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Vorlesung Einführung in die politische Philosophie WS 2015/16 Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin Sprechstunde Dienstag 14-16 1

Vorlesung Einführung in die politische Philosophie WS 2015/16 · “ (Du contrat social (1762)) • Der Gesellschaftsvertrag (contrat social): vertragliche Konstituierung eines Souveräns,

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Vorlesung Einführung in die politische Philosophie

WS 2015/16

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin

Sprechstunde Dienstag 14-16

1

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Übersicht

1. Einführung (13.10. 2015) 2. Das klassische Paradigma: Erkenntnis: Platon – praktische Vernunft: Aristoteles (27.10.

2015) 3. Politik als Vertrag: Interessen: Hobbes – Individualrechte: Locke (03.11. 2015) 4. Kollektive und individuelle Autonomie: Rousseau und Kant (10.11. 2015) 5. Kollektiver Nutzen: der klassische und moderne Utilitarismus (17.11. 2014) 6. Die Erneuerung der politischen Philosophie seit den 1970ern: John Rawls (24.11. 2015) 7. Die neuen Vertragstheoretiker: Robert Nozick – James Buchanan – David Gauthier (01.12.

2015) 8. Die kommunitaristische Kritik: Michael Sandel – Alasdair MacIntyre – Michael Walzer

(08.12. 2015) 9. Die Logik kollektiver Entscheidungen (1): Condorcet – Arrow (15.12. 2015) 10. Die Logik kollektiver Entscheidungen (2): Gibbard/Satterthwaite – Sen (22.12. 2015) 11. Politik als Deliberation (Jürgen Habermas) / Demokratie und Wahrheit (JNR) /

Demokratietheorien (12.01. 2016) 12. Die kosmopolitische Herausforderung / Die Idee einer globalen Zivilgesellschaft (19.01.

2016) 13. Repetitorium (26.01. 2016) 14. Klausur : Multiple Choice (60 Minuten) (02.02. 2016)

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Begleitende Lektüre

Es gibt zahlreiche gute Einführungen in die politische Philosophie und Theorie, z. B.: Christian Schwaabe: Politische Theorie 1 und 2 (utb) sowie (in der gleichen Reihe): Christine Bratu und Julian Nida-Rümelin: Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und politische Ordnung (utb). Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens (mehrbändig) Sowie zum Themenkomplex: Demokratie (-Theorie): Julian Nida-Rümelin: Demokratie und Wahrheit (C H Beck 2006) Ders.: Demokratie als Kooperation (Suhrkamp 1999) In einem Tutorium kann der Stoff der Vorlesung vertieft werden (jeweils freitags 14 - 16 Uhr c. t. in Raum D Z005)

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(2) Das klassische Paradigma

Erkenntnis: Platon praktische Vernunft: Aristoteles

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Das klassische Paradigma politischen Denkens – Platon und Aristoteles

• Vorbemerkung: Warum ist die griechische Klassik und ihr Denken für uns Heutige noch wichtig?

• Die politische Herausforderung zu Zeiten Platons

• Die Einheit der Philosophie bei Platon • Metaphysik

• Erkenntnistheorie

• Anthropologie

• Pädagogik

• Ethik, Politik

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Philosophische Erkenntnis als Grundlage der Politik: Platon (428-348 v. Chr.)

• Der Tod des Sokrates (470-399 v. Chr.) – die sokratische Wende in der Philosophie

• Platons Rehabilitierung der Objektivität • Die Ideenlehre • Von doxa zur episteme • Das Höhlengleichnis • Die gerechte Seele und die gerechte Stadt • Die vier Kardinaltugenden: sophia, andreia, sophroysne,

dikaiosyne • Die Herrschaft der Wissenschaft (Philosophenkönige) Literatur: Politeia

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Politik auf der Grundlage praktischer Vernunft: Aristoteles (384-322 v. Chr.)

