71
Ernst Jandl Dozentur für Poetik: Elfriede Czurda "Sprache, Zeichen und Denken" 2.4.2014

Vorlesung 3 Kurz

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Vorlesung 3 Kurz

Citation preview

Page 1: Vorlesung 3 Kurz

Ernst Jandl Dozentur für Poetik:

Elfriede Czurda

"Sprache, Zeichen und Denken"

2.4.2014

Page 2: Vorlesung 3 Kurz

1) Ferdinand de Saussure

Cours de linguistique générale (1916, nach der dt. 3. Auflage 2001

Aus Mitschriften seiner Studenten, anderer Saussure

Hauptwerk der Linguistik, Begründer des Strukturalismus

Sprache ist Form, nicht Substanz

Page 3: Vorlesung 3 Kurz

Die Natur des sprachlichen Zeichens.

§ 1. Zeichen, Bezeichnung, Bezeichnetes.

Für manche Leute ist die Sprache im Grunde eine Nomenklatur, d. h. eine Liste von Ausdrücken, die ebensovielen Sachen entsprechen.

Page 4: Vorlesung 3 Kurz

Diese Ansicht gibt in vieler Beziehung Anlaß zur Kritik. Sie

setzt fertige Vorstellungen voraus, die schon vor den Worten vorhanden waren; sie sagt uns nicht, ob der Name lautlicher oder psychischer Natur ist, denn arbor kann sowohl unter dem einen als unter dem andern Gesichtspunkt betrachtet werden; endlich läßt sie die Annahme zu, daß die Verbindung, welche den Namen mit der Sache verknüpft, eine ganz einfache Operation sei, was nicht im entferntesten richtig ist.

Page 5: Vorlesung 3 Kurz

Dennoch kann diese allzu einfache Betrachtungsweise uns der Wahrheit näherbringen, indem sie uns zeigt, daß die sprachliche Einheit etwas Doppelseitiges ist, das aus der Vereinigung zweier Bestandteile hervorgeht. Wir haben S. 14 beim Kreislauf des Sprechens gesehen, daß die im sprachlichen Zeichen enthaltenen Bestandteile alle beide psychisch sind, und daß sie in unserm Gehirn durch das Band der Assoziation verknüpft sind. Diesen Punkt müssen wir im Auge behalten.

Page 6: Vorlesung 3 Kurz

S. 14: Kreislauf des Sprechens:

Der Ausgangspunkt des Kreislaufs liegt im Gehirn des Einen, z.B. A, wo die Bewußtseinsvorgänge, die wir Vorstellungen schlechthin nennen wollen, mit den Vorstellungen der sprachlichen Zeichen oder akustischen Bilder assoziiert sind, welche zu deren Ausdruck dienen. Stellen wir uns vor, daß eine gegebene Vorstellung im Gehirn ein Lautbild auslöst: das ist ein durchaus psychischer Vorgang, dem seinerseits ein physiologischer Prozeß folgt: das Gehirn übermittelt den Sprechorganen einen Impuls, der dem Lautbild entspricht; dann breiten sich die Schallwellen aus vom Munde des A zum Ohr des B hin: ein rein physikalischer Vorgang.

Page 7: Vorlesung 3 Kurz

Dann setzt sich der Kreislauf bei B fort in umgekehrter Reihenfolge: vom Ohr zum Gehirn, physiologische Übertragung des Lautbildes; im Gehirn psychologische Assoziation dieses Lautbildes mit den entsprechenden Vorstellungen. Wenn B seinerseits spricht, wird dieser neue Vorgang von seinem Gehirn zu dem des A genau denselben Weg zurücklegen und dieselben aufeinanderfolgenden Phasen durchlaufen, was wir folgendermaßen darstellen.

Page 8: Vorlesung 3 Kurz
Page 9: Vorlesung 3 Kurz

Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich nicht einen Namen und eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild. Dieses letztere ist nicht der tatsächliche Laut, der lediglich etwas Physikalisches ist, sondern der psychische Eindruck dieses Lautes, die Vergegenwärtigung desselben auf Grund unserer Empfindungswahrnehmungen; es ist sensorisch, und wenn wir es etwa gelegentlich "materiell" nennen, so ist damit eben das Sensorische gemeint im Gegensatz zu dem ändern Glied der assoziativen Verbindung, der Vorstellung, die im allgemeinen mehr abstrakt ist.

Page 10: Vorlesung 3 Kurz

Der psychische Charakter unserer Lautbilder wird ganz klar, wenn wir uns selbst beobachten. Ohne die Lippen oder die Zunge zu bewegen, können wir mit uns selbst sprechen oder uns im Geist ein Gedicht vorsagen. Gerade deshalb, weil die Worte der Sprache für uns Lautbilder sind, sollte man nicht von den Lauten als Phonemen sprechen, aus denen sie zusammengesetzt sind. Denn dieser Ausdruck deutet auf mündliche Sprechtätigkeit und paßt nur zum gesprochenen Wort, zur Verwirklichung des inneren Bildes in der Rede. Man muß sich stets daran erinnern, daß es sich nur um das innere Bild der lautlichen Erscheinung handelt.

Page 11: Vorlesung 3 Kurz

Der Terminus "Lautbild" könnte vielleicht als zu eng gefaßt erscheinen, weil neben der Vorstellung von dem Laut eines Wortes auch diejenige seiner Artikulation, die Bewegungsgefühle des Lautgebungsaktes bestehen. Jedoch ist für F. de S. die Sprache im wesentlichen ein Vorrat, etwas von außen Empfangenes. Das Lautbild ist in erster Linie die natürliche Vergegenwärtigung des Wortes als Sprachbestandteil ohne Rücksicht auf die Verwirklichung durch das Sprechen. Die motorische Seite kann also mit inbegriffen sein oder allenfalls eine untergeordnete Stellung im Vergleich zum Lautbild haben. (Die Herausgeber.)

