Hotel zim mer ein an der gegen über

fin den, dann erwacht in ihnen ein selt sa mes, ein

unge ahn tes Gefühl, das Gefühl: End lich allein.

Eine Emp fin dung bemäch tigt sich ihrer, daß

ihre inner sten See len seit lan gem eigent lich nicht

mit ein an der gespro chen haben, daß sie sich viel

und man cher lei zu sagen haben, von dem sie

selbst nicht gewußt haben, daß es in ihnen sei.

Wäh rend sie ein an der nahe gegen über sa ßen,

sie ihm gele gent lich sanft mit der Hand über die

Stirn strich, er ihr gele gent lich zärt lich die

schmale Hand strei chelte und einer des andern

Bild mit inni ger for schen dem Blick zu erfas sen

suchte, spra chen sie Ern stes und Fröh li ches,

Lau tes und Lei ses, das in ein sa men Stun den in

ihnen erwacht und ihnen wohl auch auf die Lip -

pen gekom men, dort aber vom schnel len Strom

des täg li chen Lebens hin weg ge schwemmt wor -

den war. Und als der Abend her an nahte, da fan -

den sie, daß kein Tag ihrer Reise schö ner gewe -

sen sei als die ser »ver lo rene«. Und als sie wie der

ein mal gemein sam in den Him mel schau ten –

da ent fuhr ihnen gleich zei tig ein halb lau ter

Freu den ruf: im Westen blick te durch das Grau

ein win zig Stück lein erhell ten Him mels, wie ein

ver wein tes Auge, das, noch unter Trä nen schlei -

ern, zum ersten Male wie der auf merk sam ins

Leben starrt, noch nicht wün schend, noch weni -

ger hof fend, nur erst wie der betrach tend mit

kaum bewu ß ter Teil nahme. Und das himm li -

sche Auge ward grö ßer und grö ßer, kla rer und

klarer, heitrer und heitrer, und unser Paar

schritt mit aufjauchzenden Herzen hinaus in

eine wiedergeborene, schöpfungsfrohe Natur.

Und die sen Abend mach ten sie einen Fund,

der ihm köst li cher denn Gold und Per len war.

Sie fan den eine Wiese, an einem sanft abfal len -

den Hügel hang, von jun gen und alten Bäu men

umstan den. Über diese Wiese fin den wir in sei -

nem Tage bu che fol gende Zeilen:

»Im Thü rin ger Wald ist eine Wiese, die alles

zur Ruhe singt, was in dir an Sor gen und Ban -

gen ist. Ja, sie singt; denn ihr Grün, ihre Schat ten

und ihre Lich ter, ihre Bewe gung und ihr

Schwei gen sind ein unun ter bro che ner seli ger

Gesang. In die sem Gesange sah ich gol dene

Stun den mei ner Ver gan gen heit wan deln, die ich

ver ges sen hatte, Stun den und Tage mit ihrem

eigen sten Gesicht, ihrem eigen sten Ton und

Gange. Am Rande, im Schat ten der Bäume, sah

ich die höch sten und hei lig sten Gedan ken mei -

nes Lebens ruhen, sah ihre Züge, ihre Augen im

Glanze der Minute, da ich sie emp fan gen, ver -

stan den und ans Herz gedrückt hatte. Und über

den abend lich glim men den Wip feln der Bäume

zogen selig schwe bend dahin meine Hoff nun -

gen, meine Ahnun gen, die aus die ser Erden enge

hin auf stre ben in eine grö ßere Welt. Auf die ser

Wiese grünt der Glaube; wer sie erschaut, der

trinkt sich Glau ben an die Hei lig keit der Welt

für ewige Tage. Die Welt, die sol che Augen hat,

kann im Grund ihrer Seele nicht lügen.

Ich sage nicht, wo diese Wiese liegt; denn

sogleich wür den Tau sende kom men und rufen:

»Wo ist das Beson dere? Das kön nen wir auch

anderswo sehen!« O Ihr Blin den! Nichts kann

man auch anderswo sehen. Jedes Stück der

Welt, das zwi schen zwei Augen li dern Platz hat,

ist ein Wesen wie ich und wie jedes von Euch,

mit eige ner Seele und eige ner Stimme, mit

Zügen und Augen, die nie mals wie der keh ren.

Und die doch, wenn sie ver gan gen sind, wie wir

ver ge hen, ewig auf be wahrt blei ben im Welt all.

Alles ist ein zig und alles ist ewig.

In den mor gen fri schen Bäu men

Hing ein letz ter Hauch der Nacht,

Und die Blu men mach ten Augen

Wie ein Kind, wenn es erwacht. –

Hol der Schreck ent riß mich plötz lich

Lächeln der Ver sun ken heit –:

Eine Rose hat geduf tet

Wie ein Lied aus Kin der zeit.

Eilends sucht, ich: Wel che war es? –

Duft und Blüte weit und breit. –

Doch nicht andren Duft ver nahm ich;

Auf ge tan die Seele weit,

Ging ich atmend, dür stend, seh nend

Durch des Gar tens Herr lich keit –

Und ich hab, sie nicht gefun den,

Die mich rief aus fer ner Zeit.

O, ich seh, es, euer Lachen,

Schnell und klug zum Spott bereit!

Seid gewiß, in regen Lüf ten

Weiß mein Herz von je Bescheid.

Auf ge ho ben bleibt im Gan zen

Jedes Atems lei ses Weh’n;

Einst an einem gro ßen Mor gen

Wirst du’s lächelnd wiederseh’n.

Eine Rose hat geduf tet

Wie ein Klang aus Kin der zeit;

Duft und Klin gen, Heut, und Gestern

Weben all, an einem Kleid.

Nie mals hab, ich Schil lers Klage um die Ent -

göt te rung der Natur ver stan den.

»Diese Höhen füll ten Orea den,

Eine Dryas lebt, in jenem Baum,

Aus den Urnen lieb li cher Naja den

Sprang der Ströme Sil ber schaum.«

Ist das nicht heut, wie einst? Seht ihr’s nicht

wan deln auf den Ber gen, hört ihr’s nicht lachen

und seuf zen aus jedem Baum, hört ihr’s nicht

sin gen an jeder Quelle mit über ir di scher

Stimme? Ihr ver nehmt es mit höhe ren Sin nen,

und mit leib li chen Sin nen ver nah men’s auch die

Grie chen nicht.

Nein, o nein, keine Phi lo so phie und keine

Reli gion kann die Natur ent göt tern; denn sie ist

sel ber Gott.

Geht hin und suche jeder seine Him mels -

wiese; denn jedem liegt sie anderswo. Auch mei -

nem Weibe, auch mei nen Kin dern, und das ist

ein Weh in allem Glück. Aber meine Geliebte

ver stand mein Schwei gen und ehrte mein

Gebet.«

Als sie auf der näch sten Post sta tion ihre Briefe

in Emp fang nah men, die wie der erfreu li che

Nach richt vom Hause brach ten, da fiel ihm aus

einer ein ge schrie be nen Sen dung eine Bank note

in die Hände. Ein Hono rar! Fünf zig Mark, auf

die er gar nicht gerech net hatte. Er hielt ihr das

hüb sche Stück Papier vor die Augen und schrie

ganz leise »Juhu huuu!!« Und als sie ins Hotel

zurück gekehrt waren, zog er den Wirt auf die

Seite und redete ver trau lich mit ihm. Der Wirt

hörte ihm offen bar mit Ver gnü gen zu und eilte

dienstbereit von dannen.

»Wol len wir nicht auf bre chen?« fragte sie.

Er hob geheim nis voll den Fin ger, machte ein

hohen prie ster li ches Gesicht und sagte dun kel:

»Noch nicht.«

Als sie nach eini gen Minu ten wie der fragte:

»Warum gehen wir denn nicht, du Schlin gel?«

da hob er noch geheim nis vol ler den Fin ger,

machte ein noch hohen prie ster li che res Gesicht

und sagte noch dunk ler: »Noch nicht.«

Und dann fuhr ein schö ner Lan dauer mit zwei

taten fro hen Brau nen vor.

Sie sah ihn mit ungläu bi gem Lächeln an. Er

aber rief:

»Jehann, nu spann de Schim mels an!

Nu fahrt wi mit de Brut!

Un hebbt wi nix as brune Per,

Jehann, so is,t ok gut!«

und lud sie mit sei ner galan te sten Hand be we -

gung zum Ein stei gen ein.

Wäh rend er noch mit dem Kut scher sprach,

konnte sie mit den strah len den Augen nicht von

ihm las sen. Wer kennt nicht die herr li che

»Hoch zeits reise« von Moritz von Schwind,

kennt darin nicht den anmu ti gen Zug, wie die

junge Frau zur Seite rückt und dem gelieb ten

Gefähr ten gar bereit wil lig Platz macht in Erwar -

tung gemein sa mer Freude! So drück te sie sich in

die Ecke und konnte kaum erwar ten, daß er

einstieg.

Der Wirt, ein Mann von etwas fami liä rem,

aber vor treff lich gemein tem Beneh men,

wünschte ihnen noch, daß der Fort gang ihrer

Ehe so fröh lich sein möge wie der Anfang.

»Also haben Sie gemerkt, daß wir Hoch zeits -

rei sende sind?« fragte unser Freund.

»Frei lich,« ver setzte der Alte, »dafür bekommt

unse reins einen Blick.«

»Jaja,« rief der Ehe mann lachend, »wir sind

aller dings noch in den ersten Flit ter jah ren. Hü,

Kut scher.« Die Pferde zogen an.

»Du ahnst nicht, wie dank bar ich dir bin,« flü -

sterte sie an sei nem Ohr, »ich war ein wenig

über mü det – nun bin ich selig.«

Und frei lich – fuß wan dern bleibt zwar immer

das Schön ste – aber nächst dem gibt es nichts

Leib- und See len ver gnüg li che res als zu zweien

im Wagen eng anein an der geschmiegt durch die

Lande zu rol len. Sie fuh ren durch stun den lan -

gen Tan nen wald; in unab seh ba ren Rei hen rag -

ten die streng empor stre ben den Stämme in den

Him mel, eine mei len lange Orgel, aus der der

Wind das Mor gen lied der Schöp fung spielte. O,

ein geheim nis vol les Ding, mit mun te ren Ros sen

durch tie fen Wald zu fah ren. Dem seit wärts

schwei fen den Blick erschie nen in fern sten, nie -

be tre te nen Wald grün den selt sam ge stal tige

Wun der, die scheu wie der ins Dun kel tauch ten,

wenn das Auge sie fester erfas sen wollte; mit

gro ßen Augen lugte es hin ter düste ren Stäm men

her vor – ein Reh? – eine Dryas? – das ver zau -

berte Brü der lein der treuen Schwe ster? – oder

war es Schmer zen reich, das Kind der armen

Pfalz grä fin? Und manch mal schaute zwi schen

fer nen, fer nen Tan nen ein Stück des Him mels

in die Schauer der Wald nacht her ein, dann war

es ihnen, sie sähen einen goti schen Dom mit rie -

sen ho hen, bun ten Fen stern und sie wären dem

Tem pel nah, der die sma ragdne Schale vom

Tisch des Hei lands birgt und der ewi gen Frie -

den bringt denen, die ihn fin den. Wenn aber der

Wagen laut los über moo si gen Grund fuhr,

dann ver nah men sie dump fes, fer nes Stim men -

ge wirr ver sam mel ter Män ner. Ihr wißt, daß

man in stil len, dich ten Wäl dern die Stim men

einer unsicht ba ren Ver samm lung hört. Das ist

das Thing derer aus Niflheim und Jötun heim;

sie bera ten über den großen Kampf, in dem sie

die Einherier vernichten wollen, die Einherier,

die über den Wipfeln lächelnd dahinziehn.

Als sie aber nun über eine son nige Hoch flä che

fuh ren und Wie sen und Äcker in allen Far ben

vor ihren Blic ken lagen, da ergriff ihn ein lusti -

ger Grö ßen wahn; er sprang von sei nem Sitz in

die Höhe, beschrieb mit der Lin ken einen wei -

ten Bogen und rief:

»Sieh, Herz, alles unser! alles dein. Ein Tep -

pich für deine Füße! Wer kann sich das lei sten!«

Und sie ergriff seine Rechte, zog sie an die Lip -

pen und flü sterte mit ihrem schalk haf te sten

Lächeln:

»Mein spar sa mer Mann. Mein unver bes ser li -

cher Geiz hals. Mein Har pa gon.«

Und so kamen sie nach Ilme nau. –

»Anmu tig Tal, du

immer grü ner Hain,

Mein Herz begrüßt euch

wie der auf das beste.«

Schon die ser Anfang hatte ihm immer zu den

Wun dern der Kunst gehört. Mit zwei Wor ten

erschließt ein Dich ter ein hei te res Gefild, und

mit einem ein zi gen Griff bringt er die Harfe des

Wal des zum Klin gen, und alles horcht auf und

flü stert: »Still – still. Der da beginnt, das muß ein

gro ßer Mei ster sein.«

Und die Her zen voll die ses Klangs, durch -

schrit ten sie das anmu tige Tal und stie gen den

immer grü nen Hain hin auf zu jener Höhe, wo

der herr li che Wan de rer sein Nacht lied an die

Wand eines Bret ter häus chens geschrie ben

hatte. An Stelle des nie der ge brann ten Häus -

chens hat man dort, in nach ge ahm ter Dürf tig -

keit, ein neues »altes« Häus chen errich tet. Sie

gin gen nicht hin ein; sie woll ten es nicht sehen;

sie wand ten ihm den Rücken zu und schau ten

über das abend lich beglänzte Wip fel meer in die

Ferne. Kei nes sprach ein Wort; aber im stillen

Herzen sprachen’s wohl beide:

Ȇber allen Gip feln

Ist Ruh,

In allen Wip feln

Spü rest du

Kaum einen Hauch;

Die Vöge lein schwei gen im Walde.

Warte nur, balde

Ruhest du auch.«

31 Jahre war er alt gewe sen. als sich dies Lied

aus sei ner Seele gelöst hatte, ein glück -

verwöhnter, blü hen der Mann, die Schöp fungs -

ge walt für eine neue Welt hin ter der Stirn, die

Flü gel span nung eines empor schwe ben den

Adlers im Hirn und in der Brust. Groß war die

Welt, groß und schön und berau schend süß.

Aber viel leicht das Beste nach allem war die

Ruhe.

Sie spra chen auch nur wenige, abge bro chene

Worte, wäh rend sie zu Tale stie gen. Das Dun -

kel brach her ein. Da legte er den Arm um ihre

Hüfte und sprach: »Wie wird’s uns sein, wenn

wir nach Wei mar kom men!«

Und sie kamen nach Wei mar. Der Wei ma rer

Bahn hof – dar über kann keine Mei nungs ver -

schie den heit beste hen – hat weder etwas Impo -

nie ren des noch Fei er li ches, noch Stim mungs -

vol les, oder sonst Ange neh mes. Aber als sie

ihren Fuß auf den Bahn steig setz ten, hat ten sie

das Gefühl: »Ziehe deine Schuhe aus von dei -

nen Füßen; denn das Land, dar auf du ste hest,

ist ein hei li ges Land.« Sie gin gen schon durch

die Sophien straße, aber sie gin gen vol lends über

den Via dukt und durch die Roll gasse, als das

alte Wei mar vor ihnen auf tauchte, mit den zit -

tern den Her zen der Kin der am Weih nacht -

abend dahin. Es war auch Abend und schon so

spät, daß sie das Hotel nicht mehr ver lie ßen.

Viele Stun den lang lag er schlaf los in sei nem

Bette: er war nun da, wirk lich da, er selbst, an

der tau send mal ersehn ten Stätte sei nes hei lig -

sten Kna ben- und Jüng lings le bens; er atmete mit

den erha be nen Genien die ses Ortes die selbe

ambro si sche Luft. Denn das war das Selt same:

in die sem neuen Wei mar stand unver sehrt das

alte und drängte jenes in den Hin ter grund; was

vor 70, vor 100 Jah ren gestor ben und unter ge -

gan gen war, das lebte, stand und wan delte hier

so gegen wär tig wie nur je – die Häu ser, Stra ßen

und Men schen von heute aber waren Schat ten.

Es war eine schlaf lose, hei lige Nacht; erst gegen

Mor gen schlief er ein paar Stun den und erhob

sich dann mit einem fröhlichen Kraftgefühl, das

ihm die Geister seiner Jugend gebracht hatten.

Die bei den mach ten zunächst einen Orien tie -

rungs spa zier gang durch die Stadt, und die ser

Anfang ver lief nicht allzu erhe bend. Vor dem

Dop pel denk mal trat näm lich ein über aus

freund li cher alter Herr mit höf li chem Gruß auf

sie zu und sagte:

»Dies sind nu also die bei den kree ß ten Tich -

ter, wo mir ha,m. Links is Keethe, un rechts is

Schil ler. Schil ler is, wie Se seh’n, ä biß chen kree -

ßer als Keethe; aber dafier is der Keethe wid der

brei der in de Schul dern. Was se da in der Hand

hal ten, das is ä Lor beer granz. Keethe will Schil -

lern den Lor beer granz iber rei chen; awer Schil -

ler sagt: »Nee, behalt du’n.« Der Schil ler is

immer ä sehr edler Mensch gewä sen. – Da hin -

der den bei den säh’n Se das alde Dhea der, wo

noch de kree ß ten Mach werge von den bei den

sin aufgeführt wor’n.«

Unser Freund dankte ver bind lich für die

Beleh rung und lüf tete zum Abschied höf lich den

Hut.

Als sie an der Ecke des Thea ter plat zes vor

dem Wit tum spa lais stan den, stand der gast li che

Fremde wie der neben ihnen.

»Das is nu also das soge nannte Wid mungs ba -

lais, wo de Her zo gin Anna Amalchje dad rinn

kewohnt hat.«

»Soso!« machte unser Freund. »Sagen Sie mal,

warum heißt es eigent lich »Wid mungs pa lais«?«

»Nu, das is ja sehr ein fach. Das hat näm lich

der tama li che Kroß her zog, der hat es also der

Anna Amalchje kewid met, damit daß se drin

woh nen soll.«

»Aha!« machte unser Freund, »aha!« lüf tete

aber mals den Hut und sagte »Adieu!«

Aber der men schen freund li che Herr nahm

keine Notiz davon; er gelei tete sie vor das Schil -

ler haus und sagte:

»Dies is also nu das Haus, wo der unsch terb li -

che Schil ler kewohnt hat –«

»Jawohl, jawohl!« rie fen unsere bei den und

schrit ten eilends wei ter. Sie gelang ten zum Für -

sten platz, und als sie vor dem Rei ter stand bilde

Carl August’s stan den, hör ten sie hin ter sich

eine Stimme:

»Dies is nu also der Fürscht, der wo die sämt li -

chen Tich ter eichent lich erst ins Läben geru fen

hat.«

»Schick ihn doch weg,« flü sterte sie.

»Ja, aber wie? Ich werd ihm Geld anbie ten.«

»Ach nein, das geht doch nicht!« flü sterte sie

errö tend.

Aber es ging. Der gefäl lige Bür ger steck te die

dar ge bo tene Mark Löse geld ein und emp fahl

sich. Der Typus war ihnen ganz neu; denn in

Nord deutsch land lun gert man nicht.

