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Urteilsheuristiken
Schriftliche Hausarbeit zum Seminar Urteilen und Entscheiden im sozialen Kontext
von Dozentin Dipl. Psych. Anna Steidle angefertigt im Studienfach Sozialpsychologie von XY Adresse: XY
im SS XY
URTEILSHEURISTIKEN 2
Inhaltsverzeichnis
1 Was sind Heuristiken und wozu brauchen wir sie?
2 Die klassischen Heuristiken nach Tversky und Kahneman (1974)
3 Die Ankerheuristik
3.1 Ankereffekte bei Vorhersagen und Verhandlungen
3.2 Hinterher ist man immer schlauer – Ankereffekte im Alltag
4 Die Repräsentativitätsheuristik
4.1 Unempfindlichkeit gegenüber Urteilsprädiktoren und die Illusion von Validität
4.2 Falsche Vorstellungen von Regression und Zufall
5 Zusammenfassung und D iskussion
Literaturverzeichnis
URTEILSHEURISTIKEN 3
1. Was sind Heuristiken und wozu brauchen wir sie?
Normalerweise vergegenwärtigen wir uns nicht, wie alltäglich Urteile und
Entscheidungen in unserem Leben sind. O hne konkrete Entscheidungen beispielsweise würde
ich jetzt nicht diese Zeilen schreiben (auch wenn die Arbeit stark von extrinsischer
Motivation getrieben wird), ich würde weder das notwendige Programm, noch diesen PC
besitzen. Bereits anhand dieses kurzen Gedankengangs lässt sich erahnen, wie essentiell
Entscheidungen für unseren Alltag sind und mit welcher Routine wir sie zufrieden stellend
bewältigen. So muss man selten lange und explizit darüber nachdenken, was man als
Nächstes an seinem freien Tag machen könnte, denn in diesen Situationen wählen wir meist
spontan und „aus dem Bauch heraus“. Ähnliches gilt für Urteile, gerade in sozialen
Situationen. Vielleicht haben sie sich auch schon in einem Gespräch mit guten Freunden
dabei ertappt, den Beruf (bei Studenten noch typischer: den Studiengang) einer anderen
Person zu schätzen. Auch in diesen Momenten handeln wir zumeist anhand entspreche nder
Stereotype – und so ist der langhaarige, verträumte und mit Schal bekleidete Schlacks eher
Kunststudent als BWLer – obwohl die Basisraten von eingeschriebenen Studenten, die
objektiv unsere E ntscheidung leiten sollten, hier sicher eine andere Sprache sprechen (Werth,
2004).
In den oben beschriebenen Situationen wenden wir so genannte Heuristiken an. Diese
Daumenregeln erleichtern uns als kognitiven Geizhals die zahllosen Informationen
ökonomisch zu verarbeiten und im Normalfall auch zu guten Ergebnissen zu kommen. Doch
sind diese Heuristiken eben nur Daumenregeln und ersetzen damit eine eingehende Analyse
von Vor- und Nachteilen nicht eins zu eins (Werth, 2004). Per definitionem lässt sich aus
dieser Feststellung ableiten, dass es bestimmte Situationen gibt, in denen systematisch Fehler
auftreten. Um diese Systematik soll es im Folgenden gehen, damit uns das Wissen darüber
hilft, auch jene Situationen erfolgreich meistern zu können.
2. Die klassischen Heuristiken nach Tversky und Kahneman (1974)
Maßgeblich geprägt wurde die Forschung zu Heuristiken von den Psychologen Amos
Tversky und Daniel Kahneman, die, mit ihrem 1974 in der Science erschienenen
bahnbrechenden Artikel „Judgment under Uncertainty: Heuristics and B iases“, unsere Urteils-
und Entscheidungsfindung mit ihren Schwächen in das Licht des wissenschaftlichen
URTEILSHEURISTIKEN 4
Interesses rückten. Dabei postulierten sie folgende drei Heuristiken: a) die Verfügbarkeits-, b)
die Anker- und c) die Repräsentativitätsheuristik.