Page 12: Vorlesung 3 Kurz

Das sprachliche Zeichen ist also etwas im Geist tatsächlich Vorhandenes, das zwei Seiten hat und durch folgende Figur dargestellt werden kann:

Page 13: Vorlesung 3 Kurz

Diese beiden Bestandteile sind eng miteinander verbunden

und entsprechen einander. Ob wir nun den Sinn des lat. Wortes arbor suchen oder das Wort, womit das Lateinische die Vorstellung "Baum" bezeichnet, so ist klar, daß uns nur die in dieser Sprache geltenden Zuordnungen als angemessen erscheinen, und wir schließen jede beliebige andere Zuordnung aus, auf die man sonst noch verfallen könnte.

Page 14: Vorlesung 3 Kurz

Mit dieser Definition wird eine wichtige terminologische Frage aufgeworfen. Ich nenne die Verbindung der Vorstellung mit dem Lautbild das Zeichen; dem üblichen Gebrauch nach aber bezeichnet dieser Terminus im allgemeinen das Lautbild allein, z. B. ein Wort (arbor usw.). Man vergißt dabei, daß, wenn arbor Zeichen genannt wird, dies nur insofern gilt, als es Träger der Vorstellung "Baum" ist, so daß also diese Bezeichnung außer dem Gedanken an den sensorischen Teil den an das Ganze einschließt.

Page 15: Vorlesung 3 Kurz

Die Mehrdeutigkeit dieses Ausdrucks verschwindet, wenn man die drei hier in Rede stehenden Begriffe durch Namen bezeichnet, die unter sich in Zusammenhang und zugleich in Gegensatz stehen. Ich schlage also vor, daß man das Wort Zeichen beibehält für das Ganze, und Vorstellung bzw. Lautbild durch Bezeichnetes und Bezeichnung (Bezeichnendes) ersetzt; die beiden letzteren Ausdrücke haben den Vorzug, den Gegensatz hervorzuheben, der sie voneinander trennt und von dem Ganzen, dessen Teile sie sind. Für dieses selbst begnügen wir uns mit dem Ausdruck "Zeichen", weil kein anderer sich dafür finden läßt.

Page 16: Vorlesung 3 Kurz

Das so definierte sprachliche Zeichen hat zwei Grundeigenschaften. Indem wir sie namhaft machen, stellen wir die Grundsätze auf für eine jede Untersuchung dieser Art.

Erster Grundsatz: Beliebigkeit des Zeichens. Das Band, welches das Bezeichnete mit der Bezeichnung verknüpft, ist beliebig; und da wir unter Zeichen das durch die assoziative Verbindung einer Bezeichnung mit einem Bezeichneten erzeugte Ganze verstehen, so können wir dafür auch einfacher sagen: das sprachliche Zeichen ist beliebig.

Page 17: Vorlesung 3 Kurz

So ist die Vorstellung "Schwester" durch keinerlei innere Beziehung mit der Lautfolge "Schwester" verbunden, die ihr als Bezeichnung dient; sie könnte ebensowohl dargestellt sein durch irgendeine andere Lautfolge: das beweisen die Verschiedenheiten unter den Sprachen und schon das Vorhandensein verschiedener Sprachen: das Bezeichnete "Ochs" hat auf dieser Seite der Grenze als Bezeichnung o-k-s, auf jener Seite b-ö-f (boeuf).

Tatsächlich beruht jedes in einer Gesellschaft rezipierte Ausdrucksmittel im Grunde auf einer Kollektivgewohnheit, oder, was auf dasselbe hinauskommt, auf der Konvention.

Page 18: Vorlesung 3 Kurz

Man kann also sagen, daß völlig beliebige Zeichen besser als andere das Ideal des semeologischen Verfahrens verwirklichen; deshalb ist auch die Sprache, das reichhaltigste und verbreitetste Ausdruckssystem, zugleich das charakteristischste von allen; in diesem Sinn kann die Sprachwissenschaft Musterbeispiel und Hauptvertreter der ganzen Semeologie werden, obwohl die Sprache nur ein System unter anderen ist.

Page 19: Vorlesung 3 Kurz

Das Wort "beliebig" erfordert hierbei eine Bemerkung. Es soll nicht die Vorstellung erwecken, als ob die Bezeichnung von der freien Wahl der sprechendem Person abhinge […]; es soll besagen, daß es unmotiviert ist, d. h. beliebig im Verhältnis zum Bezeichneten, mit welchem es in Wirklichkeit keinerlei natürliche Zusammengehörigkeit hat.

Einwand: Onomatopoetika

Page 20: Vorlesung 3 Kurz

Zweiter Grundsatz: der lineare Charakter des Zeichens.

Das Bezeichnende, als etwas Hörbares, verläuft ausschließlich in der Zeit und hat Eigenschaften, die von der Zeit bestimmt sind:

a) es stellt eine Ausdehnung dar, und

b) diese Ausdehnung ist meßbar in einer einzigen Dimension: es ist eine Linie.