»End lich allein!« jubelte sie, und nun zogen sie

in Frie den wei ter. Nur noch ein mal kamen sie in

Gefahr, »geführt« zu wer den. Im Ster be zim mer

Schil lers hör ten sie einen Erklä rer reden, der

von der Armut Schil lers in einem so ergrei fen -

den Tre molo sprach, als wenn er selbst dar un ter

noch heute zu lei den habe und hier daher

erhöhte Trink gel der am Platze seien. Unser

Paar war tete, bis die betref fende »Tour« zu

Ende war und trat dann allein in das Heiligtum.

Die Deut schen haben kei nen hei li ge ren Ort.

»Wie viel Mar mor,« dachte unser Freund, »wie -

viel Gold und Elfen bein, wie viel Seide, Samt

und Edel ge stein müßte wohl ein pracht lie ben -

der Fürst auf ein an der häu fen, um einen Raum

zu schaf fen von sol cher Hoheit und von sol -

chem Glanz. Wem hier nicht Trä nen der Sehn -

sucht, Trä nen des Tri um phes ins Auge tre ten,

dem ist der tief ste Quell sei ner Seele ver siegt.

»Der wahre Bett ler ist doch ein zig und allein der

wahre König.« Der dies gött li che Wort sprach,

war auch solch ein Bettler.

Mit umflor tem Blick betrach tete unser Paar

die Gegen stände. die der erha bene Mann durch

seine Berüh rung geadelt hatte. Sie hat ten beide

keine Bega bung für den Fetisch dienst, und

gegen Göt ter- und Göt zen dienst empörte sich

von je sein mensch li cher Stolz. Aber die Gei ster,

die diese Stadt erhell ten, waren nicht Göt ter in

Wohl sein und Müßig gang, waren nicht in All -

macht und ambro si schen Lei bes gebo ren; sie

hat ten gelit ten und gerun gen, gerun gen mit

ihren eige nen Män geln und Gebre chen und

waren aus Men schen Göt ter gewor den. Vor sol -

chen Hei li gen ist Ver eh rung nicht Ernied ri -

gung, ist Verehrung eigener Triumph.

Gerade als sie diese Stätte ver las sen woll ten,

kam der Füh rer zurück und begann im Gra be -

stone des fest ange stell ten Leid tra gen den: »In

die sem ärm li chen Gemache –«

Aber unser Freund drück te schnell seine

Hand in die des Man nes und sagte gedämpf ten

Tones: »Ich weiß alles.«

Ja, die ses Schil ler haus, die ses Goe the haus, die -

ses Wit tum spa lais, die ser Park mit sei nem Gar -

ten häus chen, diese unsicht bare Stadt, vor der

man die sicht bare nicht sah: das war Ely sium.

Ein bes se res, höhe res, hei li ge res Ely sium als das

der Alten. Ein Ely sium der Arbeit. Gewiß: das

gab die sen klei nen, nied ri gen, beschei de nen,

selbst in den Schlös sern beschei de nen Räu men,

die an Luxus manch mal hin ter der Woh nung

eines Hand werks mei sters von heute zurück -

stehen: das gab ihnen jene unver gleich li che

Vor nehm heit, daß der hohe Geist der Tätig keit

nie mals aus ihnen gewi chen war; aus der seli gen

Welt der Gedan ken fällt noch heute ein Strahl in

diese Gemä cher und Gänge und umspielt die

bestaub ten Scho ko la den tä ß chen, die ver stumm -

ten Lau ten und Spi nette, die ver las se nen Spiel ti -

sche und die ver wai sten Mas ker aden ko stüme

mit einem fern her schei nen den Ster nen licht.

Das machte auch das Arbeits zim mer am Frau -

en plan, die ses andere Aller hei lig ste der Deut -

schen, zu einer Insel der Seli gen. 50 Jahre lang

hatte er hier wir ken, schaf fen und rin gen dür -

fen. 50 Jahre lang hatte er hier ver keh ren dür fen

mit den freund lich sten und besten Gei stern, die

zu den Irdi schen her nie der stei gen. Kein Fleck

der Erde hat ein rei che res und höhe res Glück

gese hen als die ses Zim mer. O, unsere Lie bes -

leute wuß ten sehr wohl, daß Klein heit und Häß -

lich keit, daß Dumm heit und Neid an diese Män -

ner her an ge kro chen waren wie an andre und

mehr als an andre Men schen; sie waren nicht

uner fah ren genug, um zu glau ben, daß es ein

Leben ohne All tag gebe; es war ein klei nes Nest

gewe sen, das Wei mar von damals, und die

Gewöhn lich keit macht sich um so brei ter, je

enger sie mit der Größe zusammenwohnt. Aber

das blieb bestehen: Kein Fleck der Erde hatte

ein höheres und reicheres Glück gesehen als

dieses Zimmer.

Und dann stan den sie in der Für sten gruft an

den Sär gen der Dios ku ren. Es gibt ein Gedicht

von Nepo muk Vogl, in dem erzählt wird, wie

ein Mann sich vom Toten grä ber das Grab der

Mut ter zei gen läßt. Als er davor steht, spricht er:

»Ihr irrt, hier wohnt die Tote nicht.

Wie schlöss, ein Raum so eng und klein

Die Liebe einer Mut ter ein.«

In erwei ter tem und erhöh tem Maße hat ten sie

dies Gefühl vor den Sar ko pha gen Schil lers und

Goe thes. Das Grauen, das uns vor den Grä bern

ver gäng li cher Men schen befängt – hier hat es

keine Stätte. Fast hät ten sie gelä chelt, als ihnen

der alte Mann, der sie in die Gruft beglei tet

hatte, allen Ern stes ver si cherte, in die sen Sär gen

ruh ten Goe the und Schil ler. Sie kamen ja her

von den Stät ten, wo sie leb ten und wirk ten im

Licht der Sonne. Tod, wo ist dein Sta chel, Hölle,

wo ist dein Sieg?

Und noch an einem andern Grabe ver weil ten

sie in freund li cher Trauer: an der Ruhe statt

Chri stia nens auf dem alten Jakobs kirch hof.

»Wenn ich zu befeh len hätte,« sagte unser

Freund, »so ruhte sie neben ihm in der Für sten -

gruft.« Und sein jun ges Weib ergriff seine her -

ab hän gende Hand und drück te sie fest, sehr fest

und gar lange. Es war das Weib, das ihm

dankte.

Als sie zum ersten Male den Park besuch ten,

führte sie ein hal bi dio ti scher Gärt ner lehr ling

durch Goe thes Gar ten haus. Er schien nur sub -

stan tive Begriffe zu haben; denn er sagte nichts

als »Arbeits zim mer!« – »Schlaf zim mer!« –

»Küche!« und stieß diese Worte mit einer mür ri -

schen Vehe menz her vor. Nur als die junge Frau

ein mal fragte: »Wohin geht es denn da?« da

gebrauchte er das Adver bium »Raus!!« Sie hat -

ten sonst wohl erlebt, von Hal bi dio ten durch die

Werke Goe thes geführt zu wer den; aber denen

hatte der wohl tu ende Lako nis mus des Gärt ner -

bur schen gefehlt. Es fragte sich, ob die Ver all ge -

mei ne rung die ser Ein rich tung nicht zum Segen

aller Besu cher geweihter Stätten gereichen

würde.

Sie wan der ten hin aus nach Bel ve dere, nach

Etters burg und vor allem nach Tie furt. Der

Park von Tie furt – wenn etwas, so gehörte er zu

die sem Ely sium. Es war ein trü ber Tag, und

doch – gibt es Wol ken oder Nebel, die den

Froh sinn die ser Stätte ver hül len kön nen? Er

strahlt und kichert durch alle Decken her vor. Ja,

das war’s, was diese »Lusti gen von Wei mar«,

diese pracht volle Anna Ama lie und ihren Genie -

hof kenn zeich nete: ihr Wir ken war nicht fin -

stere Rast lo sig keit, ihr Ver gnü gen nicht fau ler

Genuß; Arbeit adelte ihren Froh sinn, Froh sinn

adelte ihre Arbeit. So macht man das Leben zum

ewi gen Fest, und ein ewi ges Fest liegt über den

Bäumen und Fluren dieses Parks.

Und doch mußte unser Freund flu chen, grim -

mig flu chen, als sie vor dem mäch ti gen Steine

stan den, der in Lapi darsch rift den Namen

Her der

trägt. Ein Schuft hatte sei nen Namen dane ben

geschmiert. Die Besu de lung des Stei nes ließ sich

wohl ent fer nen; aber wer ent fernte den Dreck

aus solch einer Seele! Welch ein Abgrund nai ver

Gemein heit lag in die sem Fre vel. »Weiß Gott,«

rief unser Freund, »ich bin ein Feind der Prü gel -

strafe; aber Aus nah men gibt es doch. In die sem

Falle würde ich mit Freu den der Voll zie hende

sein, und der Hal lunke sollte sich über keine

Unter schla gung zu beklagen haben.«

Sie hatte große Mühe, ihn zu beru hi gen; aber

bald ver wischte ein selt sam freund li ches Erleb -

nis völ lig den wid ri gen Ein druck. Sie hat ten sich

dem Schlö ß chen die ses Parks genä hert, und im

sel ben Augen blick, als sie durch den grü num -

rank ten Tor bo gen in den Schlo ß hof tra ten,

schlug eine Turm uhr drei Schläge und die

Sonne durch brach sieg reich den Nebel. Glück -

lich über rascht sahen sie ein an der ins Gesicht:

Hieß das nicht »Willkommen«?!

Der letzte Abend ihres Wei ma rer Auf ent halts

gehörte natür lich noch ein mal dem Park »am

Stern«. Die Bür ger von Wei mar waren ord -

nungs mä ßig zum Abend es sen gegan gen; unsere

Bei den hat ten den Park, hat ten die Welt für sich

allein; völ lig ein sam schrit ten sie am Gar ten -

hause, an der Reit bahn vor über auf dem brei ten

Wege, der nach Ober wei mar führt. Köst li che

Stille ringsum. Da stan den auch sie stille – eine

Nach ti gall schlug lie bes elig aus nahem Gebüsch.

Und im Osten stand ein herr li cher Stern, so

leben dig fun kelnd, als ob er zur Erde reden

möchte. Da war die Zeit aus ge löscht – nicht

anders war die Welt gewe sen, als der Bewoh ner

jenes Gar ten hau ses noch hier wan delte – er war

gegen wär tig – unser Freund zeigte nach dem

Stern und flü sterte: »Sieh, Herz, das ist Er. Die

Nachtigall hat ihn erkannt.«

Von Wei mar fuh ren sie heim. Sie waren sehr

still auf die ser Fahrt; denn die Vor freude der

Heim kehr war noch grö ßer als die Vor freude

der Aus fahrt. Sie hat ten Hirn und Sinne voll zu

tun; denn von vier Kin dern und zwei Eltern

muß ten sie sich aus ma len, was sie heute dach -

ten, hoff ten, wünsch ten und wie sie sich freuen

würden.

Als ihr Wagen in die Straße ein bog, in der sie

wohn ten, sahen sie alle Viere im Sonn tags kleide

vor der Tür ste hen.

»Da sind sie.« rief er auf sprin gend, »alle vier.

Vier Kin der, Lieb ling! Wie viel Hoch zeits rei -

sende gibt’s denn, die sich das lei sten kön nen!«

Und doch schrie er, als der Wagen vor fuhr,

mit furcht ba rer Stimme: »Zurück. Zurück.

Wollt Ihr zurück, alle Wet ter.« Sie wären näm -

lich unter die Hufe des Pfer des und unter die

Räder gerannt, um nur schnell in die Arme der

Mut ter zu flie gen.

Meine Damen!

Ein ernst haf tes Inter mezzo.

Auf mei nem Her zen hat sich wie der man cher lei

ange sam melt, das her un ter muß. Ich hab’s

schon ein mal gewagt, Ihnen aller lei Auf rich ti ges

zu sagen, und die tiefe Ver eh rung, die ich für Ihr

Geschlecht hege, ist noch ver tieft wor den durch

die Güte, mit der Sie es auf ge nom men haben.

Nach mei ner verrück ten Art von Galan te rie

wage ich es heute zum andern Male und darf es

siche ren Mutes wagen, weil doch – Sie mögen

sich mas kie ren, wie Sie wol len – Ihr inner stes

und eigent lich stes Wesen die Güte ist. Ich bitte,

schon hier beto nen zu dür fen, daß das ernst

gemeint ist.

Es ist ein Scheu sal unter Ihnen auf ge stan den:

die Gleich ma che rei. Und zwar ist sie erschie nen

in ihrer fürch ter lich sten Gestalt: als Gleich ma -

che rei der Geschlech ter. In den Zei tun gen las

man vor eini ger Zeit, daß die weib li chen Mit -

glie der des fin ni schen Par la ments sich durch

ent schie de nen Ver zicht auf Anmut und Schön -

heit, über haupt auf jeden weib li chen Reiz aus -

zeich ne ten, daß sie in ihrem Auf tre ten und ihrer

Erschei nung mög lich ste Unan sehn lich keit

anstreb ten und sich von den Män nern nicht zu

unter schei den wünsch ten. Und die eng li schen

»Suf fra get tes« miß han deln Schutz leute und wer -

fen den Mini stern, die ihnen nicht das poli ti sche

Stimm recht gewäh ren wol len, die Fen ster ein.

Sie gestat ten, daß ich hier zunächst einen

längeren Schauder zu überwinden suche –

Es kann bei Heras Gra nat ap fel kei nen Men -

schen geben, der die Gleich wer tig keit des Wei -

bes mit dem Manne ehr li cher aner kennte als

ich, kei nen, der dem Weibe freu di ger den Weg

eröff nen möchte zu jedem Beruf und jeder

Tätig keit, die es nach sei ner Natur bewäl ti gen

kann. Die aktive Teil nahme an der Poli tik kann

man dem Weibe nicht gewäh ren. Ich will das zu

bewei sen suchen, indem ich zunächst von einer

ande ren Tätig keit spre che, an der ich noch deut -

li cher zei gen kann, daß das Weib nicht für alle

Berufe des Man nes geschaf fen ist. Ich meine die

Tätig keit des Rich ters. Es ist ober stes Erfor der -

nis bei einem Rich ter, daß er ohne Anse hen der

Per son urteile. Und es ist natür lich ste Eigen tüm -

lich keit des Wei bes, daß es von der Per son nicht

abzu se hen ver mag. (Selbst ver ständ lich, meine

Damen: So und so viele von Ihnen kön nen es

doch; es gibt Wei ber mit männ li chen und Män -

ner mit weib li chen Anla gen, und eman zi pierte

Frauen for cie ren ihre männ li chen Eigen schaf ten

– bei sol chen Selbst ver ständ lich kei ten wol len

wir uns nicht auf hal ten; es han delt sich hier nie

um Ein zelne, son dern um die gan zen

Geschlech ter.) Wo wäre das Weib, das dem

Feinde sei nes Gelieb ten Gerech tig keit wider fah -

ren las sen könnte? Wenn es eins gibt, so ist es

kein Weib mehr. Wie der Eng län der sagt: Right

or wrong – my coun try! so sagt das Weib: Recht

oder Unrecht – mein Gelieb ter, mein Gatte,

mein Kind! und so ist es recht. Wenn Lucius

Junius Bru tus seine rebel li schen Söhne zum

Tode ver ur teilt und vor sei nen Augen hin rich -

ten läßt, so erweckt das bei aller Furcht bar keit

unsere Bewun de rung, ja unsere Ver eh rung –

eine Mut ter, die das selbe ver möchte, könnte

nur Ent set zen und Abscheu erre gen. Denn das

Weib ist in die Welt gesetzt, um die

Grausamkeit der Tatsachen und Dinge zu

mildern durch Menschlichkeit.

Es gibt ein wun der vol les Bei spiel für das

Gewicht des Per sön li chen im weib li chen Urteil

und Inter esse: ich denke an das Ver hält nis der

Frauen zur Kunst und zum Künst ler. Wäh rend

der Mann nicht sel ten über dem Kunst werk den

Künst ler ver gißt und gar nicht danach fragt, wer

das Gei gen solo so schön gespielt, wer den

Romeo so herr lich dar ge stellt habe – eine Inter -

es se lo sig keit, die ich dem betref fen den Manne

nicht als Vor zug anrechne – wird der Frau die

Per sön lich keit des Künst lers mei stens ebenso

wich tig, nicht sel ten wich ti ger als das Kunst -

werk, jeden falls aber immer wich tig und inter es -

sant sein. Damit soll den Frauen wahr haf tig

nichts Übles nach ge sagt sein. Ich sehe gern ab

von den Eksta sen der Back fische, denen der

Lieb ha ber Herr Meyer viel, viel wich ti ger ist als

der ganze Ham let von Shake speare, ja, denen

Herr Meyer auch unend lich viel inter es san ter ist

als seine Lei stung; ich sehe ab von den Damen,

die sich dem lang be haar ten Pia ni sten heim lich

mit der Schere nähern, um ihm eine, wenn auch

nie ge kämmte Locke zu rau ben, obwohl es

immer hin bezeich nend ist, daß der Künst ler-

(und Künst le rin nen-) Kul tus ganz vor wie gend

von weib li chen Wesen gepflegt wird. Ich sehe

end lich voll stän dig ab von eigent lich ero ti schen

Inter es sen. Jenes inten sive Inter esse an der Per -

sön lich keit habe ich beob ach tet und kann man

fort dau ernd beob ach ten an sehr ern sten, sehr

vor neh men, an edel sten und keu sche sten

Frauen und Jungfrauen. Dieses intensive

Interesse ist Liebe, meine Damen. Halten Sie

Ihren Widerspruch noch zurück.»Bewun dern ist und lie ben eins beim Weib;

Der mehr Bewun derte ist mehr geliebt,«

läßt Gutz kow sei nen Ben Jochai sagen. Frei -

lich: aus dem Ben Jochai spricht die Eifer sucht,

und was er sagt, ist die arg wöh ni sche Über trei -

bung eines Eifer süch ti gen. Aber doch ent hal ten

seine Worte eine tiefe und feine Beob ach tung.

Das Weib kann nicht bewun dern und ver eh ren,

ohne zugleich mit Liebe zu loh nen. Darum sind

Frauen so oft die opfer mu tig sten und uner müd -

lich sten Apo stel gro ßer Män ner gewe sen. Und

es ist eine Liebe, die Sie nicht zu leug nen brau -

chen, meine Damen, eine Liebe, die Gat ten,

Lieb ha ber, Kin der und alle Bevor rech te ten in

ihrem Besitz unan ge ta stet läßt. Liebe ist nun

doch ein mal so heute wie zu Anti go nes Zei ten

der Beruf des Wei bes, und ein ech tes, gesun des

Frauenherz ist an Liebe unerschöpflich.