• Aristoteles als der eigentliche Begründer der politischen Wissenschaft

• Entstehung der Einzeldisziplinen – theoretische vs. praktische Wissenschaften

• Differenz zu Platon

• Kritik der Ideenlehre

• phronesis statt sophia

• bios politikos vs. bios theoretikos

• Tugendethik: ethische vs. dianoetische Tugenden

Text: Nikomachische Ethik

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(3) Politik als Vertrag

Interessen: Hobbes Individualrechte: Locke

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Politik als Vertrag

• Vorspiel: Renaissance-Politik: Niccolò Machiavelli (1469-1527). Il Principe (1532)

– Macht, Technik statt moralischer/theologischer Auftrag – Befriedung durch souveräne Fürstenmacht

• Thomas Hobbes (1588-1679) – scientia nova – Mechanismus (Physik): De corpore (1655) – Materialistische Anthropologie De homine (1658) – Rationalistische Politik: De Cive (1642) und Leviathan (1651) – Drei Konfliktursachen im Naturzustand: bellum omnium contra omnes

• Konkurrenz: „competition“ • Misstrauen: „difidence“ • Ruhmsucht: „glory“

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Der Interessenvertrag: Thomas Hobbes (1588-1679)

• Grundlage: Rationalität/ Eigeninteresse (ius naturale)

• Ausgangspunkt: Naturzustand (bellum omnium contra omnes)

• Überwindung durch Abtretung aller Gewaltmittel an eine Zentralgewalt, die souveräne Macht.

• Rolle der leges naturales: Vernunftrecht

• Hobbes als Absolutist

• Hobbes als Protoliberaler

• Zurückdrängung der Glaubensgemeinschaften aus der Politik, Ende der Glaubenskriege, Säkularisierung i e S

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Individualrechte als Grundlage der Politik: John Locke (1632-1704)

• Gemeinsamkeit (Hobbes-Locke): Naturzustand • Unterschied: Menschenrechte

– Recht auf Leben – Recht auf körperliche Unversehrtheit – Recht auf rechtmäßig erworbenes Eigentum

• Staat als Garant der Menschenrechte • Grenzen der staatlichen Herrschaft (Legislative, Exekutive,

Föderative) • Kontrolle des Staates vs. unumschränkte staatliche Macht • Recht wird nicht erst vom Staat gesetzt, außerstaatliches Recht

Texte: • Two Treatises of Government (1689) • An Essay Concerning Human Understanding (1690)

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(4) Kollektive und individuelle Autonomie

Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant

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Kollektive Autonomie: Jean-Jacques Rousseau (1712-1778)

• Historisierende Anthropologie • Im Naturzustand ist der Mensch in all seinen Handlungen frei; er ist dabei kein zoon politikon, sondern

agiert als homme isolé • Kriegszustand als Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklung: - 1.Revolution der Menschennatur: Sesshaftwerdung; als Folge des Zusammenlebens Umwandlung der nach Lebenserhaltung strebenden Selbstliebe (amour de soi-même) in die auf Anerkennung durch die Mitmenschen bedachte Eigenliebe (amour propre) - 2. Revolution der Menschennatur: Arbeitsteilung; führt zu Ungleichheit in der Betätigung In der Folge führen Ungleichverteilung, Missgunst, Neid und Konkurrenz zum „entsetzlichsten Kriegszustande“ • Die anfänglich lediglich de facto bestehende Ungleichheit und das damit einhergehende Herrschaftsgefälle

wird gleichsam zu einer auch de jure festgeschrieben Ungleichheit und Herrschaft.

Zivilisationskritik „Der Mensch wird frei geboren und überall liegt er in Ketten.“ (Du contrat social (1762)) • Der Gesellschaftsvertrag (contrat social): vertragliche Konstituierung eines Souveräns, der sich

ausschließlich an dem das Gemeinwohl zum Ausdruck bringenden Gemeinwillen (volonté générale) orientiert

• Die Republik als sittliche Körperschaft: Unterscheidung zwischen dem nur dem Gemeinwohl verpflichteten Staatsbürger (citoyen) und der sich lediglich an ihren Eigeninteressen ausrichtenden Privatperson (bourgeois)

Texte: Discours sur l‘origine et les fondements de l‘ inegalité parmi les hommes (1755); Du contrat social (1762)

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Individuelle Autonomie:

Immanuel Kant (1724-1804) • Vernunft als Autonomie; Maximentest des Kategorischen Imperativs:

„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ • Der Kategorische Imperativ in der Formulierung als Rechtsprinzip: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann etc“ • Der Staat als Garant für die Geltung des Rechtsprinzips und damit auch als Garant für

die Möglichkeit autonomen Handelns • Der (fiktive) Vertag als Rechtfertigungsinstanz (contractus originarius): der Gesetzgeber

muss die Gesetze stets so geben, als ob sie der Zustimmung aller bedürftig wären • Die republikanische Verfasstheit des Staates: strikte Trennung von Legislative und