Page 21: Vorlesung 3 Kurz

Im Gegensatz zu denjenigen Bezeichnungen, die sichtbar sind (maritime Signale usw.) und gleichzeitige Kombinationen in verschiedenen Dimensionen darbieten können, gibt es für die akustischen Bezeichnungen nur die Linie der Zeit; ihre Elemente treten nacheinander auf; sie bilden eine Kette. Diese Besonderheit stellt sich unmittelbar dar, sowie man sie durch die Schrift vergegenwärtigt und die räumliche Linie der graphischen Zeichen an Stelle der zeitlichen Aufeinanderfolge setzt.

Page 22: Vorlesung 3 Kurz

Einerseits gehen die Worte infolge ihrer Verkettung beim Ablauf irgendwelcher Aussagen Beziehungen unter sich ein, die auf dem linearen Charakter der Sprache beruhen, der es unmöglich macht, zwei Elemente zu gleicher Zeit auszusprechen. Sie reihen sich eins nach dem andern in der Kette des Sprechens an, und diese Kombinationen, deren Grundlage die Ausdehnung ist, können Anreihungen oder Syntagmen genannt werden. Die Anreihung besteht also immer aus zwei oder mehr aufeinanderfolgenden Einheiten (z. B. ab-reißen; für uns; ein langes Leben; Gott ist gut; wenn das Wetter schön ist, wollen wir ausgehen usw.). In eine Anreihung hineingestellt, erhält ein Glied seinen Wert nur, weil es dem vorausgehenden oder dem folgenden oder beiden gegenübersteht.

Page 23: Vorlesung 3 Kurz

Andererseits aber assoziieren sich außerhalb des gesprochenen Satzes die Wörter, die irgend etwas unter sich gemein haben, im Gedächtnis, und so bilden sich Gruppen, innerhalb deren sehr verschiedene Beziehungen herrschen. So läßt das Wort Belehrung unbewußt vor dem Geist eine Menge anderer Wörter auftauchen (lehren, belehren usw., oder auch Bekehrung, Begleitung, Erschaffung usw., oder ferner Unterricht, Ausbildung, Erziehung usw.). Auf der einen oder andern Seite haben alle diese Wörter irgend etwas unter sich gemein. Man sieht, daß diese Zusammenordnungen von ganz anderer Art sind als die ersteren; sie sind nicht von der Zeiterstre-ckung getragen; ihr Sitz ist im Gehirn; sie sind Teile jenes inneren Schatzes, der bei jedem Individuum die Sprache bildet. Wir wollen sie assoziative Beziehungen nennen.

Page 24: Vorlesung 3 Kurz
Page 25: Vorlesung 3 Kurz

Die Gesamtheit der lautlichen und begrifflichen Verschiedenheiten, welche die Sprache bilden, ergibt sich also aus zweierlei Arten von Vergleichungen; die Beziehungen sind bald assoziativ, bald syntagmatisch. Die Gruppierungen der einen und der andern Art sind in weitgehendem Maße von vornherein feststehend, von der Sprache vorausgesehen; sie ist gebildet durch das Zusammenwirken der üblichen Beziehungen beider Arten und alle Vorgänge in ihr sind davon beherrscht.

Page 26: Vorlesung 3 Kurz

Bei dieser Organisation fallen uns zunächst syntagmatische Abhängigkeitsverhältnisse auf: fast alle Einheiten der Sprache hängen ab entweder von dem, was sie in der gesprochenen Reihe umgibt, oder von den aufeinanderfolgenden Teilen, aus denen sie selbst zusammengesetzt sind. Das läßt sich schon an der Wortbildung zeigen. Eine Einheit wie schmerzlich läßt sich zerlegen in zwei Untereinheiten (schmerzlich), aber diese sind keine unabhängigen Teile, die bloß aneinandergehängt sind (schmerz + lich), sondern die Einheit ist ein Produkt, eine Verbindung zweier voneinander abhängiger Bestandteile, die nur einen Wert haben vermöge ihrer gegenseitigen Wirkung in einer übergeordneten Einheit (schmerz + lich).

Page 27: Vorlesung 3 Kurz

Bei den syntagmatischen Gruppierungen, die auf diese Weise gebildet sind, besteht gegenseitige Abhängigkeit; jeder Teil bedingt die ändern. Denn die Zusammenordnung im Raum wirkt an der Schaffung assoziativer Zuordnungen mit, und diese ihrerseits sind nötig für die Analyse der Teile der Anreihung. Nehmen wir das Kompositum ab-reißen. Wir können es darstellen auf einem horizontalen Band, das der gesprochenen Reihe entspricht:

Page 28: Vorlesung 3 Kurz
Page 29: Vorlesung 3 Kurz

Somit versteht man das Ineinanderspielen dieses doppelten Systems im gesprochenen Satz.

Unser Gedächtnis hat einen Vorrat aller Typen von mehr oder weniger zusammengesetzten Anreihungen größerer oder geringerer Ausdehnung oder Zeiterstreckung, und sobald wir sie anwenden, spielen die assoziativen Gruppen mit hinein, um unsere Wahl zu bestimmen. Wenn jemand sagt: schneller! denkt er unbewußt an verschiedene Assoziationsgruppen, in deren Kreuzungspunkt sich das Syntagma schneller befindet. Dieses steht einerseits in der Reihe schnell, schnellen, schnelleren, am schnellsten, und die Gegenüberstellung von schneller mit diesen Formen entscheidet über die Wahl. Andererseits entspricht schneller einer Reihe wie rascher, weiter usw., unter denen es durch denselben Vorgang ausgewählt wird.