Im Kampf und Han del der Welt ent schei den

bei allen Schlu ß ab rech nun gen nur die Dinge,

nur die Tat sa chen, nur das Recht. Mehr als

unser Recht haben wir nicht zu ver lan gen; sel -

ten wird es uns ganz, und wenn uns unser voll -

ge mes se nes Recht wird, so bleibt noch das tiefe,

trau rige Wort beste hen, das sum mum jus summa

inju ria, daß das höch ste Recht zugleich das höch -

ste Unrecht ist. Denn nicht als Maschi nen sind

wir in die Welt gestellt, son dern als Men schen,

die eine Per sön lich keit haben und denen höch -

stes Unrecht geschieht, wenn sie nur nach ihren

Lei stun gen, nur nach ihren rea len Erfol gen, nur

nach ihrem Recht gewer tet wer den. Und wie -

der, wie immer bei tie fe rer Betrach tung, erken -

nen wir das wun der bare Gleich ge wicht der

Welt, in die das Weib gestellt ward, damit es –

nicht etwa nur den Mann – nein, damit es den

Men schen über sein Recht, über seine indi vi du -

elle Ein sam keit und Klein heit hinaus

emporziehe an die Brust der Liebe.

Es ist damit, wenn ich die sen Ver gleich wäh -

len darf, wie mit unserm Geburts tag. Daß ich

gebo ren bin, das ist für die Welt und für mich

viel leicht eine sehr belang lose Tat sa che. Ein

Wie ner Zoo loge soll denn auch gesagt haben:

»Das Fei ern von Geburts ta gen und Jubi läen ist

eine Sitte, die man bei den Tie ren nicht beob -

ach tet.« Nun, dann ist es eben eine mensch li che

Sitte, und zwar eine gute. Ein mal im Jahre muß

man dem Men schen sagen: Es ist doch gut, daß

du da bist; ein mal im Jahre muß er sich beson -

ders geliebt, beach tet, ver wöhnt, ver hät schelt,

über schätzt füh len, damit er eine Ent schä di gung

und Auf mun te rung habe für die 364 Tage, da er

in der gro ßen Masse ver schwin det. Frei lich:

Stoi ker bedür fen der glei chen nicht; aber Stoi ker

sind sel te ner, als sie glau ben. Wer aber ein

tugend sam Weib hat, das (um Got tes wil len!)

nicht nur tugend sam, son dern auch freund lich

und lieb reich ist, der hat alle Tage Geburts tag.

Und der Mensch, der aus dem feind li chen

Leben nach Hause kommt, bedarf des sen; selbst

Faust, der immer stre bend sich bemühte und

das Beste getan hatte, was Men schen tun kön -

nen, selbst er bedurfte der Liebe, die von oben

an ihm teil nahm; nicht mit eige ner Schwin gen -

kraft ver mochte er den Himmel zu erfliegen; das

ewig Weibliche zog ihn hinan.

Also nicht ein Man gel und eine Schwä che,

nein, eine Kraft und Tugend der Frauen ist es,

daß sie das Per sön li che an ihren Mit men schen

mit beson de rer, teil neh men der Liebe erfas sen.

Und ist es nun nicht ein wahr haft gött li cher

Beruf, die harte Gerech tig keit der Welt durch

Liebe zu ergän zen? Sollte die ser Beruf nicht

wirk lich schö ner und bedeu tungs vol ler sein als

die weib li che Teil nahme an der Poli tik oder das

Auf tre ten weib li cher Rich ter, Staats- und

Rechts an wälte im »Paragraphenzirkus«?

Sie mei nen, ob sich denn nicht bei des sehr

wohl ver ei ni gen lasse? Nein, meine Damen, nie -

mals. Mehr noch als von allen ande ren Kämp -

fen gilt vom poli ti schen Kampfe, daß in ihm nur

die Rea li tä ten und nicht die Per sön lich kei ten

ent schei den und ent schei den dür fen. In die sen

hei li gen Hal len kennt man die Liebe nicht. Und

das ist in der Ord nung. In einem ame ri ka ni -

schen Witz blatt fand ich einst eine Kari ka tur,

die die Fol gen des Frau en stimm rechts illu strie -

ren sollte. Links sah man auf einer Tri büne

einen häß li chen Red ner; er stand ein sam und

ver las sen; rechts redete ein bild schö ner Kerl:

ihn umdrängte die weib li che Zuhö rer schaft.

Dar un ter stand: Der Schön ste wird gewählt. Sie

wis sen schon, meine Damen, daß ich die weib li -

che Par tei lich keit nicht in die sem gro ben, her ab -

set zen den Sinne ver stehe. Aber in einem fei ne -

ren, edle ren Sinne trifft die Satire zu. Eine Frau,

die einen Bis marck bewun dert, wird besin -

nungs los mit ihm durch Dick und Dünn gehen,

und eine Frau, die Bebel ver ehrt, wird mit ihm

das selbe tun. Und das darf in der Poli tik nicht

sein. Sie wer den mir wie der ein wen den, daß

man che Män ner es ebenso mach ten und man -

che Frauen es nicht so machen wür den; aber

dann muß ich Sie zum Über druß wie der daran

erin nern, daß es sich hier nicht um man che

Män ner und Frauen, son dern um viele Mil lio -

nen Män ner und um viele Mil lio nen Frauen

han delt. Und von Mil lio nen Frauen gilt dies:

der Anzie hend ste, der Gewin nend ste (viel leicht

durch die besten Eigen schaf ten Gewin nend -

ste!), der meist Bewun derte – der »hat sie all

unterm Hut«. Die Frauen mein ich. Wie es denn

ja eine nicht genug zu beach tende Erschei nung

ist, daß poli ti sche Frauen fast immer fana tisch

sind. Die Frauen las sen sich – und das ist ihre

von der Natur gewollte Funk tion – mehr vom

Gefühl als vom Ver stande lei ten; wo aber das

Gefühl sich der Poli tik bemäch tigt, ohne fort ge -

setzt vom Ver stande regu liert zu werden, da

entsteht Fanatismus. Daher nirgends soviel

Fanatismus wie in der Religion und ihrer

politischen Betätigung.

Ich gehe nun noch einen Schritt wei ter und

sage: In der Rechts pflege und in der Poli tik wie

über all, wo es sich um Rechts fra gen und um

vitale Inter es sen des Staa tes han delt, ist mit

mög lich ster Strenge das Moment der

Geschlech tig keit aus zu schei den. (Die fin ni schen

Par la men ta rie rin nen emp fin den das mit völ lig

rich ti gem Instinkt.) An die ser For de rung sind

frei lich weit weni ger die Frauen als die Män ner

schuld, die ses (nach dem Wil len der Natur) ero -

tisch ent zünd li chere und in die ser Hin sicht,

wenn Sie wol len, schwä chere Geschlecht. Es

gibt eine fran zö si sche Kari ka tur, auf der eine

hüb sche und sehr pikante Rechts an wäl tin sich

vor den Rich tern – nun, sagen wir: erschöp fend

dekol le tiert mit den Wor ten: »Und hier, meine

Her ren, meine trif tig sten Argu mente.« Das ist

sehr zynisch, aber sehr wahr. Ich glaube herz lich

gern, daß unsere Rich ter in die ser Bezie hung

genau so unbe stech lich sind wie in jeder ande -

ren; aber ich bin nicht über zeugt, daß jeder

männ li che Rich ter vom Kopf bis zu den Füßen

gewapp net wäre gegen die Reize einer bezau -

bern den Ange klag ten oder Zeu gin. Darum

würde ich es – in die sem Falle abwei chend von

mei ner Grun dan schau ung – für äußerst wün -

schens wert gal ten, daß zu allen Gerichts ver -

hand lun gen, in denen Frauen eine wich tige oder

gar ent schei dende Rolle spie len, weib li che

Schöf fen hin zu ge zo gen wür den. Was die männ -

li chen Rich ter einer schö nen Frau gegenüber

durch Milde sündigen würden, das würden die

weiblichen durch Strenge wieder gut machen.

Wenn nun einige von Ihnen, meine Damen,

durch die von mir vor ge brach ten Gründe

immer noch nicht über zeugt sein soll ten, so bitte

ich eben diese Beharr li chen, uns Män nern ein -

mal aus zu ma len, wie sie sich eigent lich das

Fami lien le ben unter den Fit ti chen einer poli ti -

schen Frau vor stel len. Ich will nicht ein mal

anneh men, daß die mit täg li che Suppe, die

Hosen der Kin der und die Sau ber keit des Fuß -

bo dens unter der Poli tik der Haus frau zu lei den

hät ten; ich will anneh men, daß die ener gisch

poli ti sche Frau – denn poli ti sche Halb heit wer -

den Sie ja doch nicht wün schen – ihren Mann

und ihre Kin der nichts ver mis sen lasse. Wie

den ken Sie es sich, wenn der Mann die »Kreuz -

zei tung« hält und die Frau den »Vor wärts«, oder

umge kehrt? Wenn der Mann einen Zei tungs ar -

ti kel wütend in die Ecke schleu dert mit Aus ru -

fen wie »Zu dumm!« oder »Unglaub li che Frech -

heit!« und die Frau den Arti kel her nimmt und

liest und aus ruft: »Glän zend! Gro ß ar tig! Mir

aus der Seele geschrie ben!«? Wie den ken Sie es

sich, wenn die Frau für eine kräf tige Steuer

stimmt, die der Mann von sei nem sauer erwor -

be nen Gelde bezah len muß; wenn der Mann

einen libe ra len Kan di da ten unter stützt mit dem

Gelde, das durch die sorg same Wirt schaft der

ultra mon ta nen Gat tin erübrigt wurde? Wie

den ken Sie es sich, wenn der Mann sei nem

Weibe ent ge gen schleu dert: »Euer Kan di dat ist

ja ein Schwind ler!« und die Frau erwi dert: »Und

der Eure ist ein Feig ling!« und die wahl be rech -

tigte Toch ter kalt lä chelnd hin zu fügt: »Idio ten

sind sie beide!«? Gut, meine Damen, ich will ein -

mal anneh men – Sie sehen, ich bin uner schöpf -

lich in Zuge ständ nis sen – daß der poli ti sche

Ton sich all mäh lich ver fei nern könne, sich

durch den Ein fluß der Frau viel leicht ver fei nern

würde, viel leicht! Man hat näm lich Bei spiele vom

Gegen teil. In Eng land bewegt sich der poli ti sche

Kampf der Män ner in For men, die auch unter

ent schie den sten Geg nern einen freund schaft li -

chen Ver kehr ermög li chen sol len. Aber Freund -

schaft ist, wie Sie mir zuge ben wer den, noch

lange keine Ehe. Und könn ten Sie es in der Tat

ersprieß lich fin den, wenn der Mann in der

Armee die höch ste Lei stung, die Blüte und das

Pal la dium sei nes Vol kes erblickt, die Frau aber

in eben die ser Armee nur eine Mas sen mord ma -

schine für die Zwec ke des dyna sti schen Ego is -

mus sieht? Wenn die mater fami lias Schu len von

streng ster Kon fes sio na li tät for dert, der pater

fami lias aber mit der Glau bens- und Gewis sens -

frei heit Ernst machen und die Reli gion durch -

aus ins Pri vat le ben verwiesen sehen will? Die

konfessionellen Mischehen geben überall dort,

wo der Gegensatz aufrecht erhalten oder gar

künstlich verschärft wird, ein hinreichend

abschreckendes Beispiel.

Oder wol len Sie mir ein wen den, daß sich in

der Pra xis alles »nicht so schlimm« gestal ten

werde, daß sich in der Regel Mann und Frau auf

eine Welt- und Staats an schau ung eini gen wür -

den? So war es in der Tat bis heute. In der alles

umfas sen den Liebe, mit der das Weib die ganze

Per sön lich keit des Man nes umfing, erschie nen

ihr auch seine Anschau un gen und Grund sätze,

ein schließ lich der poli ti schen, wahr und gut,

und ohne daß er es zu ver lan gen brauchte, stand

sie auch in poli ti schen Fra gen, soweit sie daran

Anteil nahm, an der Seite ihres Gat ten. Der

Mann aber war glück lich und dank bar, wenn

seine Anschau un gen im see li schen Ver kehr mit

der Gat tin eine Berich ti gung, eine Läu te rung

und Ver ed lung erfuh ren; denn das echte Weib

gibt immer, indem es nimmt. Wenn es nach Ein -

füh rung des Stimm rechts so blei ben würde (und

unter uns gesagt: im wesent li chen würde es so

blei ben), dann hät ten wir also, abge se hen von

Frau en fra gen, nur eine Ver dop pe lung der Stim -

men und damit wäre nichts geschafft. In vier

west li chen Staa ten der Union ist seit län ge rer

Zeit das Frau en stimm recht ein ge führt, und die

Män ner, die seine Ein füh rung befür wor tet

haben, erklä ren jetzt, daß die Resul tate sie voll -

kom men ent täuscht hät ten; sie seien gleich Null.

Daß aber die Frauen im Staate der Zukunft eine

»Nichts als Frauen-Par tei« bil den soll ten, die nur

Frau en rechte vertritt und sonst nichts, das

werden auch Sie, meine Damen, für ein Unding

halten.

Indes sen wer den Sie ver lan gen, daß die Frau

ihrem Gat ten gegen über unent wegt ihre eigene

Ansicht behaupte, ja, um nicht für eine gefü gige

»Skla vin« ihres Man nes zu gel ten, wird sie mög -

lichst ent ge gen ge setzte Prin zi pien mög lichst

hart näc kig ver tei di gen müs sen; auch im zärt -

lich sten Zusam men sein wird das Par tei pro -

gramm nicht dahin schmel zen dür fen in der Glut

des Gefühls, und Romeo und Julia in künf ti ger

Zeit wer den, bevor der Mor gen sie schei det,

weni ger über Nach ti gall und Ler che als über

Schutz zoll und Frei han del strei ten. Ich muß

geste hen, daß mir Ver nunft, Gefühl, Phan ta sie

und Erfah rung die hei lige Gemein schaft von

Mann und Weib von jeher in andern Bildern

gezeigt haben.

Näm lich so. Es gibt in Lite ra tur und Tages phi -

lo so phie einen Sno bis mus, der alle poli ti schen

Anstren gun gen mit Gering schät zung belä chelt,

weil er es für unsag bar beschränkt hält, von poli -

ti schen Ver än de run gen irgend etwas für die

Mensch heit oder gar für den Ein zel nen zu

erwar ten. Ich teile diese Ansicht natür lich in kei -

ner Hin sicht. Die Poli ti ker erwer ben sich ein

gro ßes Ver dienst um ihre Mit men schen, indem

sie unab läs sig an den Mau ern, Grä ben und

Däm men bauen und bes sern, die unsere ewi gen

Rechte und Güter schüt zen; ihre Arbeit ist die

uner läß li che Vor aus set zung auch für die aller -

fein sten und aller sub lim sten Kul tu ren; sie sind

in höhe rem, all ge mei ne rem Sinne eine Poli zei,

die für Ord nung und Ruhe durch das Gesetz

sorgt, und selbst die »dif fer en zier te sten« Snobs

könn ten ihr wun der sa mes Dasein nicht ent fal -

ten, wenn die Män ner der Poli tik nicht für sie

arbei te ten. Die poli ti sche Betä ti gung ist eine

Wehr- und Steu er pflicht des Man nes. Aber poli -

ti sche Arbeit ist harte Arbeit, ist nicht sel ten häß -

li che und wid rige Arbeit, und sie ist auch nicht

die höch ste und letzte Auf gabe des Men schen.

Der rechte Poli ti ker weiß, daß es höhere und

dau ern dere Gedan ken und Insti tu tio nen gibt als

selbst das Wahl recht und die Ver fas sung, ja, er

weiß, daß es eben jene höhe ren und dau ern de -

ren Güter sind, um deret wil len er die Lasten

und die Wider wär tig kei ten des poli ti schen

Kamp fes auf sich nimmt. Der also kämp fende

Mensch nun will wenig stens eine Stätte wis sen,

wohin der Streit und Zank des Tages nicht

dringt, einen Ort will er wis sen, wo Mensch mit

Mensch sich in rei ne ren Höhen, in ewi gen

Gedan ken und ver klär ten Gefüh len ver eint.

Dem Gläu bi gen sind Kir chen und Tem pel ein

sol cher Ort, dem Kunst sin ni gen sind es die

Berei che der Kunst; alle Men schen aber haben

Anspruch auf den Got tes frie den des Hau ses.

Mit Recht empört sich das Gefühl des Men -

schen dage gen, von der Kan zel den Lärm des

Tages wider hal len zu hören; mit glei chem

Recht sucht er nicht Kampf und Streit, son dern

Samm lung und Erhe bung im Tem pel sei nes

Hau ses. Und die Prie ste rin die ses Tem pels, die

Hüte rin sei nes Got tes frie dens ist das Weib, die

Gat tin, die Mut ter. Nicht, daß sie nicht Ver -

ständ nis und Teil nahme haben sollte für die

Sor gen und Kämpfe ihres Gat ten und ihrer Kin -

der; aber von ihrer Stirn soll allen die tröst li che

Ver si che rung erglän zen, daß in höhe ren Bezir -

ken ein Glück und ein See len frie den auf ge ho -

ben sind, die alle Kämpfe und Sorgen

überdauern. Das, meine Damen, das sei die

Politik, die hohe Politik des Weibes.

Sie fra gen, wie Sie denn Ihre Frau en rechte

ver tre ten und durch set zen sol len, wenn Sie

keine poli ti sche Macht besit zen? Ei, nach die ser

Logik müß ten auch die Kin der das Wahl recht

haben, denn eines der wich tig sten Rechte, eines

der Rechte, deren Ver let zung sich am emp find -

lich sten rächt, ist das Recht des Kin des. Wol len

Sie Kin der wäh len las sen und ins Par la ment

schic ken? Und wol len Sie ander seits leug nen,

daß das Recht des Kin des immer mehr erkannt

wor den ist und sich in der Gesetz ge bung immer

mehr Gel tung ver schafft hat? Es geht auch ohne

einen for ma len Recht sti tel. Und sollte Ihnen,

gerade Ihnen, meine Damen, unbe kannt sein,

daß die reale Macht so oft anderswo liegt als die

for male, die tat säch li che anderswo als die

schein bare? Daß es abso lute Staats- und Fami -

lien herr scher gibt, die die ohn mäch tig sten Men -

schen ihres Berei ches sind, ja, daß es sogar Par -

la mente gibt, die trotz aller Reden nichts zu

sagen haben? Jemand hat behaup tet, es sei recht

gut, wenn Frauen auf dem Throne säßen, weil

dann wenig stens Män ner regier ten, wäh rend

die männ li chen Für sten gewöhn lich von Wei -

bern beherrscht wür den. Ich aber rede auch hier

wie derum nicht nur im Scherz, son dern im tief -

sten Ernst; ich denke nicht nur an die Gewalt

der wei ßen Händ chen und der schma len Füß -

chen, nein, ich denke zugleich und denke vor

allem an die wun der bare see li sche Gewalt des

Wei bes, wenn ich sage: Es gibt nichts Stär ke res

als das Weib. Das Weib ist ein Hei lig stes in der

Mensch heit; wenn sie nicht mehr an das Weib

als an einen letz ten Hort des Guten glaubt, dann

glaubt sie an sich selbst nicht mehr. Das Weib ist

das Gewis sen der Mensch heit. »Die Frau muß

bes ser sein als der Mann; sonst taugt sie nichts«,

sagt Anzengruber. Selten hat germanische

Frauenverehrung einen überzeugteren

Ausdruck gefunden.

Gewiß: die ger ma ni sche Frau en ver eh rung hat

nicht ver hin dert, daß die Frau in deut schen wie

in allen andern Lan den jahr tau sen de lang unter

ihrem Wert geschätzt und behan delt wurde.