Exekutive; Publizitätskriterium • Projekt der Schaffung eines foedus pacificum zur Sicherung des Weltfriedens Texte: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Über den Gemeinspruch (1793), Zum ewigen Frieden (1795)

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(5) Kollektiver Nutzen: der klassische und der moderne Utilitarismus

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Der klassische Utilitarismus

• Der klassische Utilitarismus als „Urform“ des Konsequentialismus • Die Klassiker:

Jeremy Bentham (1748-1832): • Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789): Keine Individualethik, sondern eine

utilitaristische Ethik der Gesetzgebung und der Politik • Hedonistische Anthropologie; Problem der Unvereinbarkeit mit der Forderung nach

Gesamtnutzenmaximierung • Rein quantitative Berechnung der Gesamtnutzensumme auf der Basis individueller Lust-Leid-Bilanzen

(„Quantity of pleasure being equal, pushpin is as good as poetry“) • Zitat aus Anarchical Fallacies; being an examination of the Declaration of Rights used during the French

Revolution (Art.2): „Natural rights is simple nonsense, natural and imprescriptible rights, rhetorical nonsense, nonsense upon stilts.“

– John Stuart Mill (1806-1873): Verbindung von Liberalismus und Utilitarismus • On Liberty (1859) • Utilitarism (1863) • Umfassende Individualethik • Qualitativer Hedonismus: Nicht nur rein quantitative, sondern auch qualitative Bestimmung der Lust-

Leid-Bilanz („It is better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied“)

• Harm-Principle und Grundfreiheiten Problem: Vereinbarkeit mit dem konsequentialistisch-utilitaristischen Ansatz?

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Der moderne Utilitarismus

• Präferenzutilitarismus: Richard Hare (1919-2002) – „Präskriptivismus“: präferenzutilitaristischer Ansatz auf der Basis einer (semantischen) ‚Logik der Imperative‘ – Zwei-Ebenen-Modell – Werke:

• The Language of Morals (1952) • Freedom and Reason (1963) • Moral Thinking: Its levels, method, and point (1981)

• Universeller Utilitarismus: Peter Singer (1946) – Befreiung der Tiere (1975) – globale Umverteilung – Kritik der sanctity of life-Doktrin; „Speziesismusargument“

• Animal Liberation (1977) • Practical Ethics (1993) • One World: The Ethics of Globalisation (2002) • The Life You Can Save: Acting Now to End World Poverty (2009)

• Sowohl der Klassische Utilitarismus als auch der moderne Utilitarismus sind universalistische Theorien und zugleich auch Varianten des Egalitarismus

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Kritik des Utilitarismus

• Individuelle Rechte • Das Problem supererogatorischer Pflichten • Integrität der Person • Gemeinschaft • Verteilungsgerechtigkeit • Persönlich eingegangene Verpflichtungen und generelle Pflichten Literatur: Bernard Williams zusammen mit J.J.C. Smart: Utilitarianism. For and Against (1973) Julian Nida-Rümelin: Kritik des Konsequentialismus (1993)

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(6) Die Erneuerung der politischen Philosophie seit den 1970er

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Vorgeschichte zu John Rawls

• Niedergang der philosophischen Ethik • Programm des logischen Empirismus; ethischer

Subjektivismus • Emotivismus • Expressionismus • Präskriptivismus • Ende der normativen praktischen Philosophie

einschließlich Rechts-, Sozial- und politischer Philosophie

• Fokussierung der Metaethik als Sprachphilosophie (die Bedeutung von „ought and good“ )

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John Rawls (1921-2002):

• John Rawls Theorie der Gerechtigkeit – Gerechtigkeit als Fairness: Der durch den „Schleier des Nichtwissens“ (veil of ignorance)

charakterisierte Urzustand als eine Entscheidungssituation, die auch unter der Voraussetzung wechselseitig desinteressierter Individuen Unparteilichkeit gewährleistet: Keine Person kennt ihre spätere Position in der Gesellschaft, noch die Generation, der sie angehört, und auch nicht ihren konkreten Lebensplan (ihre sog. Konzeption des Guten)

– Die auch im Urzustand bekannten Grundgüter (primary goods: Güter die zu Verfolgung jedes Lebensplans erforderlich sind): Rechte, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen; Selbstachtung

– Die zwei Prinzipien der Gerechtigkeit: gleiche maximale Freiheit; legitime Ungleichheiten nur zu Gunsten der am schlechtesten gestellten Personengruppe (sozialer Liberalismus)