Page 30: Vorlesung 3 Kurz

Es genügt also nicht, daß man vom positiven Standpunkt aus schneller wählt, weil es das bedeutet, was man ausdrücken will. In Wirklichkeit ruft eine Vorstellung nicht eine Form hervor, sondern ein ganzes latentes System, vermöge dessen man die zur Bildung des Zeichens notwendigen Anhaltspunkte erhält. Dieses hätte von sich aus gar keine eigene Bedeutung. In dem Augenblick, wo es kein schnell, am schnellsten neben schneller mehr gäbe, würden gewisse Vergleichsmöglichkeiten in Wegfall kommen und der Wert von schneller ipso facto verändert.

Page 31: Vorlesung 3 Kurz

Rolf, Zeichentheorien:

Die Gesamtheit der im Cours angestellten Betrachtungen "läuft darauf hinaus, daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt." Verschiedenheiten, Unterschiede, Differenzen: allein durch 'Gegebenheiten' oder Erscheinungen dieser Art soll das Gebilde gekennzeichnet sein, um dessen nähere Bestimmung der Cours bemüht ist. "[E]ine Verschiedenheit setzt im allgemeinen positive Einzelglieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache aber gibt es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder." (Saussure, 2001, 143)

Page 32: Vorlesung 3 Kurz

Die Verschiedenheiten sind in doppelter Hinsicht gegeben: Sie bestehen sowohl im lautlichen Bereich als auch in dem der Vorstellungen. Es gibt, anders gesagt, sowohl lautliche als auch begriffliche Verschiedenheiten. Die Sprache besteht laut Cours nur aus Verschiedenheiten, Unterschieden, Differenzen, sie enthält keine positiven Einzelglieder. "Ob man Bezeichnetes oder Bezeichnendes nimmt, die Sprache enthält weder Vorstellungen noch Laute, die gegenüber dem sprachlichen System präexistent wären, sondern nur begriffliche und lautliche Verschiedenheiten, die sich aus dem System ergeben." (Saussure, 2001, 143f.)

Page 33: Vorlesung 3 Kurz

"Psychologisch betrachtet ist unser Denken, wenn wir von seinem Ausdruck durch die Worte absehen, nur eine gestaltlose und unbestimmte Masse. Philosophen und Sprachforscher waren immer darüber einig, daß ohne die Hilfe der Zeichen [sollte heißen: Lautbilder] wir außerstande wären, zwei Vorstellungen dauernd und klar auseinander zu halten. [ ... ] Es gibt keine von vornherein feststehenden Vorstellungen, und nichts ist bestimmt, ehe die Sprache in Erscheinung tritt."

(Saussure, 2001, 133)

Page 34: Vorlesung 3 Kurz

Auf der lautlichen Seite verhält es sich nicht anders: "Die lautliche Masse ist ebensowenig etwas Abgegrenztes und klar Bestimmtes [...]. Wir können also die Sprache in ihrer Gesamtheit darstellen als eine Reihe aneinander grenzender Unterabteiltungen, die gleichzeitig auf dem unbestimmten Feld der vagen Vorstellung (A) und auf dem ebenso unbestimmten Gebiet der Laute (B) eingezeichnet sind" Das Entscheidende dabei ist, daß zwischen diesen beiden für sich unbestimmten Bereichen, dem der Vorstellungen und dem der Lautbilder, Verbindungen hergestellt werden.

Page 35: Vorlesung 3 Kurz

Die Sprache übernimmt die Rolle, als Verbindungsglied zwischen dem Denken und dem Laut zu dienen, dergestalt, "daß deren Verbindung notwendigerweise zu einander entsprechenden Abgrenzungen von Einheiten führt. Das Denken, das seiner Natur nach chaotisch ist, wird gezwungen, durch Gliederung sich zu präzisieren; [...] es handelt sich um die einigermaßen mysteriöse Tatsache, daß der ,Laut-Gedanke' Einteilungen mit sich bringt, und die Sprache ihre Einheiten herausarbeitet, indem sie sich zwischen zwei gestaltlosen Massen bildet." (Saussure, 2001, 133f. )

Page 36: Vorlesung 3 Kurz

Vergleich "mit einem Blatt Papier: das Denken ist die Vorderseite und der Laut die Rückseite; man kann die Vorderseite nicht zerschneiden, ohne zugleich die Rückseite zu zerschneiden; ebenso könnte man in der Sprache weder den Laut vom Gedanken noch den Gedanken vom Laut trennen; oder es gelänge wenigstens nur durch eine Abstraktion, die dazu führte, entweder reine Psychologie oder reine Phonetik zu treiben. [...] Die Sprachwissenschaft arbeitet also auf einem Grenzgebiet, wo Elemente von zweierlei Natur sich verbinden; diese Verbindung schafft eine Form, keine Substanz" (Saussure, 2001, 133f.)

Page 37: Vorlesung 3 Kurz

"Was ein Zeichen an Vorstellung oder Lautmaterial enthält, ist weniger wichtig als das, was in Gestalt der andern Zeichen um diese herum gelagert ist." Die Rolle, die einem sprachlichen Zeichen zukommt, ergibt sich aus dem Verbund, in dem es mit anderen sprachlichen Zeichen steht. Zeichen, die verwandte Vorstellungen ausdrücken, begrenzen sich gegenseitig. Der Cours spricht zur Bezeichnung dieses Umstands vom sprachlichen Wert. Dabei wird angenommen, "daß die Sprache nichts anderes als ein System von bloßen Werten ist" . (Saussure, 2001, 144) Der Wert des einzelnen Zeichens, des einzelnen Wortes, ist begrenzt durch die Zeichen (Wörter), die es umgeben.