Und Sie, meine Damen, sind end lich mutig her -

vor ge tre ten, haben den klei nen Mund auf ge tan

und Ihr Recht ver langt. Und nur ein Narr

könnte ihnen das ver übeln. Aber kön nen Sie

leug nen, daß nun auch als bald so man ches bes -

ser gewor den ist, und kön nen Sie zwei feln, daß

noch vie les bes ser wer den wird? Macht geht vor

Recht, jawohl; aber Recht kommt hin ter drein.

Auch das Recht ist eine Macht, und immer

kommt eine Zeit, da diese Macht die bru tale

Macht ein holt und ver drängt. So ist immer die

Entwick lung gewe sen; sonst gäbe es noch heute

kein Recht in der Welt. So hat sich auch das

Recht des Kin des durch ge setzt, abge se hen von

Schutz ge set zen, die aus rei nen Zweck -

mäßigkeitsgründen erwach sen sind. Soll ten Sie

aber doch auf ganz abnorme Schwie rig kei ten

sto ßen, soll ten beson ders beschränkte und böse

Par teien und Män ner Ihnen gar zu hart näc kig

Ihr gutes Recht wei gern, dann – immer hin –

holen Sie aus der Lade, gewis ser ma ßen als

»schwarze Frau«, das fin ni sche Mann weib oder

die Lon do ner »Suf fra gette« her vor, und Sie wer -

den sehen – es kommt eigent lich auf dasselbe

hinaus wie das Lysistratamotiv – man bewilligt

Ihnen alles.

Wenn Sie nicht gar zu viel for dern. O ja, auch

das kommt vor. Aus dem Westen, beson ders

ans dem fer ne ren Westen, wo die ger ma ni sche

Frau en ver eh rung zur Par odie gewor den ist,

kommt ein Frau en ideal, nach dem die Frau alles

zu ver lan gen und nichts zu lei sten hat. Nach die -

ser Auf fas sung erscheint das Weib gewis ser ma -

ßen als ein anspruchs vol les Luxus tier chen, als

eine Art Pracht fink oder Zier pa pa gei, nur daß

das Kleid die ser Tier chen bloß ein ma lige

Anschaf fungs ko sten erfor dert und sie außer -

dem nicht gött li che Ver eh rung bean spru chen.

Viel wei ter als man wohl ahnt, ist auch in unse -

rer »Gesell schaft« der Typus der weib li chen

Drohne ver brei tet, deren Tag mit Toi let te ma -

chen, Kon di to rei be such, shop ping, five-o-clock-tea,

Tanz und Thea ter voll kom men aus ge füllt ist.

Par don: fast hätt, ich die Wohl tä tig keit ver ges -

sen, also rich tig: Tanz, Thea ter und Wohl tä tig -

keit. Sie gibt bis zu 20 Mark Ein tritts geld für ein

amü san tes Wohl tä tig keits fest, o ja. Natür lich:

die Rech nun gen beim Sei den haus sind etwas

höher. Wenn der Mann nach ver zwei fel tem

Rin gen Kon kurs anmel det, prä sen tiert das

Mode ma ga zin Rech nun gen von 25 000 M. ...

Nun, viel leicht müs sen im gro ßen Gar ten der

Welt auch sol che Blu men sein, dann bin ich

aber dafür, sie nur sehr ver ein zelt zu züch ten. In

Ihrer Frau en be we gung aber, meine Damen –

die Ange re de ten sind immer aus ge nom men –

sind deut li che Nei gun gen vor han den, jene

Zucht zu begün sti gen. Es gibt auf Ihrer Seite

Frauen, die uns tief sin nig ver si chern, daß die

häus li che Arbeit der Frau oft klein lich, ein tö nig,

banal, nicht sel ten häß lich und immer sehr

ermü dend sei. Und die still schwei gende Ergän -

zung ist dann, daß die Arbeit des Man nes immer

oder doch vor wie gend groß zü gig, abwechs -

lungs reich, poe sie voll, anmu tig und erquick lich

wäre. Haben Sie ein mal, meine Damen, zehn -

stün dige Kom mis sions sit zun gen mit ge macht?

Haben Sie als Rich ter ein mal sie ben Stun den

lang Baga tell sa chen ver han delt? Sind Sie als

Ärzte ein mal einen hal ben Tag lang trep pauf

und -ab gestie gen und haben Schnup fen, Rheu -

ma tis mus und Migräne behan delt? Haben Sie

ein mal Rekru ten aus ge bil det? Haben Sie ein mal

mit unfä hi gen Schau spie lern Rol len ein stu diert?

Haben Sie ein mal Schü ler hefte kor ri giert oder

Musik un ter richt gege ben? Sind Sie ein mal Jour -

na list gewe sen? »Der Ärger mit den Dienst bo -

ten!« seuf zen Sie. Aber Sie ärgern sich doch nur

an Unter ge be nen, die Sie ent las sen kön nen.

Haben Sie’s ein mal ver sucht, sich an Unter ge be -

nen und Vor ge setz ten zu ärgern? Wis sen Sie,

daß ein Mann zuwei len unter sich und über sich

Dienst bo ten hat? Nein, meine Gnä dig ste, sehen

Sie ein mal Ihrem Kind ins Auge, wenn es kräf tig

hin ein beißt in das gute Brot, das Sie ihm rei -

chen, betrach ten Sie das auf at mende Beha gen

Ihres Gat ten, wenn er ermü det heim kehrt, und

sehen Sie ihn stark und ermun tert wie der von

dan nen gehen, und Sie wer den begrei fen, daß

Sie die groß zü gig ste, kurz wei lig ste, anmu tig ste

und dank bar ste Arbeit tun, die sich den ken läßt.

Und dann noch eines: Wenn Sie ver hei ra tet

sind, haben Sie eigent lich nur einen Beruf: Das

Glück Ihres Hau ses. So ward Ihnen das große

Glück, etwas ganz sein zu können und sich ein

Leben zu bauen, das klar und entschieden,

harmonisch und ruhevoll ist. Ein Mann ist

immer zerrissen. Wollen Sie Politiker, wollen

Sie Auchmänner werden, damit Sie ebenfalls

zwei, drei oder mehr Seelen in Ihrer Brust

fühlen?

Im Was ser falle Fra nangr fin gen die Asen den

ver ha ß ten Loki. Sie fes sel ten ihn mit den Där -

men sei nes Soh nes Wali und befe stig ten über

sei nem Haupte eine gif tige Schlange, so daß das

Gift auf Lokis Ant litz tropfte. Aber Sigün, Lokis

Frau, saß neben ihm und fing das Gift in einer

Schale auf, und wenn die Schale voll war, schüt -

tete sie sie aus.

Es gibt kei nen gewal ti ge ren und tie fe ren

Mythos des Wei bes als die sen. Die Poli tik ist gif -

tig. Das Weib soll Gift abwen den, nicht Gift ver -

brei ten.

Ich bin am Ende, meine Damen, und zweifle,

ob ich Sie über zeugt habe. Aber das Eine hoffe

ich bewie sen zu haben: Man kann gegen die

poli ti sche Betä ti gung der Frauen sein, weil

einem das Weib für die Poli tik nicht zu gering,

son dern weil einem das Weib für die Poli tik zu

gut ist.

Die Marien ba der Kur.

Meine Freunde haben es ver schul det. Sie haben

mich so lange gereizt. »Edu ard, du wirst zu

stark, Edu ard.« sag ten sie täg lich zu mir; die

Gefühl lo se ren sag ten: »zu dick,« die Gemüts ro -

hen: »zu fett.« Ich leug nete das ener gisch; aber

sie muß ten sich heim lich ver schwo ren haben;

denn sie sag ten es alle. »Ein gewis ses Embon -

point ist bei mir here di tär, habi tu ell, gehört

sozu sa gen zu mei ner Kon sti tu tion,« bemerkte

ich. Der glei chen drückt sich immer am besten in

Fremd wör tern aus. Ein rüdes Geläch ter ant wor -

tete mir. »Des halb,« fuhr ich fort, »ver schla gen

auch Ent fet tungs ku ren bei mir nicht das Gering -

ste.« »Ja, weil du sie nicht kon se quent durch -

führst.« johlte die Masse in vul gä rer Ein stim -

mig keit. »Ich – nicht durch füh ren?« ver setzte ich

mit mei ner über le ge nen Iro nie, »nun – das

werde ich euch bewei sen.« Und so ging ich nach

Marien bad.

»Sie gehen nach Marien bad?« fragte mich ein

wohl be leib ter Eisen bahn ge fährte. »Ei, da sind

Sie zu ben ei den. Marien bad ist entzüc kend.

Und schlem men kann man da, schlem men –!«

Ich bemerkte dem Manne mit einem sitt li chen

Ern ste, der – ich fühlte es – mir gut ste hen

mußte, daß ich nicht zu schlem men gedächte,

son dern mich einer sehr ern sten Mager kur zu

unter zie hen beab sich tigte.

»Ach so, Sie wol len fasten!« rief er über rascht.

»Na ja – kann man da auch,« fügte er nach läs sig

hinzu. »Dazu gehört aller dings ein star ker

Wille.«

»An dem soll es nicht feh len,« pre ßte ich durch

die auf ein an der ge bis se nen Zähne.

Er maß mich von oben bis unten und dann

von links nach rechts und sagte nichts, der

unhöf li che Mensch.

Vor dem Diner im Spei se wa gen sagte ich mir

logi scher Weise, daß es erst dann einen Sinn

habe, mit der Kur zu begin nen, wenn alle Bedin -

gun gen die ser Kur gege ben seien, daß system -

lose Halb hei ten in sol chem Falle sogar recht

gefähr lich wer den kön nen. Andrer seits war mir

wohl bekannt, daß bei sol chen Kuren ein mög -

lichst gro ßer Gegen satz zwi schen heut und mor -

gen nur zu emp feh len ist, weil näm lich der Kör -

per auf sol che schrof fen Über gänge mit einer

beträcht li chen Gewichts ab nahme rea giert. Das

Diner setzte sich für die ses Prin zip sehr gün stig

zusam men; es bestand aus Bouil lon mit Klö ßen,

Lachs mit May on naise, Mastoch sen bra ten mit

Mac ca roni, Plum pud ding und But ter und Käse.

Um den Choc, den der Kör per mor gen erhal ten

sollte, zu ver stär ken, nahm ich dazu eine Fla sche

Bier, eine halbe Fla sche Cli quot und zum Kaf fee

einen Bene dik ti ner. Danach legte ich mich in

meinem Abteil schlafen.

In Marien bad ange langt, begann ich meine

Kur auf dem Bahn hofe. Zwar mei nen Haupt -

kof fer über wies ich einem Trä ger; als die ser

aber auch den nicht unbe trächt li chen Neben kof -

fer an sich neh men wollte, sagte ich tri um phie -

rend: »Nein, lie ber Freund, jetzt wird selbst

getra gen«, nahm mei nen Kof fer und schritt hin -

aus. Die Fia ker vor dem Bahn hofe mach ten mir

ihre kom for ta bel sten Gesich ter, nann ten mich

»Herr Baron« und als mir das nicht zu genü gen

schien, »Herr Graf«; ich aber ver setzte ohne

allen Adels stolz: »Nein, meine Herren, jetzt wird

gegangen.«

Wenn ich ein mal eine Sache angreife, so tu

ich’s mit Ener gie.

Wenn ich gewußt hätte, daß der Bahn hof so

weit vom Orte ent fernt liege und daß meine

Woh nung dann auch noch ganz am ent ge gen ge -

setz ten, nörd lich sten Ende der Stadt gele gen sei

und daß der Weg dahin nicht allzu sanft

ansteige, so hätte ich viel leicht doch mei nen

Kof fer dem Trä ger über ge ben und wäre gefah -

ren. Aber wäh rend ich schwitzte, erhob mich

doch das Won ne ge fühl: Wenig stens fünf Pfund

schaffst du dir durch die sen Lei dens weg vom

Leibe. Wenn du das 3–4mal gemacht hast, bist

du dein Über ge wicht los. Aller dings – die ser

Gedanke erleuch tete mich blitz ar tig – das hät -

test du auch zu Hause haben können.

Meine Woh nung lag im drit ten Stock. Für die

Zumu tung, den Fahr stuhl zu benut zen, hatte ich

nur eine kurze, abwei sende Hand be we gung.

Das Zim mer kostete wöchent lich 50 Kro nen

ein schließ lich Tag- und Nacht ge schirr. Alles

andre mußte extra bezahlt werden.

Sobald ich mich eini ger ma ßen ein ge rich tet

und umge klei det hatte, eilte ich, mich wägen zu

las sen. Ich fühlte mich so leicht nach mei ner

Koff er trä ger ar beit.

In Marien bad hat jedes zweite Haus eine allein

rich tige Wage. Man setzt sich in einen beque -

men Stuhl und läßt seine Schwer kraft wal ten;

dann zeigt die Wage nicht nur das Gewicht an,

sie druckt es auch gleich auf einen klei nen Zet -

tel. Da stand: 94,8 Kilo.

»Sie sind wohl –!« rief ich unwill kür lich aus.

Das Wort »ver rückt« verschluck te ich ebenso

unwill kür lich wegen der Gerichts ko sten.

Der Mann beteu erte, daß sein Appa rat voll -

kom men tadel los funk tio niere. Ich warf meine

20 Hel ler auf den Laden tisch, ließ den Zet tel lie -

gen und ging, Ver ach tung in den Zügen,

hinaus.

Zwan zig Schritte wei ter trat ich in ein andres

Haus mit allein rich ti ger Wage. Der Zet tel

erschien und zeigte: 95 Kilo. Dies mal ver sah

eine Dame das Wäge amt; ich konnte also nicht

,mal »Sie sind wohl!« rufen.

Lang sam und sin nend schob ich den Zet tel in

die Westen ta sche und ver ließ das Lokal. Mir

war’s, als hätte ich Blei in den Glie dern.

Drau ßen kam mir die Erleuch tung. Ah, dacht

ich, die haben dir den Neu ling ange se hen. Das

sind Wagen für Ankömm linge. Jetzt wirst du

schlau sein. Mit ela sti schen Schrit ten betrat ich

ein drit tes Lokal und rief: »So! Zum Abschied

möcht, ich nun noch ein mal gewo gen sein!«

Dies mal ver zeich nete der Zet tel: 95,1 Kilo.

»Noch mehr! Es hängt

Gewicht sich an Gewicht,

Und ihre Masse zieht

mich schwer hinab.«

Erdrückt von der Wucht mei ner Per sön lich -

keit, schlich ich zum Arzt. Er behaup tete, ich

müsse mor gens 6 Uhr auf ste hen, zum Kreuz -

brun nen gehen, dort 3 Glas Brun nen mit Zusatz

eines gewis sen Sal zes trin ken, dann 1 1/2 Stun -

den spa zie ren gehen, danach dürfe ich früh stük -

ken. Der Mann hatte eine merk wür dige Aus -

drucks weise; unter »früh stüc ken« ver stand er: 1

Tasse Tee, ein Ei und einen Zwie back neh men.

»Ohne But ter!« rief der Herr Dok tor begei stert.

Mit tags dürfe ich dann eine Fleisch speise, ein

Gemüse, ein Kom pott und 1/2 Fla sche Bili ner

Was ser genie ßen. Und abends könne ich mir

eine Fleisch speise, ein Gemüse oder ein Kom pott

und, wenn es sein müsse, ein Krü gel Pil se ner

gestat ten. Für diese Bekö sti gung müsse ich aber

5–6 Stun den täg lich mar schie ren. Ich ver si -

cherte dem Arzte, die sen Vor schrif ten nach zu -

kom men, sei für einen Men schen von Wil lens -

kraft ein rei nes Kin der spiel, und vol lends für

mich, der ich von jeher mäßig zu leben gewohnt

sei.

Mor gen, gleich mor gen solle ich mit der Kur

begin nen, hatte der Arzt befoh len. Die ser

Abend war also noch mein. Ich traf in der Kai -

ser straße einen alten Freund, der mir ein Lokal

bezeich nete, in dem er jeden Abend mit eini gen

ver gnüg ten Leu ten zusam men treffe und wo es

ein vor züg li ches Pil se ner Bier gebe. »Pil se ner

Bier hat näm lich eine mild lavie rende Wir -

kung,« erklärte er mir. Und in der Tat: Pil se ner

Bier hatte mir ja sogar mein Arzt gestat tet.

Außer dem wäre es mir als unnö tige Schroff heit

erschie nen, die Ein la dung die ses lie ben Men -

schen abzu leh nen; ich ging also mit und trank

einige Krü gel. Ich fühlte wirk lich, wie mir

immer leich ter wurde, und wie auf Flü geln

schwebte ich um Mitternacht nach Hause.

Um sechs Uhr war ich auf den Bei nen, um

halb sie ben am Brun nen. In lan ger Pro zes sion

wall ten die Kur gä ste, jeder ein Glas in der

Hand, zur Quelle. Wo eine Lücke war, wollte

ich mich anspruchs los und unauf fäl lig dem

Gan zen ein fü gen; aber sofort bedeu tete mir ein

Auf se her, daß ich mich ganz am Ende anschlie -

ßen müsse. Nach zehn Minu ten kam ich zur

Quelle und erblick te dort ein merk wür di ges

Natur spiel: einen Mann, der fort wäh rend

pumpte und dabei unter tä nig grü ßte. Die Leute,

die pum pen, grü ßen sonst ganz anders. Ich

erhielt mein wohl ge füll tes Glas, schüt tete das

vor ge schrie bene Salz hin ein und setzte es an den

Mund. Mit unge heu rer Span nung kostete ich

dies Getränk. Es schmeck te wie Nie der tracht

mit Gemein heit. Es ist mir immer Grund satz

gewe sen, wid rige Dinge, die geschluckt wer den

müs sen, mit zuge drück ten Augen und mit einem

Schluck und Druck hin un ter zu set zen. Aber das

war hier ver bo ten. Zehn Minu ten lang solle ich

an dem Becher trin ken, hatte der Arzt befoh len.

In sol chen 10 Minu ten büßt man vie les ab. Frei -

lich macht eine recht gute Kur ka pelle Musik

dazu. Aber es ist nicht das Rich tige, wenn man

Mozarts Cham pa gner lied mit auf die Weste her -

ab hän gen den Mund win keln anhört; es ergibt

eine falsche Auffassung, wenn man sich bei dem

Seufzer

»O–o–o De–li–la!«

nach dem Bau che greift. Nach dem ersten

Glase trank ich ein zwei tes und ein drit tes. Sehr

sin nig schließt das Kon zert pro gramm regel mä -

ßig mit einem Galopp.

Dann kam der 1 1/2-stün dige Spa zier gang in

die aller dings höchst anmu tige und erfri -

schende, berg- und wald ge schmück te Umge -

bung Marien bads. Der Reiz der unbe kann ten

Land schaft ließ mich die mater iel len Dinge die -

ser Welt ver ges sen, bis ich durch ein nahes

Gebüsch das Geklap per von Tas sen und Tee -

löf feln ver nahm. Die Umge bung von Marien -

bad ist mit ver füh rer ischen Cafés geschwän gert;

»freu dig hin ge zo gen« trat ich ein und bestellte

mein Früh stück. Auch hier wurde Musik

gemacht, aber nicht zur Mil de rung, son dern zur

Ver schär fung der Kur. Nach einer äußerst

regel lo sen Car men-Phan ta sie wollte ich gerade

mein Ei und mei nen Zwie back genie ßen, als ich

inne ward, daß ich sie schon ver zehrt hätte. Mit

männ li cher Ent schie den heit sprang ich auf und

wan derte mei ner Woh nung zu, um ein wenig zu

ruhen, ein wenig an mei nem Trau er spiel »Ugo -

lino« zu arbei ten und mich auf das koh len saure

Bad mit kalter Abwaschung und Massage

vorzubereiten.