– bei schrittweiser Lüftung des „Schleiers des Nichtwissens“ ergeben sich vier Stufen der Gerechtigkeit: • Ebene der Gerechtigkeitsgrundsätze • Ebene der Verfassung • Ebene der Gesetze und Regelungen • Ebene der Rechtsprechung und Verwaltung

– Politische Gerechtigkeit ist von Weltanschauungen, Lebensformen und Religionen unabhängig

Texte: A Theory of Justice (1971); Political Liberalism (1993); Collected Papers (1999)

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Soziale Mobilität 2012 The „Great-Gatsby“-Curve

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Studienanfängerquote Deutschland

Quelle: Statistisches Bundesamt

33,3

36,1 37,3

39,3

37,4 37,1 35,6

37

40,3

43,3

46

55,6 54,6

57,4 57,3

25

35

45

55

65

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014

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(7) Die neuen Vertragstheoretiker

Robert Nozick – James Buchanan –David Gauthier

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Robert Nozick (1938-2002)

• Libertäres (neo-liberales) Gegenmodell

– Locke‘sche Individualrechte

– Staat als Ergebnis eines Marktprozesses (Sicherheitsgemeinschaften)

– Minimalstaat

– Illegitimität staatlicher Umverteilung

– Problem: Bildungs- und Sozialstaat

• Text: Anarchy, State, and Utopia (1974)

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Page 26: Vorlesung Einführung in die politische Philosophie WS 2015/16 · “ (Du contrat social (1762)) • Der Gesellschaftsvertrag (contrat social): vertragliche Konstituierung eines Souveräns,

James Buchanan (1919-2013)

• Die Idee der natürlichen Verteilung • Der konstitutionelle Vertrag • Der post-konstitutionelle Vertrag (kollektive

Güter) • Spannung von Demokratie und Effizienz • Demokratie als methodologischer Individualismus • Gefahr der staatlichen Hypertrophie durch

Mehrheitsentscheidung • Literatur: The Limits of Liberty. Between Anchary

and Leviathan. (1975)

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Ineffizienz der Demokratie

Projekt 80 (u); 90 (k)

Abstimmung 66% : 33 % angemessen

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A (1/3) B (1/3) C (1/3) Σ

Kosten 30 30 30 90

Nutzen 40 40 0 80

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Ineffizienz der Demokratie:

Ineffizienz der Demokratie: Projekt 90 (u); 80 (k)

Abstimmung 33 % : 66 % abgelehnt

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A (1/3) B (1/3) C (1/3) Σ

Kosten 40 40 0 80

Nutzen 30 30 30 90

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David Gauthier (*1932) Moralität als Rationalität -

Eigeninteressierter Liberalismus • Engführung von Moral und (aufgeklärtem) Eigeninteresse: moralische Forderungen als unparteiliche

(„impartial“) Beschränkungen, die vollkommen rationale Individuen ihrem Handeln auferlegen (würden)

• Der ideale Markt als Mechanismus, der es rationalen und eigeninteressierten Personen problemlos

ermöglicht, auch ohne Moral Interessenkonflikte zu regulieren. Da aber die reale Welt kein idealer Markt ist, kommt der Moral die Aufgabe zu, Fälle von Marktversagen zu kompensieren

• Moralität als Ergebnis einer (hypothetischen) Übereinkunft rationaler Individuen zur Beseitigung pareto-ineffizienter Verteilungszustände (Problem der Bereitstellung öffentlichen Güter bzw. Allmende-Problematik).

Grundsätzliches Problem der mangelnden Einbeziehung von Mitgliedern der Gesellschaft, die, wie z.B.

Kinder und Behinderte, nicht in vollem Maße an Verhandlungen teilnehmen können. Nach Gauthiers Auffassung sind sie „beyond the pale of a morality tied to mutuality“ (ders. (1986), 268).