Bei der Verfügbarkeitsheur istik verwenden wir die Leichtigkeit des Abrufs von
Erinnerungen als Hinweis zur Schätzung von Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Effekte
der Ankerheuristik treten auf, wenn numerische Vorhersagen oder auch Verhandlungen um
bestimmte Werte (Werth, 2004) eine Rolle spielen. Die Repräsentativitätsheuristik wird
dagegen immer dann angewandt, wenn es darum geht die Beziehung zwischen Objekt und
Kategorie bzw. Ereignis und Prozess abzuschätzen. Hier dominiert oft die Passung zwischen
beiden Instanzen über statistische Wahrheiten. In dieser Ausarbeitung sollen vor allem die
beiden letztgenannten Urteilsheuristiken im Vordergrund stehen (für weitere Information zur
Verfügbarkeitsheuristik siehe z.B. Plous, 1993).
3. Die Ankerheuristik
Wie bereits eingehend erwähnt, treten Ankereffekte immer dann auf wenn uns eine
Zahl als Referenzwert genannt wird. Dies kann beispielsweise in Form einer Fragestellung
(Tversky & Kahneman, 1974) oder des Erstgebots bei einer Verhandlung (Werth, 2004)
geschehen. Das typische experimentelle Paradigma wäre zwei Gruppen von Probanden
zunächst eine Frage (als Coverstory z.B. zur Allgemeinbildung) zu stellen („Ist der Eiffelturm
höher als 200m bzw. 400m?“). Nachdem die Versuchsperson mit ja oder nein geantwortet hat,
wird sie nun um ihre eigene numerische Schätzung gebeten. Anhand dieses Paradigmas kann
man zuverlässig zeigen, dass sich die Schätzungen den jeweiligen Ankerwerten annähern und
somit allein die Formulierung der Frage unser „unabhängiges“ Urteil beeinflussen kann.
Tversky und Kahneman (1974) schlugen zur Erklärung dieses Effektes vor, dass die
Versuchspersonen nach oben bzw. nach unten adjustieren bis ihnen ein Wert plausibel
erscheint. Der Anker wirkt, weil die Adjustierung zu früh abgebrochen wird und damit nicht
angemessen stark ausfällt.
3.1. Ankereffekte bei Vorhersagen und Verhandlungen
Um die Frage nach den beteiligten Prozessen beantworten zu können, ist es hilfreich
ein elegantes Experiment von Mussweiler, Strack und Pfeiffer (2000) exempla risch zu
URTEILSHEURISTIKEN 5
betrachten. Die Autoren dieser Studie befragten entsprechend des typischen Paradigmas
(siehe Abschnitt 3) 60 Experten (Autohändler und Mechaniker) bzgl. des Wertes eines 10
Jahre alten Opel Kadett E. Der variierte Referenzwert in ihrer Frage lag für die Gruppe
niedriger Ankerwert bei 2 800 DM und für die Gruppe hoher Ankerwert bei 5 000 DM. Die
Ergebnisse für die beiden Gruppen sind in Abbildung 1 (Spalte keine Gründe) aufgelistet und
zeigen den typischen Ankereffekt (Differenz zwischen hoch vs. niedrig über 1 000 DM). Sie
könnten durchaus über mangelnde Adjustierung erklärt werden (vgl. Tversky & Kahneman,
1974).
Da der Ankereffekt sehr zuverlässig und robust ist (Werth, 2004), liegt es natürlich
besonders im praktischen Interesse mögliche Strategien dagegen zu finden. So führten
Mussweiler et al. (2000) eine weitere unabhängige Variable ein um diesen Effekt möglichst
eindämmen zu können. Schließlich geht es hier um bares Geld: den Marktwert des Fahrzeugs!
Dabei argumentierte nun der Besitzer des Opel Kadett E gezielt mit Gründen, die dem
gegebenen Anker widersprachen (Abbildung 1, Spalte Anker inkonsistente Gründe).
Tatsächlich gelang es den Autoren der Studie dadurch die Differenz auf unter 350 DM zu
reduzieren, was aber ebenfalls bedeutet, dass der Anker immer noch einen signifikanten
Einfluss ausübte.