Beim Mit tag es sen saß mir gegen über ein

Mann, der jedes Mit ge fühls bar ein Menu von

sechs Gän gen aß. Um mich zu kasteien, las ich

das ganze Menu durch, einem Ath le ten gleich,

der, mit Kopf und Füßen auf zwei Stüh len lie -

gend, sich immer neue Zent ner ge wichte auf die

Brust legt. Über dem Menu stand geschrie ben:

»Ohne wei tere Aus wahl!!!!!!!«

Mit sie ben Aus ru fungs zei chen; ich habe sie

gezählt.

»Kann ich für den Kalbs bra ten auch was

andres haben?« fragte mein Gegen über.

»Aber natier lich.« ver setzte der Kell ner.

Da fragte ich mich: Wie viele Aus ru fungs zei -

chen macht man in die sem Lande hin ter einem

Gesetz, das wirk lich unum stöß lich ist?

Den aus fal len den Mit tags schlaf mußte ich

nach Anord nung des Arz tes durch eine vier -

stün dige Fuß wan de rung erset zen. Sie durfte

unter bro chen wer den durch eine Tasse Tee.

»Mit einem Zwie back,« hatte der Arzt in einer

Anwand lung von Schwä che hinzugefügt.

Ich wan derte 4 1/2 Stun den, trank 1 Glas

Kreuz brun nen und genoß zu Abend eine

Fleisch speise, ein Gemüse oder Kom pott und 1

Krü gel Pil se ner. Gehor sam ist des Chri sten

Schmuck.

Ein unver gleich li cher Trost in sol chen Zei ten

der Depres sion ist eine gute Ham bur ger oder

Bre mer Zigarre. Lei der hatte ich mir nur einen

win zi gen Vor rat mit neh men kön nen, weil

Zigar ren an der öster rei chi schen Grenze einen

unge heu ren Zoll kosten.

Wie ein arti ges Kind schlüpfte ich gegen 10

Uhr ins Bett, und diese Lebens weise setzte ich 5

Tage lang ohne nen nens werte Schwan kun gen

fort. Nur hatte ich mir am drit ten Tage beim

Früh stück gesagt: »Die paar Trop fen Sahne, die

zum Tee ser viert wer den, könn test du eigent lich

mit neh men. Zwar: Sahne macht fett. Aber ich

erin nere mich voll kom men deut lich, daß der

Arzt nicht gesagt hat: »ohne Sahne«. Der Mann

war sehr genau in sei nen Vor schrif ten; hätte er

die Sahne ver bie ten wol len, so hätte er es zwei -

fel los getan. Er hat sie also erlaubt, und da ich

mich streng stens nach sei nen Vor schrif ten rich -

ten will, so muß ich sie eigent lich neh men. Es ist

zwar nur ein Fin ger hüt chen voll; aber es ist

etwas mehr.« Seit diesem Tage nahm ich Sahne

zum Tee.

Als fünf Tage herum waren, sollte wie der

gewo gen wer den. Ich habe in mei nem Leben

ver schie dene Exa mina durch ge macht; aber mit

so fei er li cher Span nung, mit so freu dig-ban ger

Erre gung bin ich kei ner Prü fung ent ge gen ge -

gan gen wie die ser. Ich schwankte lange, wel cher

Wage ich mich anver trauen solle; end lich trat

ich in einen Laden, legte Hut, Über zie her,

Hand schuhe, Gum mi ga lo schen, Porte mon naie,

Taschen mes ser, Uhr und Schlüs sel bund ab und

bestieg den Schicksalsstuhl.

»92 Kilo,« sagte die wägende The mis.

»Den Zet tel!« stot terte ich.

Da stand es schwarz auf weiß: »92 Kilo.« Also

ein Gewichts ver lust von 3,1 Kilo, von 6 1/5

Pfund, von 3100 Gramm. Die Tugend hatte

ihren Lohn gefun den; Geist und Wille hat ten

über die Erden schwere gesiegt. »Hur rah!« flü -

sterte ich auf der Straße vor mich hin, »Hur rah:

Dar auf kann ein ver gnüg ter Abend stehen.«

Ich suchte mei nen Freund auf und das famose

Pil se ner-Lokal. Ich konnte mein Glück nicht für

mich behal ten; ich mußte mich mit tei len, und

noch eh, ich Hut und Man tel abge legt hatte, rief

ich: »6 Pfund! 6 Pfund ver lo ren! Der ehr li che

Fin der soll sie behal ten. Wie steh ich nun da?«

»Was?« schrie mein Freund. »Sechs Pfund in

fünf Tagen? Men schens kind, sind Sie des Deu -

bels? Wis sen Sie auch, daß Sie sich dabei den

schön sten Herz klaps holen kön nen?«

Ich erschrak und griff unwill kür lich nach der

Spei se karte. Mein Auge fiel auf: Filet bra ten mit

Mac ca roni. Und mir ward, als sprä che der

Herr: »Es sammle sich alles Was ser unter dem

Him mel« und mein Mund wäre der Sam mel -

platz. »Don ner wet ter,« stöhnte ich, »Mac ca roni

ess, ich so gern; aber sie setzen Fett.«

»Nanu?« machte mein Freund, »Mac ca roni?

Sie sind doch in Ita lien gewe sen. Wo sieht man

schlan kere, seh ni gere Gestal ten als in Ita lien?

Und das lebt den gan zen Tag von Polenta und

Mac ca roni.«

Ich muß geste hen: ich hatte einen Augen blick

den Arg wohn, daß mein Freund mich ver füh -

ren wolle; aber ich schämte mich sofort die ser

häß li chen Regung und bestellte mir Filet bra ten

mit Mac ca roni und reich li chem Käse.

Als ich schwankte, ob ich mir ein drit tes Glas

Pil se ner bestel len dürfe, fragte mich mein

Freund:

»Wie viel hat Ihnen denn Ihr Arzt erlaubt?«

»Einen Krug«, ver setzte ich.

»Macht vier«, sagte er.

»Wieso?«

»Nun, wenn er Ihnen einen gestat tet, so

nimmt er an, daß Sie zwei trin ken; ein guter Arzt

gestat tet sei nem Patien ten aber nur dann zwei

Krüge Bier, wenn er weiß, daß ihm auch viere

nicht scha den.«

»Ja, ein guter Arzt ist er,« rief ich, »er hat auf

mich den Ein druck eines sehr intel li gen ten und

gewis sen haf ten Man nes gemacht.«

»Na also!« rief mein Freund, und ich bestellte

zunächst das dritte Glas. –

Am näch sten Mor gen erschien ich erst um

halb neun am Brun nen, weil ich erst um 8 Uhr

auf ge stan den war. Der Mor gen spa zier gang fiel

daher aus; das Gefühl der Sät ti gung aber, das

mich noch vom Abend vor her erfüllte, kam

dem Fort gang mei nes »Ugo lino« glän zend

zustat ten. Die Zei len flo gen nur so aufs Papier.

Das Hoch ge fühl gelun ge ner Arbeit regt wohl

bei allen Men schen den Appe tit an. Mein dies -

ma li ges Gegen über am Mit tags tisch ver zehrte

ein Rie sen stück von einem Karp fen auf böh mi -

sche Art. Ich fragte den Kell ner, ob noch ein so

gutes Stück da sei, und als er es bejahte, bestellte

ich es. Im übri gen aber hielt ich mich streng an

die Vor schrift und aß nur noch eine Fleisch -

speise, ein Gemüse und ein Kom pott nebst Brot.

Ebenso blieb ich am Abend streng bei mei ner

Diät, und wenn ich mir dar über hin aus eine Por -

tion Palat schin ken bewil ligte, so wird nur der

etwas darin fin den, der diese Speise nicht kennt.

Palat schin ken sind ganz dünne Pfann ku chen,

die mit Kom pott oder Frucht ge lee bestri chen

und dann auf ge rollt wer den. Wenn ich den

Erfin der die ses Gebäcks kennte, so würde ich

ihm ein Denk mal errich ten, und wie man

Gelehrte, Dich ter und Staats män ner auf ihren

Monu men ten wohl mit einer Per ga ment rolle

dar stellt, so würde ich ihm einen Palat schin ken

in die Hand geben. Außer dem muß man wis -

sen, wie sol che Sachen in Öster reich berei tet

wer den. Ich lobe die öster rei chi schen Mehl spei -

sen (die man dort merk wür di ger weise »Müll -

spei sen« nennt) grund sätz lich, weil, wer das

unter läßt, beim näch sten Wie der be tre ten des

Lan des als lästi ger Aus län der aus ge wie sen wird;

aber ich lobe sie auch aus inner ster Über zeu -

gung. Sie wer den selbst von den Ham bur ger

Köchen nicht erreicht – sapienti sat.

So lebte ich aber mals fünf Tage in Fasten und

Kastei un gen dahin, mir nur hin und wie der

einen klei nen Sei ten sprung gestat tend, um das

allzu schnelle Ent fet tungs tempo wohl tä tig zu

ver lang sa men. Der »Herz kol laps« stand mir als

war nen des Gespenst vor Augen. Dabei war ich

so inten siv mit mei ner Arbeit beschäf tigt, daß

ich mir beim Früh stück aus rei ner Zer streut heit

zwei Eier oder But ter oder Schin ken, ein mal

sogar alles zugleich kom men ließ und in Gedan -

ken ver zehrte. Am zehn ten Tage schritt ich fröh -

lich zur Wage. Nach mei nem Spie gel bilde und

mei nem All ge mein ge fühl schätzte ich meine

Gewichts ab nahme auf 3 Pfund. Das Resultat

lautete: »94,5 Kilo.«

»Sie müs sen sich irren!« rief ich.

»Bitt schön, schauen der Herr selbst nach,«

sagte der Mann und gab mir den Zet tel.

»Dann ist Ihre Wage nicht rich tig.«

»Bitt schön, das ist die genaue ste Wage in ganz

Marien bad.«

Gewo gen und zu schwer befun den, ein umge -

kehr ter Bel sa zar ver ließ ich wan kend das Haus.

Ich ging in eine Buch hand lung und kaufte mir

das Heft: »Wie werde ich ener gisch?« und

begann meine Kur von vorn.

Ich trank Brun nen, daß ich zeit wei lig an der

fixen Idee litt, ich sei ein Rohr der städ ti schen

Was ser lei tung; ich knap perte mor gens mei nen

ein sa men Zwie back und scherzte dazu blu ten -

den Her zens mit der appe tit li chen Kell ne rin,

»ich kroch durch alle Krüm men des Gebirgs«,

die in der Umge gend Marien bads auf zu fin den

sind, »den Durst mir stil lend mit der Glet scher

Milch, die in den Run sen schäu mend nie der -

quillt,« und schwitzte, oder, wie der Gebil dete

sagt: tran spi rierte, daß man die dis jecta mem bra

poe tae in der gan zen Gemar kung hätte zusam -

men le sen kön nen. Beim Mit tag es sen saß ich mit

nie der ge schla ge nen Augen wie eine züch tige

Pasto ren toch ter, um die andern nicht essen zu

sehen; denn, weiß der Teu fel, obwohl ich jeden

Tag anderswo saß, immer hatte ich zum Gegen -

über einen Schlem mer und Fres ser, der einen

Rekord bre chen zu wol len schien. Eine Toch ter,

die mir in die sen Tagen schrieb, daß man zu

Hause eine »gro ß ar tige« Aal suppe mit

Schwemm klö ßen geges sen habe, ver stieß ich

auf tele gra phi schem Wege. Mein »Ugo lino«

rück te natür lich nicht von der Stelle. Mei nem

»Freunde« wich ich, wenn ich ihn von wei tem

sah, in größt mög li chem Bogen aus. Ja, die ser

»Freund«, er konnte lachen; er war ein »hage rer

Wol lüst ling« wie Cal ca gno, »Bil dung gefäl lig

und unter neh mend«; er konnte machen, was er

wollte, er war und blieb geschmei dig wie ein

Rapier. Man klagt ein Lan ges und Brei tes über

die unglei che Ver tei lung des Besit zes, über die

unglei che Ver tei lung der Gei stes ga ben, über die

unglei che Ver tei lung von Schön heit und Kör -

per kraft; aber gibt es eine schrei en dere Unge -

rech tig keit, als daß Men schen jahr aus, jahr ein

Diners von 15 Gän gen mit zuge hö ri gen Wei nen

und Likö ren ver til gen, ohne auch nur um die

Dicke eines Lin den blätt chens zuzu neh men?

Muß einen nicht ein darmzerfressender Neid

durchwühlen, wenn man das ansieht und um

jeden elenden Kartoffelschmarrn ein Pfund

schwerer wird?

Das Trau rig ste in die sen dunk len Tagen war,

daß meine hei mi schen Zigar ren alle gewor den

waren. In Öster reich wer den die Zigar ren von

der Regie rung gedreht. Sie wer den aus einem

tabak ähn li chen Stoffe ver fer tigt (ich halt es für

eine Art Baum wolle), sind nicht bil lig, bren nen

aber vor züg lich und rie chen nicht. Man kann sie

Säug lin gen geben, die die Mut ter milch nicht

ver tra gen. Der öster rei chi sche Patriot pflegt

seine Zigar ren zu ver tei di gen, indem er sagt: »Ja

frei lich, unsere Zigar ren tau gen nichts; aber das

ist das Gute am Mono pol: man kriegt sie in der

gan zen Mon ar chie, auch im klein sten Dorf, in

der näm li chen Qua li tät.« Übri gens stimmt das

nicht ein mal; denn in den klei nen Spe zer ei ge -

schäf ten auf den Dör fern wer den sie gewöhn -

lich zwi schen Petro leum und Chlor kalk auf be -

wahrt, und dann rie chen sie. Frei lich hal ten sie

auch dann kei nen Ver gleich aus mit den ita lie ni -

schen Zigar ren. Aus einer Zigarre in Vene dig

roch ich ein mal Seife, Zimmt, Gor gon zola,

Buch druc kerschwärze, ran zi ges Öl, Rha bar ber -

trop fen, Kaffe und muf fig gewor dene Spag hetti

her aus. An der Schwei zer Grenze fragte mich

ein Zoll be am ter, ob ich auch ita lie ni sche Zigar -

ren im Koffer hätte. »Herr!« rief ich außer mir,

»wie kommen Sie dazu, mir Perversitäten

zuzumuten?!«

Warum ich mir keine Zigar ren von Deutsch -

land her ein ge schmug gelt hatte? Ich halte mich

nicht für berech tigt, einen Staat, mit dem wir

einen Drei bund geschlos sen haben, in sei nen

Finan zen zu schwä chen. Offen gestan den, hatt,

ich’s auch vergessen.

An einem die ser Tage, von denen schon der

Kohe leth sehr rich tig bemerkt, daß sie uns nicht

gefal len, stand ich gedan ken voll vor dem Stadt-

und Post hause, noch beschäf tigt mit einem

Brief, in dem mir Weib und Kin der ihre Ver las -

sen heit klag ten. Wie gern wär ich zu ihnen

geeilt, wenn nicht Pflich ten gegen das schnöde

Fleisch mich an die sen Mar ter ort gebannt hät -

ten. Da fiel eine Hand auf meine Schul ter, und

neben mir stand mein Freund Calcagno.

»Famos, daß ich Sie treffe!« rief er, »gerade

wollt, ich Ihnen schrei ben. Also mor gen um drei

Uhr kom men ein paar nette Kerle zu mir zu

einem ein fa chen Mit tag es sen. Tun Sie mir die

Liebe, mit von der Par tie zu sein.«

Ich kannte seine »ein fa chen Mit tag es sen«;

Lucul lus war Kaser nen kü che dage gen. Ich

lehnte ab unter Hin weis auf meine Kur.

»Aber Teu er ster, Ihre Kur soll nicht das

Gering ste dar un ter lei den. Lau ter leichte

Sachen! Schließ lich brau chen Sie ja nur zu essen,

was sich mit Ihrer Kur ver trägt! Und wenn Sie

nicht wol len, essen Sie gar nichts! Wenn Sie nur

dabei sind!«

Ich bemerkte noch ein mal mit vor Ent schlos -

sen heit beben der Stimme, daß ich fest blei ben

müsse.

»Aber jeder ver nünf tige Arzt gestat tet doch

Aus nah me tage; er schreibt sie sogar vor.

»Meide die Gewohn heit,« sagt Schwe nin ger, ein

Mann, der Bis marck ent fet tete! Wenn Sie sich

an diese Lebens weise gewöh nen, wer den Sie

dick statt mager. Es ist eine bekannte Beob ach -

tung, daß Sträf linge sogar bei der Zucht haus me -

nage fett werden –«

»Sie haben recht!« rief ich im fro hen Gefühl,

eine neue Wahr heit gefun den zu haben, »ich

komme; ich komme bestimmt!«

»Na bravo! Das ist ein Man nes wort. Sie wer -

den sehen, es wird nett!«

O, ob es nett wurde! Es gab Kaviar, getrüf felte

Gän se le ber, Brüs se ler Pou larde, Lan gu sten,

Zun gen ra gout, Sor bet usw. usw. Dazu 68er

Stef fans berg, 93er Hat ten hei mer Bild stock, 69er

Lafite Schloß-Abzug, 47er Yquem, ganz alten

Heid sieck; kurz: Weine von einem unglaub li -

chen Innen le ben und von einem Alter, daß man

bei jedem Glase unwill kür lich nach dem Kopfe

griff, um ehr er bie tig den Hut abzu neh men. Und

zu jedem Gericht und jedem Wein gab der Wirt

nicht ohne Scharf sinn eine über zeu gende Erklä -

rung, warum und inwie fern sie kur ge mäß

wären. Von dem alten Heid sieck zu trin ken,

ver bot mir gleichwohl meine Selbstzucht.

»Auf Sekt will ich denn doch lie ber ver zich -

ten,« erklärte ich und hielt die Hand übers Glas.

»Warum denn gerade auf Sekt?« rief Cal ca -

gno mit gren zen lo sem Erstau nen. »Alle Renn -

pferde krie gen Sekt. Haben Sie schon ein mal ein

kor pu len tes Renn pferd gesehen?«

Für streng logi sche Schlüsse habe ich immer

eine Schwä che beses sen; ich zog meine Hand

zurück. – – –

Andern Mit tags, als ich auf ge stan den war,

schlen derte ich über die Kreuz brun nen pro me -

nade und entdeck te dort eine auto ma ti sche

Wage mit der Über schrift: »Wie viel wie gen

Sie?« Ich fand diese Frage zwar etwas dumm -

dreist; aber ich konnte ihr doch nicht wie der ste -

hen, stieg auf, steck te 20 Hel ler in den Schlitz

und konstatierte 94 Kilo.