Page 38: Vorlesung 3 Kurz

Dem System kommt dabei gegenüber seinen Elementen die bereits erwähnte Vorrangstellung zu: "Ein sprachliches System ist eine Reihe von Verschiedenheiten des Lautlichen, die verbunden sind mit einer Reihe von Verschiedenheiten der Vorstellungen; aber dieses In-Beziehung-Setzen einer gewissen Zahl von lautlichen Zeichen mit der entsprechenden Anzahl von Abschnitten in der Masse des Denkens erzeugt ein System von Werten. Nur dieses System stellt die im Innern jedes Zeichens zwischen den lautlichen und [den anderen] psychischen Elementen: bestehende Verbindung her." (Saussure, 2001, 144)

Page 39: Vorlesung 3 Kurz

Der Satz, "daß in der Sprache alles negativ sei, gilt nur vom Bezeichneten und der Bezeichnung, wenn man diese gesondert betrachtet: sowie man das Zeichen als Ganzes in Betracht zieht, hat man etwas vor sich, das in seiner Art positiv ist [...] Obgleich Bezeichnetes und Bezeichnung, jedes für sich genommen, lediglich differentiell und negativ sind, ist ihre Verbindung ein positives Faktum. Und zwar ist das sogar die einzige Art von Tatsachen, die in der Sprache möglich sind, weil gerade dies das besondere Wesen der Sprache ist, daß sie den Parallelismus zwischen diesen beiden Arten von Verschiedenheiten aufrecht erhält." (Saussure, 2001, 144)

Page 40: Vorlesung 3 Kurz

2) Roman Jakobson

Page 41: Vorlesung 3 Kurz

Der Terminus, der sich in der Phonologie zur Bezeichnung eines phonologischen Elementes durchgesetzt hat, ist das Phonem, ein Begriff, dessen unscharfe Bestimmung durch die verschiedenen Schulen der neueren Linguistik auffällig ist. Jakobson definiert es, unter dem Gesichtspunkt des Bezeichnens, also dem Akt, der Bezeichnendes und Bezeichnetes verbindet, als grundsätzlich verschieden von allen anderen Arten der Zeichen, da

es [...] ein reines Unterscheidungszeichen [ist], welches an und für sich nichts Positives, Einheitliches und Konstantes als der bloßen Tatsache des Andersseins besagt.

Roman Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S.178.

Page 42: Vorlesung 3 Kurz

Das Phonem steht allen übrigen Spracherscheinungen entgegen (dies anders als bei Saussure), indem es ihm an jener Dimension des Zeichenbegriffs mangelt, den die Scholastik formuliert hat und der später z. B. von Bühler wieder aufgenommen wurde: "Die Scholastiker, welche von der Sprache her philosophierten, heben ein genus proximum des Zeichenbegriffs hervor in ihrer berühmten Formel aliquid stat pro aliquo [...]". Vgl.: Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. M. e. Geleitwort v. Friedrich Kainz. Ungekürzter Neudruck der Ausgabe Jena 1934. Stuttgart, New York 1982. S.40. (=Uni Taschenbücher 1159)

Page 43: Vorlesung 3 Kurz

Jedes Wort und jedes Morphem fungiert in dieser Konzeption als Stellvertreter eines begrifflichen Inhaltes, wohingegen das Phonem keinen solchen positiven Wert besitzt und sein sprachlicher Wert einzig darin besteht, daß "es ein Morphem bzw. ein Wort, in welchem es vorkommt, von jedem Worte, welches ceteris paribus ein anderes Phonem enthält, unterscheiden kann". Der Unterschied zweier Morpheme enthält also auf der Ebene des Bezeichnenden wie auf der Ebene des Bezeichneten zwei konkrete Unterschiede, nämlich den Unterschied der äußeren Form auf ersterer und den Unterschied zweier allgemeiner Bedeutungen auf zweiterer. Roman Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems. , S.153.

Page 44: Vorlesung 3 Kurz

Demgegenüber enthält ein Unterschied zweier Phoneme

nur einen einzigen konkreten und eindeutigen Unterschied, und zwar auf dem Gebiete des Bezeichnenden (signans), und eine bloße Unterscheidungsmöglichkeit, also eine bestimmte x-Zahl der konkreten Unterschiede auf dem Gebiete des Bezeichneten (signatum). Infolgedessen ist das System der morphologischen und ähnlichen Gegensätze auf dem Felde des Bezeichneten (signatum) fundiert, wogegen das System der phonematischen Gegensätze auf dem Felde des Bezeichnenden (signans) liegt.

Roman Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems., S.156.

Page 45: Vorlesung 3 Kurz

Es ist zutreffend, daß ein Phonem keinen anderen Zeichenwert hat als den, eine Andersheit anzuzeigen. In den Wörtern ,mein' und ,dein' signalisieren die beiden Phoneme Iml und Idl die Tatsache, daß zwei verschiedene Wörter mit unterschiedlicher Bedeutung vorliegen. Alle übrigen sprachlichen Zeichen signalisieren dagegen mehr als nur eine Andersheit. Sie haben einen positiven Wert: Das Morphem '-e' in 'Tage' und 'Abende' zeigt an, daß in beiden Fällen eine Vielheit gemeint ist.( Elmar Holenstein, Roman Jakobsans phänomenologischer Strukturalismus. Frankfurt a. M. 1975, 130.)