Dass sich diese Ergebnisse aber eher durch das von Strack und Mussweiler (1997)
beschriebene positive Hypothesentesten erklären lassen, als durch die Adjustierungshypothese
von Tversky und Kahneman (1974) und dass das gezielte Argumentieren gegen die positiven
Hypothesen deswegen vergleichsweise effektiv ist (Mussweiler et al., 2000), konnte durch
weitere Studien zu den impliziten Plausibilitätsannahmen innerhalb der Theorien gezeigt
werden (Strack & Mussweiler, 1997). Die vorliegenden Befunde lassen damit auch rein
kommunikative Theorien zum Ankereffekt unplausibel erscheinen (vgl. Strack & Mussweiler,
1997).
Dass der Ankereffekt trotz gezie lter Argumentation gegen das positive
Hypothesentesten erhalten bleibt, legt bereits den Verdacht nahe, dass es wohlmöglich einen
weiteren Einflussfaktor geben könnte. Hierbei handelt es sich um ein semantisches Priming,
Abbildung 1. Mittelwerte der Studie von Mussweiler et al. (2000).
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welches Informationen, die zu dem jeweiligen Anker passen, für den Moment verfügbarer
macht (Werth, 2004).
3.2 Hinterher ist man immer schlauer – Ankereffekte im Alltag
Natürlich ist es mit diesem Grundlagenwissen nun interessant zu schauen, an welche n
sozialpsychologischen Phänomenen der Ankereffekt beteiligt ist. Hätten Sie zuvor gedacht,
dass Angela Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt wird? Diese Frage zeigt wie groß und vor
allem diskret dieser Einfluss sein kann an dem Beispiel des hindsight bias. Der
Rückschaufehler (auch I-knew-it-all-along-Effekt) beschreibt, dass wir rückblickend unsere
Vorhersagekompetenz überschätzen, wenn wir den Ausgang eines Ereignisses bereits kennen.
Würde man zum jetzigen Zeitpunkt eine Umfrage zur Kanzlerinnenfrage stellen und diese mit
den Meinungen direkt vor der Wahl vergleichen, so könnte man feststellen, dass mehr
Menschen im Nachhinein diesen Ausgang vorausgesagt hätten als zuvor. Das Ergebnis
fungiert hierbei als Anker und bei der Rekonstruktion unseres Urteils wirken die gleichen
Mechanismen. Somit nehmen wir retrospektiv fälschlicherweise eine überhöhte Sicherheit an.
Problematisch ist, dass dieser Fehler praktisch omnipräsent ist und selbst bei Experten aus
Justiz und Medizin demonstriert werden konnte (Plous, 1993). Wenn wir rückblickend also
unsere eigene Kompetenz überschätzen Entscheidungen besser treffen zu können als die
tatsächlich handelnden Personen, so kann dies gerade den Handelnden bei unglücklichem
Ausgang schnell zum Verhängnis werden – z.B. in Bereichen wie dem Profisport.
4. Die Repräsentativitätsheuristik
Oft müssen wir uns die Frage stellen, in welchem Verhältnis Instanz A (ein Objekt
oder Ereignis) zu Instanz B (eine Kategorie oder ein Prozess) steht. Hierbei müssen wir
Urteile über die Wahrscheinlichkeiten treffen, dass beispielsweise Objekt A zur Kategorie B
gehört. Ein anschauliches Experiment für heuristisches Urteilen ist das klassische „Ingenieur-
vs.-Anwalt-Problem“ von Tversky und Kahneman (1974). Dabei wird den Versuchspersonen
mitgeteilt, dass aus 100 Kurzbeschreibungen von 30 Ingenieuren und 70 Anwälten eine
zufällig ausgewählt wurde. Wenn diese Beschreibung nun dem Stereotyp eines Ingenieurs
entspricht (z.B. tüftelt gern in der Werkstatt, löst mathematische Denksportaufgaben), so
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meinen die meisten Probanden, dass es sich auch am wahrscheinlichsten um einen Ingenieur
handelt – und beachten dabei die zugrunde liegenden Basisraten nicht hinreichend (Werth,
2004).