Also das war nun der ganze Erfolg nach drei

Wochen des Dar bens, Kurie rens und Kastei ens.

Ein gan zes Kilo gramm!

Halt – an dem Auto ma ten befand sich auch

eine Tabelle, nach der man genau fest stel len

konnte, wie viel man wie gen dürfe. Ich fand, daß

mei ner Kör per länge ein Gewicht von 65 Kilo

ange mes sen wäre. Also hätte ich 30 Kilo zu viel,

und sie zu besei ti gen, for derte 90 Wochen

Marien bad. Es war doch gera dezu lächer lich,

solch einen Ort für Ent fet tungs ku ren zu

empfehlen.

Ebenso lächer lich war übri gens diese Tabelle.

Als ob man so rein mecha ni stisch die Lei bes -

stärke eines Men schen vor schrei ben könnte, als

ob sie nicht indi vi du elle Bestim mung wäre wie

meine Augen, meine Stimme, meine Hand,

mein Tem pe ra ment. Ich ging die Reihe mei ner

Ahnen durch bis ins 15. Jahr hun dert – soweit

ich sie kannte, waren sie mei stens – oder doch

gro ßen teils wohl be leibt gewe sen. Es war also

meine Bestim mung, dick zu sein. Was wuß ten

die Ärzte von mei ner Bestim mung! Gewiß war

es ver nünf tig und gera ten, einem Über maß vor -

zu beu gen. Das wollt, ich ja auch, tat ich ja auch.

Aber wie weit man gehen darf, das kann kein

Auto mat und kein Arzt bestim men; das muß

man selbst füh len. Ein ver nünf ti ger und leid lich

gebil de ter Mensch soll sein eigener Arzt sein.

Danach beschloß ich nun zu han deln, und da

gerade mein Geburts tag war, aß ich ein Gericht

Knö del, wie ich sie so sehr liebe. Ich wußte

wohl, daß ich nach die sen Knö deln wie der

Gewis sens bisse füh len würde; aber Gewis sens -

bisse machen mager, und so wurde die

gewünschte Wir kung auf einem Umwege doch

erzielt.

Als ich das Restau rant ver las sen hatte, begeg -

nete mir mein Namens vet ter Edu ard VII., der

stel len weise erha bene Stamm gast die ses Kur -

orts. Nun ja – war die ser Mann nicht eine wan -

delnde Reklame gegen Marien bad? Wie viele

Jahre kam er nun schon hier her und noch

immer war er dick, min de stens so dick wie ich.

Und übri gens regiert die ser Mann trotz sei ner

Beleibt heit das kor pu len te ste Reich der Welt.

Jawohl: das eng li sche Volk nimmt ihm den grö -

ß ten Teil der Arbeit ab; aber außer halb sei nes

Rei ches hat er doch sehr viel zu tun! Und was

mich anbe langt, so mach ich mich trotz mei nes

Embon points anhei schig, jeder zeit sei nen

Posten zu über neh men, obwohl ich in die ser

Hin sicht nichts weni ger als Stel len jä ger bin und

mich um die Stel lung Niko laus des Zwei ten

oder Peters von Serbien nie beworben habe.

Hart näc kig wie ich in der Ver fol gung eines

ein mal gesteck ten Zie les bin, setzte ich bis zum

Ende mei nes Auf ent halts meine Kur ohne

Unter bre chung fort. Daß ich mich für das Diner

mei nes Freun des revan chierte, ist selbst ver -

ständ lich. Ich konnte mich unmög lich ein la den

las sen, ohne wie der ein zu la den. Um Exzes sen

vor zu beu gen, gab ich indes sen kein Diner, son -

dern nur ein Früh stück; daß meine Gäste erst

nach Mit ter nacht auf bra chen, ist nicht meine

Schuld, ich konnte sie doch nicht fortschicken.

So hatte sich denn unter den Mit glie dern die -

ses Krei ses ein höchst erfreu li ches Ver hält nis

her aus ge bil det, und die ses har mo ni sche Ein ver -

neh men fand in einem Abschieds es sen, das die

Her ren mir am Abend vor mei ner Abreise

gaben, sei nen natür li chen Aus druck. Die Her -

ren über häuf ten mich mit Auf merk sam kei ten

jeg li cher Art; sie hat ten ein Menu zusam men ge -

stellt, das aus schließ lich aus mei nen Lieb lings -

spei sen bestand, und woll ten es sich nicht neh -

men las sen, mich von der Fest ta fel direkt an den

Zug zu beglei ten. Ich nahm dies Aner bie ten mit

Ver gnü gen an, ließ mich aber selb ver ständ lich

durch allen Jubel und Tru bel in mei nem Pflicht -

ge fühl nicht beir ren. Unter dem Vor wande, daß

ich mir noch Hand schuhe kau fen müsse, trat ich

auf dem Wege zum Bahn hof in ein Hand schuh -

ge schäft mit allein rich ti ger Per so nen wage. Ich

legte alles ab: Hut, Man tel, Taschen mes ser

usw., nur nicht das Porte mon naie – es war von

kei nem Belang mehr – setzte mich in den Stuhl

und machte mich so leicht wie möglich.

»95,3 Kilo!«

Das »weit be schreyte« alt be rühmte Marien bad

hatte mir also nicht nur nichts gehol fen; es hatte

mir zu mei ner Fülle noch 2–300 Gramm hin zu -

ge bür det. Und auf die sen Schwin del war selbst

ein Goe the hin ein ge fal len!

Daheim schil derte ich mei nen Freun den bis

ins Ein zelne hin ein die Marien ba der Kur und

ihre Vor schrif ten.

»Und das hast du vier Wochen lang befolgt?«

rie fen sie wie aus einem Munde.

»Im gro ßen und gan zen – und im wesent li -

chen ja!« ver setzte ich mit einer gro ßen und run -

den Arm be we gung.

Warum die Kerle sich in die Rip pen stie ßen

und mein bester, treue ster Freund sogar laut

her aus pru stete, ist mir noch heute ein Rät sel.

Über den Umgang des Autors mitSchauspielern.

Ich weiß nicht, ob es all ge mein bekannt ist, daß

ich der glück liche Besit zer einer gro ßen diplo -

ma ti schen Bega bung bin. Daß ich mir schon

ver schie dent lich Belei di gungs pro zesse zuge zo -

gen habe, scheint dage gen zu spre chen, scheint

es aber nur. Ich gehöre eben nicht zur alten

diplo ma ti schen Schule, die durch Täu schung,

Hin ter häl tig keit, Heim lich keit, Über li stung und

Ver schla gen heit ihr Ziel zu errei chen suchte; ich

bin ein Schü ler Bis marcks und Bülows, die eine

Diplo ma tie der Auf rich tig keit, Ehr lich keit und

Offen heit ver tra ten und noch ver tre ten. Unsere

Regie rungs kreise haben frei lich bis her nicht den

wei ten Blick beses sen, mich zu einer Mit wir -

kung auf der Welt bühne zu beru fen; immer hin

aber habe ich hun dert fach Gele gen heit gehabt,

auf der Bühne, die die Welt bedeu tet und die

nicht sel ten eine fei nere Diplo ma tie ver langt als

das poli ti sche Thea ter, meine Befä hi gung zum

Staats mann über zeu gend zu bewei sen.

Zu den selbst ver ständ lich sten Eigen schaf ten

eines Diplo ma ten gehört die Ein sicht, daß man

mit den ver mie de nen Stän den, Bil dungs- und

Berufs klas sen der Men schen nicht auf die glei -

che Art ver keh ren dürfe. Der Sol dat will anders

behan delt sein als der Geist li che, der Land mann

anders als der Lyri ker, der Reichs kanz ler

anders als der Lift boy, ja selbst eine alte Stifts -

dame will anders genom men sein als eine Bar -

kee pe rin. Da ich nun als dra ma ti scher Schrift -

stel ler viel fach mit Schau spie lern in Berüh rung

gekom men bin, so liegt es nahe, daß ich mir

über den Umgang des Autors mit Schau spie lern

ganz bestimmte Regeln auf ge stellt habe, und

die sen Auto ren-Knigge sozu sa gen möchte ich

hier, im Aus zuge wenig stens, zu all ge mei nem

Besten, inson der heit zum Nutzen meiner

Kollegen vortragen dürfen

Der Ver kehr des Dich ters mit dem Schau spie -

ler beginnt schon mit der Ent ste hung des Dra -

mas. Der Schau spie ler emp fin det es mit Recht

als unwür dig, wenn der Dich ter bei der Schöp -

fung sei nes Wer kes nach dem Dar stel ler schielt,

auf »gute Rol len« bedacht ist, ja, einem bestimm -

ten Mimen gar »auf den Leib« schreibt. Der

Schau spie ler von heute weiß sehr wohl, daß die

Dich tung nicht um des Schau spie lers, son dern

der Schau spie ler um der Dich tung wil len da ist,

er weiß, daß ein Stück nicht aus lau ter guten

Rol len beste hen kann, weiß, daß es für einen

gro ßen Künst ler keine kleine Rolle gibt und

schickt darum auch die klein ste Par tie nicht

zurück. Der Dich ter zeige sich sol cher echt

künst le ri schen Gesin nung wür dig und bringe in

sei nem Stück so viel alte Damen, hin aus ge -

schmis sene Lieb ha ber, Brief trä ger- und Bedien -

ten rol len an, wie es ihm gut dünkt. Er kann

dadurch in der Ach tung der Dar stel ler nur

gewin nen. Des glei chen, wenn er Stüc ke mit

weni gen Per so nen schreibt. Kein Büh nen künst -

ler wird Goe thes »Iphi ge nie« einen »elen den

Schmarrn« nen nen, weil, auch beim besten Wil -

len des Direk tors, kein gan zes Burg thea ter per -

so nal darin beschäf tigt wer den kann. Der Autor

wende nicht ein, daß Goethe seit 77 Jahren tot

sei. Es wird ein Tag kommen, wo er ebenso

lange tot ist.

Wenn sein Stück auf einer Bühne erschei nen

soll, dann ver säume der Dich ter nicht, sämt li -

chen Pro ben von der ersten bis zur letz ten bei zu -

woh nen. Die Dar stel ler freuen sich schon mona -

te lang vor her auf sein Kom men; sie sagen es

selbst. Das Erste, was der jubelnd Umringte als -

dann zu tun hat, ist dies: er lese das ganze Stück

den Dar stel lern vor, oder noch bes ser: er spiele

es ihnen vor. Je bes ser er liest oder spielt, desto

gespann ter natür lich die Zuhö rer schaft, deren

Dank sich schließ lich in don nern den Bei falls sal -

ven ent lädt. Gerade der Schau spie ler emp fin det

den von Tra di tion und Rou tine freien Vor trag

eines Nicht schau spie lers stets als ein wah res

Lab sal, und mit wahr haft rüh ren dem Eifer

bemüht er sich, dem Vor tra gen den alles bis ins

Ein zelne hin ein nach zu ma chen. Sollte der eine

oder andere Dar stel ler dem Autor den noch

nicht zu Dank spie len, so schil dere er ein ge -

hend, wie glän zend ein ande rer Schau spie ler an

einer ande ren Bühne die selbe Stelle zur Gel tung

gebracht habe, dann wird es der gegen wär tige

Dar stel ler sofort ebenso machen. Auch ist es

dem Schau spie ler sehr erwünscht, wenn der

Dich ter ihn bei jeder Stelle, die ihm nicht gefällt,

sofort unter bricht und ihm in einer län ge ren

und gedie ge nen Abhand lung aus ein an der setzt,

was die ser Pas sus eigent lich zu bedeu ten habe.

Andrer seits unter stütze er den Eifer der Dar stel -

ler durch öftere Zwi schen rufe wie »Gar nicht so

schlecht!« oder »Nun, nun, es wird schon wer -

den!« oder »Kei nes wegs talent los!« u. dgl.;

beson ders bei län ge ren lei den schaft li chen Ent la -

dun gen ähn lich der des flu chen den Lear wir ken

sol che Zurufe stets anfeu ernd. Damen und

jugend li che Lieb ha ber wer den, wenn ihr Spiel

und ihre Erschei nung die rechte Jugend lich keit

ver mis sen las sen, es dem Dich ter Dank wis sen,

wenn er sie sofort dar auf auf merk sam macht;

Damen sind über dies für Winke, wie sie ihre

Toi lette geschmack voller gestal ten kön nen,

jeder zeit emp fäng lich. Wenn sie sich umge kehrt

zu jung, zu hübsch und ele gant gemacht haben

und der Autor ihnen vor stellt, daß sie sich noch

min de stens 10 Jahre hin zu schmin ken müß ten,

dann wer den sie mit entzüc kendem Erstau nen

bemer ken, daß sie dies ja schon getan hät ten;

wenn er sie aber an die gebie te ri schen For de run -

gen der Kunst gemahnt, wer den sie gern in ihre

Gar de robe zurück kehren und aber mals zum

Schmink topf grei fen. Dabei kommt es frei lich

vor, daß sie sich ver grei fen, und wenn sie auf die

Bühne zurück kehren, noch 10 Jahre jün ger aus -

se hen. Indes sen sind diese Damen von einer so

bestric kenden Logik, daß sie Sha ke spea ren,

wenn er sich noch ein mal ent schlie ßen sollte,

einer Macbeth-Probe beizuwohnen, die

Versicherung abnötigen würden, er habe sich

die Hexen selbstverständlich als blutjunge,

fesche und elegante Weiberln gedacht.

Ist end lich der Augen blick der Pre miere her -

an ge kom men, so wün sche der Autor vor

Beginn der Auf füh rung jedem ein zel nen Mit wir -

ken den Glück, genau wie man es bei Beginn der

Jagd zu tun pflegt. Er zeige sich zuver sicht lich

und sie ges ge wiß und rufe ein mal übers andre:

»Alles wird gut ge hen! Der Erfolg kann nicht

aus blei ben!« Wenn die Schau spie ler dann drei -

mal ausspuc ken, so bedeu tet es Zustim mung.

Sollte trotz dem der eine oder andre von ihnen

ver sa gen, so mache der Autor ihn unver züg lich

nach sei nem Abgang dar auf auf merk sam, daß

er heute nicht auf der Höhe sei; er wird dann in

den fol gen den Sze nen viel bes ser wer den. Ein

bei den Pre mie ren teu feln sehr belieb ter Unfall

sind die Sprünge im Dia log. Der Schau spie ler

springt z. B. ver se hent lich aus der 2. Szene in die

9. oder aus dem 1. Akt in den 3. Dann ist es sehr

wün schens wert, daß der Antor einen Platz hin -

ter den Kulis sen habe, von dem aus er die ganze

Bühne über sieht und dem Dar stel ler jeder zeit

durch leb hafte Gebär den, Mie nen und Zurufe

auf die rechte Spur hel fen kann. Die ser fühlt sich

dann um vie les ruhi ger. Der Zwi schen akt ist

dann der geeig nete Moment, um gute Ein fälle,

wie sie dem Autor wäh rend der Pre miere zu

kom men pfle gen, noch in das Stück ein zu fü gen,

Strei chun gen vor zu neh men, Gestrichenes wie -

der her zu stel len, Masken und Kostüme zu

kritisieren usw. usw.

Wenn dann alles vor über und ein gro ßer

Erfolg erzielt ist und man sich danach irgendwo

beim Glase ver sam melt hat, dann halte der

Dich ter mit sei nem Danke nicht zurück und

spre che es unum wun den aus, daß, wenn der

Erfolg auch zwei fel los dem Stück zuzu schrei ben

sei, die Dar stel ler doch auch in gewis sem Sinne

zu dem Erfolge bei ge tra gen, jeden falls aber

nichts ver dor ben hät ten. In der Zei tung steht

näm lich am fol gen den Tage immer, daß nur die

Kunst der Dar stel ler den Schmarrn her aus ge ris -

sen habe, und wenn man da nicht vor beugt, so

glaubt es der eine oder andere Leicht gläu bige

unter den Schau spie lern. Auch unter lasse der

Toa stende nicht, genau den Rang anzu ge ben,

den die betr. Auf füh rung unter allen, die er gese -

hen hat, ein nimmt; er sage z. B.: Nach der Ham -

bur ger, der Stutt gar ter und der Mer se bur ger

Auf füh rung ist diese Ber li ner Auf füh rung ent -

schie den die beste.« Ein gutes Wort fin det

immer eine gute Statt. Aus klin gen lasse der

Autor sei nen Toast in einem Hoch auf die

Haupt dar stel ler. Sollte ein Zwei fel dar über

beste hen, wer diese seien, so bezeichne er sie

genau. Die sen verehre er auch sein Bildnis mit

einer angemessenen Unterschrift wie:

»Dem streb sa men und

flei ßi gen Künst ler.«

oder:

»Dem zweit be sten Dar -

stel ler mei nes Theo bald.«

oder:

»Dem wackeren Schau -

spie ler und unver gleich li -

chen Men schen.«

usw. usw.

Nicht zu bil li gen ist es, wenn der Autor jedem

Dar stel ler ein zeln sagt, daß er den Vogel abge -

schos sen habe. Es ist nicht zu ver mei den, daß

die Schau spie ler spä ter wie der zusam men tref fen

und die abge schos se nen Vögel

zusammenzählen.

Ähn lich wie den Schau spie lern gegen über ver -

halte sich der Autor im Ver kehr mit den Direk -

to ren, und wenn diese zugleich Schau spie ler

sind, sei er dop pelt auf rich tig. Direk to ren und

deren Gat tin nen, die an ihrer Bühne zugleich als

Dar stel ler wir ken, ver zeh ren sich vor Ver lan gen

nach dem unge schmink ten Urteil eines unbe -

fan ge nen Man nes, der nicht an ihrer Bühne

ange stellt ist; die sem Bedürf nis komme der

Autor in wei te rem Maße ent ge gen. Andrer seits

lobe er, wenn anders er Grund dazu hat, dem

Direk tor gegen über gerade die jen igen Künst ler

– und zwar in deren Bei sein – mit denen der

Direk tor gespannt ist, denen er viel leicht gar

gekün digt hat oder die eine Gagen er hö hung

gefor dert haben; denn nie mand weiß bes ser als

ein Thea ter di rek tor, daß justi tia das fun da men tum

auch der Theaterregierungen ist.

Wenn der Autor alle diese Regeln befolgt,

dann wer den sich die Schau spie ler zu sei nen

Stüc ken drän gen, und beson ders die Erkennt -

lich keit der Direk to ren wird keine Gren zen ken -

nen. Wenn man Dank bar keit im all ge mei nen

bei den Men schen ver ge bens sucht – beim

Thea ter und sei nen Direk to ren hat sie ihr Heim

auf ge schla gen. Ein Mime, für den ein Dich ter

ein mal einen Karl Moor geschrie ben hat, wird

in Zukunft aus nie ver lö schen der Liebe zu die -

sem Dich ter jeden Stier von Uri spie len, und ein

Direk tor, der ein mal mit dem Werk eines Dich -

ters einen gro ßen Erfolg und Gewinn erzielt hat,

wird fortan alles spie len, was der Dich ter

schreibt, und wenn er an die Aus stat tung eines

Stüc kes hun dert – ach, was sage ich! –

hundertundzwanzig Mark wenden müßte.