Page 46: Vorlesung 3 Kurz

Während ein Buchstabe zur Klasse der "Zeichen eines Zeichens" gehört und genau ein Phonem bezeichnet, das seinerseits "Zeichen der Zeichen" ist, ist ein solches logographisches Graphem von seinem Zeichenwert her dem Phonem ähnlich, da es graphematisch ein Wort bzw. ein Morphem bezeichnet. Sätze, Wörter, Morpheme, grammatische Formen, etc. sind Zeichen erster Ordnung, sie bezeichnen einen "Inhalt". Phoneme und logographische Grapheme sind "Zeichen des Zeichens", somit Zeichen zweiter Ordnung, während Buchstaben Zeichen zweiter Ordnung signifizieren, somit Zeichen dritter Ordnung sind. Vgl.: Roman Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems. a.a.O., S.160f.

Page 47: Vorlesung 3 Kurz

Jakobson veranschaulicht dies so:

Inhalt

1. Morphem

2. Phonem Zeichen

3. Buchstabe

 

Die graphische Ebene hat keine direkte Beziehung zur akustischen Ebene, aber sie steht, ebenso wie die akustisch-motorische Ebene, in einer direkten Beziehung zur phonologischen Ebene. Deshalb rückt die Einführung des phonologischen Standpunktes die graphischen Verfahren in das Blickfeld der Theoretiker[,]

heißt es bei Mukarovský. Ebenda.

Jan Mukarovský: Phonologie und Poetik. a.a.O., S.256.

Page 48: Vorlesung 3 Kurz

Jakobson unterscheidet drei Grundtypen von Zeichen: Dieses der Peirce'schen Zeichenkonzeption verpflichtete Modell wird von Roman Jakobson in folgender Weise adaptiert:

1. Das Abbild (icon) wirkt in erster Linie durch die tatsächliche Ähnlichkeit zwischen seinem signans und seinem signatum, z. B. zwischen dem Bild eines Tieres und dem abgemalten Tier, ersteres steht für letzteres 'nur weil es ihm ähnelt'.

2. Das Anzeichen (index) wirkt in erster Linie durch eine tatsächliche existenzielle Kontiguität zwischen seinem signans und seinem signatum und 'psychologisch gesehen ist die Wirkung bedingt durch eine Assoziation durch Kontiguität' [...]

Page 49: Vorlesung 3 Kurz

3. Das Symbol wirkt in erster Linie durch eine auferlegte, erlernte Kontiguität zwischen signans und signatum. Diese Verbindung 'besteht darin, daß sie eine Regel ist' und hängt nicht von dem Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein irgendeiner Ähnlichkeit oder physischen Kontiguität ab. Die Kenntnis dieser konventionellen Festlegung ist für den Interpreten jedes gegebenen Symbols notwendig und einzig und allein aufgrund dieser Festlegung wird das Zeichen tatsächlich interpretiert werden können.

Roman Jakobson: Die Suche nach dem Wesen der Sprache. a.a.O., S.16.

Page 50: Vorlesung 3 Kurz

(Jakobson beschränkt sich dabei auf die Objektebene des Zeichens und bleibt damit auf der Ebene der Zweitheit im Sinne Peirce'. Erstheit (Zeichen an sich mit der analogen Dreiteilung in Quali-, Sin-, und Legizeichen) und Drittheit (Interpretant mit der Dreiteilung in Dicizeichen, Rhema und Argument) werden ausgespart.)

Charles Sanders Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen, S.55.

Page 51: Vorlesung 3 Kurz

Rolf: Sprachtheorien:

Mit der Fokussierung solcher Momente oder Komponenten will Jakobson zeigen, daß es in der Sprache nicht nur Konventionen, nicht nur Arbitrarität gibt. Den Angriffspunkt bildet de Saussure. Laut Jakobson "ist Saussures Beharren auf dem konventionellen Charakter der Sprache mit der Behauptung verbunden, daß 'die völlig willkürlichen Zeichen am geeignetsten sind, das Optimum des Zeichenprozesses zu erfüllen."' Daß es sich so verhalten würde, dies stellt Jakobson in Frage. Erscheinungen wie die obigen stehen im Widerspruch "zu Saussures Behauptung, daß ,es in der Lautstruktur des signans nichts gibt, was irgendeine Ähnlichkeit mit dem Wert oder der Bedeutung des Zeichens haben könnte'."

Page 52: Vorlesung 3 Kurz

Nach dem auf Saussure zurückgehenden Zweiachsensystem wird die paradigmatische Achse von der syntagmatischen unterschieden. Der paradigmatischen Achse ordnet Jakobson die Begriffe der Selektion, der Substitution, der Ahnliehkeil und der Metapher zu; der syntagmatischen Achse entsprechend die Begriffe der Kombination, der Kontextur, der Kontiguität und der Metonymie. Die paradigmatische Achse bezieht sich auf Einheiten in absentia, die syntagmatische auf Einheiten in praesentia; die paradigmatische Achse ist der Ort der Iangue (des Sprachkodes), die syntagmatische Achse ist der Ort der parole (der Mitteilung); der paradigmatischen Achse ist die Synchronie (die Statik) zugeordnet, der syntagmatischen die Diachronie (die Dynamik).

Page 53: Vorlesung 3 Kurz

Die Opposition ist eine binäre Beziehung, bei der ein Begriff den anderen ,eindeutig, wechselseitig und notwendig' evoziert [ ... ]. ,Hell' evoziert einen bestimmten anderen Begriff: ,dunkel'. Die Evokation ist wechselseitig. Auch ,dunkel' evoziert ,hell'. Sie ist unabdingbar. ,Hell' kann nicht ohne ,dunkel' gedacht werden. Die Bedingung erfüllen zwei Arten von Differenzen, die kontradiktorische und die konträre [ ... ]. Die kontradiktorische Differenz liegt vor zwischen der Anwesenheit und Abwesenheit eines Elements oder einer Eigenschaft, z. B. im Verhältnis ,vokalisch/nichtvokalisch'.