Dieses Experiment macht die Grundzüge der Repräsentativitätsheuristik deutlich: Wir
entscheiden aufgrund de r Passung zwischen A und B, d.h. je ähnlicher (repräsentativer) sich
beide Instanzen sind, desto höher ist die subjektive Wahrscheinlichkeitsverknüpfung. Daraus
ergeben sich verschiedene Phänomene: a) die Unempfindlichkeit gegenüber diversen
Urteilsprädiktoren, b) die Illusion von Validität und c) eine falsche Vorstellung von
Regression und Zufall. Die ersten beiden Punkte sollen hierbei nur zusammenfassend
dargestellt werden um einen Einblick in die Breite der Anwendung von Repräsentativität als
Kriterium zu bieten, der Fokus wird aber auf Punkt c) liegen.
4.1 Unempfindlichkeit gegenüber Urteilsprädiktoren und die Illusion von Validität
Wie wichtig die Passung der beiden Instanzen für unsere Urteile und Entscheidungen
im sozialen Kontext ist, zeigt uns das Phänomen der Illusion von Validität. Selbst wenn wir
wissen, dass unsere Informationen aus einer unsicheren Quelle kommen, können sie uns
beeinflussen. Ein praxisnahes Beispiel ist, dass selbst Personalchefs, die um die geringe
Aussagekraft von Bewerbungsgesprächen wissen, sich auf diese Informationsquelle verlassen,
da sie der Meinung sind, bei ihnen würde es trotz allem gut funktionieren (Tversky &
Kahneman, 1974). Des Weiteren deuten wir die interne Konsistenz eines bestimmten
Schemas an Werten (z.B. eines Zeugnisses) als Indikator für unsere Urteilssicherheit. Wenn
die einzelnen Werte eines Tests also ähnlich sind (vorwiegend 2, in Schulnoten ausgedrückt),
glauben wir sicherer das Ergebnis bei einem späteren Test vorhersagen zu können, als wenn
die Werte stark (zwischen 1-4) streuen würden (Tversky & Kahneman, 1974). Der
Widerspruch besteht darin, dass gerade konsistente Schemen für untereinander hoch
korrelierte Werte sprechen. Wenn wir uns nun sicherer sind das Ergebnis m. H. von hoch
korrelierten Werten vorherzusagen, so verletzen wir eine grundlegende Erkenntnis der
Statistik: Dass Schätzungen, welche auf voneinander unabhängigen Werten basieren,
tendenziell bessere Vorhersagen ermöglichen (vgl. Tversky & Kahneman, 1974).
Auch bei der Projektplanung macht die Repräsentativitätsheur istik nicht vor der Tür
des Beratungsraums halt. So kann es leicht passieren, dass die Endwahrscheinlichkeit von
miteinander multiplikativ verknüpften Ereigniswahrscheinlichkeiten mit der Anzahl an
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„milestones“ förmlich in den Keller rutscht. Angenommen man plane mit acht Meilensteinen,
die alle mit einer Wahrscheinlichkeit von .9 nach zwei Wochen abgeschlossen sind, so liegt
die Gesamtwahrscheinlichkeit für das konjunktive Ereignis (in 16 Wochen) nur noch bei
43%! Zugegeben – es handelt sich hierbei um eine starke Abstraktion, aber hier kann man die
Analogie zu einer Maschine bemühen, die auch nur dann richtig funktioniert, wenn alle
Einzelteile funktionieren und selbst wenn jedes Einzelereignis hoch wahrscheinlich ist , so
steigt mit der Anzahl der Verknüpfungen wiederum das Risiko eines Ausfalls. Verantwortlich
für diese Konjunktionstäuschung (dass wir die Gesamtwahrscheinlichkeit von konjunktiven
Ereignissen über- und die von disjunktiven Ereignissen unterschätzen) ist der
Basisratenanker, der in einem Gefühl der Passung zwischen sicherem Einzel- und sicherem
Gesamtereignis aufgelöst wird (Tversky & Kahneman, 1974). Mit anderen Worten erwarten
wir durch die Repräsentativität einfach nicht, dass mehrere wahrscheinliche Ereignisse am
Ende plötzlich unwahrscheinlich werden, weil es unseren heuristischen Intuitionen von
Repräsentativität widers trebt.
4.2 Falsche Vorstellungen von Regression und Zufall
„Rot oder Schwarz?“ – so lautet die klassische Frage beim Roulette. Würden wir 50
Personen diese Frage unverbindlich stellen, erhielten wir sicher eine gleichmäßige Verteilung.