Bin ich also dafür, daß der Autor das »zarte,

leicht ver letz li che Geschlecht« der Büh nen -

künst ler mit dem sub til sten Fein ge fühl und mit

gewin nend ster Lie bens wür dig keit behandle, so

halte ich andrer seits dafür, daß der Dich ter den

glei chen Anspruch an die Schau spie ler erhe ben

dürfe, und es wäre drin gend zu wün schen, daß

ein Thea ter mann ein mal die Regeln für die

Behand lung der dra ma ti schen Auto ren zusam -

men stellte. Ich will gleich an einem Bei spiel zei -

gen, wie ich mir das denke. Neh men wir an,

dem Dar stel ler stieße wäh rend der Probe ein

Pas sus in sei ner Rolle auf, der ihm wenig gelun -

gen erschiene; wenn er sich dann unter bricht,

sich an den Kopf faßt und zu dem im Par kett sit -

zen den Autor mit schwe rem, tra gi schem Akzent

hin un ter ruft: »Herr Dok tor, soll ich das wirk lich

sagen??!!« so wird das auf den Ange ru fe nen

immer einen tie fen Ein druck machen, wenn

man ihn auch im Dun kel des Thea ter rau mes

nicht genau beob ach ten kann. Oder man denke

sich, der Dich ter beklage sich über Man gel an

Pro ben; dann wird es ihn trö sten und ihm wohl -

tun, wenn der Schau spie ler ihm mit füh lend die

Hand auf die Schul ter legt und lie be vol len

Tones spricht: »Lieb ster, ver ehr te ster Herr

Doktor! An dieser Bühne probt man nicht

einmal die wirklichen Dichter!« usw.

Ich habe die Absicht, die sen »Knigge« wei ter

aus zu ar bei ten und vor allem auf den Umgang

des Autors mit der Presse aus zu deh nen. Die

Presse – das weiß man – hat nur das eine Bestre -

ben: Wahr heit und Gerech tig keit um jeden

Preis zu sta bi lie ren und zu schüt zen. Die Frei heit

des Wor tes, die sie für sich ver langt, ist sie jeder -

mann zu gewäh ren jeder zeit bereit. Sie kennt

kei nen Boy kott und kei nen Ter ror. Darum

heißt auch den Büchern und Stüc ken von

Rezen sen ten gegen über die ober ste For de rung:

Ehr lich keit und Offen heit. Noch kürz lich habe

ich das bewährt gefun den. Die Gat tin eines

Thea ter kri ti kers über gab mir ihre Gedichte mit

der Bitte um mein ehr li ches, rück sichtsloses

Urteil. Sie fügte hinzu, daß sie gerade mir die ses

Buch beson ders gern zur Beur tei lung gebe, weil

meine Offen heit bekannt sei. Ich las die

Gedichte vom ersten bis zum letz ten und

brauchte mit mei nem Urteil um so weni ger

zurück zuhalten, als ich der jun gen und hüb -

schen Dame mit bestem Gewis sen sagen

konnte, daß mir eines die ser Gedichte nicht übel

gefal len habe. Sie sagte frei lich: »Gott, Sie gräß li -

cher Mensch!« schien also nicht ganz befrie digt

zu sein; aber sie hat sich, obwohl Schrift stel le rin,

mit kei nem Feder stri che gerächt: denn die

fürch ter li che Ver rei ßung meines Stückes, die

bald darauf in der Zeitung stand, war von ihrem

Gatten.

Daß trotz sol cher Erfolge die Diplo ma tie der

Auf rich tig keit noch nicht auf mich auf merk sam

gewor den ist – meine Schuld ist es nicht.

War nung vor der Som mer fri sche.

Schon in den äußerst fri schen Tagen des Januar

lagen sie mir täg lich in den Ohren:

»Vater, gehen wir dies Jahr in die Som mer fri -

sche?«

»Vater, wenn wir dies Jahr in die Som mer fri -

sche gehen, wohin gehen wir dann wohl?«

»Vater, wenn wir wie der an die Nord see

gehen, wann rei sen wir dann wohl?«

»Vater, wenn wir wie der rei sen, fah ren wir

dann zu Schiff oder mit der Eisen bahn?«

»Vater, wenn wir mit der Eisen bahn fah ren,

neh men wir dann wie der einen Zug mit Spei se -

wa gen?«

Man beachte, wie in die sen Fra gen die Vor -

aus set zun gen immer posi ti ver wer den.

»Es ist noch sehr die Frage, ob wir über haupt

rei sen,« sage ich. Das gibt für einen Tag Ruhe.

Am näch sten fragt das Jüng ste, das als äußer -

ster Posten vor ge scho ben wird, in sehr beschei -

de nem Tone:

»Vater, hast du dich schon ent schie den, ob

wir die sen Som mer rei sen?«

»Nein.«

»Vater, wenn wir dies Jahr wie der in die Som -

mer fri sche gehen, ich meine nur: wenn wir es

tun, wohin« usw. (Siehe oben.)

Im Grunde ist es ein Unfug, in die Som mer fri -

sche zu gehen, wenn unser Dorf und unser gro -

ßer Gar ten in Laub und Blüte pran gen und

Augen und Wan gen der Kin der so som mer -

frisch wie nur mög lich erglän zen. Und vol lends

hat ein »freier Schrift stel ler« kei nen Anspruch

auf der glei chen »Aus span nung«, wenn er so

streng peri odisch fau lenzt wie ich und dafür so

treff li che Worte wie »Medi ta tion« und »innere

Samm lung« zur Verfügung hat.

»Mut ter hat eine Erho lung sehr nötig,« sagt

eines der Kin der.

Ach so.

Ich halte die ses Mit ge fühl für höch stens fünf -

zig pro zen tig; aber der Satz hat seine Berech ti -

gung. Der freie schaf fende Schrift stel ler hat,

wenn er zufäl lig arbei tet, in eben die ser Arbeit

die köst lich ste Som mer fri sche, oder er soll lie ber

nicht schrei ben; das Weib aber, das die Danai -

den ar beit der Haus frau ver rich tet – was sie ord -

net, wird täg lich wie der ver wirrt; was sie rei nigt,

wird täg lich wie der unsau ber gemacht; was sie

kocht, wird täg lich wie der ver tilgt, und um so

siche rer, wenn es gut gekocht ist – das Weib

also, das um die täg lich schnur rende Spin del des

Haus halts den immer glei chen, endlosen Faden

dreht: das Weib muß hinaus.

Immer hin konnte man noch im Zwei fel sein,

ob die Gat tin und Mut ter in die sem Jahre durch -

aus erho lungs be dürf tig sei; sie selbst ver neinte

das ent schie den; aber als sie die Vor be rei tun gen

für die Reise und den fünf wö chi gen Kur auf ent -

halt von sie ben Per so nen getrof fen hatte, da

konnte nicht der gering ste Zwei fel mehr an ihrer

gründ li chen Erho lungs be dürf tig keit beste hen.

Man muß zuge ben, daß es eigent lich nicht sehr

sinn reich ist, durch wochen lan ges unun ter bro -

che nes Schnei dern und Bügeln, Ein kau fen und

Besor gen, Aus- und Einpac ken die hin rei chende

Abspan nung und Ner vo si tät für eine erfolg rei -

che Erfri schungs kur erst zu schaf fen; aber wie

sel ten sind die Hand lun gen der Men schen sinn -

reich. Und da Kin der das Gute in der Nähe nie -

mals fin den, da sie immer in die Ferne schwei fen

wol len, da Kin der in ihrem Den ken und Emp -

fin den über haupt fabel haft ungoe thisch sind

und nur durch Schaden klug werden können, so

müssen sie eben in die Sommerfrische.

Und das muß ich ja sagen: die Aus fahrt mit

der Eisen bahn ist lau tere Lust. Wir könn ten

auch zur See an unser Ziel gelan gen, und ich für

meine Per son bin eini ger ma ßen see fest; aber der

bloße Gedanke an die bloße Mög lich keit einer

Fami lien see krank heit braucht mir nur auf zu stei -

gen, und ich ent scheide mich sofort für die

Eisen bahn. Meine Frau und ich haben es so ein -

ge rich tet, daß die Fami lie gerade ein Wagen ab -

teil füllt.

Und da sit zen sie nun mit ihren zehn blan ken

Augen voll Fer nen lust und Erwar tungs ju bel.

Ich weiß nicht: ich muß mich immer hüten, daß

mir die Augen nicht feucht wer den, wenn ich so

viel jugend li che Erwar tungs freude sehe. Wenn

ich sage: »Da sit zen sie,« so ist das übri gens eine

Beschö ni gung. Wenn sie sit zen, so sit zen sie doch

alle fünf Minu ten auf einem andern Platze; im

übri gen machen sie sich soviel Bewe gung, wie

der Raum nicht zuläßt. Jede Tele gra phen stange

ist etwas Neues, jeder Stein koh len schup pen

etwas Schö nes, jeder auf sprin gende Hase ist ein

Aben teuer, jeder Bahn wär ter eine inter es sante

Bekannt schaft und jeder Kartof fel ac ker eine

Land schaft, oder, wie die Klein ste sagt: eine

»Lamp schaft« Indes sen: so eine Reise dau ert sie -

ben Stun den, und im Ver laufe von sie ben Stun -

den ver lie ren auch Tele gra phen pfähle ihren

Reiz. Ja, selbst Hasen zie hen nicht mehr. Dann

muß ich für die Hasen einspringen.

»Vater, mach, mal wie der Witze.«

Die ses Ver lan gen ist nicht so grau sam, wie es

sich der Leser wohl denkt. Unter »Wit zen« ist

hier nicht zu ver ste hen, was man in der Lite ra -

tur dar un ter begreift. Ein dum mes Gesicht zum

Bei spiel, das ich in ver schie de nen Varia tio nen

ganz aus ge zeich net zu machen ver stehe, ist ein

sehr guter Witz, und so alte Anek do ten gibt es

nicht, daß diese unver brauch ten Zwerch felle

nicht dar auf rea gier ten. Ich habe ver mut lich

gerade wie der einen glän zen den »Witz«

gemacht; das ganze Coupé »wälzt« sich; das

Jüng ste liegt oben im Gepäck netz und stram pelt

jauch zend mit den Bei nen – da öff net ein Husa -

ren leut nant die Tür, um ein zu stei gen. Die fünf

»ange reg ten« Kin der erblic ken und mit dem

Aus ruf »Barm her zi ger Him mel!« die Tür wie -

der zuschla gen, ist das Werk einer hal ben

Sekunde. Ich kann es ihm so tief nach emp fin -

den, und doch halt, ich unter den vie len Imper -

ati ven unse rer Tage nur wenige für so

befolgenswert wie den Imperativ: Reise mit

Kindern.

Wohl ver stan den: Ich habe nicht hin zu ge fügt:

»In die Som mer fri sche.« Denn das würde hei -

ßen: Reise mit 84 Hem den, 98 Unter ho sen, 120

Paar Strümp fen, 280 Schnupf tü chern usw. (Der

Leser ergänze das andere nach Pro por tio nal -

rech nung.) Wie meint der Leser? Man brau che

nicht so viel mit zu neh men, man könne ja an Ort

und Stelle etwas zur Wäsche geben? Gewiß

kann man das; aber der geneigte Leser ver su che

mal, es wie der zu bekom men. Sollte er ein Ver -

hält nis mit der Wäsche rin haben und seine

Sachen infol ge des sen noch vor Weih nach ten

zurück erhalten, so wer den sie nach einer

Schmier seife rie chen, daß er lie ber unge -

schneuzt durchs Leben wan delt als solch ein

Taschentuch an die Nase zu führen.

Die Eisen bahn oder das Schiff brin gen uns

nicht bis an den Ort unse rer Erho lung; da wir

Ruhe und Abge schie den heit suchen, ist das ja

soweit in Ord nung. Aber der Weg, den wir nun

noch mit tels Klein bahn und Wagen zurück -

legen müs sen, ist kei nes wegs in Ord nung. Ver -

mut lich hat der Leser ein mal gese hen und

gehört, wie ein schwe rer, mit Hun der ten von

losen Eisen stan gen und Blech plat ten bela de ner

Last wa gen über ein hol per iges Stra ßen pfla ster

fährt. Der geneigte Leser setze sich in Gedan ken

oben auf diese Eisen stan gen und Blech plat ten,

und er hat die Fahrt mit unse rer Klein bahn.

Wenn er sei ner Frau ins Ohr brüllt: »Wie geht

es dir, mein Schatz?« dann wird sie etwas

zurück schreien wie »Mon tag!« oder »Bra si lien!«

oder der glei chen. Diese Fahrt dau ert eine

Stunde. Man darf sie eben noch nicht als Som -

mer fri sche, son dern muß sie als Prä pa ra tion auf

die Som mer fri sche betrach ten. Dann folgt eine

Stunde Wagen fahrt. Wer diese hin ter sich hat,

ist unter allen Umstän den erho lungs be dürf tig.

Wenn man Erb sen auf eine Trom mel legt und

dann auf dem Fell einen Wir bel schlägt, so hüp -

fen die Erb sen genau wie Rei sende, die diese

Wagen fahrt machen. Die Kin der fin den das

zunächst sehr lustig und ver lan gen keine Witze

mehr von mir; ich wäre auch nicht in der Lage.

Aber schließ lich wer den sie müde und ver lan -

gen ins Bett. Zum Schla fen ge hen bedarf es frei -

lich noch ver schie de ner Dinge, die in den Kof -

fern sind. Und die Kof fer wer den, wie uns der

händereibende Wirt beruhigend versichert,

spätestens morgen früh nachkommen. ...

»Um 10 Uhr ist alles vor bei« – das ist ein tro -

strei ches Wort bei den Thea ter leu ten. Es gilt

auch für Bader ei sende, nur daß es gewöhn lich

meh rere Stun den spä ter wird und dann auch

noch nicht alles vor bei ist. Meine Frau hat die

Zier dec ken von den Bet ten genom men, und

–»mich faßt ein längst ent wohn ter Schauer«. Als

Kind mußte ich eine Zeit lang Leber tran neh -

men. Ich war um die Stunde des Ein neh mens

mit Vor liebe nicht anwe send, mußte immer erst

förm lich ver haf tet wer den, und wenn man mich

dann auf den Rücken legte, mir Arme und Beine

fest und die Nase zuhielt, dann nahm ich den

Tran, weil ich ihn wohl oder übel – häu fi ger

übel als wohl – neh men mußte. Ich schwelge

gern in den Erin ne run gen mei ner Kind heit;

aber um den Leber tran macht die Erin ne rung

noch heute mit zuge hal te ner Nase einen wei ten

Bogen. Diese Bet ten hier rie chen nach Tran.

Bett la ken, Über züge, Hand tü cher, Ser viet ten –

alles ist mit einer Seife gewa schen, die man mit

Tran berei tet hat. Meine Frau ver sprengt eine

Unmenge Par füm; aber dadurch kommt ein

Misch ge ruch her aus, der noch abscheu li cher

wirkt. Zum Glück hat die Natur das mensch li -

che Riech or gan so ein ge rich tet, daß es gegen

Gerü che bald abstumpft. Es hilft ja auch alles

nichts: end lich muß man doch liegen und

schlafen, und wir schlüpfen ins Bett.

Auf dem Hofe schlägt irgendwo eine Tür. In

der Som mer fri sche schla gen immer Türen.

Wenn die Tür noch so lie bens wür dig sein

wollte, in regel mä ßi gen Zwi schen räu men zu

schla gen, so hätte ich nichts dage gen. An rhyth -

mi sche Geräu sche gewöhnt man sich; sie haben

sogar etwas Ein schlä fern des. Aber nein; fünf

Minu ten lang denke ich unun ter bro chen: jetzt

hat sie sich beru higt, und wenn ich dann zufrie -

den die Augen schließe, dann knallt sie. Ich

werde mor gen natür lich unsere Wirte ersu chen,

die Tür zu befe sti gen; aber es wird wenig aus -

ma chen; denn mor gen wird dafür eine andere

Tür oder ein Fen ster schla gen. Wäh rend ich

stun den lang zwi schen Schlaf und Wachen liege,

beschleicht mich über dies ein wach sen des

Unbe ha gen, das ich mir anfangs nicht erklä ren

kann. End lich hab, ich’s her aus: mich friert.

Wenn die Bett dec ke so warm wäre, wie sie

schwer ist, dann wäre sie die wärm ste Decke der

Welt. Dazu kommt, daß durch die offen bar

nicht völ lig schlie ßen den Fen ster der in die sen

Him mels stri chen übli che Wind mit ermun tern -

der Fri sche her ein drängt. Ich sage mir ja, daß es

Som mer fri sche ist; aber ich steige schließ lich

doch wie der aus dem Bett her aus und suche,

was an Män teln und Decken vor han den ist,

zusam men, um damit die Fen ster zu ver hän gen

und mein Bett zu ergän zen. O mein hei mi sches

Bett – nur nicht dran den ken – nicht dran den -

ken –! Man geht ja in die Sommerfrische, »um

alles hinter sich zu lassen, was usw.«

Ich habe meine Vir tuo si tät im Fau len zen

gerühmt. Aber immer fau len zen, das ist das -

selbe, wie unun ter bro chen Reb hüh ner essen.

Ich pflege des halb in der Som mer fri sche des

Mor gens zu arbei ten, um den Nach mit tag mit

der hei te ren Ruhe eines pflicht treuen Man nes

totschlagen zu können.

Es ist Mor gen, und ich will also arbei ten.

Trotz der mise ra blen Nacht bin ich in gera dezu

schaf fens wü ti ger Stim mung; irgend eine Frucht

in mir ist im neun ten Monat. Ich eile in fie bern -

der Hast an die Kom mode, in der mein Schreib -

pa pier liegt. Die Schub lade läßt sich nicht öff -

nen. Som mer fri schen schub la den las sen sich nie

öff nen, diese aber schon gar nicht. Ich reiße und

zerre, klopfe und drüc ke – ver ge bens. Jetzt ist

mir warm – heut, Nacht wär, es mir lie ber gewe -

sen. Noch ein ver zwei fel ter, sozu sa gen tob süch -

ti ger Angriff – ich liege mit ten in der Stube und

die Schub lade oben auf mir. So was macht

Stimmung.

Nun die Tinte. Es ist nicht ein mal ein Tin ten -

faß da. Ich will die Klin gel zie hen – ach so, sie

geht ja nicht. Sie ging ja schon 1904 nicht; jetzt

haben wir 1908. Der gesunde Sinn der Land be -

völ ke rung ist kon ser va tiv; die ner vöse Hast des

Gro ß städ ters liegt ihm fern. Er denkt so wie

jener Kie ler Thea ter di rek tor, der, als sein Regis -

seur ihn mahnte, doch end lich ein mal zur Her -

vor brin gung nöti ger Büh nen mu si ken ein Kla -

vier anzu schaf fen, ent geg nete: »Ach, wozu

denn? Die Leute hier sind gar nicht für das

Übertriebene.«

Ich steige hin un ter in die Region der Wirte.

Nach lan gem Suchen finde ich die Wir tin am

Wasch kü bel. Feder und Tinte sol len sofort hin -

auf ge bracht wer den. Gut.

Der preu ßi sche Mini ster von Putt ka mer hat

ein mal erklärt, »sofort« könne auch »nach drei

Mona ten« bedeu ten. Er war auch Land be woh -

ner. Aber die Tinte ist schon nach einer hal ben

Stunde da.