• Literatur: Gauthier, David, Morals By Agreement, Oxford 1986; ders,. Moral Dealing, Ithaka/London 1990;

ders., „Why Contractualism?“ in: Valentyne, Peter (HG.), Contractualism and Rational Choice, New York 19991, 15 -30

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(8) Die kommunitaristische Kritik

Michael Sandel, Alasdair MacIntrye, Michael Walzer, Charles Taylor

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Kommunitarismus Allgemein

• Keine einheitliche Theorie • Spezifisch amerikanischer Kontext; gleichwohl spiegelt sich in der

Kommunitarismusdebatte doch der (in der abendländischen Philosophie immer wieder auftretende) und mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnete Gegensatz zwischen Gemeinschaftszugehörigkeit einerseits und (methodologischem) Individualismus sowie Liberalismus andererseits

• Unterschiedliche historische Vorläufer: Aristoteles Die Aufklärungskritik von Edmund Burke Die Geschichtsphilosophie Hegels In Deutschland vor und während des Ersten Weltkrieges Gegenüberstellung von

Gemeinschaft und Gesellschaft: (‚deutsche‘) Kultur vs. (‚westlich-französische‘) Zivilisation

• Praktisch alle kommunitaristischen Kritiker des Liberalismus teilen mit diesem die Grundwerte der freiheitlichen Demokratie: Diese soll nicht durch antiliberale Alternativen ersetzt, sondern durch ein besseres Verständnis ihrer Grundlagen und Voraussetzungen gerade erhalten bleiben

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Page 32: Vorlesung Einführung in die politische Philosophie WS 2015/16 · “ (Du contrat social (1762)) • Der Gesellschaftsvertrag (contrat social): vertragliche Konstituierung eines Souveräns,

Michael Sandel, geb. 1953

• Michael Sandels Kritik an Rawls:

– Begriff des unencumbered self (‚das nicht eingebettete, ungebundene, frei schwebende Selbst’): die moralische Identität einer Person ergibt sich erst durch die Einbettung in eine Gemeinschaft

– Die autarken, eigeninteressierten Individuen des Rawls‘schen Urzustands gibt es nicht; vielmehr werden Personen erst durch ihre Ziele konstituiert

– Der Liberalismus setzt damit Grundsätze und einen Gemeinschaftssinn voraus, den er selbst gar nicht zu begründen vermag und vielleicht sogar untergräbt

• Text: Michael Sandel: Liberalism and the Limits of Justice (1985)

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Page 33: Vorlesung Einführung in die politische Philosophie WS 2015/16 · “ (Du contrat social (1762)) • Der Gesellschaftsvertrag (contrat social): vertragliche Konstituierung eines Souveräns,

Alasdair MacIntyre, geb.1929

• Werte sind immer nur praxisinhärent (permanentes ‚valuing‘) und werden nie erst aus einer Theorie heraus entwickelt

• Diagnose: Die modernen Gesellschaften leben in einem moralischen Trümmerfeld

• Verlust der Einheit und Verlust des Gottesbezuges

• Aristotelische Tugendethik

• Text: After Virtue (1981)

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Page 34: Vorlesung Einführung in die politische Philosophie WS 2015/16 · “ (Du contrat social (1762)) • Der Gesellschaftsvertrag (contrat social): vertragliche Konstituierung eines Souveräns,

Michael Walzer, geb. 1935

• Sphären der Gerechtigkeit

• Begriff der membership

• Vielfalt der Begründungen: drei Arten der Kritik

• Kommunitarismus als Korrektiv des Liberalismus

• Text: Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality (1983)

StMin a.D. Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin 34

Page 35: Vorlesung Einführung in die politische Philosophie WS 2015/16 · “ (Du contrat social (1762)) • Der Gesellschaftsvertrag (contrat social): vertragliche Konstituierung eines Souveräns,

Charles Taylor, geb. 1935

• Gemeinsamkeit mit dem Liberalismus: Freiheit und Gleichheit als zentrale Werte; aber Zurückweisung des „atomistischen“ Menschenbildes der neuzeitlichen Vertragstheorien

• Ontologischer These: die individuelle Identität geht erst aus der kollektiven Identität hervor; vor der Frage: „Was soll ich tun?“ steht die Frage nach der eigenen Identität: „Was bin ich?“

• Bei diesem Prozess der Identitätsfindung gehe es nicht um Gerechtigkeitsprinzipien, sondern um Fragen des guten Lebens

Primat des Guten vor dem Rechten

• Texte: Taylor, Charles, Philosophical Papers. Vol. 2: Philosophy and the Human Sciences (1985); ders., Die Entstehung der neuzeitlichen Identität (1994); ders., „Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus”, in Honneth, Axel, Kommunitarismus: Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften (1994); ders., Wieviel Gesellschaft braucht die Demokratie. Aufsätze zur politischen Philosophie (2002)

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