Was passiert aber wenn wir zusätzlich die Information geben, dass zuvor vier Mal in Folge
Schwarz gefallen ist? Würde sich die Verteilung zugunsten einer Farbe verschieben?
Von einem rationalen Standpunkt aus scheint die Sache klar: Die Wahrscheinlichkeit
für Rot ist gleich der von Schwarz und liegt bei etwas unter .5, egal welche Farben zuvor
gefallen sind – gesetzt den Fall das Roulette ist fair. Aber auch dieser Gedanke beeinflusst
nicht das Urte il unserer virtuellen Befragten. Sie gehen vielmehr davon aus, dass nun wieder
Rot an der Reihe sei und würden verstärkt darauf setzen. Der gambler’s fallacy beruht auf der
Erwartung, dass lokale Zufallssequenzen (eine Folge von fünf Roulette-Runden) die
Eigenschaften globaler Zufallssequenzen (eine Folge von n Roulett-Runden) widerspiegeln.
In diesem Fall würden wir intuitiv erwarten, dass Rot nun fallen muss um den Zufallsprozess
wieder in sein Gleichgewicht zu bringen (Plous, 1993).
So überschätzen wir auch konsequenterweise die Alternierungswahrscheinlichkeit, die
bei rund .5 liegen würde , und halten „überzufällige“ lokale Sequenzen mit
Wahrscheinlichkeiten von .6 bis .7 für authentischer und damit repräsentativer für eine
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typische Folge von Zufallsereignissen (Plous, 1993). Dies führt zu dem Phänomen der „hot
hands“, bei dem Sportlern die Fähigkeit zugeschrieben wird mit einem Lauf das ganze Spiel
entscheiden zu können. Allerdings haben empirische Untersuchungen zeigen können, dass die
Trefferquote der eigentlichen Zufallserwartung entspricht und die Ursachenzuschreibung (hot
hands) somit wohl einem Urteilsfehler geschuldet ist (vgl. Plous, 1993).
Eine weitere interessante Schlussfolgerung hatten die von Tversky und Kahneman
(1974) zitierten Fluglehrer gezogen: Sie waren über Jahre hinweg zu der Überzeugung
gelangt, dass sich Lob negativ auf die Performance ihrer Flugschüler auswirkt. Was war
geschehen? Zunächst hatten die Fluglehrer entsprechend des common sense immer nach einer
guten Landung gelobt und nach einer schlechten getadelt. Nun beobachteten sie allerdings,
dass nach der guten oft eine schlechte Landung folgte und nach der schlechten eine gute.
Daraus leiteten sie die Konsequenz ab, dass Lob die Performance verschlechtert, wohingegen
Tadeln sie verbessert. Dieser Schluss ist intuitiv deswegen auch logisch, weil zwei von drei
Kriterien der Kausalität (z.B. Shaughnessy, Zechmeister & Zechmeister, 2000) erfüllt sind,
nämlich zeitliche Präzedenz (erst Lob, dann Verschlechterung) und Kovariation und so nur
noch der Ausschluss von Alternativerklärungen offen wäre.
Diese treffen aber hier zu, denn unabhängig von der Reaktion der Fluglehrer wirkt die
Regression zur Mitte (Tversky & Kahneman, 1974) . Dieses statistische Phänomen besagt,
dass sich Extremwerte bei wiederholtem Testen immer mehr dem Mittelwert annähern. Der
Zusammenhang des Rewards mit Lob und Tadel wird in Abbildung 2 illustriert.
Tatsächlich ist es so, dass es nach einer außergewöhnlich guten Leistung wahrscheinlicher ist
wieder eine schlechtere Leistung zu zeigen (vgl. die Normalverteilung in Abbildung 2). Dies
führt im Endeffekt dazu, dass man eher für Lob bestraft und für Tadel belohnt wird (Tversky
& Kahneman, 1974). Dass selbst eine kurze Einführung in die Regression zur Mitte nicht hilft
diesen Effekt im Alltag richtig zu identifizieren (Hartwich & Kroemer, 2006), zeigt dass es
vermutlich keine mentale Repräsentation des Prozesses gibt.