Page 54: Vorlesung 3 Kurz

Eine konträre Differenz ist gegeben in der Relation zwischen zwei Elementen, die zur gleichen Gattung gehören und die sich innerhalb dieser Gattung am stärksten voneinander unterscheiden [ ... ) oder in der Relation zwischen zwei Elementen, die das Maximum bzw. Minimum einer Eigenschaft, die sich graduell abstufen läßt, verwirklichen. Der konträre Gegensatz wird auch polarer Gegensatz genannt (z. B. schwarz/weiß). "Was die phonologische Struktur der Sprache anbetiifft, so weist jede ihrer konstitutiven Oppositionen ein besonderes, zusätzliches Element auf, das in dem einen der Oppositionsglieder als vorhanden und in dem anderen als nicht vorhanden empfunden wird."

Page 55: Vorlesung 3 Kurz

Man muß hier unterscheiden zwischen dem distinktiven Merkmal bzw. der distinktiven Eigenschaft (,distinctive feature') und dem Merkmal, welches die Eigenschaft trägt. Die Vokallänge z. B. fungiert "als die ,distinktive Eigenschaft' der phonologischen Opposition lang - kurz [...]. Das Merkmal dieser Eigenschaft ist die Länge im Gegensatz zur Kürze, d. h. das Fehlen der Dehnung." Das heißt: Als distinktive Eigenschaft wird aufgefaßt das "principium divisionis, das einer jeden Opposition zugrunde liegt". Die Opposition aber besteht zwischen einem merkmalhaltigen und einem merkmallosen Term. Die distinktive Eigenschaft ist sozusagen die Einheit der Differenz zwischen einer ,merkmalhaltigen Eigenschaft' und einer ,merkmallosen Eigenschaft.

Page 56: Vorlesung 3 Kurz

Jakobson ist neben Hjelmslev der exponierteste Vertreter einer Strukturtheorie der Sprache. Die Ausrichtung an Oppositionen ist dafür das deutlichste Kennzeichen.

Page 57: Vorlesung 3 Kurz

3) Louis Hjelmslev

Page 58: Vorlesung 3 Kurz

Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt

Zwei Arten der Beschreibung der Gegenstände eines Gebietes: die Eigenschaftsbeschreibung und die Beziehungsbeschreibung. "Die Eigenschaftsbeschreibung gibt an, welche Eigenschaften den einzelnen Gegenständen des Gebietes zukommen; die Beziehungsbeschreibung gibt an, welche Beziehungen zwischen den Gegenständen bestehen, ohne über die einzelnen Gegenstände für sich etwas auszusagen." (11)

Page 59: Vorlesung 3 Kurz

"In einer Strukturbeschreibung wird nur die 'Struktur' der Beziehungen angegeben, d. h. ein Inbegriff aller ihrer formalen Eigenschaften [...]. Unter den formalen Eigenschaften einer Beziehung verstehen wir solche, die sich ohne Bezugnahme auf den inhaltlichen Sinn der Beziehung und auf die Art der Gegenstände, zwischen denen sie besteht, formulieren lassen." (13)

Hjelmslev faßt "Sprache als eine rein relationale Struktur" auf. Eine Sprache ist eine Totalität. Er geht davon aus, "daß eine Totalität nicht aus Dingen, sondern aus Zusammenhängen besteht, und daß nicht die Substanz, sondern nur ihre inneren und äußeren Relationen wissenschaftliche Existenz haben" .

Page 60: Vorlesung 3 Kurz

Unter einer strukturalen Analyse der Sprache versteht Hjelmslev "eine wissenschaftliche Beschreibung der Sprache in Begriffen von Relationen zwischen Elementen ohne Berücksichtigung der Eigenschaften, die diese Elemente aufweisen". Relationen sind das A und O der Analyse. Hjelmslev sagt: "Es ist offensichtlich, daß die Beschreibung der Sprache mit der Darstellung der Relationen zwischen relevanten Einheiten beginnen muß; und diese Darstellung kann keine Darstellung der innewohnenden Natur, Essenz oder Substanz der Einheiten selbst enthalten." Es ist demnach davon auszugehen, "daß die Linguistik das relationale System der Sprache beschreibt, ohne zu wissen, was die Relata sind."

Page 61: Vorlesung 3 Kurz

In welchem Bereich aber bzw. in welchen Bereichen werden die Relata beschrieben?

"Das muß der Phonetik und der Semantik überlassen werden, die dementsprechend die strukturale Analyse des Sprachbaus voraussetzen. Es ist ferner offensichtlich, daß die Phonetik und Semantik in gleicher Weise und nach den gleichen Grundsätzen vorzugehen haben. Phonetische und semantische Feststellungen müssen ihrerseits strukturale Feststellungen sein, z. B. physikalische Feststellungen über Schallwellen, die einen Teil der Einheiten bilden, die zuvor durch die Analyse des Sprachbaus gefunden wurden. Auch sie müssen in Begriffen von Relationen, in Begriffen von Form und nicht von Substanz dargestellt werden."

Page 62: Vorlesung 3 Kurz

Laut Hjelmslev besteht eine der Definitionsmöglichkeiten des Sprachsystems (Iangue) in dem Sinn, den F. de Saussure diesem Terminus gegeben hat, darin [...],

"das Sprachsystem als eine spezifische Form, die sich zwischen zwei Substanzen, der des Inhalts und der des Ausdrucks, organisiert, d. h. also eine spezifische Form von Inhalt und Ausdruck zu definieren".