Ich tau che mit gro ßem Schw unge die Feder

ein, um die Über schrift zu schrei ben – kein

Strich. Ich gucke ins Tin ten glas: auf sei nem

Grunde sitzt eine schwarze Kru ste, die vor Jah -

ren ein mal Tinte gewe sen sein kann. Ich also

wie der hin un ter zur Wir tin, um ihr die »Tinte«

zu zeigen.

»Ja, wir schrei ben ja nicht,« bemerkt sie achsel -

zuc kend, und aus ihrem Tone klingt ein unver -

kenn ba rer Vor wurf gegen mich her aus.

»Ja, wie bekomm, ich denn nun Tinte?« frage

ich beschei den.

»Sowie mein Mann zur Stadt geht, soll er

Tinte mit brin gen.«

»Wann geht Ihr Mann zur Stadt?«

»Jeden Sonn abend,« ver si chert sie beru hi gen -

den Tones. (Heute ist Diens tag.) Und die Frau

sagt das mit einem son ni gen Lächeln, als wenn

die deut sche Lite ra tur ruhig war ten und man

die Geburt eines Kin des nach Belie ben um fünf

Tage hin aus schie ben könnte.

Ich werde also zum Blei stift grei fen müs sen.

Das ist mir fürch ter lich; ich muß schöne, tief -

schwarze Schrift züge auf blü ten wei ßem Papier

vor mir sehen, das regt mich an. Mit Blei stift

kann ich nicht dich ten. Aber in der Not ...

Ich bin gewohnt, beim Arbei ten zu rau chen,

habe mir denn auch ein ansehn li ches Quan tum

erle sen ster Zigar ren mit ge nom men. Ich ent -

zünde eine davon – sie schmeckt nach Ancho -

vis. Alles nimmt hier See salz ge schmack an, die

Zigar ren aber beson ders. Man ent zünde einen

gesal ze nen Hering und ver su che, zu rau chen –

es schmeckt nicht.

Auch bin ich gewohnt, beim Arbei ten unauf -

hör lich auf und ab zu gehen. Hier knar ren die

Die len. Sämt li che Fuß bö den in sämt li chen Som -

mer fri schen knar ren ohne Aus nahme. Unmög -

lich, einen Gedan ken zu fas sen. Ich kann nichts

ande res den ken als: »Jetzt kommt gleich wie der

das knar rende Brett.« Ich suche einen andern

Weg durch das Zim mer. Da rum melt es. Jedes -

mal, wenn ich an eine bestimmte Stelle komme,

macht irgend etwas: »Rum bum bum bum bum«.

Eine halbe Stunde lang suche ich nach der Ursa -

che die ses imper ti nen ten Geräu sches. Ist es das

»schau er lich gedrehte« Weib im »Jugend stil«

unse rer Galan ter ie wa ren lä den, das auf der

Kom mode steht? Ich nehm, es und bette es

weich in die Ecke des Plüsch so fas – das

Geräusch bleibt. Ich nehme von dem »Phan ta -

sie schrank« sämt li che Nip pes her un ter und lege

sie zu der Dame aufs Sofa – es rum melt wei ter.

Halt. Der »Phan ta sie schrank« hat oben zwei

wun der voll gedrehte Zier knöpfe; sol che Knöpfe

sit zen in Som mer fri schen immer lose – rich tig:

ich brau che nur leise an den Schrank zu sto ßen

und sie fal len mir wie reife Früchte in die Hand

– ich lege sie zu dem Übrigen. Das Geräusch

dauert fort.

Unter des sen fault die Frucht mei nes Gei stes

auf dem Halme. Denn jetzt wäre ich allen falls in

der Stim mung, einige Men schen zu ermor den,

nicht aber, einem Kunst werk das Leben zu

geben.

Und zu Hause habe ich ein Arbeits zim mer –

oh, – von Nor den und Süden blic ken blauer

Him mel und grüne Bäume her ein, vom Süden

außer dem die Sonne; am Tage hilft mir die

Dros sel, am Abend die Nach ti gall bei mei nem

Werk; da knarrt nichts, da rum melt nichts; es ist

die Ruhe, die Samm lung selbst; es ist eine

bestän dige Inspi ra tion; mein Bar bier, wenn er

mich rasie ren kommt, sagt jedes mal: »Ja – hier

könnte ich auch dich ten.« – kurz: ich werde

mich hüten, es wei ter zu beschrei ben; der Leser

würde sonst aus ru fen: »Aber dann sind Sie doch

ein Quadrat-E—«

Nein, geneig ter Leser, Kubik-, bitte, Kubik-!

Aber was hilft diese Ein sicht? Das Beste ist:

nicht dran den ken, nicht dran den ken. Man

geht ja ins Bad, um »alles hin ter sich zu las sen,

was usw.«

Nach sol chem nütz lich ver brach ten Mor gen

geht man zum Essen. Wir gehen ins beste Hotel

die ses Kur or tes. Es gibt den bekann ten inter na -

tio na len Hotel fraß (Par don: aber jede Milde

wäre hier wirk lich unan ge bracht). Eine Speise

soll ein Kunst werk sein, und nun stelle man sich

ein Kunst werk vor, das ein Publi kum von Japan

bis San Fran cisco, vom Lyri ker bis zum Och sen -

kom mis sio när befrie digt. Die Suppe schmeckt

genau wie der Pud ding, der Gur ken sa lat genau

wie der Rehrüc ken. Und die Sauce, diese welt -

um span nende Grand Hotel-Sauce, die, wenn

man in Ham mer fest den Tel ler kippt, im näch -

sten Augen blick in Mes sina ist! War mes Was -

ser, in das man ein paar Trop fen Kaf fee schüt -

tet, würde die sel ben Dien ste tun. Aber eines

erfreut uns doch, mein Weib und mich: die Kin -

der, die Kin der! Man erlebt sein blaues Wun -

der! Sie, die zu Hause oft die leckersten Dinge

ver schmä hen, hier fin den sie alles herr lich und

himm lisch, auch den aus ge spro chen sten Buch -

bin der pud ding. Und wenn sie daheim durch

kei nen Zwang und keine Über re dung zu bewe -

gen sind, Ham mel fleisch zu essen – hier essen

sie Ham mel fleisch. Es ist ja etwas Anderes,

etwas Fremdes, etwas Neues. Außerdem heißt

es hier Mouton.

Um das Diner zu ver ges sen, legt man sich

zum Mit tags schlafe nie der. Die Über schüsse aus

den Som mer gä sten wer den gewöhn lich

zunächst in einem Kla vier ange legt. (Unrecht

Gut gedei het nicht.) Um diese Stunde übt das

Wirt stöch ter lein. Es spielt: »Sieh ste wohl, da

kimmt er, große Schritte nimmt er«, und bei die -

sen gro ßen Schrit ten tritt »er« immer auf f statt

auf fis. Außer dem »kimmt« er im schlep pend sten

Trau er marsch tempo. Man könnte ja allen falls

dabei ein schla fen, wenn nicht immer die ses ver -

dammte f wäre. Bums, da ist es wie der. – Jetzt

spielt sie was ande res. »Ich bin der kleine Postil -

lon.« In A-dur ohne Kreuze. Also schla fen ist

nicht. Rau chen ist auch nicht; hin un ter an den

Strand, zu den Meinigen.

Ich sage nichts gegen das Meer. Ich sage auch

nichts dafür; es braucht kei nen Für spre cher.

Aber hier ist kein Meer, hier ist Jung fern stieg,

Fried rich straße, Kärnt ner straße. In dem von

der Kur ver wal tung her aus ge ge be nen Pro spekt

heißt es »Stran di dyll«. Über haupt diese Kur pro -

spekte. Wenn irgend ein Nest am Was ser liegt

und eine Papier fa brik hat, dann heißt es »das

nor di sche Amalfi«. Was von der Kul tur in den

Woh nun gen und an der Hotel ta fel gilt, das gilt

auch hier: viel zu viel und viel zu wenig. Ich

habe alles gesagt, wenn ich sage, daß ein lie ber

Schneck von einem Kur gast ein Grammophon

mitgebracht hat.

Dazwi schen hör, ich von links:

»Der Caruso kriegt für jeden Abend 10 000

Mark.« und von rechts:

»Solange die Kon sols nicht min de stens 83 ste -

hen, ist nix zu wol len.«

Dabei ist dies einer der still sten, abge schie den -

sten Kur orte. Und Kin der sind hier, Kin der –!

Ich kann ja ver ste hen, daß man fünf Kin der hat;

aber sechs? Oder noch mehr?! Ich liebe Kin der

außer or dent lich, aber nicht ohne alle Aus wahl.

Es gibt Kin der, deren Eltern ich gern zwei mal

täg lich, ein mal mor gens und ein mal abends

durch prü geln würde, Kin der, deren sozia les

Emp fin den, deren Eigen tums be griffe, deren

gesell schaft li che Mög lich keit über haupt voll -

kom men unent wic kelt geblie ben sind. Diese

Som mer-Frisch linge zer stö ren mit inni ger

Freude, was fried li che Kin der gebaut haben,

und zei gen eine hef tige Anzie hungs kraft für

fremde Schau feln, Eimer und son sti ges Spiel -

zeug. Also wenn ich oben gesagt habe: Reise mit

Kin dern! so ist diese Auf for de rung nicht an alle

Eltern gerich tet. Wenn man die Eltern sol cher

Kin der dar auf auf merk sam macht, daß die

Spiel ge räte in den Hän den ihrer Klei nen eine

ver zwei felte Ähn lich keit mit gewis sen, kürz lich

abhan den gekom me nen zeig ten, so erfährt man

zu sei ner gro ßen Über ra schung, daß bei die sen

Kin dern jede Unart aus ge schlos sen sei. Gewisse

Behaup tun gen wir ken stär ker als alle Beweise.

Man schweigt und kauft neue Schau feln. Ich

habe schon ein klei nes Ver mö gen für Strand -

spiel zeug geop fert. In dem Pro spekt der Bade -

ver wal tung wird die ser Kurort natürlich auch

gegen Gelbsucht empfohlen; aber ich will mir

sie lieber gar nicht erst zulegen.

So schwer es auch fällt, sie sich vom Leibe zu

hal ten, wenn das Bett jeden Abend wie der nach

Tran riecht, wenn immer wie der eine Tür

schlägt, eine Klinke kreischt, eine Schub lade

nicht auf- und, wenn sie offen ist, nicht zugeht,

wenn alle drei Tage ein Kur gast im ansto ßen -

den Pavil lon bis zwei Uhr nachts »Geburts tag«

fei ert usw. usw. Prompt sind die Leute hier nur

in einem Punkte: die Rech nung erscheint mit

astro no mi scher Pünkt lich keit. Und wenn ich

mir die Rech nung betrachte, dann muß ich mir

aller dings sagen, daß ich mir zu Hause für das -

selbe Geld nicht ent fernt so viel Unbe quem lich -

kei ten verschaffen könnte.

Damit will ich ja gewiß nicht sagen, daß man

hier nicht auch hei tere, son nige Augen blic ke

ver lebte, wie zum Bei spiel damals, als ich mit

dem bie dern Sönke Harms sen (das steht auch

immer in den Kur pro spek ten, daß die Ein woh -

ner ein bie de rer Men schen schlag seien) eine

Segel par tie machte. Ich erzählte ihm, daß ich

vor kur zem mit Peter Pay sen eine Fahrt

gemacht hätte, daß aber Peter Pay sen nicht allzu

viel vom Segeln zu verstehen scheine.

»Der?« lachte er, »der is noch düm mer als ’n

Kur gast!«

»Na na, nun über trei ben Sie,« sagte ich.

»Nee!« rief er und ver zog den Mund bis an die

Ohren, »der is wiß un wah raf tig noch düm mer

als ’n Kur gast, hähähä!«

»Hähähä,« machte auch ich.

Sol che Augen blic ke ent schä di gen ja für vie les;

aber sie sind doch nur ver ein zelt.

Von einer Som mer fri sche aber muß ich noch

beson ders erzäh len.

Ich bezog nur ein klei nes Gehalt und war

trotz dem sehr erho lungs be dürf tig; noch erho -

lungs be dürf ti ger war mein armes Weib, das

kurz vor her ein schwe res Leid erfah ren hatte,

und am aller er ho lungs be dürf tig sten war unser

jüng stes Kind, das schon drei Jahre lebte und

doch nicht lebte, weil es noch kei nen Tag

gesund gewe sen war. Auf den Rat eines Freun -

des gin gen wir mit Sack und Pack in ein klei nes,

welt ver las se nes Fischer dorf an einer Bucht der

Nord see. Bei einem klei nen Bau ern hat ten wir

uns auf vier Wochen in Kost und Logis gege -

ben. Ich weiß nicht mehr, was ich zah len mußte;

aber es war auch nicht mehr wert. Das Meer

sahen wir nicht; wir sahen nur die Bucht, und

die war eigent lich nichts wei ter als ein gro ßer,

lang wei li ger, trüb se li ger Tüm pel. Die zwei Zim -

mer, die uns zur Ver fü gung stan den, waren

wenig über halb so hoch wie unsere Zim mer

daheim; dafür ent hiel ten sie aber eine sehr riech -

bare Luft, wäh rend unsere Luft zu Hause nach

gar nichts roch. Man kennt ja das hüb sche

Wort, daß die Luft auf dem Lande des halb so

gut ist, weil die Bau ern die Fen ster nicht öff nen.

Das stimmte hier nicht; wenn man die Fen ster

öff nete, dann wurde die Luft im Zim mer noch

schlech ter; denn rings um das ganze Gewese

stand eine zehn Meter dicke Mauer von Stall ge -

ruch. Unser Söhn chen frei lich faßte vom ersten

Tage an eine tiefe Nei gung zu dem Kuh- Schaf-

Pferde- Schweine- Gänse- Hüh ner stall; aber er

ent frem dete sich das Herz sei ner Eltern durch

das zusam men ge setzte Par füm, das er von dort -

her mit brachte. Wenn man sich durch Zim mer-

und Stall ge ruch hin durch ge run gen hatte, dann

kam man in eine dritte Zone, die des Fisch ge -

ruchs. Der Geruch von Dor schen beherrschte

das ganze Dorf und seine Umge bung. Obwohl

nun mei ner Frau wie auch mir der Fisch ge ruch

äußerst unsym pa thisch war, hät ten wir diese

gemä ßigte Zone den noch den bei den andern

vor ge zo gen, wenn nicht wäh rend unse res gan -

zen Auf ent hal tes mit gerin gen Atem pau sen ein

Sturm gewü tet hätte, gegen den sich Erwach -

sene nur mit grö ß ter Mühe, Kin der aber gar

nicht auf den Bei nen zu hal ten ver moch ten. Wir

hät ten uns ja viel leicht auf allen Vie ren fort be -

we gen kön nen, wenn da nicht noch ein ande res

Hin der nis gewe sen wäre: der Regen. Es reg nete

täg lich 25 Stun den, und unser guter Wirt sagte

selbst: »Wir haben ja schon man che schlechte

Som mers gehabt; aber die sen Som mer regent es

ja per ga ment!« Das war das tref fende Wort: die -

ser Regen war aus dau ernd wie Schweins le der.

Trotz alle dem gin gen wir mit den Kin dern, auch

mit dem jüng sten, so oft an den Strand, wie es

irgend durch zu set zen war, dann frei lich bis an

die Zähne bewaff net mit Win ter män teln,

Tüchern und dop pel tem Unter zeug. Den grö ß -

ten Teil der Zeit aber muß ten wir im Zim mer

ver brin gen, und da hat ten wir denn reich lich

Muße, über das Sinn rei che die ser gan zen Unter -

neh mung nach zu den ken. Ich las in die sen

Wochen viel Spi noza, das erfüllt mit einer gro -

ßen Resi gna tion und Geduld. Nur hin und wie -

der wurde ich durch unser kran kes Kindchen

unterbrochen, das am Boden kroch und die

Ärmchen nach mir ausstreckte. Dann mußte ich

es auf meiner Schulter reiten lassen und dazu in

der Stube auf und abgehend singen:

Alles neu

Macht der Mai

Macht die Seele frisch und frei!

und wir mach ten die Beob ach tung, daß es

immer öfter nach die sem Spiel ver langte und,

wäh rend es sonst ver drieß lich, wei ner lich und

mei stens teil nahm los gewe sen war, immer häu -

fi ger lächelte. Außer dem hatte ich die Auf gabe,

mei ner tief darnie der ge drück ten Frau die umge -

ben den Ver hält nisse als äußerst befrie di gend

dar zu stel len. Unser Zim mer nannte ich »trau -

lich« und »alt vä te risch behag lich«; den Stall fand

ich für unsern Jun gen sehr »anschau ungs- und

lehr reich«, und den Stall ge ruch »länd lich

gesund«, den Fisch ge ruch bezeich nete ich als

»eigen ar tig« und den Regen sturm als »gewal tig«

usw. usw. Sie hörte mich auch freund lich und

dank bar lächelnd an; nur als ich gewisse röt li che

Anschwel lun gen auf mei ner Haut als »die Reak -

tion auf die Ein wir kun gen des See was sers«

bezeich nete, wur den ihre Blic ke starr. Sie stürzte

nach mei nem Bett und stellte nach kurzer

Unter su chung die Diagnose: »Das sind

Wanzen!!«

Als wir unsern Wirt des we gen zur Rede stell -

ten, erklärte er mit ver letz ter Würde, in die ser

Gegend gebe es über haupt keine Woh nung

ohne Wan zen. Wir ver si cher ten ihm, daß wir

dann für diese Gegend wei ter kein Inter esse hät -

ten und lösten den Kontrakt.

Ich halte meine Frau für sehr geschickt in allen

Zwei gen ihres Haus frau en be rufs; aber mit sol -

cher Gewandt heit hab, ich sie nie mals einpak -

ken sehen wie an die sem Tage. Am näch sten

Mor gen stand der Wagen mit unsern Kof fern

vor der Tür, und wir ver ab schie de ten uns in

glän zen der Laune von unsern Wir ten, nach dem

wir drei Vier tel unse rer Som mer fri sche verbüßt

hatten.

Wäh rend ich dies schreibe, klingt vom Wohn -

zim mer her über das erin ne rungs voll lächelnde

Ada gio aus Mozarts C-moll-Sonate. Unwi der -

steh lich ange zo gen von die sem Ver gan gen heits -

liede, geh ich hin über – die Tür ist halb geöff net

– durch den Spalt seh, ich eine mei ner Töch ter

am Flü gel sit zen. Fest li che Sonne fällt durch hel -

les Lin den laub her ein und spielt um ihren Schei -

tel, die dasitzt: ein Bild gesun den, blü hen den,

lächeln den Lebens, ein ver kör per ter Jubel ge -

sang der Jugend.

Das ist sie, die die mage ren Ärm chen nach mir

ausstreck te, die drei Jahre lang nicht leben und

nicht ster ben konnte. ...

Und von Stund, an, als wir in jenem elen den

Fischer nest gewe sen waren, genas sie zuse hends

und ward frisch und leben dig an Leib und Seele.

Ich habe ja auch nichts gegen die Som mer fri -

sche gesagt. Nur gegen die Men schen hab, ich

gespro chen, gegen die Men schen, die sie uns

und sich selbst so jam mer voll ver der ben.