Abbildung 2. Potentieller Reward visualisiert in Farbintensität. (grün = positiver Reward; rot = negativer Reward)
LobTadel LobTadel
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Dieses Phänomen wurde erstmals von Sir Francis Galton Ende des 19. Jahrhunderts
beschrieben. Verantwortlich dafür ist der Regressionseffekt, der durch eine unvollständige
Varianzaufklärung der Prädiktoren (s 2Kriteriumswerte< s
2Gesamt) zustande kommt. Je kleiner sie
ist, desto stärker orientiert sich die Schä tzung am Mittelwert (vgl. Nachtigall & Wirtz, 2005).
Allerdings war auch Galton nicht vor einem, inzwischen unter selbige m Name bekannten,
Trugschluss gewahr: Er interpretierte dieses statistische Phänomen fälschlicherweise als ein
empirisches und begründete damit die Konvergenzhypothese (das alle Werte zu eine m
Mittelwert konvergieren; Quah, 1993). Da ä hnliche „Galton fallacies “ immer noch, z.B. in der
Intelligenzforschung (vgl. Herrnstein & Murray, 1996), publiziert werden, zeigt dies, dass
selbst wenn Wissen um die Wirkung der Regression zur Mitte vorhanden ist, dieses oft falsch
angewandt wird.
5. Zusammenfassung und Diskussion
Tversky und Kahneman (1974) identifizierten drei distinkte Strategien mit möglichst
wenig Aufwand im Alltag zu zufrieden stellenden Urteilen und Entscheidungen zu gelangen.
Dabei benutzen wir die Leichtigkeit des Abrufs von Erinnerungen (Verfügbarkeitsheuristik)
und die Ähnlichkeit zweier Instanzen (Repräsentativitätsheuristik) um die Wahrscheinlichkeit
von bestimmten Ereignissen abzuschätzen. Des Weiteren treten Effekte der Ankerheuristik
immer dann auf, wenn wir aufgrund eines Referenzwertes ein numerisches Urteil abgeben.
Allein die bloße Zahl an Zitationen des Überblicksartikels von Tversky und
Kahneman (1974) spricht eine deutliche Sprache: Mit 3613 Zitationen (Stand 15.07.07) ist er
einer der meistzitierten in der Psychologie überhaupt. Das zeigt wie viele Kollegen, gerade
auch interdisziplinär, von diesen Gedanken zu weiterer Forschung angeregt werden konnten.
Allein der bloße Einfluss ist als großer Erfolg zu werten. Des Weiteren haben sich die
Grundfeste ihrer Theorie über die Jahre hinweg als robust erwiesen. Einzig die auch in dieser
Ausarbeitung mitschwingende, leicht negative Grundsicht der menschlichen Entscheidungs-
und Urteilfindung bedarf einer weiteren Qualifikation. Keine Frage: Es gibt Urteilsfehler ,
welche durch heuristische Verarbeitung verursacht werden, doch im Großen und Ganzen
können wir damit den Alltag ohne Probleme meistern – und das mit vergleichsweiße
geringem Aufwand. Es gibt andere Autoren wie Gerd Gigerenzer, die sogar noch einen
Schritt weiter gehen würden zu sagen, dass wir mit unserer Art der Urteilfindung mitunter
sogar überlegen gegenüber den bloßen Fakten sind (z.B. Gigerenzer, 1993/2000).
URTEILSHEURISTIKEN 11
Doch die Frage nach der Gewichtung stellt sich nicht in dieser Form, wenn man mit
dem Wissen über die Funktionsweise der drei behandelten Heuristiken die damit verbundenen
Probleme weitestgehend vermeiden kann. Gelingt dies nicht, so sieht man im Normalfall wohl
nur in einem psychologischen Labor richtig schlecht mit seinen Bauchentscheidungen aus.
Schließlich haben sich diese über die Zeit hinweg als äußerst adaptiv erwiesen, was aber
wiederum nicht heißt, dass man es nicht auch mit einem beherzten „think twice“ noch besser
machen könnte.
URTEILSHEURISTIKEN 12
Literaturverzeichnis
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