Page 63: Vorlesung 3 Kurz

Über Saussure geht Hjelmslev jedoch einen entscheidenden Schritt hinaus. Kennzeichnend für die von ihm vertretene Sprachauffassung ist, daß er von vier sogenannten 'Strata' ausgeht. Diese Lehre läuft darauf hinaus, daß er die beiden Seiten des bilateralen Zeichenmodells von Saussure mit der von diesem in Anspruch genommenen Unterscheidung zwischen Form und Substanz verknüpft – dergestalt, daß diese letztere Unterscheidung auf beiden Seiten des Saussure'schen Zeichenmodells wiederholt wird.

Page 64: Vorlesung 3 Kurz

Die Unterscheidung zwischen Signiftkat und Signifikant im Sinne der Unterscheidung zwischen Inhalt und Ausdruck auffassend, sagt Hjelmslev:

"Die Unterscheidung zwischen Inhalt und Ausdruck ist der zwischen Form und Substanz übergeordnet. [ ... ] Deshalb muß man [ ... ] von der 'Form des Inhalts' ('Inhaltsform'), der 'Substanz des Inhalts' ('Inhaltssubstanz'), der 'Form des Ausdrucks' ('Ausdrucksform') und der 'Substanz des Ausdrucks' ('Ausdruckssubstanz') sprechen."

Page 65: Vorlesung 3 Kurz

Die Unterscheidung zwischen Form und Substanz ist also sowohl auf der Ebene des Ausdrucks als auch auf der des Inhalts vorzunehmen. Den sich daraus ergebenden vier Strata werden vier unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen zugeordnet (a) der Substanz des Ausdrucks die Phonetik, (b) der Form des Ausdrucks die Phonologie; (c) der Form des Inhalts die Grammatik und (d) der Substanz des Inhalts die Semantik.

Die Substanz des Ausdrucks ist das phonetische Material, das für alle Sprachen gleich ist; die Form des Ausdrucks das für eine Sprache gültige phonologische System; die Substanz des Inhalts die Widerspiegelung der Sachverhalte der Außenwelt, die für alle Sprachen gleich ist [...]; die Form des Inhalts schließlich die Ordnung des Materials durch die jeweilige Sprache.

Page 66: Vorlesung 3 Kurz
Page 67: Vorlesung 3 Kurz

Die Substanz des Ausdrucks ergibt sich gewissermaßen aus den Möglichkeiten, die der Sprechapparat des Menschen eröffnet. Die Form des Ausdrucks betrifft die Auswahl aus den Artikulationsmöglichkeiten, die für die jeweilige Sprache charakteristisch ist. Insoweit sich die Substanz des Inhalts auf die Widerspiegelung der Sachverhalte der Außenwelt bezieht, die für alle Sprachen gleich sein soll, betrifft sie genau die Verhältnisse, die Aristoteles am Anfang, von "Peri hermeneias" mit dem Hinweis ausgesprochen hat, daß die Dinge überall gleich seien und auch die Eindrücke der Dinge in der Seele, nur die Sprachen der Menschen seien verschieden.

Page 68: Vorlesung 3 Kurz

Was schließlich die Form des Inhalts anbelangt, so wird sie bei Hjelmslev, zumindest andeutungsweise, so bestimmt, wie es der These Wilhelm von Humboldts entspricht, der zufolge "in jeder Sprache eine eigenthümliche Weltansicht" liegt.

Die Erweiterung des Saussure'schen Zeichenmodells durch Hjelmslev besteht in der Einführung der Form/Substanz-Unterscheidung auf beiden Seiten dieses bilateralen Modells:

Page 69: Vorlesung 3 Kurz

Nach traditioneller Auffassung ist "ein Zeichen in erster Linie ein Zeichen für etwas", normalerweise für etwas Außersprachliches. Hjelmslev ist nun der Ansicht, "daß diese Auffassung linguistisch unhaltbar ist". Hjelmslev bezeichnet die mit einer Funktion in Verbindung stehenden Terme als 'Funktive', wobei er unter 'Funktiv' einen Gegenstand versteht, "der in Funktion zu anderen Gegenständen steht. Man sagt, daß ein Funktiv seine Funktion eingeht." In diesem Sinne werden "Ausdruck und Inhalt als Bezeichnungen für die Funktive eingeführt, die die betreffende Funktion, die Zeichenfunktion, eingehen."

Page 70: Vorlesung 3 Kurz

Der Ausdruck und der Inhalt, diese beiden in die Zeichenfunktion eingehenden Funktive, die "kraft der Zeichenfunktion und nur kraft dieser existieren [ ... ] [und] als die Inhaltsform und die Ausdrucksform bezeichnet werden können", bilden das Zeichen; und kraft desselben, "kraft der Inhaltsform und der Ausdrucksform und nur kraft dieser existieren die Inhaltssubstanz bzw. die Ausdruckssubstanz". Das Zeichen ist demnach – auch wenn es einem paradox vorkommt – Zeichen für eine Inhaltssubstanz und Zeichen für eine Ausdruckssubstanz. In diesem Sinn kann man vom Zeichen sagen, es sei Zeichen für etwas.

Page 71: Vorlesung 3 Kurz

Dagegen sehen wir keine Berechtigung, das Zeichen nur Zeichen für die Inhaltssubstanz zu nennen, oder (worauf allerdings ganz gewiß noch niemand gekommen ist) nur für die Ausdruckssubstanz. Das Zeichen ist eine zweiseitige Größe mit janusartiger Perspektive nach zwei Seiten, Wirkung in zwei Richtungen: 'nach außen' zur Ausdruckssubstanz und 'nach innen' zur Inhaltssubstanz.